Klaus-Peter Wolf
Ostfriesenhölle
Kriminalroman
FISCHER E-Books
Der vierzehnte Fall
für Ann Kathrin Klaasen
Klaus-Peter Wolf lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 24 Sprachen übersetzt und über zehn Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden einige Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Der vierzehnte Fall stellt Ann Kathrin Klaasen vor die Frage: Ist der verschwundene YouTube-Star entführt worden, oder hat er zwei Menschen auf dem Gewissen? Ist er Täter oder Opfer?
Bei einem Fahrradausflug auf Langeoog wird der junge Cosmo Schnell plötzlich ohnmächtig und stirbt kurz darauf in den Armen seiner Mutter. Sabine Schnell ist davon überzeugt, dass der beste Freund ihres Sohnes dafür verantwortlich ist. Beide waren YouTube-Stars, hingen andauernd zusammen. Kurzerhand entführt sie den Jungen. Eine großangelegte Suche startet, die Insel wird bis in die letzten Winkel durchsucht. Dann findet man eine Leiche – eine Frau. Und jetzt steht Ann Kathrin Klaasen vor der Frage: Sucht die Polizei eigentlich einen jugendlichen Täter oder einen verzweifelten jungen Mann?
»Sonne, Strand und Mord … Klaus-Peter Wolf lässt in seinen Krimis nicht einfach nur die Mörder von der Leine, er blickt tief in ihr Inneres, um zu entdecken, was den Menschen zum Bösewicht macht …«
Elisabeth Höving, Westdeutsche Allgemeine Zeitung zu »OstfriesenNacht«
Dies ist ein Roman. Auch wenn er an real existierenden Orten spielt, ist die Handlung von mir frei erfunden. Einige real existierende Personen spielen im Roman mit. Ich habe vorher deren ausdrückliche Genehmigung eingeholt. Auch wenn inzwischen einige Leute behaupten, Rupert persönlich zu kennen, muss ich leider sagen, dass ich auch ihn erfunden habe …
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: bürosüd, München
Coverabbildung: Martin Stromann / SKN / Ostfrieslandbild
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490499-3
»Als die ostfriesischen Häuptlinge ein paar hundert Jahre vor unserer verrückten Zeit das Wochenende erfunden haben, wussten sie gleich: Ein Tag reicht da nicht. Aber das hat sich in unserer Firma noch nicht rumgesprochen.«
Hauptkommissar Rupert, K1, Kripo Aurich
»Besser mit dem Fahrrad im Regen zum Deich als mit dem Porsche bei Sonnenschein ins Büro …«
Hauptkommissar Frank Weller, K1, Kripo Aurich
Am zweiten Ferientag geriet ihr Leben völlig aus den Fugen.
Ein erfrischender Nordwestwind vertrieb die letzten Schäfchenwolken vom stahlblauen Himmel. Sie blickte zum Krabbenkutter, der von einer kreischenden Möwenarmee verfolgt wurde.
Auf dem Weg zum Ostende der Insel fiel ihr Sohn vor ihr vom Rad. Später machte sie sich Vorwürfe. Es hatte so viele Warnsignale gegeben. Sie hatte sie alle missachtet.
Cosmo hatte sich schon bei der Abreise elend gefühlt. Sie hatte das nicht ernst genommen, sondern geglaubt, er habe nur keine Lust, mit seiner Mutter nach Langeoog zu fahren. Die Bürste war voller Haare gewesen und das Kopfkissen auch. Warum verlor jemand mit 15 so viele Haare?
Die Dohlenschreie klangen im Nachhinein wie Warnungen vor einer drohenden Katastrophe. Eine Dohlengruppe hatte sich mit ihrem schwarzgrauen Gefieder auf dem Radweg versammelt, wie Trauergäste zu einer Beerdigung. Sie hüpften nur kurz zur Seite und gaben geradezu widerwillig den Weg frei.
Sabine Schnell hätte sich jederzeit als sehr bodenständig bezeichnet, aber jetzt, da sie so tieferschüttert war, ließ sie auch Gedanken zu, die sie sonst brüsk von sich gewiesen hätte. Galten Dohlen nicht früher als Begleiter von Hexen, als Spione von Zauberern oder als Vorboten des Todes?
Jedenfalls gingen sie lebenslange Paarbindungen ein, galten als monogam und eifersüchtig. So einen Mann hatte sie sich immer gewünscht, aber nie getroffen. Also, eifersüchtige gab es genug. Monogame aber waren Mangelware.
Schließlich hatte sie ihre ganze Liebe ihrem Sohn geschenkt, und jetzt, da Cosmo begann, sich für Mädchen zu interessieren, sah sie Männer wieder ganz anders an. Sie war bereit, sich noch einmal aufs Neue einzulassen. Vierzig war das neue dreißig, sagte sie sich. Und dann kippte Cosmo einfach vor ihr um.
Das Hinterrad stand hoch und drehte sich weiter. Cosmo zuckte, krümmte sich und hatte Schaum vor dem Mund.
Fast wäre sie über seine Beine gefahren und in sein Fahrrad gekracht. Sie sprang einfach ab und ließ ihr Rad ein paar Meter weitersausen. Sie beugte sich über ihn und wusste gleich: Das ist schlimm. Verdammt schlimm.
