Ein Ort in der Provinz, im Osten Frankreichs. Stillgelegte Industrie. Unerträgliche Hitze. Eine Gruppe Jugendliche, ohne viel zu tun, die ihre Sexualität entdecken, Bier trinken, Moped fahren oder dealen. Langeweile. Konflikte mit und zwischen den Eltern. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Nicolas Mathieu schreibt über die am Rande Liegengelassenen. Über vier Sommer begleitet Wie später ihre Kinder Anthony, Hacine und ihre Freunde beim Erwachsenwerden in einer Welt der Reihenhaussiedlungen und Durchschnittsstädte — einer Welt, in der ihnen nichts geschenkt wird und an der sie dennoch hängen. Ein großer Gesellschaftsroman über das vergessene Frankreich der 1990er, voller Leben und erzählerischer Kraft.
Nicolas Mathieu
Wie später ihre Kinder
Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen
Roman
Hanser Berlin
Für Oscar
An andere aber denkt niemand mehr;
es ist, als hätten sie nie gelebt.
Sie sind gestorben und vergessen,
genauso wie später ihre Kinder.
Jesus Sirach, 44,9
I 1992
Anthony stand am Ufer und starrte geradeaus.
In der bleiernen Sonne wirkte das Wasser des Sees wie dickes Öl. Die samtene Oberfläche kräuselte sich, wenn ein Karpfen oder ein Hecht vorbeischwamm. Anthony atmete tief ein. In der Luft lag wieder dieser Geruch von Schlamm, von aufgeheizter Erde. Auf seinem breiten Rücken hatte der Juli Sommersprossen ausgesät. Er trug nichts als alte Fußballshorts und eine gefälschte Ray-Ban. Die Hitze war unerträglich, aber daran allein lag es nicht.
Anthony war gerade vierzehn geworden. Nachmittags konnte er ein ganzes Baguette mit La Vache qui rit verdrücken. Nachts setzte er manchmal seine Kopfhörer auf und schrieb Lieder. Seine Eltern nervten. Im Herbst würde er in die neunte Klasse kommen.
Der Cousin ließ es ruhig angehen. Er lag auf seinem Handtuch, dem guten, das sie im Ferienlager auf dem Markt in Calvi gekauft hatten, und döste vor sich hin. Selbst im Liegen sah er groß aus. Man schätzte ihn locker auf zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Das verschaffte ihm Zugang zu Orten, an denen er nichts verloren hatte. Zu Bars, zu Clubs und zu Mädchen.
Anthony zog eine Kippe aus dem Päckchen in seiner Hosentasche und wollte vom Cousin wissen, ob ihn nicht auch manchmal alles anödete.
Der Cousin verzog keine Miene. Unter seiner Haut zeichneten sich deutlich die Muskeln ab. Von Zeit zu Zeit setzte sich eine Fliege auf die Falte unter seiner Achsel. Dann zitterte seine Haut wie bei einem Pferd, das von einer Bremse belästigt wird. Anthony wäre gern wie er, schlank, mit durchtrainiertem Oberkörper. Jeden Abend machte er in seinem Zimmer Liegestütze und Sit-ups. Aber er war nicht der Typ dafür. Er blieb breit, massiv wie ein Steak. In der Schule hatte ihn mal ein Aufseher wegen irgendeiner unwichtigen Sache angemacht. Anthony wollte das draußen regeln, hatte dann aber alleine dagestanden. Außerdem hatte der Cousin eine echte Ray-Ban.
Anthony zündete sich die Kippe an und seufzte. Der Cousin wusste genau, was er wollte. Anthony bearbeitete ihn seit Tagen, zum Nacktstrand zu fahren, der nur aus Optimismus so genannt wurde, außer Mädchen oben ohne gab es dort nichts zu sehen, wenn überhaupt. Anthony war trotzdem völlig besessen.
»Los, lass uns hinfahren.«
»Nein«, knurrte der Cousin.
»Komm schon. Bitte!«
»Jetzt nicht. Geh schwimmen.«
»Ja klar …«
Anthony starrte mit seinem seltsam schiefen Blick aufs Wasser. Eine Art Trägheit hielt sein rechtes Augenlid halb geschlossen, verzerrte sein Gesicht, sodass er ständig schlecht gelaunt aussah. Eine Sache von vielen, die ihn fertigmachte. Wie diese lähmende Hitze, dieser massige, ungelenke Körper, die riesigen Füße und das Pickelgesicht. Schwimmen … Sehr witzig, der Cousin. Anthony spuckte durch die Schneidezähne.
Vor einem Jahr war der junge Colin ertrunken. Am 14. Juli, das konnte man sich gut merken. Damals hatten alle möglichen Leute aus der Gegend die Nacht am See und im Wald verbracht, um sich das Feuerwerk anzuschauen. Sie hatten Lagerfeuer gemacht und gegrillt. Wie jedes Jahr gab es kurz nach Mitternacht eine Schlägerei. Die Soldaten aus der Kaserne gingen auf die Araber aus dem Plattenbauviertel los, und dann mischten sich die Breitschädel aus Hennicourt ein. Schließlich machten auch die Dauercamper mit, vor allem die jungen, aber auch ein paar Familienväter, Belgier mit dicken Bäuchen und Sonnenbrand. Am nächsten Tag fand man leere Verpackungen, blutige Holzstücke, zerschlagene Flaschen und sogar eine Optimisten-Jolle des Segelclubs, die im Baum gelandet war. Das sah man nicht jeden Tag. Den jungen Colin fand man nicht.
Dabei hatte er den Abend am See verbracht. So viel stand fest, weil seine Freunde mit ihm dort gewesen waren, und die bezeugten es in den Tagen darauf. Ganz normale Jungs, die Arnaud, Alexandre oder Sébastien hießen, gerade mal Abiturienten, noch ohne Führerschein. Sie waren gekommen, um bei der traditionellen Schlägerei dabei zu sein, ohne selbst mitzumachen. Nur dass sie dann doch hineingezogen wurden. Der weitere Verlauf blieb im Dunkeln. Mehrere Zeugen hatten einen Jungen gesehen, der verletzt zu sein schien. Es war die Rede von einem blutgetränkten T-Shirt und einer Wunde am Hals, die aussah wie ein tiefer, saftiger, schwarzer Schlund. Im allgemeinen Durcheinander war ihm wohl niemand zu Hilfe gekommen. Am nächsten Morgen war das Bett des jungen Colin leer.
In den folgenden Tagen hatte der Polizeipräsident die benachbarten Wälder durchkämmen lassen, während Taucher den See absuchten. Stundenlang beobachteten die Gaffer die Fahrten des orangen Schlauchboots. Die Taucher ließen sich mit einem fernen Platschen rücklings ins Wasser fallen, dann hieß es abwarten, in einer Totenstille.
