KuhnKuhn
Mondnackt
Noldi Oberholzers vierter Fall
Verwirrspiel Der Mond steht hoch am Himmel, ein Nacktwanderer liegt tot im Schnee und ein Wohnwagen auf dem Campingplatz Wildberg fängt Feuer. Polizist Arnold Oberholzer wird wieder einmal aus dem Schlaf gerissen. Bei der Leiche handelt es sich um den selbsternannten Guru, Astrologen und Wahrsager Eberlein, der eine große Fangemeinde – und zahlreiche Feinde hatte. Eberleins uneheliche Tochter und ihr Angetrauter, seine schwangere Geliebte, deren Mann, der drogenabhängige Sohn und ein Psychologe geben sich alle gegenseitig ein Alibi. Sogar Bayj, die berühmte Spürnase, kann kaum brauchbare Spuren finden. Noldi gerät in ein immer rasanteres Verwirrspiel um den selbsternannten Guru, dem viele nach dem Leben trachteten, doch als er tot ist, will es keiner gewesen sein. Und während die Aufklärung des Falles unmöglich scheint, bangt Oberholzers Familie um ein zu früh geborenes Enkelkind.
Roswitha Kuhn studierte Germanistik und Slawistik in Graz sowie in Zagreb. Neben ihrer Tätigkeit als Bibliothekarin in Graz, Wien und am Tibet-Institut Rikon ist sie schriftstellerisch tätig. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie bis zu seinem Tod 2016 in Rikon und Zürich. Jacques Kuhn absolviert ein Ingenieurstudium in Zürich sowie den USA, führt mit seinem Bruder Henri bis zu dessen Tod und danach 15 Jahre allein das Familienunternehmen Rikon AG. 1968 gründen die Brüder auf Wunsch des XIV. Dalai Lama das Tibet-Institut in Rikon, das einzige tibetisch-buddhistische Kloster im Westen. Nach einer späten Heirat wagen sich KuhnKuhn in die Gefilde der Kriminalliteratur.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Fusslos (2016)
Hasensterben (2015)
Nachsuche (2013)
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © MEISTERFOTO / fotolia.com
und © by-studio / fotolia.com
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6048-7
Unsere Geschichte ist von Anfang bis Ende frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen und Ereignissen beruhen auf Zufällen und sind nicht beabsichtigt.
Noldi (Arnold) Oberholzer, Kantonspolizist, 59
Meret, seine Frau, 55
Verena, Tochter, 30
Richard, ihr Mann, 33
Mark, 6, Luis und Lena, Zwillinge, 4, ihre Kinder
Peter, Sohn, 28, in Amerika
Cheryl, seine Freundin, 22
Felizitas, Tochter, 22
Paul, Sohn, 17
Anne, seine Freundin, 18
Hans Hablützel, Wildhüter, 64
Betti, seine Frau, Merets Schwester, 60
Philipp und Karin Lindegger, Eltern von Anne
Leo Eberlein, 59, Opfer
Michael Rübl, sein unehelicher Sohn, 16
Oksana Biller, seine uneheliche Tochter, 30
Boris Biller, ihr Mann, Anwalt, 39
Charlotte Peter, eigentlich Petrowa, ihre Mutter, 55
Albin Landolt, 34, Psychologe, findet den Toten
Cornelius Pikett, 58, selbst ernannter Platzwart auf dem Campingplatz Wildberg
Bastian Grob, 28, Nachbar auf dem Campingplatz
Orgetorix Nünlist, Informatiker, 38
Rosetta Nünlist, 38, seine Frau, beide Anhänger von Eberlein
Gerlinde, genannt Tara, Verehrerin von Eberlein, 26
Gusti Rebsamen, 85, Immobilienmakler
Arthur Zemp, Noldis Chef, Nachfolger von Hans Beer, 44
Remo Studer, Leiter der Abteilung Gewaltkriminalität gegen Leib und Leben, Zürich, 56
Bayj, der bayerische Gebirgsschweißhund, 7
Der Mond steht hoch am Himmel, auf der Wiese steht Kantonspolizist Arnold Oberholzer neben seinem kurzen schwarzen Schatten und starrt fassungslos auf einen dunklen Fleck vor sich im Schnee.
Bei der Polizei war ein Notruf eingegangen. Deshalb hatte man Noldi mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Fluchend rappelte er sich auf und gähnte. Meret, seine Frau, wurde nicht richtig wach, sie murmelte etwas und rollte sich in der warmen Mulde, die er hinterlassen hatte, zusammen. Noldi zog ihr die Decke über die nackte Schulter und wankte ins Bad. Er hatte eigentlich frei, doch die Streife, welche den Einsatz hätte übernehmen sollen, war zu einem Einbruch nach Neugrüt gerufen worden und zu allem Übel auf der vereisten steilen Straße auf den Schnurrberg hängen geblieben.
Das könnte ihm auch passieren, denkt Noldi, während er im Schuss das erste steile Stück der Wildbergstrasse nimmt. Bei einem Bremsmanöver würde er vermutlich nicht mehr von der Stelle kommen. Dann müsste er rückwärts hinunter bis zur Hauptstraße rutschen. Kein Vergnügen, wie er aus Erfahrung weiß. Er hat an dem kritischen Punkt schon mit allen möglichen Tricks gewendet, ein Manöver, für welches die Polizei jedem anderen sofort eine saftige Buße aufbrummen würde.
