Wilhelm R. Vogel, Biologe an der Universität Wien und danach 30 Jahre in der Umweltverwaltung tätig. Aufgewachsen in Baden, wohnhaft in Wien, verheiratet, zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Hobbys: Lesen, Reisen und Kochen, später auch Schreiben. 2009 wurde die erste Kurzgeschichte veröffentlicht, 2018 folgte der erste Roman.

Vom gleichen Autor:

Der Lockruf des Pirols oder ein September im Leben des Julius Wondraschek. Roman, 2018 in Wien bei myMorawa erschienen.

Unerwartetes – Unsentimentalische Kurzgeschichten aus der zweiten Lebenshälfte. Kurzgeschichtensammlung, 2018 in Wien bei myMorawa erschienen.

Weitere und aktuelle Informationen finden Sie auf der Homepage: www.wrvogel.eu

Nichts ist trügerischer als
eine offenkundige Tatsache

Sir Arthur Conan Doyle
Englischer Kriminalautor (1859–1930)

Wilhelm R. Vogel

Das ultimative Risotto und andere wichtige Dinge im Leben

Kurzgeschichten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Autors

Das ultimative Risotto

Umleitung

Wie du mir

Der Putztrampel

Die Rache des Wurstels

Das helle Blau

Der neue Mann

Die Magie der sparsamen Gesten.

Der Gott der Hühner

Dumm gelaufen

Der lange Weg zurück zum Erdmond

Der Gezeitenstrom

Inselland

Gezeiten der Leidenschaft

Die dunkle Seite

Die Sache mit der Anna

Halloween ist nichts für schwache Nerven

Telefon und Ehestand

Schlupfwespen

Die Sündenbockfirma

Das Beweisfoto

Das Verhör

Die Stimme

Honeymoon Island

Das Gerücht

Der Ring des Piraten

Vorwort des Autors

Die Kurzgeschichten in diesem Band sind der zweite Teil meiner Kurzgeschichtensammlung. Die meisten der Geschichten sind zwischen 2008 und 2017 entstanden. Waren es im ersten Band mit dem Titel „Unerwartetes – Unsentimentalisch Geschichten aus der zweiten Lebenshälfte“ vor allem Geschichten, in denen ältere, alte oder uralte Menschen eine Rolle spielen, ist es in diesem Band ein breiter Querschnitt durch die Bevölkerung. Bei Kurzgeschichten, die bereits veröffentlicht wurden, werden die ursprünglichen Stellen im Anschluss an die Geschichte zitiert.

Ich bedanke mich bei Maria Deweis für das akribische Lektorat, bei meiner Tochter Lena für das eindrucksvolle Cover und bei meiner Familie für ihr Verständnis.

Die Geschichten eignen sich als kurze Lektüre bei Reisen, zur Entspannung vor dem Einschlafen oder auch zur Überbrückung von Wartezeiten. Sie beinhalten meist unerwartete Wendungen und sollen zum Nachdenken anregen.

Ihnen wünsche ich viel Freude beim Lesen.

Wilhelm R. Vogel April 2019

Das ultimative Risotto

Giorgio war tot. Langsam legte Alexander den Telefonhörer zurück. Giorgio, sein Freund und Lehrer, würde nie wieder in einer Küche stehen. Jetzt war es an ihm, das Restaurant zu übernehmen. Aber da war noch die Sache mit dem Risotto.

Das Risotto war das Flaggschiff des kleinen Restaurants in Wien. Die Küche galt als hervorragend, das Risotto aber als überirdisch. Es gab Stammkunden, die mit dem Flugzeug angereist kamen, um Giorgios Risotto zu genießen. Da saßen sie dann, die Aficionados des wunderbar vielfältigen Reisgerichtes und berieten, ob es irgendwo auf der Welt ein besseres Risotto gäbe, ja ob es überhaupt ein besseres Risotto geben könne.

All sein Wissen um die unzähligen Gerichte hatte sein Onkel Giorgio an ihn weitergegeben. Nicht aber das um sein Risotto. Das hatte er immer nur selbst zubereitet. Krank war er nie gewesen – und wenn er verreist war, dann gab es kein Risotto.