Man sagte, die alte Colin sei in der Klinik, auf Beruhigungsmitteln. Man sagte auch, sie habe sich erhängt. Oder sie sei im Nachthemd auf der Straße gesehen worden. Der alte Colin arbeitete bei der städtischen Polizei. Weil er Jäger war und alle davon ausgingen, dass die Araber schuld seien, hoffte man regelrecht auf Vergeltung. Der Vater war der untersetzte Kerl, der im Feuerwehrboot mitfuhr, sein kahler Schädel unter der drückenden Sonne. Die Leute am Ufer behielten ihn im Auge, seine Reglosigkeit, diese unerträgliche Ruhe und seinen Kopf, der wie eine Tomate vor sich hin reifte. Seine Geduld hatte für Empörung gesorgt. Alle hätten sich gewünscht, dass er etwas unternahm, dass er eine Regung zeigte, wenigstens eine Mütze aufsetzte.
Auch der Nachruf, der wenig später in der Zeitung erschien, bewegte die Gemüter. Auf dem Foto sah der junge Colin gesund aus, normal, blass, was alles in allem gut zu einem Opfer passte. Sein Haar lockte sich an den Seiten, seine Augen waren braun, und er trug ein rotes T-Shirt. Dem Artikel war zu entnehmen, dass er sein Abitur mit sehr gut bestanden hatte. Wenn man die Familie kannte, war das eine ganz schöne Leistung. Sieh mal einer an, hatte Anthonys Vater gesagt.
Die Leiche war nie gefunden worden, und der alte Colin ging wieder zur Arbeit, ohne groß Aufsehen zu erregen. Seine Frau hatte sich nicht erhängt oder so. Sie hatte bloß Tabletten geschluckt.
Jedenfalls hatte Anthony wirklich keine Lust, in dieser Brühe zu baden. Seine Kippe zischte, als sie auf die Wasseroberfläche traf. Er schaute in den Himmel und kniff die Augen zusammen. Für einen Moment glichen sich seine Lider einander an. Die Sonne stand hoch, es musste drei Uhr sein. Die Zigarette hatte einen unangenehmen Geschmack auf seiner Zunge hinterlassen. Ganz klar, die Zeit war stehengeblieben. Und trotzdem näherte sich das Ende der Sommerferien rasend schnell.
»So ne Scheiße …«
Der Cousin setzte sich auf.
»Du nervst.«
»Ist doch echt stumpf. Jeden Tag dasselbe.«
»Okay, komm …«
Der Cousin legte sich das Handtuch um die Schultern und nahm sein Mountainbike.
»Mach schon. Es geht los.«
»Wohin?«
»Mach, hab ich gesagt.«
Anthony stopfte sein Handtuch in den alten Chevignon-Rucksack, nahm seine Uhr aus dem Turnschuh und zog sich hastig an. Er hatte gerade sein BMX aufgestellt, als der Cousin schon auf den Weg einbog, der um den See führte.
»Warte auf mich, verdammt!«
Seit Anthony klein war, klebte er an ihm wie ein Schatten. Schon ihre Mütter hatten als junge Frauen immer zusammengesteckt. Die berüchtigten Mougel-Schwestern. Eine ganze Weile hatten sie alle Tanzsäle der Gegend unsicher gemacht, dann waren sie unter die Haube gekommen, große Liebe und so. Hélène, Anthonys Mutter, hatte sich für einen Casati entschieden. Irène hatte es noch schlechter erwischt. Wie dem auch sei, die Mougel-Schwestern, ihre Kerle, die Cousins, die angeheiratete Verwandtschaft, alles eine Welt. Um das zu verstehen, musste man sich nur anschauen, wie es ablief bei Hochzeiten, auf Beerdigungen, an Weihnachten. Die Männer redeten wenig und starben früh. Die Frauen färbten sich die Haare und verloren nach und nach ihren Optimismus. Im Alter hielten sie die Erinnerung an ihre Männer wach, die krepiert waren, auf der Arbeit, in der Kneipe oder an einer Staublunge, die Erinnerung an Söhne, die sich totgefahren hatten, und an alle, die abgehauen waren. Irène, die Mutter vom Cousin, gehörte zur Kategorie der verlassenen Ehefrauen. Und so war der Cousin früh erwachsen geworden. Mit sechzehn Jahren mähte er den Rasen, fuhr ohne Führerschein, kümmerte sich um das Essen. Er durfte sogar in seinem Zimmer rauchen. Er war furchtlos und selbstsicher. Anthony wäre ihm bis in die Hölle gefolgt. Mit den Eigenarten seiner Familie hingegen konnte er sich immer weniger anfreunden. Seine Leute kamen ihm ziemlich klein vor, wegen ihrer Körpergröße, aber auch wegen der bescheidenen Jobs, wegen ihrer mickrigen Hoffnungen, sogar ihr Unglück war erbärmlich, das allgemeine wie das konjunkturbedingte. Sie wurden entlassen, geschieden, betrogen und bekamen Krebs. Sie waren ganz schön normal, und alles andere kam sowieso nicht infrage. So wuchsen die Familien wie Pflanzen auf einem Boden aus Wut, und das jahrelang angehäufte Leid konnte bei jeder Familienfeier, wenn der Pastis seine Wirkung zeigte, unvermittelt aus seinem unterirdischen Versteck hervorbrechen. Anthony fühlte sich überlegen. Er träumte davon, sich aus dem Staub zu machen.
Bald erreichten sie die alten Eisenbahngleise, und der Cousin warf sein Rad in die Brennnesseln. Dann hockte er sich auf die Schienen und taxierte das Freizeitheim Léo-Lagrange, das unterhalb des Bahndamms lag. Der Bootsschuppen stand weit offen. Kein Mensch weit und breit. Anthony legte sein BMX ab und hockte sich zu ihm.
»Niemand da«, sagte der Cousin. »Wir holen uns ein Kanu und fahren rüber.«
»Echt jetzt?«
»Schwimmen werden wir jedenfalls nicht.«
Und der Cousin stürzte sich durch Sträucher und Unkraut den Hang hinunter. Anthony folgte ihm. Er hatte Angst, es fühlte sich großartig an.
Im Schuppen brauchten sie ein paar Sekunden, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Auf einem Metallständer lagerten Nussschalen, ein 420er und Kanus. Die zum Trocknen aufgehängten Schwimmwesten verbreiteten einen starken Modergeruch. Durch die weit geöffneten Tore sah man den Strand, den glitzernden See, die flache Landschaft, die sich wie eine Kinoleinwand vom feuchten Schatten abhob.
