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ÜBER DIE AUTORIN

Francesca Segal, 1980 in London geboren, studierte in Oxford und Harvard und ist Journalistin und Kritikerin. Sie veröffentlicht unter anderem im Granta Magazine, Guardian und Daily Telegraph, ist Kolumnistin für den Observer und Feuilletonistin für das Tatler Magazine. Ihr Debütroman Die Arglosen erschien 2013 und gewann zahlreiche Preise, u. a. den Costa First Novel Award und den National Jewish Book Award for Fiction. 2017 folgte ihr zweiter Roman Ein sonderbares Alter. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern in London.

ÜBER DAS BUCH

Jede Geburt ist eine Reise ins Ungewisse. Aber wenn sie viel eher beginnt als erwartet, bekommt das Leben eine andere Dimension. Francesca Segals Tagebuch über ihre zu früh geborenen Zwillinge verbindet die Zärtlichkeit eines Liebesgedichts mit dem zwingenden Tempo eines Thrillers und erschafft eine Hymne an das Elternsein und die allumfassende Kraft von Freundschaften.

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Für A-lette und B-lette

Generationen von Frauen haben ihren Mut im Einsatz für ihre Kinder und Männer bewiesen, danach im Einsatz für Fremde und erst zuletzt für sich selbst.

Adrienne Rich, Von Frauen geboren

VORWORT

TAG MINUS 1

DONNERSTAG, I. OKTOBER

Zwei identische kleine Mädchen fühlten sich an wie ein Lottogewinn.

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich Teil einer Clique, ich bildete sozusagen ganz allein eine Mädchen-Gang. Dass ich mich während der Schwangerschaft in der stummen Gesellschaft meiner Töchter durch die Welt bewegte, erschien mir wie Magie, wie ein nicht enden wollender Zaubertrick. Zwei winzige Assistentinnen, die immer bei mir waren, die sich direkt unterhalb meiner heißen, straff gespannten Haut bewegten.

Ich war gerade dabei, einen Roman zu schreiben. Zusammen suchten meine Mädchen und ich die Sonnenterrasse der Bibliothek auf und verbrachten dort lange Nachmittage, eine von uns lesend, die anderen schlafend. Wir teilten eine neue, gierige Vorliebe für Anchovis und Hüttenkäse. Dienstags und donnerstags machten wir zu dritt Pilates. Nachts träumte ich von ihnen, tagsüber musste ich das nicht, weil ich sie spürte – sie waren da, waren bei mir, waren verrückt nach Zucker, wurden zu protestierenden kleinen Faustkämpferinnen, wenn ich die Frechheit besaß, Eiswasser zu trinken. Bei meinen alle zwei Wochen stattfindenden Ultraschalluntersuchungen in der Mehrlingsambulanz meiner Geburtsklinik nörgelten die Ärzte bisweilen ein wenig, weil sie beide Babys zu klein fanden, doch ich sah mit eigenen Augen, wie sie mit viel Energie durch meinen Bauch kugelten und turnten, und sie wirkten bei jedem Termin größer und kräftiger. Alles war, wie es sein sollte. Die Hebamme schwärmte bei unseren Zusammenkünften regelmäßig von meinem Blutdruck, meinem Blutzuckerwert, meiner deutlichen Gewichtszunahme, meiner häufig vorkommenden Blutgruppe. Obwohl ich bereits fünfunddreißig war und Zwillinge erwartete, verlief meine Schwangerschaft völlig reibungslos. Ich fühlte mich großartig. Auch wenn ich meine Freunde nicht näher dazu befragt habe, gehe ich davon aus, dass ich in meiner Selbstzufriedenheit ziemlich unausstehlich war.

Umso erschrockener war ich, als ich mich eines Morgens kurz vor Ende der dreißigsten Schwangerschaftswoche im Bett aufsetzte und feststellte, dass ich mich eingenässt hatte. Ich überlegte, ob es irgendeine Möglichkeit gab, das Bettlaken unter Gabe hervorzuziehen, ohne dass er aufwachte – wie ein Zirkusclown, der schwungvoll eine Tischdecke unter einem Porzellanservice hervorreißt. Auf diese Weise müsste er vielleicht gar nichts davon erfahren. Aber als ich nach meinem Handy griff, um »plötzliche Schwangerschaftsinkontinenz« zu googeln, sah ich im weißen Licht des Displays, dass die Flüssigkeit, die ich verlor, Blut war.

Der Großteil der nächsten sechsunddreißig Stunden bestand aus Langeweile und Warten. Im Central Hospital wies man mir auf der Geburtsstation ein Mehrbettzimmer zu und erklärte, ich müsse vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung dableiben. Jeder neue »Vorfall« setzte die Zeit wieder auf null zurück. Es vergingen sechs bis acht Stunden, ich bekam die Erlaubnis, mich anzuziehen und ein wenig frische Luft schnappen zu gehen, blutete erneut und wurde eilig in den Kreißsaal gebracht, wo nichts passierte, woraufhin ich wieder auf der Geburtsstation landete, in einem Zimmer voller Frauen, die teilweise weinten und schrien. Ich weinte nicht, weil ich im Gegensatz zu ihnen keine Wehen hatte. Bis zur Geburt meiner Kinder waren es noch volle zehn Wochen, ein ganzes Viertel meiner Schwangerschaft. Bei der letzten Untersuchung hatte Baby A knapp ein Kilo gewogen, Baby B war ein wenig kleiner. Ein Kilo – vier Päckchen Butter, oder eine Handvoll Äpfel. Weniger als eine Tüte Zucker. Ich weiß noch, wie ich dachte: Die beiden können jetzt nicht kommen, es ist viel zu früh. Also würden sie auch nicht kommen. Ich war vollkommen ruhig.