Die Nacht ist glasklar und klirrend kalt. Nachdem die Weihnachten grün waren, hat der Winter im Februar doch noch zugeschlagen. Tagelang fiel Schnee und liegt jetzt als dicke weiße Decke über der Landschaft.
Im Auto ist es kalt wie im Freien. Noldi hat zwar die Heizung auf Hochtouren gedreht, doch warm wird es vermutlich erst, wenn er wieder aussteigen muss. Selber schuld, denkt er. Der Wagen stand tagsüber auf dem Parkplatz hinter der Polizeistation Tösstal, wo Kantonspolizist Arnold Oberholzer Dienst tut. Abends hat er ihn aus Faulheit in der Sunnematt gleich vors Haus statt in die Garage gestellt. Glückerweise ist das Wetter trocken geblieben, sonst hätte er auch Eis von den Scheiben kratzen müssen. Ohne Zwischenfall bewältigt er das steile Stück bis zur Heurüti, einer Wiese, um die sich Tannen wie ein schwarzer Scherenschnitt vom Himmel abheben. Vor drei Tagen war Vollmond und er hat noch nichts an Leuchtkraft eingebüßt. Die Nacht ist so hell, dass man fast im Freien lesen könnte. Als Noldi gleich darauf in den Wald kommt, dringt auch hier das Mondlicht durch die Bäume, und sie werfen ihre langen Schatten über die Straße.
Er fährt am tibetischen Kloster vorbei. Bis auf ein einziges Fenster ist das Haus dunkel. Oben an der Straße steht ein Auto. Ob das einem Mönch gehört, überlegt der Polizist, oder haben sie um diese Zeit noch Besuch. Wieder folgt ein Waldstück, dann liegt nach einer Linkskurve die Hochebene von Wildberg vor ihm. Auf der anderen Seite der Töss gibt es das Gegenstück dazu, die Hochebene von Langenhardt, wo er, Noldi, als Bauernsohn geboren und aufgewachsen ist. Unbewusst nimmt er den Fuß vom Gaspedal. Obwohl er ihn kennt, überwältigt ihn der Anblick jedes Mal aufs Neue. In der Ferne liegt Wildberg, der Ort, in die Landschaft geschmiegt. Kein Fenster ist um diese Zeit noch hell. Sogar die Wirtshausschilder haben sie schon ausgeschaltet. Dafür leuchten die verschneiten Wiesen.
Langsam fährt Noldi weiter, bis er auf dem Feldweg linkerhand ein Auto entdeckt. Darin sitzt, deutlich sichtbar gegen den helleren Hintergrund, eine Gestalt. Das wird der Herr Landolt sein, denkt er, biegt von der Straße ab, stellt sein Auto direkt hinter den anderen Wagen. An dem öffnet sich in dem Moment die Fahrertür. Ein Mann steigt aus, jung, mittelgroß, füllig, ein rundes Gesicht mit Bart. Sehr bleich, soweit Noldi erkennen kann. Aber vielleicht täuscht das Mondlicht.
»Herr Landolt?«, fragt er, um sicherzugehen.
»Ja«, erwidert der andere. »Gott sei Dank sind Sie da. Es ist so unheimlich.«
»Wo ist die Person?«, erkundigt sich Noldi, ohne auf die Äußerung des anderen einzugehen.
»Dort«, deutet der Mann mit dem Arm unbestimmt nach hinten.
»Zeigen Sie mir den Weg?«
»Muss das sein?«, fragt Landolt und schüttelt sich.
Noldi zögert. »Nein«, sagt er schließlich, »lassen Sie nur. Ich kann gut Ihrer Spur nachgehen. Doch dann muss ich Sie um Ihren Ausweis bitten, damit Sie inzwischen nicht verduften. Tut mir leid, das ist Vorschrift. Sie verstehen.«
Landolt nickt unsicher, zieht aber ohne Widerrede seine Brieftasche. Er überreicht Noldi die Identitätskarte, welche dieser für alle Fälle kurz im Schein seiner Taschenlampe kontrolliert. Dann steckt er sie ein und macht sich auf den Weg. Er geht den Fußstapfen im sonst unberührten Schnee nach, der unter seinen Tritten knirscht.
Sie führen zu dem einzigen Baum im Gelände. Noldi leuchtet mit der Taschenlampe und erkennt sofort, was Herrn Landolt hierhergetrieben hat. Direkt neben dem Stamm ist ein gelber Kreis im Schnee. Warum, denkt Noldi misstrauisch, ist der Mann zum Wasserlassen so weit gelaufen. Suchend blickt er sich um. Doch da ist nichts. Erst weiter weg entdeckt er in einer flachen Mulde einen schwarzen Fleck. Da liegt tatsächlich einer. Tot, das ist sicher, denkt der Polizist, denn bei diesen Temperaturen legt sich keiner in den Schnee, um ein Nickerchen zu machen. Er geht vorsichtig näher und glaubt zu träumen. Er reibt sich die Augen, schaut noch einmal hin. Tatsächlich, die Leiche vor ihm ist bis auf die festen Winterstiefel an den Füßen splitterfasernackt. Wie sie da liegt, groß, hager, halb auf die Seite gedreht, mit angezogenen Knien, gleicht sie einem Hampelmann. Nur dass Noldi in seinem Leben noch nie einem nackten Hampelmann begegnet ist. Dazu dieser Mond dort oben, groß, rund und grasgrün.