Sie schämte sich ihrer Gedanken. Sie schwor sich, niemals irgendjemandem davon zu erzählen. Aber so leid es ihr auch tat, tatsächlich schoss es durch ihr Gehirn: Hätte das nicht am Ende des Urlaubs passieren können statt gleich am Anfang? An diesem schönen, sonnendurchfluteten Tag kam sie sich vom Pech verfolgt vor.
»Was ist?«, schrie sie. »Was hast du genommen?«
Er spuckte nur, hielt sich die Hand gegen den Bauch, krümmte sich in Embryonalhaltung zusammen und verdrehte die Augen. Das machte ihr am meisten Angst.
Er konnte ihr nicht gerade in die Augen sehen. Seine Augäpfel bewegten sich hin und her. Jetzt war nur noch das Weiße zu sehen. Es kam ihr so vor, als wolle er nach innen gucken.
Sie bekam eine irre Wut auf Marvin und dieses schreckliche Mädchen.
»Was«, kreischte sie, »hast du dir eingepfiffen?« Sie schüttelte ihn und versuchte, ihm einen Finger in den Mund zu stecken. Er musste sich übergeben, dann würde es ihm wieder bessergehen, hoffte sie.
Neben ihr hielten andere Radfahrer, die ebenfalls auf dem Weg zur Meierei oder zum Vogelschutzhäuschen waren. Eine junge Frau zückte sofort ihr Handy, um Hilfe zu rufen. Ihr Freund schien geradezu auf eine solche Situation gewartet zu haben. Er stellte sich nicht ohne Stolz als Medizinstudent aus Bochum vor und beugte sich über Cosmo, um seine Erste-Hilfe-Kenntnisse anzuwenden.
Der Rettungswagen kam erstaunlich schnell. Inzwischen standen gut zwei Dutzend Touristen um Cosmo herum. Einige machten ungeniert Handyfotos. Andere wunderten sich, dass auf einer autofreien Insel die Rettungssanitäter nicht mit einer Pferdekutsche kamen. Der weiße Einsatzwagen mit den roten Streifen und dem Wasserturm der Insel als Wahrzeichen wirkte komisch in dieser Landschaft am Meer. Einerseits beruhigend, andererseits ein bisschen wie aus der Welt gefallen. Normalerweise sahen Rettungswagen anders aus.
Das junge Team arbeitete präzise und professionell. Eine junge Frau stellte Sabine Schnell Fragen, doch die kam sich plötzlich dumm vor, so als würde sie ihre Muttersprache nicht mehr verstehen.
Jemand forderte mit barschem Ton die Touristen auf, die Schönheit der Landschaft zu fotografieren, aber bitte nicht den Verletzten.
»Hier ist doch niemand verletzt«, grinste ein neugieriges Milchgesicht aus Wuppertal.
»Doch. Gleich – du!«, brüllte der Medizinstudent.
»Mir ist ganz flau«, stammelte Sabine. Sie hörte noch die Frage: »Haben Sie das Gleiche gegessen wie Ihr Sohn?« Dann sackte sie zusammen.
Sie wurde erst durch die Hubschraubergeräusche wieder wach, aber da war ihr Sohn schon tot.
Wellers Haltung hatte sich verändert. Er ging anders. Seine Bewegungen hatten sich verlangsamt. Bevor er einen Schritt machte, sah er genau hin, als müsse er einen Stuhl erst einscannen und auf seine Stabilität überprüfen, bevor er sich – immer noch vorsichtig – daraufsetzte. Dadurch bekam Weller etwas Aristokratisches. Er wirkte steif, aber irgendwie auch erhaben, so als würde er nicht wirklich dazugehören, sondern sich alles nur in Ruhe ansehen.
Genau so saß er jetzt in der Dienstbesprechung. Er trug seit fast vier Wochen beide Arme in Gips, nur die Finger schauten heraus. Ann Kathrin hatte von seinem Lieblingshemd – blauweiß, längsgestreift – die Ärmel abgeschnitten. So konnte er es wenigstens tragen.
Auf seinem rechten Gipsarm hatten seine Freunde und Nachbarn unterschrieben. Rita und Peter Grendel. Jörg und Monika Tapper. Ubbo Heide. Bettina Göschl.
Auf dem linken Arm nur Kollegen. Rupert wurmte es, dass er ihn gebeten hatte, links zu unterschreiben. Rupert wollte mehr sein als ein Kollege. Er fand, es hätte ihm zugestanden, sich auf dem rechten Arm zu verewigen.
Er beneidete Weller ein bisschen, denn der hatte jetzt so etwas Clint-Eastwood-Mäßiges. Diese Ruhe, diese tiefe Gelassenheit verunsicherten Rupert geradezu. Weller guckte, als wisse er genau, dass die Welt komplett verrückt geworden war, aber es juckte ihn nicht wirklich.
Ann Kathrin hatte gut fünf Kilo abgenommen. Vielleicht, weil Weller nicht mehr für sie kochte oder weil sie jetzt einfach viel mehr Arbeit hatte als vorher. Ihr Mann konnte sich weder selbst anziehen noch seine Gabel zum Mund führen. Er brauchte sie mehr denn je.
Eine Weile sah es so aus, als würde sie es sogar genießen, ihn zu bemuttern und zu umsorgen. Inzwischen zehrte es an ihren Kräften.
Wellers Töchter, Jule und Sabrina, waren jeweils für ein paar Tage eingesprungen. Aber sie führten ein eigenes Leben, und in das mussten sie zurückkehren. Ann Kathrin fand das völlig in Ordnung.