»Lass uns das da nehmen.«
Mit einer synchronen Bewegung hoben sie das Kanu, das der Cousin ausgesucht hatte, vom Ständer und griffen nach den Paddeln. Bevor sie den kühlen Schuppen verließen, blieben sie kurz stehen. Hier war es angenehm. In der Ferne hinterließ ein Windsurfer eine weiße Spur auf der Wasseroberfläche. Niemand hatte sie bemerkt. Anthony spürte den berauschenden Schwindel des Verbotenen. Genauso fühlte er sich, wenn er klaute oder halsbrecherische Manöver auf dem Moped machte.
»Los jetzt«, sagte der Cousin.
Und sie rannten los, das Kanu auf den Schultern, die Paddel in der Hand.
Die meisten Kinder, die im Freizeitheim Léo-Lagrange von ihren Eltern abgeliefert wurden, waren harmlos. Sie konnten dort reiten und Tretboot fahren und machten so in der Innenstadt keinen Ärger. Zum Abschluss der Sommerferien gab es eine Party, auf der alle rumknutschten und heimlich Alkohol tranken; wer es geschickt anstellte, angelte sich sogar eine der Betreuerinnen. Aber es waren auch immer ein paar Spinner dabei, harte Jungs vom Land, die mit dem Ochsenziemer erzogen wurden. Wenn man denen über den Weg lief, konnte es böse enden. Anthony versuchte, nicht daran zu denken. Das Kanu war ganz schön schwer. Sie mussten bis zum Ufer durchhalten, dreißig Meter höchstens. Das Boot drückte sich ihm in die Schulter. Er biss die Zähne zusammen. Da verfing sich der Cousin mit den Füßen in einer Wurzel, und das Kanu fiel vornüber. Anthony stolperte hinterher und spürte, wie die Haut an seiner Hand aufgerissen wurde, von einem Splitter oder einem hervorstehenden Nagel. Kniend inspizierte er seine Handfläche. Sie blutete. Der Cousin war schon wieder auf den Beinen.
»Los, mach schon.«
»Moment. Ich hab mir wehgetan.«
Er berührte die Wunde mit seinen Lippen. Der Geschmack von Blut füllte seinen Mund.
»Beeil dich!«
Stimmen waren zu hören. Die Cousins liefen weiter und balancierten das Boot, so gut es ging, die Augen auf die Füße geheftet. Ohne abzubremsen rannten sie bis zur Taille ins Wasser. Anthony dachte an seine Kippen, an den Walkman in seinem Rucksack.
»Steig ein!«, rief der Cousin und schob das Kanu weiter. »Schnell.«
»Hey!«, brüllte jemand von hinten.
Eine feste Männerstimme. Dann weitere Rufe, die immer näher kamen.
»Hey, kommt zurück!«
Anthony kletterte schwerfällig ins Kanu. Der Cousin schob das Boot ein letztes Mal an, bevor auch er einstieg. Am Ufer schrien sich ein Junge in Badehose und zwei Betreuer heiser.
»Los, paddel, mach schon!«
Nach einigen stockenden Versuchen hatten sie sich eingespielt, Anthony paddelte backbord, der Cousin steuerbord. Der Strand war nun voller Kinder, die schrien und hin und her liefen. Die Betreuer verschwanden im Schuppen. Sie kamen mit drei Kanus wieder zum Vorschein.
Das Boot der Cousins glitt so gerade durch das Wasser, dass es auf der Oberfläche einen sauberen Schnitt hinterließ. Sie spürten den Widerstand des Wassers in ihren Schultern und den Rausch der Geschwindigkeit unter ihren Füßen. Anthony sah, dass ihm Blut am Unterarm hinunterlief. Für eine Sekunde ließ er das Paddel los.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Cousin.
»Nicht weiter schlimm.«
»Sicher?«
»Ja.«
Zwischen seinen Füßen hatte sich ein Mickey-Mouse-Gesicht aus Blut gebildet. Auf seiner Handfläche klaffte ein kleiner Schnitt. Er führte ihn zum Mund.
»Weiter!«, befahl der Cousin.
Die Verfolger waren zu zweit oder zu dritt pro Boot, auch einige Erwachsene waren dabei. Sie lagen nicht weit zurück, und Anthony paddelte wieder drauflos. Die Sonne brannte auf das schwarze Wasser des Sees und warf eine Million weiße Splitter auf. Er spürte, wie ihm der Schweiß von der Stirn die Schläfen hinunterlief. Sein Shirt klebte ihm am Rücken. Er hatte Angst. Vielleicht hatten sie die Bullen gerufen.
»Was machen wir jetzt?«
»Die kriegen uns nicht.«
»Sicher?«
»Paddel, verdammt!«
Nach einer Weile änderte der Cousin die Richtung und hielt sich in Ufernähe. Er hoffte, auf diese Weise schneller den Pointu zu erreichen, den schmalen Streifen Land, der den See in zwei Hälften teilte. Dahinter wären sie für einige Minuten außer Sichtweite.
»Guck mal«, sagte der Cousin.
Auf den Stränden ringsum waren die Badegäste aufgestanden, um besser sehen zu können, und pfiffen oder feuerten sie an. Anthony und der Cousin gingen immer an denselben Strand, der leicht zu erreichen war und von allen nur Müllhalde genannt wurde. In der Nähe gab es angeblich ein Abwasserrohr, weswegen dort selbst in der Hochsaison wenig los war. Rund um den See lagen mehrere Strände. Hinten der vom Freizeitheim Léo-Lagrange. Drüben der vom Campingplatz. Weiter weg der amerikanische Strand, wo sich die Breitschädel trafen. Auf der anderen Seite des Pointu der Segelclub, die schönste Badestelle, mit Fichten, fast gelbem Sand, mit Umkleidekabinen und einer Strandbar wie am Meer.
»Okay, wir sind fast da«, sagte der Cousin.
In rund hundert Metern Entfernung markierten die Umrisse einer verfallenen Hütte, die einmal der Forstverwaltung gehört hatte, den Anfang des Pointu. Sie schauten zurück, um den Vorsprung zu ihren Verfolgern abzuschätzen. Die hatten angehalten, und die Betreuer diskutierten heftig, soweit man das erkennen konnte. Sogar aus der Ferne war zu erahnen, wie verärgert und unschlüssig sie waren. Einmal stand einer wild gestikulierend auf, ein anderer brachte ihn dazu, sich wieder zu setzen. Schließlich fuhren sie zurück zum Freizeitheim. Die Cousins grinsten, und Anthony streckte ihnen den Mittelfinger hinterher, jetzt, wo sie auf dem Rückzug waren.