Der Polizist zieht ein paarmal scharf die Luft ein, atmet sie wieder aus. Dann erst ist er so weit, dass er den Toten genauer ansehen kann. Langsam und gründlich leuchtet er ihn mit der Taschenlampe ab. Auf Distanz sind keine Verletzungen zu erkennen. Das Einzige, was er findet, ist ein Gurt um die Mitte. Schließlich kontrolliert er die Umgebung. Die Fußabdrücke, denen er gefolgt ist, enden in beträchtlichem Abstand. Sonst ist der Schnee unberührt bis auf die Spur zu der Stelle, wo der Mann liegt. Also, denkt Noldi, seine eigene. Er überlegt kurz, nähert sich dann mit einem Satz der reglosen Gestalt, beugt sich vor, legt die Fingerspitzen an den Hals, obwohl er weiß, dem Mann ist nicht mehr zu helfen. Tatsächlich, der Körper ist steifgefroren, das sichtbare Auge geschlossen. Kleine Eiskristalle haben sich an Wimpern, Mund und Nase gehängt.
Der Polizist zückt sein Telefon, ruft in der Zentrale an und bestätigt den Leichenfund. Man bescheidet ihn, vor Ort zu bleiben, bis die Kollegen eintreffen. Auch wenn nichts auf ein Gewaltverbrechen hindeutet, muss bei einem Tod im Freien eine polizeiliche Untersuchung stattfinden. Er wirft einen Blick auf die Leiche. Ob es jemand aus der Gegend ist? Weder Gesicht, so viel er davon sieht, noch Figur kommen ihm bekannt vor. Nachdenklich kehrt er zu Landolt zurück, der noch immer frierend neben seinem Fahrzeug steht.
»Warum haben Sie sich nicht wieder ins Auto gesetzt?«, fragt Noldi.
Der andere zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht«, sagt er, »zu nervös.«
Noldi hält ihm seine Wagentür auf. »Kommen Sie.«
Drinnen schaltet er die Zündung ein, um die Heizung in Gang zu bringen.
Er wendet sich an Landolt: »Sie sind zum Wasserlassen so weit weg. Wieso? Ist um diese Nachtzeit doch keiner da, der Sie hätte sehen können.«
»Ha«, sagt der andere, »wollte ich gar nicht. Sie werden lachen, aber da stehe ich, rundherum ist alles weiß und hell, und ich kann nicht. Gegen das eigene Auto pinkeln ging auch nicht. Es ist zu blöd, ich weiß, nur so war es. Da habe ich den Baum entdeckt. Dort bin ich hin.«
»Und dann?«
»Als ich fertig war, ist mir der dunkle Fleck im Schnee aufgefallen.«
»Und Sie haben nachgesehen, was es ist?«
»Ja.«
»Sie haben den Toten nicht berührt?«
»Er ist tot, nicht wahr?«
Noldi nickt.
»Das«, sagt Herr Landolt, der nun etwas munterer wirkt, »habe ich befürchtet. Wie ich ihn dort liegen gesehen habe. Nackt. So was überlebt keiner. Ich bin gar nicht näher hin. Mir war nicht wohl bei dem Anblick. Zu skurril, eine nackte Leiche im Schnee. Habe an meinem Verstand gezweifelt.«
Noldi kann dem Mann das nachfühlen. Er mustert ihn von der Seite. Betrunken wirkt er nicht. Hätte sich sonst auch kaum bei der Polizei gemeldet. Trotzdem fragt er: »Haben Sie Alkohol konsumiert?«
»Ja«, antwortet der andere ohne Zögern. »Zwei Bier. War bei Bekannten in Ehrikon zum Abendessen eingeladen.«
»Bis nach Mitternacht. Da ist es bei zwei Bier geblieben?«
»Wir haben Schach gespielt.«
»Sie wollten wohin, dass Sie da durchgekommen sind?«
»Nach Zürich.«
»Ist aber nicht der nächste Weg.«
»Schon klar. Ich fahre immer über Weisslingen und bei Effretikon auf die Autobahn. Ich wohne in Zürich an der Schaffhauserstrasse. Da ist das der nächste Weg.«
Noldi kommentiert die Erklärung nicht. Schließlich fährt er selbst meist ebenso. Stattdessen zieht er sein Handy heraus, fotografiert die Identitätskarte von Landolt, die er immer noch im Sack hat. Dann schaut er, ob die Aufnahme scharf geworden ist, und gibt dem Mann den Ausweis zurück.
»Jetzt brauche ich noch Ihre genaue Adresse und die Ihrer Freunde in Ehrikon sowie deren Namen. Anschließend können Sie fahren. Höchst wahrscheinlich kommen wir noch einmal auf Sie zu.«
»Und Sie?«, fragt der junge Mann.