„Das Risotto, Dorsoduro“, waren seine letzten Worte gewesen. Und dabei hatte er zu einer Geste ausgeholt, die er auf dieser Welt nicht mehr zu Ende bringen sollte. Mehr hatte seine Tante am Telefon nicht zu berichten gewusst. Alexander kannte Venedig, und wenn das Geheimnis in Dorsoduro zu finden war, dann würde er es finden.

Venezia Santa Lucia: Das Licht war so hell, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Der Geruch von Dieselöl lag in der Luft und mischte sich mit dem Moder alter Gemäuer, dem Schweiß der Reisenden und dem entfernten Gestank von verrottendem Fisch.

Stundenlang studierte er die Speisekarten der Restaurants. Erst als ihn die Füße schmerzten, betrat er ein Lokal und bestellte ein Risotto.

„Kommt sofort!“

„Sofort?“

„Zwei Minuten!“

Alexander verließ das Lokal. Vorgekochtes Risotto – wo war er da bloß hineingeraten?

Aber er lernte schnell. Wurde Risotto nur für mindestens zwei Personen angeboten, war es meist frisch zubereitet. War es auffällig teuer, dann ebenfalls. Dennoch saß er zwei Wochen später verzweifelt vor einer Flasche Wein am Canale della Guidecca in der Abendsonne. Mindestens zehn Risotti pro Abend hatte er gekostet, ebenso zu Mittag; natur, mit Pilzen, mit Meeresfrüchten, mit Spargel, mit Fischen, mit Tomaten, mit Tintenfischen. Er hatte einen Bissen genommen, manchmal einen zweiten, hatte dann ein anderes Risotto probiert und meist kopfschüttelnd das Lokal verlassen. Er suchte nicht irgendeines, er sucht das ultimative Risotto.

Mittlerweile kannte man ihn in Dorsoduro und hielt ihn für verrückt – inzwischen teilte auch er diese Meinung. Er wollte heim.

„Morgen Abend!“

Alexander starrte die Frau an, die ihm ihre Visitenkarte überreichte. „Unter anderem wird es ein Risotto geben!“ Damit drehte sie sich um und verschwand. Er hatte nicht einmal die Chance gehabt, nein zu sagen.

Signora Galli de Galloni war eine leidenschaftliche Frau. Für sie gab es zwei Spielarten der Liebe. Die gebende Liebe der Frauen, die darin bestand, riesige Mengen der köstlichsten Speisen zuzubereiten, und die nehmende Liebe der Männer, die darin bestand, all dies auch zu essen. Zwei Ehemänner hatte die Signora auf diese Weise schon unter die Erde gebracht. Ihr dritter Mann jedoch war, weil magenkrank, die Enttäuschung ihres Lebens.

Alexander vergaß die Welt um sich. Er aß mit geschlossenen Augen. Der Reis war perfekt. Er spürte das Meer, sah die Sepien schwimmen und ihre Tinte ausstoßen. Langsam öffnete er die Augen und erkannte das Glück in den Augen seiner Gastgeberin. Er nickte anerkennend. Erstmals fühlte er sich an Giorgios Risotto erinnert.

Jetzt folgte Einladung auf Einladung. Alexander wurde weitergereicht wie ein Künstler. Nie brachte er ein Gastgeschenk mit, aber ein Heben seiner Augenbrauen machte das mehr als wett.

Die junge Witwe Crotti hatte ein Auge auf den hübschen Mann mit dem holprigen Italienisch geworfen, der ihr umso begehrenswerter erschien, als er sich wenig zugänglich zeigte. Sie bereitete das Risotto zu, als koche sie um ihr Leben. Der Fischsud roch so köstlich, dass er dem nebenan liegenden Restaurant einen völlig ungerechtfertigten Gästezustrom bescherte. Sie war sich ihres Sieges sicher, und als sich Alexander nicht geneigt zeigte, seine Leidenschaft für das Risotto auch auf die Köchin selbst auszudehnen, gab es dafür nur eine Erklärung.