Gegen Mitternacht watschelte ich zur Toilette und schloss mich, erleichtert über das kurze Alleinsein und die relative Stille, in der Kabine ein. Und dann ging es plötzlich wieder los. Diesmal war der Boden innerhalb von Sekunden glitschig vor Blut. Ich hinterließ leuchtend rote Fußspuren, als ich Richtung Waschbecken zurückwich. Noch immer schien ich nicht begreifen zu wollen, dass das nicht gut sein konnte – mir tat hauptsächlich das Reinigungspersonal leid. Nachdem ich den Eindruck hatte, die Blutung habe aufgehört, ließ ich mich mithilfe der praktischen Handläufe neben der Toilette auf die Knie nieder und begann, mit einer Handvoll erstaunlich saugschwacher blauer Papiertücher den Boden zu wischen. In dieser Körperhaltung, auf Händen und Knien, keuchend vor Anstrengung, erregte plötzlich die von der Decke baumelnde Notrufschnur meine Aufmerksamkeit. Ihr knallroter Griff schien aus irgendeinem Grund im Rhythmus meiner Atemzüge zu pulsieren. Wie clever, dass man diese Schnur sogar von hier unten erreicht, dachte ich in meiner kauernden Haltung auf den blutverschmierten Bodenfliesen. Mein Gesicht blickte mir unerwartet vom unteren Teil eines Ganzkörperspiegels entgegen, es war kreidebleich. Dann kam mir beinahe beiläufig der Gedanke: Du solltest vielleicht darüber nachdenken, an der Schnur zu ziehen.

Als die Krankenschwester kam, murmelte ich reflexartig Entschuldigungen vor mich hin, weil ich sie stören musste und eine solche Sauerei angerichtet hatte. Ich kniete immer noch auf dem Boden, und mein herabhängendes Krankenhaushemd hatte sich mit Blut vollgesogen. Die Schwester schien es nicht lustig zu finden, als ich ihr erklärte, ich hätte den Boden wischen wollen. »Lassen Sie das«, blaffte sie. »Los, kommen Sie mit.«

Was ich dachte, als ich gehorsam hinter ihr hertrottend das letzte Mal zum Kreißsaal aufbrach? Ich erinnere mich nur ungenau, glaube jedoch, dass es die letzten Minuten einer viel zu lang andauernden Peter-Pan-Kindheit waren. Ich war fünfunddreißig Jahre alt. Aus heutiger Sicht erscheint es mir unverständlich, aber damals war ich selbst nach dem Blutsturz auf der Toilette noch überzeugt, dass alles gut werden würde. Es war ein langer Tag gewesen, und Gabe war erst vor einer Stunde nach Hause aufgebrochen, um ein wenig zu schlafen. Einerseits wünschte ich ihn mir an meiner Seite, andererseits wollte ich nicht, dass er müde war. Ich rief ihn nicht an.

Unten im Kreißsaal bekam ich einen Gurt umgeschnallt, der aussah, als wäre er für das Schleppen schwerer Möbel gedacht. Er hielt zwei Doppler-Ultraschallsensoren an Ort und Stelle, einen, der mit Monitor Zwilling 1 und Monitor Zwilling 2 verbunden war, und einen für einen dritten Monitor, der die Wehen aufzeichnete, die ich noch nicht hatte. Winzige galoppierende Hufschläge, eine Herde kleiner Wildpferde, die über eine Ebene donnerte. In meinem Bauch ging es noch allen gut. Es schien also, als wäre ich diejenige, die beharrlich vor sich hin blutete.

Ich rief Gabe gegen sechs Uhr morgens an und erwischte ihn bereits auf den Beinen und angezogen, bereit, zurück ins Krankenhaus zu kommen. Für was genau ich ihn nachts gestört hätte, wenn nicht für so etwas, wollte er von mir wissen. Stinksauer, aber mit Frühstück im Gepäck traf er bei mir ein. Sehnsüchtig betrachtete ich das heiße Porridge, das er mir mitgebracht hatte. Während er es mir in der Cafeteria gekauft hatte, war beschlossen worden, dass ich für den Fall der Fälle nüchtern bleiben sollte. »Für den Fall, dass ein Kaiserschnitt nötig wird«, erzählte ich fassungslos und schüttelte den Kopf, als wäre ich von Stümpern umgeben, von Wahnsinnigen, die ich irgendwie ertragen und bei Laune halten musste. »Ist das nicht verrückt?«