»Ich warte hier.«
»Ziemlich trostlos.«
Noldi schaut ihn verwundert an. »Ja, schon. Das ist mein Job.«
Landolt scheint kurz zu überlegen. »Wenn Sie möchten«, sagt er, »warte ich mit Ihnen.«
Jetzt versteht Noldi gar nichts mehr. »Warum wollen Sie das tun?«, fragt er irritiert.
»Damit Sie nicht allein sind.«
Was soll er darauf sagen, denkt der Polizist. Dass es ihm nichts ausmacht? Dass er an solche Situationen gewöhnt ist? Wäre beides gelogen. Es macht ihm etwas aus, ein Toter dort im Schnee. Dass man sich an Leichen nie gewöhnt.
»Fahren Sie ruhig«, sagt er schließlich nur. »Ich komme zurecht.«
»Sicher?« Der andere wirkt erleichtert.
»Sicher.«
»Na dann«, sagt Landolt, steigt in seinen Wagen, lässt den Motor an, und der Polizist setzt sein Auto bis auf die Straße zurück, damit der andere vorbeikommt.
Das Motorengeräusch verstummt und Noldi ist allein mit dem Mond, der unerbittlich weiterwandert, und mit der Leiche, die sich nicht mehr von der Stelle rührt. Erst wartet er im Auto, doch auch dort kriecht ihm schnell die Kälte in den Rücken. Deshalb steigt er wieder aus, stapft ein Stück den Weg entlang. Er zieht den Hals ein, bohrt die Fäuste in die Jackentaschen. Früher war er nicht so kälteempfindlich. Das ist das Alter, denkt er, und zum ersten Mal überlegt er, wie lange es noch bis zur Rente dauert. Pauli, sein Jüngster, der schon als Kind immer Kriminalist werden wollte, ist 17. Das heißt, in einem Jahr hat er das Mindestalter für einen Eintritt bei der Polizei erreicht. Er, Noldi, sagte stets, wenn sein Sohn so weit wäre, würde er sich pensionieren lassen. Das war als Scherz gemeint, doch jetzt könnte es bald Ernst sein. Dabei ist er mit Leib und Seele Polizist. War es immer, daran hat sich nichts geändert. Doch etwas ist anders geworden. Aber was? Er grübelt darüber nach, während er den Weg vom Auto zum Birnbaum marschiert. Dann geht er noch einmal in seiner eigenen Spur zu dem Toten. Wieder leuchtet er mit der Taschenlampe die Umgebung ab. Die Schneedecke bleibt auch bei der neuerlichen Prüfung unversehrt. Noldi ist kalt, er beschließt, doch im Auto zu warten. Als er dann hinter dem Lenkrad sitzt, fällt ihm ein, er könne die Wartezeit nützen, um auf dem Handy eine Google-Suche nach diesem Herrn Landolt zu starten. Er wird schnell fündig. Albin Landolt ist Psychologe, der eine eigene Website betreibt. Er bietet eine ganze Palette von Therapien an, unter denen Noldi sich beim besten Willen nichts vorstellen kann. Außerdem gibt es über ihn einen Zeitungsbericht, in dem steht, dass er im Auftrag der Stadt die Betreuung jugendlicher Straftäter übernommen habe. Noldi beginnt zu lesen, dann hört er von fern Motorengeräusch, zwei Scheinwerferkegel tasten über die Wiesen. Er schaltet das Fernlicht als Wegweiser ein. Wie erwartet, hält bald darauf ein Wagen an der Abzweigung. Noldi geht zu ihm hin. Als der Mann das Seitenfenster herunterlässt, sieht er, es ist nicht der alte Doktor. Mit dem hier hat er nicht oft zusammengearbeitet. Er winkt ihn weiter den Weg hinauf, damit auch die anderen Autos Platz haben. Erfahrungsgemäß kommen sie jeder im eigenen Wagen. Noch während der Arzt seine Tasche aus dem Auto holt, erscheint als Nächstes ein Polizeioffizier, der sich als Ralf Besser vorstellt. Die Begrüßung fällt knapp und professionell aus. Sogar die gutmütigen Witze auf seine Kosten fehlen. Meist wird Noldi von den Winterthurern, die sich für etwas Besonderes halten, gehänselt. »Tösstaler«, fragen sie grinsend, »ist das der Onkel vom Neandertaler?«
Kapo Besser teilt ihnen mit, der Staatsanwalt werde nicht erscheinen, wolle aber informiert werden. Dem, denkt Noldi innerlich grinsend, ist es viel zu kalt.
Bis der Forensiker eintrifft, nützt Noldi die Zeit für einen kurzen Bericht. Endlich hält auch der vierte Wagen an der Einmündung zum Feldweg. Noldi hilft dem Kollegen von der Spurensicherung, sein Equipment an den anderen Autos vorbeizumanövrieren, und führt dann alle zum Fundort der Leiche. Es ist bitterkalt. Frierend treten sie von einem Fuß auf den anderen, während der Techniker die Scheinwerfer aufstellt. Das Absperrband spart er sich, da es weit und breit im Schnee keine andere Spur als die des Toten gibt. Dann fotografiert er die Leiche und ihre Umgebung von allen Seiten. Erst nachdem er damit fertig ist, kann der Doktor mit seiner Arbeit beginnen. Er untersucht den reglosen Körper Stück für Stück, stellt aber genauso wenig wie Noldi Merkmale äußerer Gewalteinwirkung fest. Sorgfältig tastet er den Kopf ab, ohne die geringste Verletzung zu finden. Er richtet sich mühsam wieder auf, drückt die Hand ins Kreuz.