Mag sein, dass es dieses, von ihr verbreitete Gerücht war, das den Chef de cuisine eines kleinen, aber umso verschwiegeneren Hotels auf den Plan rief. Der Maître, ein hagerer Bonvivant, reich an Jahren und Erfahrung und von elegantem Aussehen, dirigierte in der Küche stets im schwarzen Anzug mit dunkler Fliege und gelbem Stecktuch.

Für Alexander aber kochte er in seinen Privaträumen. Frische Morcheln hatte er auf dem Markt gefunden, von einer Qualität, wie es sie nur wenige Male im Jahr gab. Er kochte, als ginge es darum, Quecksilber in Gold zu verwandeln. Und tatsächlich hatte seine Küche einiges mit dem Labor eines Alchemisten gemein. Manches, das seinen Weg in das Risotto fand, war in keinem Kochbuch der Welt verzeichnet. Gedeckt war im Erkerzimmer: altes Silber und Geschirr auf wertvollem Leinen. In dem nur durch einen Kerzenleuchter erhellten Raum fühlte man sich um Jahrhunderte zurückversetzt.

Sie aßen schweigend. Alexander war überwältigt, und die geheimen Zutaten bewirkten, dass der Meister selbst nur mit Mühe imstande war, das Essen mit Anstand zu sich zu nehmen. Doch auch diesmal erhob sich sein Gast gleich nach dem Espresso und verließ, zur unendlichen Enttäuschung seines Gastgebers, den Palazzo.

Mit vor Leidenschaft glänzenden Augen lief er bis zum Morgengrauen durch die engen Gassen. Er wusste, dass er jetzt in der Lage war, Risotti zu kochen, wie es Giorgio getan hatte, auch wenn er das Rezept nicht erklären oder gar niederschreiben konnte. Wenig später saß er im Zug zurück nach Wien.

Dort überreichte ihm seine Tante einen Brief ihres Mannes. Sie hatte das Schreiben in einem Reiseführer zwischen den Seiten über Dorsoduro gefunden. Den hatte er ihr wohl mit seiner letzten Geste zeigen wollte.

Alexander riss den Brief auf. „Mein lieber Freund“, las er, „ich fühle, dass es mit mir zu Ende geht. Aber du sollst wissen, dass es kein Geheimrezept für mein Risotto gibt, ich hätte es dir sonst schon längst gegeben. Vor Jahrzehnten habe ich, wie im Fieberwahn, wochenlang nichts anderes gesucht als ein perfektes Risotto. Seit dieser Zeit in Dorsoduro entsteht es unter meinen Händen wie von selbst. Mit meinem Tod wird die Welt um dieses Wunder ärmer sein. Mach´s gut – Giorgio.“

Schon am nächsten Tag stand in dem kleinen Restaurant wieder ein Risotto auf der Karte.

Das ultimative Risotto. Putlitzer Preis 2010 (3. Platz) in: Putlitzer Preis 2010 http://www.zweiundvierziger.de/ und in: „Gans, die Sieger der Kurzgeschichten“, S. 89–94. Edition Oberkassel 2016. ISBN Print 978-3-95813-0517. ISBN EBook 978-3-95813-0524

Umleitung

Von Prag auf der Schnellstraße Richtung Wien. Weinviertel. Am Armaturenbrett des BMW die Liste der notwendigen Telefonate: nur noch drei Gespräche. In der Firma arbeiteten alle wie besessen. Schlaf ist Luxus. Fünf Stunden pro Nacht, und selbst dazu muss ich mich zwingen. Essen kann ich auch vor dem Computer. Multitasking ist gefragt. Autofahren und Telefonieren geht gleichzeitig. Auf der Strecke von Prag nach Wien lässt sich einiges erledigen.

Zwei Telefonate sind noch ausständig. Bis Wien geht sich das aus. Aber zuerst ist das eben geführte Gespräch mit dem Diktafon zu protokollieren. Mit wem habe ich überhaupt gesprochen? Ein Blick auf das Mobiltelefon. Das steht die Firma, aber es kommt mir keine Erinnerung. Auch die Gesprächsdauer ist angegeben: sechs Minuten und vierunddreißig Sekunden.