»Und was machen wir jetzt?«
»Was wohl?«
»Die rufen bestimmt die Bullen.«
»Na und? Paddel einfach.«
Sie fuhren weiter am Ufer entlang durchs Schilf. Es war nach vier, und das Licht war weniger grell. Ein Zirpen und Quaken kam aus dem Flechtwerk von angespülten Blättern und Zweigen. Anthony wollte Frösche sehen und ließ die Wasseroberfläche nicht aus den Augen.
»Alles okay mit deiner Hand?«
»Ja. Sind wir bald da?«
»Zehn Minuten.«
»Verdammt, das ist echt weit.«
»Hab ich doch gesagt. Denk an die ganzen Nackten.«
Anthony stellte sich den Strand in etwa wie das Pornoregal in der Videothek vor. Manchmal schlich er sich dorthin, die Angst im Nacken, und gaffte, so viel er konnte, bis ein Erwachsener auftauchte und ihn verscheuchte. Er wollte die ganze Zeit nackte Frauen sehen. In den Schubladen und unterm Bett hatte er Magazine und Videokassetten versteckt, und natürlich Papiertaschentücher. In der Schule ging es all seinen Freunden so, sie waren geradezu besessen. Sie wurden richtig bescheuert davon. Eigentlich war das der Grund für fast alle Schlägereien. Ein falscher Blick auf dem Gang, schon gab es Prügel, und man wälzte sich auf dem Boden und beschimpfte sich wild. Manche Jungs hatten was mit Mädchen. Und Anthony hatte hinten im Bus mal eine geküsst. Aber sie hatte ihn nicht an ihre Brüste gelassen. Deshalb hatte er Schluss gemacht. Er bereute es, sie hieß Sandra, hatte blaue Augen und einen tollen Hintern in ihrer engen Jeans.
Motorengeräusche hinter dem Ufergehölz rissen ihn aus seinen Gedanken. Der Cousin und er verharrten reglos. Die Geräusche kamen näher. Anthony erkannte sofort die Piwi 50 aus dem Freizeitheim, eine kleine, zähe Crossmaschine für Kinder. Im Freizeitheim konnte man seit Langem Motocross fahren. Nur deshalb gab es dort überhaupt so viele Kids, nicht wegen des Angebots an Beachball und Orientierungsläufen.
»Sie nehmen die Straße.«
»Die suchen uns, so viel ist sicher.«
»Hier finden sie uns nicht.«
Trotzdem wurden die Cousins kleinlaut. Geduckt saßen sie in ihrem Kanu und lauschten mit klopfenden Herzen.
»Zieh dein Shirt aus«, flüsterte der Cousin.
»Was?«
»Dein Shirt. Man sieht dich aus zehn Kilometern Entfernung.«
Anthony zog sich das Trikot der Chicago Bulls über den Kopf und schob es sich unter den Hintern. Das Knattern der Mopeds kreiste wie ein Raubvogel über ihnen. Sie schwiegen, ungeduldig, reglos. Der süßliche Geruch von nassen, fauligen Blättern stieg ihnen in die Nase. Und vermischte sich mit ihrem Schweiß, es juckte auf der Haut. Anthony dachte daran, was alles in diesem Morast herumkroch, und bekam Gänsehaut.
»Wir kommen noch zu spät«, sagte er.
»Halt die Klappe.«
Schließlich entfernten sich die Mopeds wieder, zurück blieb ein leises Brummen. Verstohlen setzten sie ihre Fahrt fort, umfuhren den Pointu, der den Blick auf die andere Hälfte des Sees freigab. Endlich kam steuerbord der berühmte Nacktstrand in Sicht. Er war grau, tief eingeschnitten, nicht über die Straße zu erreichen und so gut wie menschenleer. Ein Motorboot schaukelte dreißig Meter vorm Ufer. Die totale Einöde.
»Verdammt, niemand da«, stöhnte Anthony.
Zwei Mädchen immerhin, aber die trugen Bikinis, sogar mit Oberteil. Aus der Ferne war schwer zu erkennen, ob sie hübsch waren oder so.
»Was machen wir jetzt?«
»Wenn wir schon hier sind …«
Als sie näher kamen, schreckten die Mädchen auf. Bei genauerer Betrachtung wirkten sie sehr jung, unruhig, vor allem verängstigt. Die Kleinere war aufgestanden und rief etwas in Richtung Motorboot. Sie pfiff mit den Fingern, die Füße im Wasser, sehr laut, aber ohne Erfolg. Dann kehrte sie hektisch zu ihrem Handtuch zurück und rückte näher zu ihrer Freundin.
»Die haben Angst«, sagte Anthony.
»Du etwa nicht?«
Die Cousins legten an, zogen das Kanu an Land und setzten sich ans Ufer. Weil sie nicht wussten, was sie machen sollten, rauchten sie. Sie vermieden jeden Blickkontakt mit den beiden anderen Badegästen. Aber sie spürten ihre Anwesenheit im Rücken, ihre dumpfe, unüberwindliche Feindseligkeit. Anthony wäre am liebsten abgehauen. Aber dann wäre der ganze Aufwand umsonst gewesen. Er hätte gern gewusst, wie man es anstellte.
Ein paar Minuten später zogen die Mädchen mit ihren Sachen ans andere Ende des Strands um. Sie waren superhübsch, Pferdeschwänze, Mädchenbeine, Hintern, Brüste und alles. Sie riefen wieder etwas zum Motorboot hinüber. Anthony beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Es tat ihm leid, dass er ihnen Angst einjagte.
»Das ist die Tochter vom Durupt«, flüsterte der Cousin.
»Welche?«
»Die Kleine mit dem weißen Bikini.«
»Und die andere?«
Die kannte der Cousin nicht. Dabei war sie nicht zu übersehen. Vom Nacken zu den Fersen bildete ihr Körper eine Linie, markant, voll, und ihre hochgesteckten Haare erzeugten beim Herabfallen auf wundersame Weise einen Eindruck von Schwere. Dünne Bänder hielten das Höschen auf ihren Hüften. Wenn man sie aufschnürte, hinterließen sie sicher einen Abdruck. Vor allem ihr Hintern war umwerfend.
»Nicht schlecht …«, bestätigte der Cousin, der manchmal Anthonys Gedanken lesen konnte.