Ich blieb den Rest des Tages hungrig, bis mir meine angehäuften Stunden ohne Zwischenfälle gegen drei Uhr nachmittags eine Gnadenfrist einbrachten. Gabe ging auf Nahrungssuche und kehrte mit zwei Sandwiches zurück. Ich aß sie beide. Erst Hühnchen und Avocado mit hervorquellender Mayonnaise, und als zweiten Gang Cheddar und Tomatenscheiben auf großzügig gebuttertem Graubrot. Dann verschlang ich noch eine Zimtschnecke und die Hälfte von Gabes Blaubeermuffin. Beim Essen unterhielten wir uns darüber, dass unsere Töchter um Mitternacht, als ich den Krankenhausboden gewischt hatte, eine magische Schwelle überschritten hatten, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen war: von der neunundzwanzigsten zur dreißigsten Schwangerschaftswoche. Ab der dreißigsten Woche gelten andere Statistiken, die Überlebensrate steigt. Babys, die nur ein Kilo wiegen, haben eine ungewisse Zukunft vor sich: Atemnotsyndrom aufgrund von Unreife der Lunge; irreversible Lungenschäden durch Langzeitbeatmung; Lungenentzündung; Gehirnblutungen; Zerebralparese; Anämie; Frühgeborenen-Retinopathie, die zur teilweisen oder völligen Blindheit führen kann; Blutvergiftung; nekrotisierende Enterokolitis – lebensbedrohliches Darmversagen. Damals kannte ich keinen dieser Fachausdrücke, aber auch mir war klar, dass die Prognose für meine Töchter vollkommen anders aussah, wenn wir es schafften, ihnen noch eine weitere, zwei weitere, fünf weitere Wochen zu erkämpfen. Immerhin: Jetzt waren sie nicht mehr neunundzwanzig Gestationswochen alt, sondern dreißig. Ich würde mich in den nächsten beiden Monaten schonen, würde im Bett liegen und weiter schreiben. Was für eine Erleichterung.

Ich aß und aß. Dazu trank ich einen Liter Wasser. Dann stand ich auf, satt und erleichtert, und ein Blutklumpen von der Größe einer Kalbsleber schlitterte aus mir heraus auf den Boden. Der Arzt wurde gerufen und kam, um mir mitzuteilen, dass es keine Chance mehr gebe, die Entbindung weiter hinauszuzögern.

»Der Anästhesist wird gleich hier sein, und ich werde auch jemanden von der Neo-Intensiv bitten, heraufzukommen und mit Ihnen zu sprechen.« Sein Blick schweifte über die Sandwichkartons, die Muffinverpackung, die Krümel auf meinem Krankenhaushemd. »Erbrechen Sie sich bloß nicht über meinen OP-Tisch«, ermahnte er mich, bevor er ging.

Der Operationssaal war noch belegt, uns blieb also ungefähr eine halbe Stunde, um uns innerlich auf das einzustellen, was nun passieren würde: mit mir, mit Gabe, mit Baby A und Baby B. Wir nutzten die Zeit hauptsächlich dazu, Fotos von Gabe in seinem OP-Kittel zu machen und wie übermüdete Schulkinder darüber zu kichern, berauscht von einer betäubenden Mischung aus Unwissen und spektakulärem Nichtwahrhabenwollen. »Warum auf Dezember verschieben, was sich auch heute erledigen lässt?«, kicherte ich und überlegte laut, ob das bedeutete, dass ich tatsächlich eine Zwillingsschwangerschaft ohne Dehnungsstreifen überstehen würde. Eine Hebamme mit einer grotesk großen Schere tauchte auf, um mehrere neonbunte baumwollene Freundschaftsbänder von meinem Handgelenk zu schneiden, schmuddelige Relikte von einem Hippie-Markt auf Ibiza. Überrascht stellte ich fest, dass ein besonnener, vernünftiger Teil von mir die Sache mit der nächtlichen Blutung im Bett ernst genommen haben musste, denn ich hatte bereits meine Ohrringe und meinen Ehering abgelegt, bevor wir ins Krankenhaus aufgebrochen waren. Niemand wusste, dass wir hier waren, weder unsere Eltern noch unsere Geschwister oder Freunde, und dieser Umstand verstärkte noch das Gefühl von Schuleschwänzen. Wir weigerten uns hartnäckig, uns der Realität zu stellen. Dann erschien eine Ärztin in der Tür, mit hellen Haaren, ernstem Gesicht und weichem schwedischem Akzent. Ihre bedächtige, rücksichtsvolle Art beförderte mich ruckartig in die Wirklichkeit: Wir befanden uns in einem Krankenhaus, und diejenige, die im Krankenbett lag, war ich. Die Ärztin stellte sich vor – sie kam von der Neugeborenen-Intensivstation. Ihre Freundlichkeit war ernüchternd. »Ich wollte Ihnen erklären, was nach der Geburt mit Ihren Töchtern passiert.« Das Kichern blieb uns im Hals stecken. Danach sollte es sehr lange dauern, bis wir wieder etwas zu lachen fanden.