»Wie lang liegt er schon da?«, fragt Besser hinter ihm.
»Schwer zu sagen«, antwortet der Doktor. »Er ist bereits durchgefroren. Andererseits dauert das bei dieser Kälte nicht besonders lang.«
»Sicher war er so nicht bei Tag unterwegs«, wirft Noldi ein.
»Kaum«, stimmt der Doktor ihm zu.
»Er kann schon eine Weile hier liegen«, schaltet sich der Kollege von der Spurensicherung ein. »In dieser Senke findet ihn keiner, wenn er nicht direkt daran vorbeikommt.«
»Herzversagen?«, erkundigt sich Besser.
»Möglich«, antwortet der Doktor, »aber dafür ist er eigentlich zu gut in Schuss.«
»Der und gut in Schuss«, sagt der Forensiker.
»Doch, doch, auch wenn er so dürr wirkt. Der ist zäh. Und er hat das nicht zum ersten Mal gemacht. Das ist ein Nacktwanderer.«
Noldi stutzt. Er weiß, die gibt es. Aber in seinem Revier hat er noch nie davon gehört. Nicht, dass es im Tösstal keine Spinner gibt. Im Gegenteil, dieses abgeschiedene Gebiet hat viele angezogen, vor allem solche, die auf der Flucht vor der Obrigkeit waren. So haben sich in den Kalksteinhöhlen der Talhänge zum Beispiel die Wiedertäufer eingenistet. Aber auch andere politisch Verfolgte sind früher aus der Stadt hierher aufs Land gezogen.
Der Doktor beugt sich noch einmal über die Leiche. »Hoppla«, sagt er, »was haben wir da?« Er deutet mit dem Finger neben die Achselhöhle des toten Mannes.
Der Forensiker fokussiert den Scheinwerfer, und in seinem Licht wird eine kleine dunkle Scheibe sichtbar, die an einer dünnen Kette vom Hals hängt.
»Eindeutig ein Amulett«, stellt der Doktor fest.
Besser will sehen, was darauf ist.
»Ein Kreuz in einem Kreis«, sagt Noldi.
»Aber kein gewöhnliches Kreuz«, wirft der Doktor ein, »da ist oben ein kürzerer und unten ein schräger Querbalken.«
»Orthodox vielleicht«, mutmaßt der Kapo.
»Ein Stündeler«, sagt Noldi langsam.
»Sieht ganz so aus«, meint der Forensiker. »Und weit und breit keine andere Spur als seine eigene.«
»Drehen wir ihn um«, schlägt der Doktor vor. »Ich will sehen, ob er irgendwo doch eine Verletzung hat.«
»Ist er nicht angefroren?«, erkundigt sich Besser.
»Kaum. Ist mir noch nie passiert, dass eine Leiche im Schnee richtig angefroren wäre.«
Zu viert heben sie den Toten an und drehen ihn um. An den Stellen, wo die Haut den Untergrund berührt hat, klebt Schnee. Der Forensiker fotografiert. Dann stellt der Doktor fest, dass auch die andere Seite des Körpers unversehrt ist. »Der Mann muss gemerkt haben«, meint er nachdenklich, »etwas stimmt nicht mit ihm, wollte sich hinsetzen. Oder er bekam plötzlich einen Krampf.«
Das leuchtet Noldi ein. Er betrachtet den Toten. Es handelt sich um einen Mann gegen die 60. Er hat ein langes, hageres Gesicht mit tiefen Falten um den Mund und auf der Stirn sowie einen Zweitagebart. Die Lippen schimmern blau unter den Schneekristallen. Keiner aus der Gegend, denkt Noldi. Aber irgendwie muss er hierhergekommen sein. Sicherlich nicht nackt. Da fällt ihm das Auto vor dem Kloster ein.
»Moment«, sagt er, »mal schauen, ob er wenigstens einen Autoschlüssel bei sich hat.« Er versucht, den Gurt von der Leiche zu lösen, hat damit aber kein Glück.
»Schneide ihn einfach ab«, schlägt der Doktor vor.
Noldi schaut fragend zum Kollegen von der Forensik. Er ist nicht sicher, ob er auf diese Weise womöglich Beweismittel vernichtet. Doch der nickt. »Was bleibt uns anderes übrig.«
Noldi zieht sein Taschenmesser und versucht, den Gurt auseinanderzuschneiden. Es ist keine leichte Arbeit, aber zum Glück ist sein Messer scharf. Er säbelt heftig hin und her, um Wärme zu erzeugen. Endlich kann er das Futteral vom Gurt ziehen und schaut, ob ein Autoschlüssel in der Lederhülle steckt. Doch da ist nichts außer einer kleinen Thermosflasche. Noldi reicht sie dem Doktor, der sie zu öffnen versucht. Der Verschluss ist, wie alles an der Leiche, gefroren.