Die Bootsbesatzung reagierte schließlich doch. Es handelte sich um ein Paar, ein sportlich wirkender Typ und eine fast unangenehm blonde Frau. Sie streiften sich schnell ein paar Klamotten über, der Sportler zog kräftig am Anlasser, und sofort drehte das Boot mit aufheulendem Motor bei. In Sekundenbruchteilen waren sie da. Der Sportler fragte die Mädchen, ob alles in Ordnung sei. Sie bejahten. Die Blonde starrte die Cousins an, als wären sie gerade mit dem Moped in ihr Schlafzimmer gefahren. Anthony sah, dass der Sportler brandneue Nike Airs trug. Er hatte sie nicht einmal ausgezogen, bevor er ins Wasser gesprungen war. Er kam auf sie zu, die Frauen hinterher. Man sah schon, er wollte für Ordnung sorgen. Der Cousin stand auf, um ihnen die Stirn zu bieten. Anthony machte es ihm nach.
»Was wollt ihr?«
»Nichts.«
»Und was habt ihr dann hier verloren?«
Das Gespräch nahm einen ungünstigen Verlauf. Der Sportler war zwar kleiner als der Cousin, aber vom Typ her bissig und selbstverliebt. Er würde es nicht dabei belassen. Anthony ballte die Fäuste. Doch der Cousin entschärfte mit einer einzigen Frage die Situation:
»Habt ihr vielleicht Blättchen?«
Keine Antwort. Anthony hielt den Kopf schräg, wie er es sich angewöhnt hatte, um sein trauriges Auge zu verbergen. Der Cousin hatte ein aufgeweichtes Päckchen OCB hervorgeholt und zeigte es ihnen.
»Meine sind im Wasser draufgegangen.«
»Habt ihr denn was zu rauchen?«, wunderte sich der Sportler.
Der Cousin zog ein Filmdöschen aus der Tasche und klapperte mit dem Hasch, das sich darin befand. Sofort entspannten sich alle, vor allem der Sportler. Ohne es zu merken, waren sie zusammengerückt. Der Sportler hatte Blättchen. Er war mittlerweile richtig aufgekratzt.
»Woher hast du das? Gibt doch grad gar nichts.«
»Gras hab ich auch«, sagte der Cousin. »Interesse?«
Augenscheinlich ja. Zwei Wochen vorher waren ein paar Zivilbullen mit Jugendlichen aus dem Plattenbauviertel aneinandergeraten und hatten im Gegenzug gezielte Razzien im Degas, einem der Hochhäuser, durchgeführt. Man erzählte sich, die halbe Familie Meryem sei im Knast gelandet, und seitdem fand man in der ganzen Stadt keinen Krümel Shit mehr. Mitten im Sommer war das ein herber Schlag.
Überstürzt waren neue Lieferketten erschlossen worden. Die Breitschädel organisierten Fahrten nach Maastricht, und der Cousin war bei den Belgiern auf dem Campingplatz fündig geworden. Zwei Brüder mit Piercings, die die ganze Zeit Pillen einwarfen und Techno hörten. Sie waren ein Glückstreffer und für zwei Wochen mit der Familie auf Urlaub in Heillange. Dank ihnen war eine Kurierfahrt aus Bergen organisiert worden, mit Gras aus den Niederlanden und marokkanischem, fast rotem Dope, das Lust auf Kekse mit warmer Milch und Filme mit Meg Ryan machte. Der Cousin vertickte das Zeug in La Grappe und Umgebung zum doppelten Preis, 100 Tacken das Gramm. Die Käufer beschwerten sich, blechten aber lieber, als auf den Rausch zu verzichten.
Abends, wenn Anthony mit dem Rad seine letzte Runde durchs Viertel drehte, konnte er überall dieses spezielle Dope riechen, das aus den halb geöffneten Dachfenstern aufstieg. Unterm Dach bekiffte sich die Jugend, kaum älter als er, und spielte Street Fighter. Im Erdgeschoss schauten die Väter mit einem Bierchen in der Hand die Freitagabendshow im Fernsehen.
Der Cousin zündete den Joint an und gab ihn dem Sportler, der Alex hieß und immer zugänglicher wurde. Dann war Anthony an der Reihe. Er nahm ein paar Züge und gab die Tüte weiter. Er hatte von der kleinen Durupt schon gehört. Ihr Vater war Arzt, und sie hatte den Ruf, eher abenteuerlustig zu sein. Es hieß, sie hätte eines Samstagabends den 3er- BMW ihres Vaters zu Schrott gefahren, was schon außergewöhnlich war für eine, die noch nicht einmal in Begleitung ans Lenkrad durfte. Außerdem hatte sie es schon getan. Wenn Anthony sie anschaute, ging die Fantasie mit ihm durch.
Die andere war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Außerdem hatte sie sich neben ihn gesetzt. So hatte er ihre Sommersprossen, den Flaum auf ihren Oberschenkeln und den Schweißtropfen bemerkt, der vom Bauchnabel bis zum Saum des Bikinis gelaufen war.
Der Cousin baute gleich noch einen, und Alex kaufte für 200 Francs Gras bei ihm. Mittlerweile hatten sich alle entspannt, ein pelziges Gefühl im Mund und Kicherlaune. Die Mädchen hatten Vittel-Wasser dabei und gaben eine Runde aus.
»Eigentlich wollten wir hier nackte Brüste sehen.«
»Schwachsinn. Hier ist nie jemand nackt.«
»Früher vielleicht.«
»Wollt ihr, dass wir uns ausziehen?«
Anthony schaute zu seiner Nachbarin. Die Frage kam von ihr. Sie war erstaunlich. Auf den ersten Blick wirkte sie passiv, gleichgültig wie ein Tier, und wenn man sie so sah, ausdruckslos, in sich versunken, hätte man denken können, sie warte am Bahnsteig auf einen Zug. Aber sie war auch frech, witzig und entschlossen, eine gute Zeit zu haben. Der erste Joint hatte sie eher schläfrig gemacht. Außerdem roch sie ziemlich gut.
»Hey, hört mal.«
Von Weitem war das Heulen von 50-Kubik-Mopeds zu hören, mit hohen Spitzen und tiefem Rücklauf, dieselben wie vorhin.