MUTTER SCHIFF

TAG 0

FREITAG, 2. OKTOBER

2.10.15 – P. Miller (Hebamme)

16.10 Vorbereitung auf CSE [Kombinierte Spinal-Epiduralanästhesie]

16.37 OP-Beginn – sekundäre Sectio

16.39 Zwilling 1 entbunden – Neonatologie-Team übergeben

16.41 Zwilling 2 entbunden – Neonatologie-Team übergeben

16.43 Plazenta entbunden, zerfetzt, unvollständig und in schlechtem Zustand. Entbindungsarzt in Kenntnis. In die Histologie geschickt.

17.24 OP beendet. Geschätzter Blutverlust 400 ml 500 ml

17.34 In OP-Bett umgelagert, gewaschen und abgetrocknet

Die Aufzeichnungen der Hebamme enden mit der simplen Feststellung:

17.40 Weiteres Vorgehen: Erholung

Es klang so einfach.

Ich bekam meine Töchter am Tag ihrer Entbindung nicht mehr zu Gesicht. Nach dem Eingriff lag ich im honigsüßen Diamorphinrausch im Aufwachraum, bis ich in ein Einzelzimmer gebracht wurde. Wie dankbar war ich dafür, dass ich abgeschirmt war vom fröhlichen Chaos und der Hochstimmung auf der angrenzenden Wochenstation mit ihrem Gejohle und ihren Luftballons, wo die anderen Frauen, die gerade entbunden hatten, ihre Babys bereits bei sich hatten: propere, dick eingepackte, hart errungene Trophäen, die Heerscharen bewundernder Besucher vorgezeigt wurden. Die Geburtsgeschichten dieser Frauen lagen hinter ihnen, würden bald vergessen sein. Die Wochenstation war umgekehrt auch vor mir abgeschirmt. Niemand, der gerade die ekstatische Freude frischen Mutterglücks erlebte, sollte eine Mutter sehen müssen, neben deren Bett kein Baby schlummerte. Der Straßenname für Diamorphin ist Heroin. Ich gab mich der Droge dankbar hin.

Ich weiß nicht, wie lange ich schlief, bevor Melanie ins Zimmer kam: eine elfenhafte Hebamme mit blauem Glitzerstecker in der Nase und einer 1-ml-Spritze in der Hand, nicht viel größer als eine Bleistiftmine. Ob ich der Meinung sei, dass wir versuchen könnten, ein wenig Milch auszustreichen? Bald bräuchten sie unten in der Neo-Intensiv Kolostrum.

Ich wurde in eine halb sitzende Position hochgefahren, und Melanie zeigte mir, ihrer ernsthaften Schülerin, ein quälend schmerzhaftes Manöver, das sich Ausstreichen mit C-Griff nennt, wenn ich mich recht entsinne. Wir arbeiteten verbissen vor uns hin und massierten und strichen, aber meine Brüste hatten erwartet, dass es noch mehrere Monate dauern würde, bis sie ihre Arbeit beginnen mussten, und waren genauso unvorbereitet wie der Rest von mir. Mir kam vage der Gedanke, dass es nicht unbedingt ideal war, wenn meine Töchter über die Muttermilch das in meinem Blut zirkulierende Heroin aufnahmen; irgendwann lehnte ich mich erschöpft ins Kissen zurück und starrte an die Decke, während Melanie knetete und trommelte. Wenn der Schmerz unerträglich wurde, zuckte ich so unauffällig wie möglich zusammen. Nach einer gefühlten Ewigkeit zog Melanie mit triumphalen 0,4 ml von dannen – ganzen acht Tropfen. Meine Töchter waren noch vollkommen nüchtern, und diese Menge reichte offenbar, um sie beide fürs Erste mit Nahrung zu versorgen. Nachdem Melanie gegangen war, fing ich zum ersten Mal an zu weinen. Dass man mir meine noch unreifen Töchter aus dem Leib gerissen hatte, fühlte sich nicht wie eine Geburt an, sondern wie eine Ausweidung. Sie waren in einem anderen Teil des Krankenhauses untergebracht und brauchten mich, brauchten mehr, als ich ihnen geben konnte. Um gegen die Tränen anzukämpfen, schloss ich die Augen, nur für einen kurzen Moment, und wachte am nächsten Morgen wieder auf.

TAG 1

Samstag, 3. Oktober

Obwohl es vier Uhr morgens ist, bin ich hellwach. Ich bin in der Lage, aufzustehen, zu gehen, die Entfernung des Katheters zu verlangen, den ich ansonsten – so wahr mir Gott helfe – eigenhändig herausreißen werde. Letzte Nacht stand ich unter Beruhigungsmitteln; heute Morgen bin ich wie elektrisiert. Irgendwo in diesem Krankenhaus sind meine Töchter.

Ich wanke den Flur entlang zum Aufzug und bin meinem Operateur dankbar dafür, dass ich gehen kann, langsam und behäbig, aber unbestreitbar aufrecht. Zwölf Stunden sind seit meinem Kaiserschnitt vergangen. Ich habe meine Kontaktlinsen eingesetzt, nachdem mir der irrationale, wenn auch zutreffende Gedanke gekommen ist, dass meine Babys mich noch nie mit Brille gesehen haben. Bei unserer Wiedervereinigung möchte ich gerne aussehen wie ich selbst.