Weller hatte sich durch zwei große Stapel Kriminalromane gelesen. Es war nicht leicht für ihn, mit zwei eingegipsten Armen zu lesen, aber ein so leidenschaftlicher Leser wie er fand dafür eine Lösung, für die er vermutlich in jedem Yogakurs Beifall bekommen hätte.
Seitdem lächelte er manchmal wie der durch Meditation erleuchtete Buddha, als habe er bei der literarischen Lösung einiger Fälle einen tieferen Durchblick in den Ermittlungsalltag erhalten.
Er trank seinen Kaffee durch einen dicken, blauen Strohhalm, der, wie er gern betonte, zwar Strohhalm hieß, aber doch aus Plastik war. Plastikhalm klang allerdings selbst ihm zu blöd.
Er hatte sich am Anfang ständig verbrüht und beschlabbert, das war jetzt vorbei. Er verhielt sich jetzt so, als sei alles nie anders gewesen und als würde er auch nicht erwarten, dass es sich jemals wieder ändern könnte. Er stöhnte auch nicht mehr über das Jucken unter dem Gipsverband. Manchmal stellte er sich aber so in den ostfriesischen Wind, als hoffe er, eine Böe könnte durch den Gips wehen und der Haut Kühlung bringen.
Ann Kathrin wusste sehr zu schätzen, dass seine anfängliche Ungeduld, wenn etwas nicht klappte oder er auf Hilfe warten musste, sich in eine tiefe Gelassenheit dem Leben gegenüber gewandelt hatte.
»Mit meinen zwei gebrochenen Armen«, sagte Weller, »habe ich Demut gelernt.«
Rupert mochte solche Sätze nicht. Wenn er so etwas hörte, brauchte er gleich dringend Alkohol. Am besten zwei Fingerbreit Scotch. Mindestens zwölf Jahre alt. Im Fass gereift. Notfalls tat es aber auch ein eisgekühlter Klarer.
Polizeichef Martin Büscher blickte kritisch zur Tür. Sein Blick sagte alles. Was er zu sagen hatte, war vertraulich: »Auf Langeoog ist ein Junge im Teenageralter, Cosmo Schnell, gestorben. Es sieht so aus, als habe er eine toxische Mischung verschiedener Substanzen nicht überlebt …«
Weil Büscher sich so kryptisch äußerte, hakte Ann Kathrin nach: »Drogen?«
Büscher zuckte mit den Schultern, als wisse er es nicht, sagte aber klar: »Nein.«
Rupert mochte dieses Herumgeeiere nicht. Irgendetwas stimmte nicht, das merkten sie alle.
Büscher räusperte sich: »Die Mutter, Sabine Schnell, behauptete den Rettungskräften gegenüber, ihr Kind sei vergiftet worden.«
»Vergiftet?«, wiederholte Ann Kathrin ungläubig.
»Ja, sie hat sich auch geweigert, zurück aufs Festland zu kommen. Sie ist auf Langeoog geblieben, weil sie offensichtlich auch zu wissen glaubt, von wem.«
»Nämlich?«, fragte Weller.
Büscher zögerte.
»Nun lass dir doch nicht die Würmer aus der Nase ziehen«, schimpfte Ann Kathrin.
»Von einem jungen Mann namens Marvin Claudius.«
So, wie er den Namen aussprach, verbarg sich dahinter die eigentliche Geschichte.
»Und wo«, fragte Rupert, der gar nicht kapierte, was hier gespielt wurde, »ist nun das Problem?«
»Es handelt sich«, flüsterte Büscher, »um den Enkel unseres Innenministers. Der Minister hat mich gerade angerufen. Seine Frau ist mit dem Enkel auf Langeoog. Sie fühlen sich bedroht und …«
»Wir sind«, betonte Ann Kathrin, »die Mordkommission. Keine Bodyguards.«
»Für verzogene kleine Jungs«, fügte Rupert grinsend hinzu.
»Niemand hat gesagt, dass er verzogen ist«, korrigierte Büscher. »Ich bitte euch einfach, die Sache diskret anzugehen und möglichst wenig Staub aufzuwirbeln.«
Rupert lachte: »Also, ich sehe das so … Die Kids ziehen gemeinsam einen durch, vertun sich in der Dosis … Der eine wacht mit Kopfweh auf und hat den Kater seines Lebens, der andere geht dabei drauf … Ist eher was für die Jungs und Mädels vom Rauschgiftdezernat. Eine reine BTMG-Sache.«
Büscher sah Ann Kathrin bittend an. Sie kannte diesen Blick. Er sagte damit wortlos: Ihr wisst doch alle, in welchen Zwängen ich stecke. Macht es mir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.
»Gibt es schon ein konkretes Obduktionsergebnis?«
Büscher schüttelte den Kopf. In dem Moment kam die Nachricht auf seinem Handy an. Er hatte eine Menge Druck gemacht, und inzwischen wusste er auch genau, wie die kurzen Dienstwege hier in Ostfriesland funktionierten.
Er starrte aufs Display.
»Thallium«, las er ab. Er buchstabierte es fast.
»Was für einen Scheiß die Kids sich heutzutage einpfeifen«, staunte Rupert. »Wir haben mal bei Meta einen Joint durchgezogen oder eine Whiskyflasche kreisen lassen. Aber …«
Ann Kathrin machte eine unwirsche Handbewegung quer über den Tisch. Rupert schwieg sofort.