»Die suchen uns.«
»Wer?«
»Die Typen aus dem Freizeitheim.«
»Oh, die sind krass dieses Jahr.«
»Echt?«
»Das Feuer, das waren die.«
»Quatsch, das waren die Breitschädel.«
»Und warum suchen die euch?«
»Das Kanu. Das haben wir da geklaut.«
»Echt, so was macht ihr?«
Sie kicherten vor sich hin, in Sicherheit, bekifft und selbstgefällig. Die Hitze hatte nachgelassen, und etwas Sanftes, ein Geruch nach Holzkohle, nach Wald, nach trockenen Fichten stieg ihnen in die Nase. Der Sonnenuntergang hatte die Insekten verstummen lassen, und es blieb nur das Plätschern des Sees, das Gemurmel der Schnellstraße in der Ferne, das Aufheulen von Zweitaktmotoren, das hin und wieder durch die laue Luft schnitt. Die Mädchen hatten sich T-Shirts übergezogen und die Bikinioberteile abgelegt. Unter dem Stoff konnte man die Bewegungen ihrer Brüste erahnen. Es war ihnen egal, und auch die Jungs taten, als würden sie es nicht bemerken. Nach einer Weile setzte Anthony seine Sonnenbrille ab. Er spürte die Blicke seiner Nachbarin, die offenbar versuchte zu verstehen, wie dieses schiefe Gesicht funktionierte. Gegen sechs wurde sie langsam ungeduldig. Sie musste wohl nach Hause, sie rutschte hin und her. Und weil sie direkt neben ihm saß, berührte sie Anthonys Knie mit ihrem. Ganz schön weich, so ein Mädchen, das lässt einen nie kalt.
Sie hieß Stéphanie Chaussoy.
Anthony war vierzehn, und es war Sommer. Alles muss einmal anfangen.
Nachdem sie das Kanu versteckt hatten, radelten sie durch den Wald von Petit-Fourgeray nach Hause. Wie immer fuhr Anthony auf der gestrichelten Mittellinie Slalom. Vor ein paar Tagen, als sie den Anstieg bei den Lagerhallen hochgefahren waren, wäre Anthony beinahe mit einem alten VW Kombi zusammengestoßen. Der Fahrer hatte das Lenkrad herumgerissen. Als der Cousin fragte, ob er bescheuert sei, antwortete Anthony, er habe Vorfahrt gehabt.
»Vorfahrt? Du warst mitten auf der Straße.«
Manchmal machte Anthony ihn verrückt. Als wäre er nicht ganz normal.
Aber jetzt war die Straße leer, und sie traten kräftig in die Pedale, die Sonne im Gesicht, verfolgt von ihren Schatten. Nach der Hitze des Nachmittags schienen die Wälder ringsum aufzuatmen, und den Cousins rannte die Zeit davon. Denn beim Abschied hatte Alex der Sportler ihnen ein Angebot gemacht. Ein Kumpel von ihm gab eine Party im Haus seiner Eltern. Wenn sie wollten, könnten Anthony und der Cousin vorbeikommen, natürlich nur, wenn sie was zum Rauchen mitbrächten. Die Festivitäten würden in einer Villa mit Swimmingpool stattfinden. Drinks, Mädchen, Musik und Baden um Mitternacht. Anthony und der Cousin hatten geantwortet, sie würden versuchen zu kommen. Nicht ganz leicht, cool zu bleiben.
Seitdem waren die Dinge kompliziert geworden, weil die besagte Party in Drimblois steigen sollte. Mit dem Rad müsste man immerhin vierzig Kilometer strampeln, hin und zurück. Außer sie nahmen die YZ vom Vater. Die rostete seit Jahren in der Garage unter einer Plane vor sich hin. Trotzdem durfte sie keiner anfassen. Anthony war es egal, mit einem VW Kombi zusammenzustoßen. Aber wenn sein Vater im Spiel war, verging ihm das Lachen.
»Das merkt der doch gar nicht, der kann uns mal«, sagte der Cousin.
»Nein, zu viel Stress«, erwiderte Anthony. »Lass uns die Rädern nehmen.«
»Es ist schon sieben, das schaffen wir nie.«
»Das geht nicht. Der macht mich fertig, wenn ich sein Motorrad nehme. Du weißt nicht, wie der drauf ist.«
Eigentlich wusste der Cousin das schon ganz gut. Patrick Casati war anständig, aber manchmal reichte ein Fettfleck auf dem Fernseher, und er flippte aus, dass man sich für ihn schämte. Am schlimmsten war es, wenn er es dann selbst bemerkte. Verwirrt, eingesperrt in seiner Wut und unfähig, sich zu entschuldigen, wollte er es wiedergutmachen, indem er leise sprach und das Geschirr abtrocknete. Anthonys Mutter hatte mehrmals die Koffer gepackt und war zu ihrer Schwester geflohen. Wenn sie wiederkam, ging das Leben weiter, als ob nichts gewesen wäre. Trotzdem stand da etwas zwischen ihnen, was nicht gerade Lust auf Familienleben machte.
»Deine Freundin ist auch da«, beharrte der Cousin. »Wir müssen hin.«
»Wer ist da?«
»Du weißt, wen ich meine.«
»Klar …«
Steph war wie ein Ohrwurm, der ihm nicht aus dem Kopf ging und ihn in den Wahnsinn trieb. Anthonys Leben war durcheinandergeraten. Nichts war passiert, und trotzdem war nichts mehr wie vorher. Er litt. Es fühlte sich gut an.
»Die ist bombe, ehrlich.«
»Klar.«
Der Cousin lachte. Er kannte diesen Gesichtsausdruck noch aus der Siebten, als Anthony für Natacha Glassman geschwärmt hatte, ein Mädchen mit verschiedenfarbigen Augen und Schuhen von Kickers. Gereizt stellte Anthony sich auf. Er musste diese Energie loswerden. Er fuhr im Stehen weiter, natürlich mitten auf der Straße.
Der Cousin lebte mit seiner Mutter und seiner Schwester in einem zweistöckigen, schmalen Reihenhaus mit Geranien vor den Fenstern. Der Rauputz blätterte von der Fassade. Sie warfen ihre Räder in den Kies vorm Haus und gingen hinein. Im Wohnzimmer schaute die Mutter Santa Barbara. Sie hatte die Angewohnheit, den Fernseher immer voll aufzudrehen. Bei der Lautstärke hatte Cruz Castillo eine unerwartet prophetische Seite. Als die Mutter sie auf der Treppe hörte, brüllte sie:
»Zieht die Schuhe aus, bevor ihr hochgeht!«
Das leuchtete ein, schließlich gab es im ersten Stock Teppichboden. Vom Treppenabsatz warf Anthony einen Blick in das Zimmer von Carine, der Schwester vom Cousin. Durch die halb geöffnete Tür sah er eine Gestalt auf dem Boden sitzen, ausgestreckte Beine in Hotpants. Das war Vanessa. Sofort hagelte es Beleidigungen: Spätzünder, Spanner, kleiner Wichser. Carine war achtzehn Jahre und immer mit Vanessa Léonard zusammen, ihrer besten Freundin, die erst sechzehn war, sie tratschten, hingen faul rum und dachten sich traurige Liebesgeschichten aus. Im Sommer sonnten sie sich oben ohne im Garten der Léonards. Von Zeit zu Zeit schaute Vanessas Vater vorbei. Die Mädchen lachten darüber, obwohl Vanessa es etwas gruselig fand. Sie ahnten allerdings nicht, dass Anthony, der auch in der Siedlung wohnte, sie manchmal durch die Hecke beobachtete. Die beiden waren richtige Schlangen, und Anthony war vorsichtig. Er machte sich aus dem Staub, bevor er ihnen in die Hände fallen konnte. Er wusste, was ihm sonst geblüht hätte. Sie waren gnadenlos.