Ich komme bei der Neonatologischen Intensivstation an. Der Zugang zu dieser Station ist permanent verschlossen, und zu dieser frühen Stunde ist noch niemand am Empfang. Ich stehe lange vor der Tür und wiege mich hin und her, um die Rückenschmerzen zu lindern, derer ich mir erst jetzt bewusst werde und die sich anfühlen, als würde eine Schraubzwinge immer enger zugezogen. Für Außenstehende muss es aussehen, als hielte ich ein Baby auf dem Arm und versuchte, es zu beruhigen. Endlich wird drinnen eine vorbeigehende Ärztin auf mich aufmerksam und betätigt summend den Türöffner. Ob ich wisse, wo ich hinmüsse? Ich schüttle den Kopf: nein. Was für eine Mutter weiß nicht, wo sie ihre Kinder findet? Erst jetzt merke ich, dass ich vor mich hin schluchze. Die Ärztin zeigt mir eine Reihe von Waschbecken, und ich wasche mir die Hände. »Ich glaube, die neuen Zwillinge liegen dort drüben«, sagt sie, und ich denke: meine Töchter!

In diesem Krankenhaus besteht die Neonatologische Intensivstation aus Kinderzimmern mit jeweils vier Bettchen oder Brutkästen, und in jedem dieser Zimmer sind immer mindestens zwei Schwestern anwesend, die für jeweils zwei Babys zuständig sind. Die Geräuschkulisse erinnert an eine Mischung aus Kontrollturm und Rechenzentrum, überall surrt und piept es. Bis auf die Monitore, auf denen unverständliche Daten abzulesen sind, ist es dunkel. Man könnte sich auch im Cockpit eines Raumschiffs befinden.

Jeder der hier untergebrachten kleinen Astronauten wird durch einen Temperatur-Monitor, ein Pulsoximeter zur Messung der Sauerstoffsättigung und mehrere Herzmonitore überwacht. Zudem bekommen die meisten TPE, totale parenterale Ernährung, eine Mischung aus Glukose, Proteinen und Lipiden, verabreicht per pumpengesteuerter Infusion. Jedes dieser Geräte gibt Geräusche von sich, entweder, um die Schwestern auf ein Problem aufmerksam zu machen, oder manchmal auch einfach, um zu sagen: Hallo, derzeit gibt es keine Probleme. Die Babys in dem mir gezeigten Kinderzimmer, Zimmer eins, sind Frühchen in kritischem Zustand. Etwa einmal pro Minute geht bei ihnen irgendein Alarm los, manchmal piept es auch fortlaufend.

Mit der Zeit werde ich lernen, die fünf ansteigenden Töne der TPE-Infusionspumpe als besonders beängstigend zu empfinden, weil sie normalerweise darauf hindeuten, dass eine intravenöse Kanüle herausgerutscht oder verstopft ist. Dann muss eine neue gelegt werden: wieder ein schmerzhafter Eingriff, wieder eine punktierte Vene. Jede Art von Piepton wird mich noch lange nervös machen, und zu Hause werde ich mir angewöhnen, neben der Mikrowelle zu stehen und sie auszuschalten, bevor die Zeit abgelaufen ist.

Diese beiden hier links, Seite an Seite in zwei Brutkästen liegend, diese beiden seien meine Töchter, sagt die Ärztin. Der Raum ist dunkel, und jedes Baby liegt in einem strahlend blauen Lichtkegel, als Maßnahme gegen die Gelbsucht. A ist puppengroß; B ist noch kleiner. Sie sind nackt, ihre Haut ist noch zu empfindlich für Kleider. Man hat sie auf den Bauch gebettet, und sie schmiegen sich in tiefe ovale Nester aus zusammengerollten Handtüchern und rauen Krankenhauslaken. Unter A ist das Laken mit verblichenen Clowns bedruckt, unter B mit verblichenen Teddybären. Beide tragen weiße Stoffmützen und weiße Sonnenbrillen, und ihre Nasen und Münder verdeckt eine Maske für die CPAP-Beatmung, die für den sogenannten kontinuierlichen positiven Atemwegsdruck sorgt. Auf diese Weise sollen ihre steifen, noch unreifen Lungenflügel zum Atmen gezwungen werden. Eine Magensonde verschwindet durch ihre Lippen hindurch in der Speiseröhre. Ihre Gesichter bleiben ein Geheimnis, das nur sie beide kennen.