»Thallium«, erklärte sie, »ist ein metallisches Element. Im Periodensystem nicht weit von Polonium entfernt.«
»Ein silbriges Pulver«, ergänzte Weller, »geruchs- und geschmacklos. Wurde früher auch gern als Rattengift verwendet, ist heute nicht mehr erlaubt. Der Tod tritt erst Tage nach der Einnahme ein …«
»Woher wisst ihr solchen Scheiß?«, wollte Rupert wissen.
Weller und Ann Kathrin antworteten gleichzeitig.
»Fortbildungskurse«, sagte Ann Kathrin.
»Kriminalromane«, gestand Weller.
Sabine Schnell besaß keine Waffen, und sie hätte sich bis vor wenigen Stunden auch nicht vorstellen können, jemals eine zu benutzen. Jetzt sah sie sich die Messer in ihrer Ferienwohnung sehr genau an.
Komisch. Der Gedanke, jemanden mit einer Pistole niederzustrecken, erschien ihr weniger erschreckend, als jemanden zu erstechen. Eine Pistole wahrte den Abstand. Einen Schuss aus ein paar Metern Distanz abzugeben konnte sie sich vorstellen. Aber mit einem Messer auf einen Menschen loszugehen, erschien ihr auf eine absurde Weise peinlich, ja, unmöglich. Es war irgendwie zu körperlich.
Sie bezeichnete sich selbst als Pazifistin. Sie hatte ihren Sohn zur Gewaltfreiheit erzogen, das heißt, sie hatte es versucht. Sie erinnerte sich noch heute an sein verheultes Gesicht, weil er an Weihnachten weder das gewünschte Ballerspiel unterm Christbaum fand, noch den Colt mit den Gummipfeilen, den er sich samt Zielscheibe gewünscht hatte. Stattdessen gab es ein pädagogisch wertvolles Friedensspiel, dessen Name sie vergessen hatte.
Es war nicht immer nur einfach mit Cosmo für sie gewesen. Ihm fehlte ganz klar der Vater. Auf der Suche nach männlichen Vorbildern griff er häufig ins Klo.
Er, den sie schon im Kinderwagen zu Friedensdemonstrationen mitgenommen hatte, liebte Kriegsspiele. Zumindest hatte er so eine Phase gehabt. Gotcha hieß dieses schreckliche Spiel. Sie trafen sich in verfallenen Fabrikhallen oder Wäldern und beschossen sich mit Farbkugeln aus erschreckend echt aussehenden Waffen. Wer den anderen traf, also deutlich mit Farbe markierte, rief: »I got you! – Ich hab dich!« Daraus wurde Gotcha.
Angeblich entstand das Spiel in amerikanischen Slums, zumindest hatte Cosmo ihr das erzählt, der an richtigen Gotcha-Turnieren teilnahm. Dort waren auch dieser Marvin Claudius und er Freunde geworden. Ja, der hieß wirklich so und kam aus wohlhabendem Elternhaus, war gebildet und hatte beste Umgangsformen. Gemeinsam gründeten sie die Band Möwenschiss&Adlerbiss. Und jetzt, da war sie sicher, hatte dieser Marvin Claudius ihren Sohn getötet.
Sie hatte ihn sterben sehen. In der Wiese am Rand des Radwegs, Richtung Osten, nicht weit von der Meierei entfernt bei den Brombeersträuchern. Keine Mutter sollte so etwas erleben. Es war nicht richtig, dass die Kinder vor den Eltern starben.
Dieser Marvin, das stand für sie fraglos fest, würde vor Gericht ungeschoren davonkommen. Seine Familie hatte Einfluss und Geld. Gute Anwälte waren für die kein Problem. Vielleicht würde der Richter ihm eine Standpauke halten und ein bisschen ins Gewissen reden. Vielleicht musste er sogar eine Therapie machen. Aber viel mehr würde ihm nicht passieren, falls er überhaupt für dieses Verbrechen vor Gericht gestellt werden sollte.
Sie hatte wenig Vertrauen in Staat und Justiz. Der Innenminister würde garantiert die schützende Hand über sein Enkelkind halten. Und war der nicht auch der oberste Dienstherr der Polizei und des Verfassungsschutzes in Niedersachsen? Da konnte sie sich an fünf Fingern abzählen, wie die Sache ausgehen würde.
Sie, die immer gegen die Todesstrafe gewesen war und Waffen hasste, prüfte jetzt die Klingen in ihrer Ferienwohnung. Sie entschied sich trotz aller Widerstände für das Fleisch- und Tranchiermesser. Die Klinge war dünn und gut zwanzig Zentimeter lang. Sie wusste nicht, ob sie Marvin damit bedrohen und traktieren würde, damit er gestand, oder ob sie ihn mit diesem Messer tatsächlich töten würde. Eine Schusswaffe ließ sich nicht auftreiben.
Sabine Schnell befand sich in einem außergewöhnlichen Zustand. Sie kannte sich so nicht. Sie kam sich fremd vor, ja hatte sogar Angst vor sich selbst. Etwas in ihr forderte sie auf, das Undenkbare zu tun. Sie, die nachdenkliche Frau, wurde von einem heftigen inneren Druck getrieben. Dem Druck, handeln zu müssen. Weh zu tun, ja, zu vernichten. Um den eigenen Schmerz nicht so drastisch zu spüren, musste sie selbst Schmerzen zufügen.