Umleitung! Das Schild sehe ich erst im letzten Augenblick. Auch das noch, fast hätte es gekracht! Ich angle mir eine Dose Kaffee aus meiner Tasche. Lauwarm, aber besser als nichts. Die Erinnerungen bleiben weiterhin verborgen. Jetzt beginnt die Straße zu schwanken, als ob ich getrunken hätte. Gestern Abend zwei Pflichtgläser Champagner. Die waren es nicht, bin ich krank? Das kann ich mir nicht leisten. Nicht jetzt, nicht in den nächsten Wochen, nicht in den nächsten Jahren! Wann habe ich das letzte Mal das Umleitungsschild gesehen? Ich reiße das Steuer herum. Die Reifen quietschen, aber ich habe die Kurve geschafft. Gerade noch! Kurz darauf rumpelt der rechte Reifen über das Bankett. Mein Hemd klebt am Körper. Ich fahre mit der Hand über die Stirne. Schweißtropfen! Bin ich tatsächlich krank? Der Wagen schlingert, als ich ihn auf die richtige Straßenseite zurückbringe. So kann ich nicht weiterfahren. In Gedanken kontrolliere ich die Agenda. Alles vor übermorgen lässt sich auch remote erledigen. Jetzt ein Quartier finden, auf dem Laptop noch schnell die wichtigsten Sachen erledigen, morgen früh die E-Mails versenden, dann ab nach Wien. So geht sich noch alles aus.

‚Fremdenzimmer‘, das Schild kommt gerade recht. Zwar habe ich keine Ahnung, wo ich bin, aber zehn Minuten später liege ich in einem weichen Bett unter einer Decke und zittere mich in den Schlaf. Ohne Essen, nicht einmal unter die Dusche habe ich es geschafft.

Mitten in der Nacht wache ich auf. Alles um mich herum ist schwarz. Panik erfasst mich, bin ich blind? Ich taste nach dem Handy. Da: das vertraute Licht. Ich kenne diese Dunkelheit nur noch aus meiner Kindheit. Und diese Stille! Sie muss es gewesen sein, die mich geweckt hat.

Als ich wieder erwache, ist es hell. Sehr hell. Das Handy zeigt fast zwölf. Ich habe viel zu arbeiten, aber zuerst muss ich etwas essen. Immer noch geschwächt wanke ich in die Gaststube. Die wirkt ziemlich retro. Sushi als Brunch würde jetzt passen, aber ich ernte bloß belustigtes Kopfschütteln. Also eine Krensuppe. Die ist ein Wahnsinn! Und der Wahnsinn hat mindestens tausend Kalorien. Nach dem zweiten Teller muss ich mich zum Aufhören zwingen. Danach will ich so schnell wie möglich zu meinem Laptop, aber die Wirtin hat etwas von neugeborenen Ferkeln gesagt. Ich fühle mich kindisch, aber hier kennt mich niemand, und so sehe ich mir die Ferkel an. Dann will mir der Wirt den Keller zeigen. Ich sage ja, aber ganz kurz nur, bleibe aber dann doch beim Grünen Veltliner hängen. Nicht lange freilich. Drei kleine Gläser bloß, ich muss ja zu meinem Laptop und danach nach Wien. Keine Zeit, auch noch den Welschriesling zu kosten.

Hundertachtundzwanzig E-Mails im Posteingang, und während ich den Bildschirm anstarre, kommen fünf weitere dazu. Die Zeilen verschwimmen mir vor den Augen. Sinnlos, es auch nur zu versuchen. Ein Spaziergang wird mir gut tun. In dem Ort gibt es kaum Gehsteige. Bei der ersten Ortstafel drehe ich um, bei der zweiten ebenso. Viel Ort ist da nicht dazwischen. Ich gehe auf den Feldwegen rund um die kleine Siedlung. Vom schnellen Gehen erschöpft, lasse ich mich auf eine Bank fallen. Eine Schnecke kriecht über den Weg und ich sehe ihr zu, bis sie das Gras auf der anderen Seite erreicht hat. Dann kriecht eine zweite Schnecke in die andere Richtung. Auch die warte ich ab.