»Kommt ins Labor«, ordnet er an. »Irgendwie gefällt mir die Sache nicht, auch wenn es nicht nach einem gewaltsamen Tod aussieht.«
Der Kollege von der Spurensicherung steckt Flasche samt Hülle in einen Plastiksack und legt das Beweisstück ein wenig abseits in den Schnee.
»Kein Kampf, kein Schuss, nichts«, sagt der Kapo hoffnungsvoll. »Wahrscheinlich doch ein Herzinfarkt. Was meinen Sie, Doktor?«
Der Arzt schaut einen Augenblick auf den reglosen Körper hinunter, dann schüttelt er den Kopf. »Leider kann ich mir, solange er gefroren ist, weder Augen noch die Mundhöhle anschauen. Aber sollte es kein natürlicher Todesfall sein, kommt nur Gift infrage.«
»Das wissen wir, wenn Sie ihn auf dem Tisch in der Rechtsmedizin haben«, meint Besser.
»Und das ist nicht sicher. Wenn er schon länger hier liegt, könnte es schwierig werden, bestimmte Gifte nachzuweisen.«
Darauf herrscht Schweigen, bis Noldi fragt: »Soll ich den Leichenwagen anfordern?«
»Das wäre gut«, antwortet der Kapo.
Polizist Oberholzer ruft das Bestattungsunternehmen an, mit dem sie schon seit Jahren zusammenarbeiten. Während er drauf wartet, dass sich dort jemand meldet, denkt er wieder an das Auto vor dem Kloster. Er gibt den Auftrag durch und wendet sich dann an die anderen. »Braucht ihr mich noch?«
Statt einer Antwort fragt der Arzt zurück: »Wo willst du hin? Nach Hause ins Bett?«
»Würde ich gern. Aber vorher muss ich etwas kontrollieren. Ich will wissen, woher seine Spur kommt, und schauen, ob ich unterwegs etwas finde, was uns weiterhilft.«
»Wenn wir auf diese Weise seine Identität feststellen könnten, wäre das hilfreich«, meint Ralf Besser. »Dann müssten wir nicht warten, bis er als vermisst gemeldet wird.«
»Gut«, sagt Noldi, »ihr bleibt auf jeden Fall hier, bis der Bestatter kommt. Dann bin ich längst zurück.«
»Da komme ich mit«, meldet sich der Forensiker. »Hätten wir auf jeden Fall noch machen müssen.«
Noldi und er schnappen sich je eine Taschenlampe, winken den anderen und marschieren los. Sie folgen der Spur des Toten seitlich in gebührendem Abstand, um sie nicht zu zerstören. Erst führt sie ein kurzes Stück über die Wiese. Die Tritte wirken ungleichmäßig, als wäre der Mann nicht sicher auf den Beinen gewesen. An einer Stelle scheint er angehalten zu haben. Von dort an führt die Spur gleichmäßig in einem großen Bogen zum Waldrand. Unter den ersten Bäumen halten sie an. Man kann die Fußtritte nicht mehr erkennen, denn hier liegt kein Schnee. Langsam bewegt der Forensiker die Lampe hin und her, ob er etwas anderes findet, was den Weg des Toten markiert. Doch es gibt keine geknickten Äste und der Waldboden ist zu hart für irgendwelche Abdrücke. »Da unten«, sagt Noldi, »verläuft irgendwo eine Forststraße.« Auf ihr ist er mit der Familie an heißen Sommertagen gern gewandert, denn es ist schattig und angenehm kühl. Sie windet sich endlos den Hang entlang und man gewinnt den Eindruck, man sei ab der Welt. Dabei führt sie nur von der Wildbergstrasse oberhalb des Klosters bis zur Kantonsstraße Richtung Turbenthal. »Dort«, setzt er als Erklärung für den Kollegen hinzu, »siehst du in so einer Nacht genug. Und hier oben ist es beinahe taghell.«
»Der hat eine Vollmondwanderung gemacht«, sagt der andere langsam.
»Das heißt«, rechnet Noldi nach, »er liegt seit drei Tagen hier.«
Der Kollege wischt mit dem Handrücken einen Nasentropfen ab und nickt.
Frierend stehen sie im Dunkel unter den Bäumen. Da und dort fällt ein Mondstrahl durch die Zweige und erhellt einen Fleck kahler Erde, einen Stamm, einen Stein. Draußen liegt die Wiese im vollen Licht.
»Das hat keinen Sinn«, stellt Noldi endlich fest, »kehren wir um.«
Der andere ist sofort einverstanden, und sie stapfen einträchtig in ihrer eigenen Spur zurück.
Noldi denkt, morgen wird er seinen Sohn Pauli mit Bayj hierherschleppen. Der bayerische Gebirgsschweißhund seines Schwagers Hans Hablützel ist eine berühmte Spürnase. Der findet die Fährte sicher auch im Wald. Er behält seinen Entschluss jedoch für sich, denkt, man muss nicht alles gleich an die große Glocke hängen.