Sie lief mit dem Tranchiermesser unter dem Sweatshirt durch die Barkhausenstraße auf die Apartmentvilla Anna See zu. Dort wohnte im zweiten Stock Marvin Claudius mit seiner Großmutter, die Cosmo immer cool genannt hatte. Wenn ihr Sohn über Marvins Oma gesprochen hatte, fühlte Sabine sich immer klein. Zu kurz gekommen. Ja, dumm. Spießig.
Was sie verbot, erlaubte die coole Oma. Sie musste früher einmal ein Hippiemädchen gewesen sein oder eine Punkerin. Jedenfalls hatte sie sich auf Konzerten herumgetrieben, kannte einige Musiker legendärer Bands persönlich. Den Jungs gegenüber umgab sie sich mit dem Nimbus einer geheimnisvollen Frau mit vielen Erfahrungen, über die sie aber nur in Andeutungen sprach. Sie lebte ihr Leben mit der spöttischen Gelassenheit einer Frau, die ihre wilden Jahre hinter sich hatte und nun mit sich im Reinen war.
In ihrer zerstörerischen Wut trat Sabine Schnell fester auf als sonst. Sie stampfte geradezu durch die Barkhausenstraße. Sie hielt den Messergriff fest umklammert unter ihrem Kapuzensweatshirt. Es hatte tiefe Taschen und weite Ärmel. Die Klinge wurde an ihrem Unterarm warm. Der Griff lag schweißnass in ihrer Hand.
Sie wurde auch von Menschen, die sie kannten, nicht gegrüßt, denn ihre Art zu laufen, ihr Blick und ihre brodelnden Emotionen ließen jeden ahnen, dass sie kurz davor war zu explodieren.
Vor dem Anna-See-Gebäude stellten zwei Jugendliche ihre Fahrräder ab. Sie winkten zur anderen Straßenseite, wo vor dem Eiscafé Venezia Freunde von ihnen saßen und ihre großen Eisbecher für ihre Facebook-Seiten fotografierten.
Die vorbeistürmende Sabine Schnell zerschnitt die gute Stimmung geradezu. Die Jugendlichen wichen ihr aus, als sei sie ein gefährliches Raubtier, dem man besser nicht zu nahe kam. Sie vergaßen sogar, ihre Fahrräder abzuschließen, als sie zum Eiscafé hinüberliefen.
Die Glastüren öffneten sich automatisch für Sabine Schnell. Das große Wolkenbild in der Eingangshalle beachtete sie nicht. Davor waren Koffer abreisender Gäste abgestellt, mit Zetteln für den Gepäckservice an den Griffen. Sie wäre fast über einen gestolpert.
Die Dame an der Rezeption schaute auf und dachte: So sieht jemand aus, der sich beschweren will. Zum Glück kein Stammgast.
Sie kannte die Frau gar nicht und fragte mit kühler Reserviertheit: »Sie wünschen?«
Sabine Schnell musste in den zweiten Stock. Sie wog nervös ab, ob es besser war, die Treppe zu nehmen oder den Fahrstuhl.
In einer Ecke, bei dem kleinen Buchregal neben dem Eingang, warteten zwei Kinder auf ihre Eltern. Sie sahen beide von ihren Büchern auf. Die Frau, die gerade hereingekommen war, machte ihnen Angst. Sie kümmerte sich aber nicht um die Kinder, nahm sie vermutlich nicht einmal richtig wahr.
Da Sabine Schnell nicht auf sie reagierte, fragte die Rezeptionistin jetzt etwas energischer: »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Sabine funkelte die Frau aus fiebrigen Augen an: »Nein, danke, ich bin zu Besuch bei Claudius.«
Sie wusste die Zimmernummer. Sie musste nicht danach fragen. Cosmo hatte ihr oft erzählt, die Ferienwohnung von Marvin sei viel cooler. Mitten in der Stadt, nicht so weit draußen, wo nix los sei. Außerdem hätten sie eine Sauna.
Sie nahm nicht den Fahrstuhl. Der Gedanke, jetzt in etwas eingeschlossen zu sein, behagte ihr nicht. Es tat ihr gut, die Treppen hochzulaufen. Sie fühlte sich lebendig dabei. Sie wusste, wenn sie den Schmerz über den Tod ihres Sohnes zulassen würde, wäre da nichts mehr. Kein Gefühl. Nur Leere.
Sie stand schweratmend vor der Tür und klopfte.
Sie charterten einen Inselflieger von Norddeich nach Langeoog. Weller kam mit seinen Gipsarmen kaum in die Britten-Norman Islander BN-2 hinein. Rupert nannte diese Flugzeuge Buschflieger. Sie waren schrecklich laut, aber Böen und Seitenwind machten ihnen nicht viel aus. Ann Kathrin musste Weller stützen, und Rupert schob ihn von hinten. Weller fügte sich klaglos.