Ein Gulasch in der Wirtsstube. Das Fieber wird stärker, aber das Gulasch ist köstlich. Ich sehe alles verschwommen. Einmal zuckte ich zusammen. Frauen in Kopftüchern kommen herein. Nein, keine Taliban, beruhigte ich mich. Irgendwer erzählt mir von einem ehemaligen See, auf dem echte venezianische Gondeln gefahren sein sollen. Mit echten Gondolieri, was ein paar italienische Namen hier in der Gegend erklärt. Aber das habe ich mir sicher im Fieber ausgedacht; unmöglich, heute noch nach Wien zu fahren.

In der Nacht habe ich tief geschlafen und bin voller Energie. Die paar Kilometer nach Wien sind bald geschafft. Im Büro arbeite ich erst einmal die E-Mails ab. Das Treffen am kommenden Samstag habe ich abgesagt. Wegen einer Reise. Seitdem rätseln die Kollegen, wohin ich am Wochenende fahren werde. Ich weiß, es ist verrückt. Aber schließlich muss ich ja noch den Welschriesling kosten.

Umleitung. 2010 in: Fieber, Literatur aus Österreich S. 63–65. AV Buch Wien. ISBN 978-3-7040-2445-9

Wie du mir …

Schweigend gingen Evelyn und Robert Mayer über den langen Kiesweg zu ihrem Auto. Robert wartete ein paar Sekunden, bevor er den Startschlüssel umdrehte. Der Besuch bei seinen Geschäftsfreunden war sehr erfolgreich verlaufen, und er wollte das angenehme Gefühl noch etwas genießen.

Dann startete er den Wagen und lenkte ihn durch das schmiedeeiserne Tor auf die Straße. Er wusste genau, was jetzt kommen würde.

„Robert, findest du das eigentlich in Ordnung, wie du diese Sabine angesehen hast? Fast ausgezogen hast du sie mit deinen Blicken.“

„Habe ich nicht, das ist bloß deine Interpretation.“

„Wenn es dir wenigstens bewusst wäre, was du machst! Aber du bemerkst es nicht einmal. Das finde ich noch viel schlimmer.“

„Niemand bemerkt es, weil du dir das bloß einbildest.“

Daheim angekommen ging der Streit weiter.

„Du hast deine Augen nicht von ihrem Ausschnitt losbekommen. Ich habe nur darauf gewartet, dass du auch noch mit den Händen hineinlangst.“

Dann verschwand Evelyn in ihr Mansardenzimmer. Das Mansardenzimmer mit den Blumenvorhängen war ihr Rückzugsgebiet, das ihr Mann nicht betreten durfte. So hatten sie es vor langer Zeit vereinbart. Auf dem Bett liegend hörte sie, wie die Haustür zugeschlagen wurde. „Wahrscheinlich geht er jetzt zu seiner Freundin“, dachte sie.

Evelyn griff zu ihrem Mobiltelefon und drückte die Kurzwahltaste, unter der sie die Mobilnummer der Detektivin abgespeichert hatte.

„Ja, eben ist er weggegangen, bitte versuchen Sie, ihn zu finden.“ Dann legte sie auf. Sie durften keine Zeit verlieren, aber in der Kleinstadt war die Zahl der Abendlokale ohnehin recht begrenzt, und solange er nicht direkt zu einer Frau ginge, würde es leicht sein, ihn aufzuspüren.

Am nächsten Morgen rief die Detektivin Evelyn zurück: „Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe Ihren Mann bereits zwanzig Minuten nach Ihrem Anruf gefunden. Er war im üblichen Café, dort hat er in einem mitgenommenen Buch gelesen und sich danach das Ende eines Fußballspieles angesehen. Dann ist er direkt nach Hause gegangen.“

An nächsten Nachmittag rief Robert an, um seiner Frau mitzuteilen, dass er länger im Büro bleiben würde.

„Das ist wieder einmal eine deiner Ausreden“, fuhr sie ihn an. Aber Robert legte einfach auf. Das hatte er bisher noch nie getan.

„Das kommt bei berufstätigen Menschen häufig vor“, erklärte ihr die Detektivin kurz darauf. „Wenn Sie ihn am Festnetz im Büro erreichen, dann können Sie davon ausgehen, dass er auch dort ist.“

„Kann er das nicht weiterleiten?“ Evelyn wusste über die technischen Möglichkeiten Bescheid.