Oben angekommen, warf Anthony sich aufs Bett. Das Zimmer vom Cousin lag unterm Dach, und trotz Ventilator war es höllisch heiß. An den Wänden Regale mit Videokassetten, ein paar Fotos aus Baywatch und ein Poster von Bruce Lee, auf dem er ausnahmsweise entspannt wirkte. Außerdem ein großer Fernseher aus Holzimitat, ein Videorekorder, ein leeres Terrarium, in dem kurzzeitig eine nervenschwache Python gelebt hatte. In den Ecken dreckige Socken, Motorradzeitschriften, leere Dosen, ein Baseballschläger. Der Cousin rollte einen Joint aus zwei Blättchen.
»Scheiße …«
»Ja …«
»Was machen wir?«
»Keine Ahnung.«
Eine Weile lagen sie so herum, rauchten abwechselnd, hingen ihren Gedanken nach, während der Ventilator den Qualm vertrieb. Sie schauten sich an, verschwitzt, unruhig.
»Da ist endlich mal was hier …«
»Ja, aber mein Vater bringt mich um, wenn ich an seine Maschine gehe.«
»Denk an die Frau.«
»Ich sag dir, das geht nicht.«
Anthony war am Ende. Der Cousin wusste, was er zu tun hatte.
»Was kann dir schon passieren? Echt mal, wie groß sind die Chancen, dass er es überhaupt merkt? Die Maschine ist ihm doch völlig egal.«
Das war nicht ganz falsch. Sein Vater wollte von dem Motorrad nichts mehr wissen. Zu viele Erinnerungen waren damit verbunden, Opfer, die er bringen musste, der Verzicht auf etwas, was ihm früher als Freiheit erschienen war. Was nichts daran änderte, dass die Maschine mit einem Verbot belegt war, ganz im Gegenteil. Unwillkürlich fasste sich Anthony an sein rechtes Auge. Er hatte Rauch reinbekommen.
»Worauf wartest du?«, fragte der Cousin.
»Was meinst du?«
»Du warst doch noch nie mit einer zusammen.«
»Doch!«
»Die Geschichte hinten im Bus, träum weiter. Und mit der Glassman hast du uns zwei Jahre genervt. Und am Ende ist da nix gelaufen.«
Anthony spürte einen Knoten im Hals. Immerzu hatte er an sie gedacht, von der vierten Klasse bis zum Ende der siebten. Im Unterricht saß er immer so nah bei ihr wie möglich. Beim Sport glotzte er sie mit seinem Dackelblick an. Er hatte Kassetten mit ihrem Namen drauf, Mixtapes, die er aus dem Radio aufgenommen hatte: Scorpions, Balavoine, Johnny. Er war sogar mit dem Rad vor ihrem Haus auf und ab gefahren. Und das Ende vom Lied: Er hatte sich noch nicht einmal getraut, sie zu fragen, ob sie mit ihm gehen wolle. Schließlich hatte Cyril Medranet sie gekriegt, der Sohn der Mathelehrerin. Anthony hätte ihm am liebsten die Fresse poliert. Er hatte ihm dann nur den Rucksack geklaut und in die Henne geschmissen. Er war über sie hinweg, sie war eine Schlampe.
»Okay …«
Der Cousin nahm einen letzten Zug, drückte den Joint aus und schaltete das Sega Mega Drive an. Damit war das wohl gegessen. Anthony hätte heulen können.
»Scheiße …«
Er sprang vom Bett, rannte aus dem Zimmer und die Treppe runter. Bei der Aussicht auf einen weiteren bekifften Abend mit Sonic, während woanders Mädchen feierten, angebaggert wurden und Zungenküsse verteilten, nahm er lieber die Prügel in Kauf. Er schwang sich auf sein BMX und raste los. Sein Entschluss stand fest. Aber am Ende der Straße stieß er auf seine Cousine und Vanessa, die sich bei Derch mit Bier eingedeckt hatten. Er bremste. Sie stellten sich ihm in den Weg. Er blieb stehen.
»Wo willst du hin?«
»Hast du’s eilig?«
»Hey, guck mich an, wenn ich mit dir rede.«
Vanessa streckte ihm das Kinn entgegen. Sie hatte dieselbe Frisur wie die Cousine, lange Haare, eine Strähne mit einer Spange nach hinten gesteckt. Sie trugen schulterfreie Tops, Hotpants, Flip-Flops und rochen nach Kokosöl. Auf Vanessas Knöchel glänzte ein goldenes Fußkettchen. Anthony merkte, dass seine Cousine keinen BH trug. Größe 95D. Das wusste er, weil er in ihrem Zimmer herumschnüffelte, wenn sie nicht da war.
»Na los, wo willst du hin?«, wiederholte Vanessa und klemmte sich das Vorderrad seines BMX zwischen die Beine, damit er nicht entkommen konnte.
»Nach Hause.«
»Jetzt schon?«
»Was willst du denn da?«
»Willst du nix trinken?«
»Was glotzt du so?«
»Ich glotz gar nicht.«
Anthony spürte, wie er rot wurde. Er senkte den Blick.
»So ein Spanner. Willst du meine Streifen sehen?«
Und Vanessa zeigte ihm die weißen Hautstellen auf ihrer Hüfte. Anthony setzte zurück, um sein Vorderrad freizukriegen.
»Ich muss los.«
»Ah komm, krieg dich wieder ein. Sei keine Schwuchtel.«
Die Cousine, die schon bei ihrem ersten Bier war, schmiss sich weg. Aber sie kam ihm dann doch zu Hilfe.
»Lass mal. Lass ihn in Ruhe.«
Sie nahm noch einen Schluck aus der Flasche, ihr Kinn glänzte feucht. Anthony versuchte wieder, sich zu befreien, aber Vanessa ließ ihn nicht los. Sie zog einen Schmollmund.
»Anthony …«
Sie streckte die Hand nach ihm aus, er spürte die Berührung an seiner Wange. Ihre Haut war überraschend kühl. Vor allem an den Fingerspitzen. Sie lächelte. Er war ganz verwirrt. Sie schüttelte sich vor Lachen.