Die Überfahrt mit der Fähre wäre bequemer für Weller gewesen, aber Polizeichef Büscher bestand auf einer schnellen Reaktion. Er war zum Flugplatz mitgekommen und gab die letzten Instruktionen, während seine Crew sich in den Flieger zwängte: »Wir müssen auf Langeoog Präsenz zeigen. Der Vorfall lastet wie ein Schock auf der Insel. Gerüchte über vergiftete Lebensmittel kursieren bereits. So etwas ist für den Tourismus, von dem wir alle leben, tödlich.«
Rupert spottete mit einem Wink zu Weller: »Na, das wird die Leute ja schwer beruhigen, wenn jetzt ein Kommissar anreist, der sich nicht mal selbst die Schuhe zubinden kann.«
»Ich trage Slipper«, konterte Weller, der jetzt endlich saß, aber nicht in der Lage war, sich anzuschnallen. Er fand das auch unnötig. Er fühlte sich in diesem Flugzeug mit dem erfahrenen Piloten so sicher wie zu Hause im Lesesessel.
»Außerdem«, motzte Rupert, »lebe ich nicht vom Tourismus. Ich bin Landesbeamter.«
»Und was glaubst du, woher das Gehalt kommt, das dir ausgezahlt wird?«, fragte Büscher.
Rupert kannte die Antwort natürlich, aber es nervte ihn, immer vorgehalten zu bekommen, dass der arme Steuerzahler … Folglich stellte er sich blöd, was ihm nicht sehr schwerfiel. Mit offenem Mund riet er: »Woher das Geld kommt? Aus illegalem Glücksspiel vermutlich. Oder nein, warte. Vielleicht hat unser Landesvater reich geheiratet und lässt jetzt alle an seinen finanziellen Segnungen teilhaben.«
»Rupert, halt die Fresse und steig ein«, forderte Weller. Er hatte seine Schmerztabletten vergessen, aber schließlich war man auf Langeoog nicht außerhalb der Zivilisation. Es gab eine Apotheke.
Rupert hasste autofreie Inseln. Er schimpfte: »Es ist völlig bescheuert, Weller mitzunehmen. Wie soll der sich denn fortbewegen? Freihändig auf dem Fahrrad?« Ann Kathrin hatte sich angewöhnt, Rupert ins Leere laufen zu lassen, statt auf jede Frechheit oder Blödheit von ihm zu reagieren. Sie saß neben dem Piloten. Weller hatte zwei Plätze für sich allein.
Rupert stieg hinter ihm ein. »Willst du deinen Pflegefall nicht lieber zu Hause lassen?«, fragte er.
Ann Kathrin ließ sich nicht provozieren, doch Weller platzte fast vor Zorn: »Bitte erinnere mich daran, dass ich ihm eine reinhaue, sobald der Gips ab ist.«
»Jungs«, schlug Ann Kathrin vor, »guckt ein bisschen aus dem Fenster und genießt den Flug. Der Blick in die Weite entspannt.«
Der Pilot beschleunigte die Maschine auf der Piste. Eine Gruppe Dohlen hüpfte vor dem herannahenden Flugzeug kurz zur Seite und begab sich hinter ihm wieder auf die Startbahn. Die Maschine hob ab.
Ann Kathrin genoss den Fluglärm. So musste sie wenigstens Weller und Rupert bei ihren Hahnenkämpfen nicht zuhören.
Vor der Tür im Flur verlor Sabine Schnell plötzlich ihre Entschlossenheit. Sie kam sich nur noch blöd vor.
»Das bin ich nicht«, sagte sie zu sich selbst. »Ich mit einem Messer vor einer Tür … Ich kann das doch gar nicht: zustechen. Schmerzen bereiten. Töten.«
Jetzt war ihr das Messer im Ärmel nur noch peinlich. Sie hätte es am liebsten in einen Abfalleimer geworfen, aber hier stand keiner. Sie wollte nur noch verschwinden, ab in den Fahrstuhl oder die Treppe runter, aber in dem Moment, als sie spürte, dass sie wieder sie selbst wurde und nicht länger dieses wutgesteuerte Monster war, traf sie schutzlos der Schmerz. Es war eine Erschütterung aus ihrem Inneren. Ein Zusammenkrampfen der Organe, verbunden mit einem mörderisch anstrengenden Druck im Kopf.
Mit dem Druck kamen die Tränen. Sie krümmte sich, spürte ein bissiges Tier in sich, das sich durch ihre Gedärme fraß. So musste es sich anfühlen, verrückt zu werden.
Ihr Kind war tot. Ihr Cosmo. Ihr Ein und Alles war in ihren Armen krepiert, und sie hatte ihm nicht helfen können.
Vor die Frage gestellt, ihr Leben gegen seins einzutauschen, hätte sie keine Sekunde gezögert. Sie war nur zu bereit, sich statt seiner ins Grab zu legen. Ja, wenn es möglich gewesen wäre, die Sache zu verändern, sie hätte alles dafür getan. Alles. Zum Beispiel glaubte sie, durchaus in der Lage zu sein, sich selbst die Klinge in den Bauch zu stoßen, um sich für ihn zu opfern oder um das schreckliche Raubtier in sich zu töten.
Sie riss den Mund zu einem stummen Schrei auf. Da öffnete jemand behutsam die Tür. Ingeborg Claudius, die coole Oma, stand vor ihr. Sie hatte sie heftig am Telefon beschimpft. Trotzdem breitete Frau Claudius voller Mitgefühl die Arme aus, um die Mutter des toten Jungen zu umarmen. Bis vor wenigen Minuten hatte sie mit Marvin über seinen Freund Cosmo gesprochen und darüber, was aus der Seele wird, wenn der Mensch stirbt. An Himmel oder Hölle glaubte Marvin nicht, aber auch nicht daran, dass nach dem Tod alles einfach vorbei war.