Sie haben keine Fingernägel, keine Zehennägel, und später, wenn sie ihre Audrey-Hepburn-Brillen nicht mehr tragen, werde ich feststellen, dass sie auch keine Augenbrauen oder Wimpern haben. All dies sind offenbar keine unerlässlichen Bestandteile eines menschlichen Wesens, denn menschliche Wesen sind meine Töchter eindeutig. Sie sehen sogar übermenschlich aus. Ich presse mein Gesicht an die Glasscheibe und sehe rote Seestern-Händchen und fleischlose, knochendünne Ärmchen. Ich kann das Blut durch ihren Körper zirkulieren sehen, denn die feinen, wie Blattadern wirkenden Venenzuflüsse sind unter der durchscheinenden Haut an ihrem Rücken deutlich zu erkennen. Ihr sich bildendes Ich liegt offen zutage, sie wurden beim Menschwerden ertappt. Ich fühle mich als Störenfried, als Eindringling. Sie waren noch nicht bereit.

So weit entfernt waren sie noch nie von mir oder voneinander. Ich erkenne sie nicht wieder. Sie sind jenseitig in ihrer Fremdartigkeit, ozeanisch in ihrer Schönheit. Sie sind Halbwesen im Halbdunkel, und augenblicklich bricht mein Herz entzwei. Ich werde zur Halbmutter, zweimal.

Nach einer weiteren erfolglosen Sitzung mit einer Hebamme und ihrer Spritze kehre ich auf die Neo-Intensiv zurück, wo ich offiziell mit den geradezu manischen Hygienevorschriften bekannt gemacht werde: Taschen und Oberbekleidung kommen in Schließfächer im Eingangsbereich – am besten, so wird mir gesagt, hinterlegt man hier einen Satz Kleidung, der nicht durch Kontakt mit der Außenwelt kontaminiert wurde, mit U-Bahn oder Bus oder den Krankenhausfluren. Keine Armbanduhren oder Armreifen. Keine langen Fingernägel, keine künstlichen Fingernägel, keine Ringe mit Besatz oder Spalten. Absolut keine langen Ärmel. Am Eingang zur Station befinden sich Waschbecken, und ich lerne, wie man den Hahn mit dem Ellbogen zumacht, die tropfenden Hände hochhaltend wie ein Chirurg, der sich auf eine OP vorbereitet. Anschließend trocknet man sich die Hände gründlich mit groben Einweghandtüchern ab und massiert zum Schluss mehrere Spritzer aggressive Alkohollösung ein. Um zu meinen Kindern in Zimmer eins zu gelangen, muss ich zehn Schritte geradeaus gehen und dann links abbiegen, mich mit der Schulter voran durch eine Schwingtür schieben, ohne etwas zu berühren, um anschließend das Ritual aus Händewaschen und Desinfektionslösung zu wiederholen. Ein Paradies für Zwangsneurotiker. Man kann hier gar nicht zu penibel sein – es genügt, sich eine Träne von der Wange zu wischen, um eine Infektion zu übertragen. Eine große Angst ist das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV). Bei einem gesunden Erwachsenen ist RSV nicht mehr als eine leichte Erkältung, bei einem Frühchen kann es sich rasant zu einer tödlichen Bronchiolitis oder Lungenentzündung auswachsen. Wir befinden uns am Beginn der RSV-Saison, die gleichzeitig stattfindet wie der andere Oktober-bis-März-Killer: die Grippe. Auf dieser Neo-Intensivstation liegen dreiunddreißig Babys, das sind dreiunddreißig Immunsysteme in verschiedenen Stadien der Reifung und Gefährdung. Die Station zu betreten, bringt also eine große Verantwortung mit sich.

Die Schwester zeigt mir einen kleinen Raum, nicht viel größer als ein Kleiderschrank, der sich direkt neben den Schließfächern befindet: den Abpumpraum, von dem ich schon mitbekommen habe, dass er der Melkschuppen genannt wird.

Der Melkschuppen macht einen unscheinbaren Eindruck, ist jedoch Lebensmittelpunkt sämtlicher Mütter der hier untergebrachten Babys. Hier müssen sie jeden Tag acht bis zehn Mal Muttermilch abpumpen, und jede Sitzung kann bis zu vierzig Minuten dauern. Falls meine Milch je einschießen sollte, werde ich eine Menge Zeit hier verbringen.

In dem Raum gibt es acht Stühle und vier Milchpumpen, ein Waschbecken für weiteres Händewaschen, einen ständig nachgefüllten Karton mit Abpump-Utensilien und eine große Anzahl unterstützender Infobroschüren. Ich bin dankbar für diese Broschüren und studiere sie ohne jede Ironie.

Zusätzlich hängen Plakate an den Wänden, die für das sogenannte »Känguruhen« und möglichst langes Stillen werben oder darüber informieren, was Frauen tun können, wenn sie von ihrem Partner misshandelt werden. Neben dem Waschbecken hängt ein sich wellendes Blatt Papier, das uns an die richtige Vorgehensweise beim Händewaschen erinnert. Die beiden besten Plätze zum Abpumpen sind ganz vorne im Raum: zwei Stühle mit Blick zur Wand, wo ein kleines Regal steht, auf dem sich ein Getränk abstellen oder eine Zeitschrift ablegen lässt. Alle anderen Anwesenden müssen dahinter auf einander zugewandten Stühlen Platz nehmen, von der Ergonomie des Raums zur Geselligkeit gezwungen. Man fühlt sich wie in einem Militärhubschrauber: Pilot und Co-Pilot vorne, und alle anderen in einem dicht gedrängten Viereck dahinter.