»Los, zisch ab!«
Und er machte sich aus dem Staub, so schnell er konnte.
Eine Weile spürte er noch ihre Blicke im Rücken und bog in die Rue Clément-Hader, ohne aufs Stoppschild zu achten. Die Straße war zu dieser Tageszeit wie ausgestorben, sie fiel steil zur Innenstadt ab. Am Horizont leuchtete der Himmel in völlig übertriebenen Farben. Wie berauscht ließ er das Lenkrad los und breitete die Arme aus. Sein Shirt flatterte im Fahrtwind. Für einen Augenblick schloss er die Augen, der Wind pfiff ihm in den Ohren. Und so fuhr er dieser ausgestorbenen, seltsam wackligen Stadt entgegen, die sich den Hang hinunter bis unter eine Autobahn erstreckte, mit einem Schaudern, zum Verrecken jung.
Anthony erkannte sofort das Lachen vom alten Grandemange. Seine Eltern schienen mal wieder ihr Feierabendbier mit den Nachbarn auf der Terrasse zu trinken. Er ging ums Haus. Die Casatis lebten ebenerdig, ringsherum nichts, bis auf einen halb verdorrten Rasen, auf dem seine Schritte wie Papier raschelten. Sein Vater wollte nicht auch noch zu Hause den Rasen pflegen und Unkraut jäten, also hatte er Roundup gesprüht. Seitdem konnte er sonntags unbehelligt Formel 1 gucken. Neben den Filmen von Clint Eastwood und den Kanonen von Navarone war das fast das Einzige, was ihm guttat. Anthony hatte nicht viel mit seinem Alten gemein, aber das wenigstens teilten sie: Glotze, Motorsport, Kriegsfilme. Im Halbdunkel des Wohnzimmers, jeder in seiner Ecke, das war das Höchstmaß an Intimität, das sie zuließen.
Ihr Leben lang hatten Anthonys Eltern ein einziges Ziel gehabt: »Bauen«, das eigene Häuschen am Horizont, und mehr schlecht als recht hatten sie es geschafft. Sie mussten nur noch die nächsten zwanzig Jahre den Kredit abbezahlen, um es ihr eigen zu nennen. Das Haus hatte Wände aus Rigips und ein Satteldach, wie in allen Gegenden, wo es jeden zweiten Tag regnete. Im Winter sorgten elektrische Heizkörper für ein wenig Wärme und gigantische Stromrechnungen. Ansonsten gab es zwei Zimmer, eine Einbauküche, ein Ledersofa und einen Geschirrschrank mit Lunéville-Keramik. Meistens fühlte sich Anthony heimisch.
»Ah, da kommt ja unser Großer.«
Évelyne Grandemange hatte ihn als Erste entdeckt. Sie kannte Anthony, seit er klein war. Er hatte sogar seine ersten Schritte in ihrer Einfahrt gemacht.
»Wenn ich daran denke, dass er seine ersten Schritte in unserer Einfahrt gemacht hat.«
Ihr Mann nickte zustimmend. Die Siedlung La Grappe gab es nun seit fünfzehn Jahren. Man lebte dort wie auf dem Dorf, oder so ähnlich. Anthonys Vater schaute auf die Uhr.
»Wo warst du?«
Anthony sagte, er habe sich am Nachmittag mit dem Cousin getroffen.
»Ich war heute Morgen bei Schmidts drüben«, sagte der Vater.
»Ich hab alles fertig gemacht, bevor ich los bin …«
»Ja, aber du hast deine Handschuhe vergessen. Komm, setz dich.«
Die Erwachsenen saßen auf Campingstühlen um einen Plastiktisch. Sie waren beim Picon-Bier, außer Évelyne, die Portwein trank.
»Riechst ganz schön streng«, bemerkte Hélène, Anthonys Mutter.
»Wir waren baden.«
»Ich dachte, du findest das eklig. Bestimmt kriegst du Ausschlag. Die leiten da die Abwasser rein.«
Der Vater merkte an, dass Anthony schon nicht dran sterben werde.
»Hol dir lieber einen Stuhl«, sagte die Mutter.
Zum Spaß klopfte sich der alte Grandemange mit der flachen Hand auf den Schenkel, wie um ihn auf seinen Schoß zu bitten.
»Nur zu, ich halt was aus.«
Der Kerl war fast zwei Meter groß, mit Händen wie aus Holz, an denen drei Finger fehlten. Für die Jagd benutzte er ein Spezialgewehr, bei dem er mit dem Ringfinger nachladen konnte. Er war ein unverbesserlicher Sprücheklopfer, aber nicht sonderlich witzig. Anthony kannte reihenweise Typen wie ihn, die Witze machten, weil es dazugehörte.
»Ich bleib eh nicht lange.«
»Wo willst du hin?«
Anthony drehte sich zu seinem Vater, dessen Gesichtszüge sich verhärtet hatten. Immer wenn das passierte, straffte sich seine Haut von einem auf den anderen Moment und erinnerte an mattes Leder, schön eigentlich.
»Morgen ist Samstag.«
»Lass ihn, sind doch Ferien.«
Der Nachbar mischte sich ein. Der Vater seufzte. Er und Luc Grandemange hatten früher zusammen im Lager Rexel gearbeitet, kurz nachdem die Hochöfen stillgelegt worden waren. Sie gehörten zu den Freiwilligen, die zu Gabelstaplerfahrern umgeschult worden waren. Damals war es ihnen wie ein Glücksfall vorgekommen: den ganzen Tag hinterm Steuer, fast wie ein Spiel. Dann war Patrick Casati in Schwierigkeiten geraten. Am selben Tag und aus demselben Grund hatte er Führerschein und Job verloren. Seinen Führerschein hatte er nach sechs Monaten Papierkrieg und einem Kurs beim Blauen Kreuz wiederbekommen. Jobs waren im Tal allerdings rar gesät, und so hatte er sich schließlich selbst seine Stelle geschaffen. Er hatte sich einen Iveco-Pritschenwagen, einen Rasenmäher, Werkzeug und einen Blaumann mit seinem Namen drauf angeschafft. Nun erledigte er alle möglichen Arbeiten, meist schwarz. In guten Monaten brachte er 4000 oder 5000 Francs nach Hause. Mit Hélènes Einkommen reichte es gerade so. Im Sommer war Hochsaison, und er hatte Anthony zum Rasenmähen und Reinigen von Swimmingpools eingespannt. Unterstützung war besonders willkommen, wenn er einen Kater hatte. Am Morgen hatte Anthony die Hecken von Dr. Schmidt gestutzt.