Wenn Frau Schnell jetzt jemanden zum Reden brauchte, dann war sie bereit, ihr den ganzen Rest ihres Tages zu widmen, und das, obwohl sie von ihr übel beschimpft worden war.
Ingeborg Claudius hatte sich den Tag eigentlich ganz anders vorgestellt. Eine Massage bei Thanne gebucht und für den Abend eine Klangschalenmeditation bei Friederike. Ein Tod veränderte alles. Ihre Pläne waren obsolet geworden.
Die emotionale Wärme, mit der Ingeborg Claudius ihr begegnete, war zu viel für Sabine Schnell. Die Wut flammte wieder in ihr auf. Sie stieß die Dame zur Seite und drang in die Wohnung ein.
Sie sah sich selbst von außen, als würde sie die Szene nur beobachten. Sie staunte über eine Frau, die aussah wie sie selbst und die einen verängstigten Jungen mit einem Messer bedrohte. Er versteckte sich hinter einem Sessel.
Sie brüllte ihn an: »Cosmo ist tot! Tot! Tot! Tot! Was hast du ihm gegeben? Was? Hast du ihn vergiftet?«
Marvin floh auf den Balkon und schlug die Glastür hinter sich zu. Er bewaffnete sich mit einem Stuhl und schrie: »Hauen Sie ab! Ich habe Cosmo nichts gegeben! Cosmo war mein Freund!«
Das war eine Lüge, und Marvin wusste es nur zu genau.
Sabine Schnell riss die Tür auf. Frau Claudius schlang todesmutig von hinten beide Arme um sie und versuchte, sie zurückzuhalten.
Unten auf der Barkhausenstraße hielten Radfahrer an. Vom Eiscafé aus starrten Menschen nach oben. Sie alle konnten sehen, was auf dem Balkon im zweiten Stock geschah. Selbst die Möwe auf dem Fahnenmast guckte neugierig zu, und die interessierte sich sonst nur für Fischbrötchen, Pommes und Eiswaffeln.
Sabine schüttelte Ingeborg Claudius ab. Es war ihr egal, wer von unten zusah.
Marvin schrie um Hilfe. Aber auch das störte sie nicht. Erst jetzt wurde ihr klar, was mit ihr passiert war. Der Tod ihres Sohnes hatte aus ihr einen angstfreien Menschen gemacht. Es war ihr egal, was aus ihr wurde oder was mit ihr geschah. Sie war bereit, jetzt und hier sofort zu sterben. Sie hatte alles verloren, und es kümmerte sie einen Dreck, was die Leute da unten dachten oder taten.
Das Messer fiel aus ihrem Sweatshirt. Es schepperte auf die Fliesen. Die Möwe flattert aufgeregt vom Fahnenmast, nicht ohne vorher auf die Deutschlandfahne zu kacken.
Marvin hob einen Stuhl hoch und richtete die vier Beine auf Sabine. Er hatte mal gelesen, bei Raubtieren sei das eine gute Methode. Sie könnten sich nicht entscheiden, in welches Stuhlbein sie beißen sollten. Jetzt fiel ihm das wieder ein.
Er stieß die Stuhllehne in Sabines Richtung, doch die hatte nicht vor hineinzubeißen. Sie trat gegen den Stuhl. Marvin stürzte, aber Sabine verlor mit der coolen Oma, die sich von hinten an ihr festklammerte, das Gleichgewicht. Beide Frauen fielen ins Wohnzimmer.
Ingeborg Claudius tat sich sehr weh. In ihrem Rücken knackte es laut. Sie hatte ohnehin Probleme mit der Wirbelsäule. Ohne schmerzstillende Creme oder Pflaster hielt sie es selten lange aus. Jetzt schien der Rücken zu brennen, und das Feuer breitete sich rasch in ihrem Körper aus. Es erreichte ihren Nacken und die Oberschenkel, noch während Sabine Schnell auf ihr lag und versuchte hochzukommen.
Marvin zögerte einen Moment zu lange. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er den Stuhl fallen lassen sollte, um das Messer aufzuheben, oder ob es besser war, Cosmos Mutter mit dem Stuhl zu attackieren.
Es gab jetzt durchaus die Möglichkeit, ihr die Stuhlbeine auf den Kopf oder wenigstens ins Kreuz zu schlagen. Sie war praktisch auf allen vieren und in seiner direkten Reichweite. Sie versuchte, zum Messer zu kommen, aber Marvin war nicht gerade ein Schläger. Auf dem Schulweg mied er Kämpfe. Er wiegelte Duelle eher ab, als sie anzunehmen. Er prügelte sich nicht gern. Er spielte lieber Gitarre und schrieb Songs. Gegen einen Erwachsenen hatte er noch nie die Hand erhoben. Da ballte er lieber die Faust in der Tasche.
Doch jetzt brachte ihn das nicht weiter. Sabine Schnell ergriff das Messer.
Marvin hatte manchmal den Ausdruck gehört, dass jemandem die Haare zu Berge stehen. Nun wusste er, dass es so etwas wirklich gab. Wie elektrisiert standen Sabine Schnells Haare in alle Richtungen auf magische Weise aufrecht, als würde sich jedes einzelne Haar hochrecken.