Der Melkschuppen ist kein Ort für schamhafte Personen. Er ist ein Ort der Entblößung, der angehobenen Hidschabs und fallen gelassenen Schleier. Hier lässt sich nichts vortäuschen oder verbergen. Diesen Raum das erste Mal zu betreten, ist nervenaufreibend, als würde man sich in der Schulkantine dem Tisch der beliebtesten Mädchen nähern. Man hat das Gefühl, dass sich alle anderen Frauen schon kennen, dass sie über die Geschichten ihrer Kinder Bescheid wissen. Man ist mit unbekannten Bündnissen und Splittergruppen konfrontiert, weiß nicht, wo die Fronten verlaufen.

Doch ich werde schon bald feststellen, dass es hier ganz anders ist als früher an der Schule, wo ich die angesagten Cliquen regelrecht fürchtete. In diesem Raum herrscht Freundlichkeit, hier geht man zuvorkommend miteinander um und teilt seinen Erfahrungsschatz großzügig miteinander: welche Ärzte am meisten wissen, welche unfreundlich sind, welche Schwestern am gewissenhaftesten kritische SPO2s und Bradys notieren (wie ich es bald nennen werde, wenn Sauerstoffsättigung oder Herzfrequenz absinken). Welche Schwestern sich immer Zeit nehmen, einem dabei zu helfen, die Kinder für eine Kuscheleinheit (Kuscheln ist das wichtigste Wort hier) auf die Brust zu legen. Um wie viel Uhr in welchem Zimmer die Visite stattfindet, wann voraussichtlich der Ultraschall-Arzt für die Hirnscans vorbeikommt, welcher Schönheitssalon in der Nähe einem schnell die künstlichen Fingernägel entfernen kann, die man sich letzte Woche für eine Party hat verpassen lassen, bevor man versehentlich im Badezimmer seiner Freundin sein Kind entbunden und dadurch besagte Party verpasst hat. Das sind weder meine Worte noch meine Erfahrungen, aber der Melkschuppen ist ein Ort der Nachsicht, ein Zustand der Gnade. Heute setze ich mich allerdings noch stumm in ein Zimmer voller Fremder und streiche aus, was das Zeug hält. Es kommt keine Milch. Die Frauen um mich herum unterhalten sich, während sich ihre Flaschen füllen, und ich lausche ihnen andächtig, wie eine Novizin.

Unsere Zwillinge belegen die linke Hälfte von Zimmer eins. In Bett drei liegt William, dessen Eltern da waren, als ich am frühen Morgen auf die Station kam, beschäftigt mit Tätigkeiten, die mein Vorstellungsvermögen übersteigen. In Bett vier ist Martin untergebracht. Seine Mutter, Sunny, habe ich auf dem Flur getroffen, als ich zum zweiten Mal herunterkam. Sunny ist mit ihrer Mutter hier, die nur Koreanisch spricht und deren Namen ich nie erfahren werde, auch wenn ich sie mit der Zeit liebgewinnen werde. Sie ist klein und zierlich, hat kurze Haare, eine bescheidene, offenbar religiöse Frau. Sie ist von Busan hierhergeflogen, um an Martins Bett zu beten und für Martins Vater einzuspringen, der im Schichtdienst arbeitet und Überstunden macht.

Als ich es nicht mehr ertrage, nutzlos zwischen den Brutkästen herumzustehen, kehre ich nach oben in mein eigenes Krankenbett zurück. Dort wird klar, dass ich es »übertrieben habe«, obwohl man mich genau davor gewarnt hat. Ich versuche zu schlafen, werde jedoch unablässig von freundlichen Hebammen belästigt, die meinen Blutdruck messen und mir meine Medikamente verabreichen. Heute werden meine Kinder noch durch eine intravenöse Lösung aus Glukose und Lipiden ernährt – A durch ihr linkes Handgelenk, B durch ihr rechtes. Aber diese Spezialbehandlung kann ihnen nicht ewig zuteilwerden. Morgen werden sie versuchen müssen zu verdauen, wie jeder andere Mensch auch.

Gabe bringt mir Hühnersuppe zum Mittagessen mit, Knochenbrühen seien gut bei Blutverlust. Während wir gemeinsam essen, sprechen wir über die Bettnachbarn unserer Mädchen, die beide bereits Namen haben, William und Martin, während unsere Kinder immer noch Zwilling eins und Zwilling zwei sind. Wir müssen die Sache mit der Namensfindung anpacken, doch fürs Erste erscheint sie uns unwichtig, verglichen mit der Aufgabe, unsere Kinder am Leben zu erhalten. Bisher haben wir uns nicht mal auf eine engere Auswahl festgelegt.