Sobald sie wieder bei den anderen sind, sagt der Forensiker bedauernd: »Viel haben wir nicht gefunden. Nur eines, die Spur wirkt unregelmäßig. Einmal scheint er angehalten zu haben. Da ist der Schnee stark niedergetreten. Und er war allein. Es gab keinen Kampf und auch sonst nichts. Die Schneedecke ist, abgesehen von seinen Tritten, unberührt.«
»Möglicherweise«, mutmaßt der Doktor, »war ihm nicht gut und er hat eine kurze Verschnaufpause eingelegt. Dabei musste er auf der Stelle treten, um nicht auszukühlen.«
»Hinsetzen«, kommentiert Besser, »hat er sich kaum können. Sonst hätte er sich den Hintern erfroren.«
Die anderen grinsen unterdrückt.
»Vielleicht«, meint der Doktor plötzlich, »hat er eine Art Vollmondtanz aufgeführt.«
Noldi muss wieder grinsen, dann sagt er: »Mir ist auf der Fahrt herauf beim Tibeter-Kloster ein Auto aufgefallen. Könnte eventuell dem Toten gehören. Was meint ihr? Irgendwo muss er seine Sachen gelassen haben. Übrigens, habt ihr bemerkt, er hat keine Taschenlampe dabei.«
»Nein«, antwortet der Kollege von der Spurensicherung verblüfft. »Du hast recht. Er kann nur irgendwo unterwegs gewesen sein, wo er kein Licht braucht.«
»Und sich gut auskennt«, ergänzt Noldi. Dann schweigen sie, bis Besser verkündet, er müsse den Staatsanwalt informieren. Er zückt sein Handy und geht ein paar Schritte zur Seite. Der Doktor wirft den beiden anderen einen Blick zu. Sie hören Besser reden, verstehen aber in der Entfernung nicht, was er sagt. Schließlich horcht er eine Weile und verabschiedet sich. Er kommt zu ihnen zurück, teilt ihnen mit, der Staatsanwalt sei mit ihrem Vorgehen einverstanden und habe eine Obduktion der Leiche angeordnet.
Wieder schweigen sie, bis der Forensiker erklärt: »Dann packe ich jetzt zusammen.«
Sie helfen dem Kollegen mit seinen Utensilien, tragen alles zum Auto und verstauen es. Nachdem er abgefahren ist, fragt Noldi den frierenden Rest: »Wollen wir uns in mein Auto setzen? Dort ist es nicht so kalt.«
»Gute Idee«, sagt Besser. »Aber einer muss bei der Leiche bleiben.«
Noldi seufzt innerlich. Das, denkt er resigniert, bin sicher ich.
Zu seiner Überraschung erklärt der Kapo: »Wir wechseln ab. So lange kann es nicht dauern, bis der Bestatter kommt. Ich übernehme die erste Viertelstunde.«
Noldi und der Doktor stapfen zu den Autos zurück. Letzterer zieht aus der Brusttasche seiner Jacke einen Flachmann. »Wie wäre es?«, fragt er.
Noldi trinkt, reicht dem anderen die Flasche, wartet, bis er sie wieder abgesetzt hat, dann sagt er: »Gib her, ich bringe ihm auch einen Schluck. Der Kollege wird froh sein, wenn er in der Kälte herumsteht.«
»Sei da nicht so sicher«, brummt der Doktor, erhebt aber keinen weiteren Einwand.
Noldi geht den inzwischen stark ausgetretenen Pfad im Schnee zurück. Besser springt dort, wo sie ihn verlassen haben, von einem Fuß auf den anderen, um sich warmzuhalten. Ohne Kommentar hält Noldi ihm den Flachmann unter die Nase. Der andere fährt erst zurück und Noldi denkt, jetzt wird er gleich meckern von wegen Alkohol im Dienst. Doch Besser greift mit einem kleinen Auflachen nach der Flasche, nimmt einen tüchtigen Zug und schüttelt sich.
»Saukalt heute«, sagt er.
»Ja«, antwortet Noldi. Er schaut auf den nackten Toten im Schnee.
Von fern hören sie Motorengeräusch. »Der Bestatter«, sagt Besser hoffnungsvoll.
Er ist es wirklich, allerdings nicht der Chef persönlich. Der ist lieber im warmen Bett geblieben. Im Gegensatz zu sonst, wo sie zu zweit sind, hat er nur einen Gehilfen geschickt, einen Studenten, der den Job macht, weil er ein wenig dazuverdienen möchte. Er ist willig, aber völlig unerfahren, weiß nicht, was auf ihn zukommt. Energisch holt er den Blechsarg aus dem Auto und schleift ihn über den Schnee.
Das wird etwas, denkt Noldi erschrocken. Der Student, der in seinem dünnen Anorak und den Halbschuhen schlotternd neben dem Toten steht, sagt auch schon: »Was machen wir? Den bekommen wir so nie hinein.«
Die Leiche ist stocksteif gefroren und stark verkrümmt. Trotzdem heben sie ihn gemeinsam an, versuchen, ihn irgendwie in den Sarg zu bringen. Sie ziehen und zerren und drücken.
»Keine Chance«, erklärt der Doktor. »Wir müssten ihm Arme und Beine brechen.«
Der Student fährt auf. »Nein!«, sagt er entsetzt.
»Was dann?«, erkundigt sich Besser.
»Wir lassen den Sarg offen«, erklärt der junge Mann.
Der Kapo ist nicht überzeugt. »Wenn Sie meinen«, brummt er.