„Ja, das geht vermutlich. Aber kein Mann wird, wenn er mit seiner Freundin unterwegs ist, immer abheben und seiner Frau vorspielen können, er wäre im Büro. Einmal vielleicht, aber nicht auf Dauer. Und keine Frau in der Rolle einer Freundin würde sich das länger gefallen lassen.“

Evelyn recherchierte im Internet und fand es voller Möglichkeiten für Seitensprünge. Selbst die seriösen Seiten waren voll von Hinweisen, wenngleich diese als Eheanbahnungen getarnt waren. Evelyn war sicher, dass es eine Tarnung war.

Die Anzahl der Kontaktforen schien ihr endlos.

Tagelang durchsuchte sie die einschlägigen Seiten, immer auf der Suche nach Hinweisen auf ihren Mann. Wie leicht würde es für ihn sein! Er saß den ganzen Tag unkontrollierbar im Büro und hatte einen Computer zur Verfügung.

Evelyn hielt ihren Verdacht vor ihrem Mann nicht geheim. Mehrmals am Tag rief sie ihn an und bemerkte bald, dass er immer seltener abhob. Wenn sie ihn dann doch erreichte, stellte sie ihn zur Rede. Meist schob er Besprechungen als Ausrede vor.

Fast jeden Abend gab es deshalb Streit, der meist damit endete, dass Robert wütend die Wohnung verließ und lange ausblieb.

„Lassen Sie es sein“, versuchte die Detektivin, sie zehn observierte Abende später zu überzeugen. „Auch wenn ich gegen meine eigenen Geschäftsinteressen handle, Ihr Mann ist Ihnen nicht untreu.“

„Ich bin aber sicher, dass er mich betrügt!“ Evelyn tobte, aber die Detektivin, in deren Büro sie sich befanden, schien einiges gewohnt zu sein. Dann hatte sich Evelyn wieder gefasst: „Ich möchte, dass Sie sich ab sofort jeden Abend bereithalten, um ihn zu beschatten. Geld ist kein Thema, wir haben genug davon.“ Widerwillig akzeptierte die Detektivin den Auftrag.

„Tagesfreizeit“, las Evelyn im Intranet. Das war es! Er konnte ja ohne Weiteres tagsüber seinen Vergnügungen nachgehen. Sie musste ihren Mann auch tagsüber überwachen lassen!

Einen Monat später rief die Detektivin an. Die Botschaft war kurz: „Ihr Mann hat eine Freundin, seit drei Tagen.“

„Sind Sie sicher?“ Evelyn konnte es nicht fassen. „Und er schläft mit ihr?“

„Davon gehe ich aus. Sie gehen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, sehr zärtlich miteinander um und sie haben zweimal einige Zeit in ihrer Wohnung verbracht.“

„Vielen Dank für die Information.“

„Brauchen Sie Beweismaterial, wie Fotos, für einen allfälligen Scheidungsprozess?“

„Nein, ich habe nicht vor, mich scheiden zu lassen.“

Aufgeregt stürmte Evelyn in das Mansardenzimmer mit den Blumenvorhängen, holte ihr kleines Telefonbuch heraus und begann zu blättern. Seit Jahren schon hatte sie die Namen und Telefonnummern attraktiver Männer notiert, die sie bei den beruflichen Treffen ihres Mannes kennengelernt hatte. Mittlerweile war es eine stattliche Sammlung geworden. Fast jeden Abend hatte sie darin geblättert und schon viel zu lange auf diesen Augenblick gewartet. Sorgfältig wählte sie aus, wog das Für und Wider ab, und entschied sich, erst einmal mit den wenigen Junggesellen ihrer Liste zu beginnen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, während sie wählte.

Etwas Zeit blieb ihr noch, und so lag sie wenig später in der Badewanne und nippte an einem Glas Sekt. Ein schlechtes Gewissen hatte sie nicht. Warum auch? Wenn ihr Mann sie betrog, so hatte sie das Recht, es ebenfalls zu tun.

Wie du mir. 2014 in: Friederike Killmer (Herausgeberin), WendePunkt S. 60–62. Wendepunkt Verlag Weiden. ISBN-978-3-942688-60-4