Wir sind uns einig, dass Martin eine wunderbar kämpferische Namenswahl ist: Als Sohn des Mars und als Krieger wird der kleine Kerl sich sicher durchbeißen und schnell groß und stark werden. William erzeugt die Vorstellung von einem sommersprossigen kleinen Lausbub, wie man ihn aus den Kinderbüchern Just William kennt. Aber wir haben William und Martin bisher nur aus der Ferne gesehen, flüchtige Blicke aus dem Augenwinkel. Zimmer eins ist groß, und die weite Fläche leeren Bodens zwischen unseren Brutkästen scheint unpassierbar. Ich habe sofort intuitiv verstanden, dass man die anderen Babys und ihre treusorgenden Eltern nicht anstarrt. Ich selbst bin leider noch nicht treusorgend. Bis jetzt habe ich nur herumgestanden. Dann hat mir jemand einen Hocker gebracht, also habe ich mich zur Abwechslung hingesetzt.

Als ich nach meiner Hühnersuppe wieder hinunter zur Neo-Intensiv wanke, steht die Mutter von Bett drei, Williams Mutter, beim Händewaschen neben mir. Sie hat eine schmale Taille und ist generell sehr schlank. Dass sie kürzlich schwanger gewesen ist, sieht man nicht. Ich habe schon mehrere solcher Frauen hier gesehen – entweder ihre Schwangerschaften dauerten nicht lange genug, um ihre Körper wesentlich zu verändern, oder ihre Kinder liegen schon so viele Monate hier, dass sie ihre Babypfunde längst wieder verloren haben. Die dunklen Haare von Williams Mutter sind lang, glatt und glänzend. Sie fallen nach vorn und verdecken ihr Gesicht. Heute trägt sie ein blaues Kleid und abgewetzte braune Ankle-Boots. Sie wirkt jung und besorgt. Ihre abgenutzte Handyhülle aus Leder ist golden verziert, wie eine alte Bibel, und allein aus diesem Grund stufe ich sie als gläubige Christin ein. Sie weicht meinem Blick aus.

Ich stelle mich ihr trotzdem vor, aufgeputscht vom Adrenalin, vom Schock, von den Medikamenten. Es stellt sich heraus, dass Williams Mutter, Sophie, eine Veteranin ist, bedrückt von der seit Wochen andauernden Angst um ihr Kind. Meine Stimme kiekst, ich verhaspele mich. Wir tauschen unsere medizinischen Daten aus, das Gestationsalter unserer Kinder, ihr Geburtsgewicht. So stelle ich mir ein Kennenlernen unter Häftlingen vor: Verbrechen und Länge der Haftstrafe. Sophies Sohn William kam nach achtundzwanzig Schwangerschaftswochen zur Welt und hatte eine schwere intrauterine Wachstumsretardierung. Seine Geburt war im August; jetzt ist Oktober, und er liegt immer noch auf der Intensivstation. Bei seiner Geburt wog er sechshundert Gramm. Oh, süß, sage ich. Ich habe noch nicht gelernt, wie man sich hier unterhält, habe noch nicht verstanden, worum es hier geht. Nein, antwortet Sophie knapp. Nicht süß. Sie drückt das Desinfektionsgel auf ihre Hände und eilt davon, und ich lausche dem schnellen Klappern ihrer Stiefel auf dem Weg zu ihrem Sohn. Ich warte einen Moment, um ihr Zeit zu geben, das zweite Händewaschen am nächsten Waschbecken hinter sich zu bringen.

Schon bald wird Sophie eine der wichtigsten Frauen in meinem Leben sein. Sie wird mich antreiben wie ein Feldwebel, mich aufrichten wie ein Engel, mich mit unerwartetem schwarzem Humor und schamlosen Witzen zum Lachen bringen. Sophie hat meine Töchter schon vor mir gesehen, sie erinnert sich an ihre Ankunft, daran, wie die Ärzte darum kämpften, sie zu stabilisieren. Sie hat ihre ersten dünnen Schreie gehört. Sophie war sozusagen meine Geburtsbegleitung, ohne dass ich von ihr wusste. Aber heute ist sie noch eine leicht feindselige Fremde, die ich gegen mich aufgebracht habe und mit der ich nun in Zimmer eins koexistieren muss.

Sophie schreibt ebenfalls. Als ich viel später ihre Version unseres ersten Aufeinandertreffens lese, ist sie sehr aufschlussreich. Ich erkenne mich darin nicht wieder, denn sie lobt meine aufrechte Körperhaltung trotz Bauchwunde und merkt an, dass ich im Gegensatz zu den meisten Frauen für meine ersten Besuche auf der Neo-Intensiv auf einen Rollstuhl verzichtete und stattdessen zu Fuß herunterkam. Ihre Darstellung entstand mit zeitlichem Abstand und war mit liebevoller Nachsicht verfasst. Dennoch: dass ich bereits in der Lage war, selbstständig zu gehen, war damals noch das Einzige, wofür sie mich loben konnte. Ich weiß, dass ich sie bei unserem ersten Gespräch vor den Kopf gestoßen habe, auch wenn sie behauptet, sich nicht daran erinnern zu können. Ich glaube, in den darauffolgenden Tagen und Wochen habe ich sie so lange zermürbt, bis sie nicht mehr anders konnte, als meine Freundin zu werden. Ich war überall – im Kinderzimmer, im Melkschuppen –, und irgendwann hörte sie einfach auf, sich dagegen zu wehren.