Sie tragen den Sarg zum Auto des Bestatters. Noldi holt aus seinem Wagen eine Schnur. Damit versucht er, den Deckel notdürftig festzubinden, doch auch damit haben sie keinen Erfolg. Die Leiche ist zu sperrig. Deshalb schieben sie schließlich den offenen Sarg auf die Ladefläche, legen den Deckel daneben. Im letzten Moment bringt Noldi den Plastiksack mit der Thermosflasche.
»Die gehört in die Spurensicherung«, stellt Besser fest. Daraufhin herrscht Schweigen, bis endlich der Doktor sagt: »Sie können sie den Leuten in der Rechtsmedizin geben, die wissen, was damit zu tun ist.«
Das verspricht der junge Mann.
Noldi schaut zu Besser. Der nickt. Sie haben alle genug. Seit Stunden stehen sie in dieser Affenkälte. Erleichtert legt Noldi den Plastiksack neben den Sarg.
»Aber nicht vergessen«, mahnt der Doktor.
»Bestimmt nicht, versprochen.« Der Student schlägt die hintere Tür zu, springt ins Auto und fährt mit aufjaulendem Motor davon.
Alle drei schauen sie den Rücklichtern des Wagens nach, bis sie verschwunden sind. Sie haben kein gutes Gefühl.
Noldi verabschiedet sich von Arzt und Polizeioffizier. Er will auf dem Heimweg einen Blick in das Auto beim Tibet-Institut werfen. Immerhin ist er so vorsichtig, dass er, ehe er sich am Schloss zu schaffen macht, mit seiner Taschenlampe ins Innere des Wagens leuchtet. Soviel er in dem schmalen Lichtstrahl erkennt, hängt vom Rückspiegel ein tibetischer Rosenkranz und auf den Sitzen liegen kleine tibetische Teppiche. Das Auto von einem Mönch, denkt er. In dem Moment zündet vom Kloster her ein anderes, wesentlich stärkeres Licht direkt auf seinen Hinterkopf. Noldi lässt vor Schreck beinahe die Lampe fallen und sieht zu, dass er weiterkommt. Er rast mit verbotener Geschwindigkeit die Wildbergstrasse hinunter und drosselt das Tempo erst an der Einmündung zur Neschwilerstrasse. Als er keine Minute später aufatmend vor seinem Haus aus dem Auto klettert, geht es gegen halb fünf. War ein eher kurzer Einsatz, denkt er, der Doktor konnte mit dem Eiszapfen nicht viel anfangen, Spuren gab es keine, die hätte man eindeutig gesehen. Blieb nur das Warten, und auch das hielt sich in Grenzen. So hat er, da es im Winter lange dunkel ist, noch ein Stück Nacht vor sich. Kurz überlegt er, gleich ins Bett zu kriechen, entscheidet sich dann doch dagegen, weil er seiner Frau den Schock ersparen will, dass er sich so kalt, wie er ist, zu ihr legt. Er geht unter die Dusche, stellt das Wasser auf heiß und wartet, bis er krebsrot ist und vor Hitze dampft. Dann erst schleicht er leise ins Schlafzimmer. Meret richtet sich sofort auf, sobald sie ihn hört.
»Noldi«, sagt sie.
»Du bist wach?«
»Ist so leer ohne dich.«
Das sind neue Töne. Wenn er früher nachts zu einem Einsatz gerufen wurde, was nicht selten vorkam, schlief Meret weiter, felsenfest überzeugt, ihr Mann werde heil zu ihr zurückkehren. Ihr bedingungsloser Glaube hatte ihm tatsächlich einen Hauch Unsterblichkeit verliehen. Bis zu dem Augenblick, in dem ein Schuss aus dem Hinterhalt seinen Kopf durch einen Glücksfall verfehlt und nur seinen Arm gestreift hatte. Seither ist seine Frau ängstlich geworden und er unsicher. Beide würden das um nichts in der Welt zugeben und noch viel weniger miteinander darüber reden. Aber sie wissen auch so um die Sterblichkeit des anderen. Das hat sie in den letzten Jahren fester zusammengeschweißt.
Jetzt kriecht Noldi eilig zu Meret unter die Decke, rückt so nah wie möglich an sie heran. Sie legt ihren Arm um ihn. »Und?«
»Eine Frostleiche.«
»Schlimm?«, fragt sie vorsichtig.
»Splitterfasernackt.«
Seine Frau kichert ungläubig. »Ist nicht wahr.«
»Doch. Ein Nacktwanderer.«
Mehr sagt er nicht, muss er auch nicht. Meret weiß, dass er von sich aus zu erzählen beginnt, wenn er so weit ist.
»Hast du heute früh Schule?«, fragt er nach einer Weile, während er seine Nase in ihr Haar steckt.
»Nein«, antwortet sie, »heute nicht.«
Nachdem Meret wieder eingeschlafen ist, liegt er noch eine Weile wach. Er sieht den grünen Mond vor sich, in seinem Schein die grotesk verdrehte Leiche, von der er inständig hofft, dass sie ihm nie mehr begegnet. Und ahnt nicht, während er langsam in den wohlverdienten Schlummer sinkt, welche Gewitterwolken sich über ihm zusammenziehen.