Vor dem Eiscafé zückten Touristen ihre Handys. Jemand forderte laut: »Ruf doch mal einer die Polizei«, nutzte aber selber lieber sein Handy für Filmaufnahmen. Dann prophezeite er: »Das wird der Knaller auf meiner Facebook-Seite. Von wegen langweiliges Langeoog …«
»Keine Autos, keine Haie«, kommentierte eine Frau, die vor ihrem Maraschino-Becher saß und die Kalorien zählte, die sie heute noch laut Ernährungsplan zu sich nehmen durfte.
»Facebook? Wer macht denn heute noch Facebook? Ich bin bei Instagram«, spottete ein Mädchen mit Zahnspange, das ein Auge auf den süßen Rothaarigen geworfen hatte, der unbeeindruckt von all dem in einem dicken Kriminalroman las. Auf dem Cover war der Wasserturm von Langeoog abgebildet.
Der Leser sah zu ihr hoch und zwinkerte ihr zu.
Oben auf dem Balkon des Anna-See-Gebäudes packte Sabine Schnell Marvin am Ellbogen und zog ihn ins Wohnzimmer. Der Stuhl krachte auf den Boden. Es schepperte so laut, dass selbst die Dohlen auf dem silbergrauen Kupferdach sich kurz zum Haus der Insel zurückzogen.
Im Zimmer zeigte Sabine Marvin die Messerspitze. Sie hielt die Klinge bedrohlich nahe vor sein Gesicht, doch ihre Augen machten ihm mehr Angst als das Messer. Er war noch nie im Leben jemals solch blankem Hass begegnet.
Ingeborg Claudius wand sich am Boden wie ein an Land geworfener Fisch. Sie kam nicht mehr hoch. Sie fühlte sich als Versagerin. Jetzt, da es darauf ankam, den eigenen Enkel zu schützen, machte ihr ihre schwache Rückenmuskulatur einen Strich durch die Rechnung. Sie fühlte sich vom Hals an abwärts gelähmt. Lediglich die Hände und die Arme gehorchten ihr noch.
»Gesteh!«, forderte Sabine Schnell. »Sag die Wahrheit!«
Jetzt, bei Ebbe, von hier oben aus dem Flugzeug betrachtet, wirkten die vielen Möwen wie weiße, bewegliche Punkte im Watt. Ann Kathrin Klaasen studierte drei riesige Ansammlungen von Möwen. Entweder gab es genau dort ein reiches Speisenangebot, vermutlich Krebse oder kleine Fischchen, die gefangen in den zahlreichen Pfützen im Watt nicht mehr ins Meer zurückschwimmen konnten. Sie würden ohnehin sterben und von der Sonne ausgetrocknet werden. Für die Möwen war es ein Festessen. Oder die verschiedenen Möwenfraktionen hielten einen großen Rat ab.
Ann Kathrin Klaasen fiel auf, dass über den drei Möwengruppen, die dort dichtgedrängt im Watt hockten, jeweils eine Möwe im Wind schwebte. Die Luft schien die Tiere, ohne dass sie etwas dazu tun mussten, zu tragen. Jede Möwe drehte ein, zwei Runden, bevor sie zur Landung ansetzte und von einer anderen abgelöst wurde. Wachten die abwechselnd über die Sicherheit der ganzen Kolonie?
Ann Kathrin reckte den Hals, um die Möwen möglichst lange beobachten zu können. Rupert grinste: »Frauen. Viele sind echt gut zu Vögeln.«
Weller stichelte: »Nur deine lässt dich nicht ran, was?«
Plötzlich, ohne einen für Ann Kathrin ersichtlichen Grund – die Geräusche der Britten-Norman Islander konnten es nicht gewesen sein, denn dafür waren sie schon viel zu weit weg –, erhoben sich wie auf ein Kommando alle drei Möwengruppen gleichzeitig. Es sah aus, als würden drei Armeen gegeneinander antreten. Einen zauberhaften Augenblick lang schwebten sie wie eine große Wolke aus Federn über dem Meeresboden und warfen unten einen beweglichen Schatten, wie es sonst nur hohe Schäfchenwolken schafften, denen oft Regen oder gar Gewitter folgten.
Nach einigen Sekunden teilte sich die gigantische Möwenformation wieder in drei auf den ersten Blick gleich große Gruppen auf.
Die Maschine landete. Rupert versuchte, dabei ein Selfie von sich zu machen, das zeigte, wie er im Flugzeug saß. Hinter ihm ein Propeller und der blaue Himmel. Er überprüfte das Ergebnis, war aber nicht zufrieden damit, weil Wellers Rücken darauf zu sehen war, und wenn er sich andersherum drehte, kam das Fenster nicht mit drauf.
Während Ann Kathrin Weller aus der Maschine half, stellte Rupert sich stolz davor und versuchte das mit dem Selfie noch einmal. Diesmal gelang das Bild. Mit der verspiegelten Sonnenbrille vor der Britten-Norman Islander hatte er etwas von Tom Cruise in Top Gun, fand er. Ja, er kam sich ein bisschen vor wie ein ausgebuffter Kampfpilot der United States Navy, auch wenn er noch nie eine Maschine geflogen hatte und ihm bei turbulenten Urlaubsausflügen manchmal ganz schön flau wurde. Dann musste Beate mit ihm Händchen halten, und er kam sich erbärmlich vor. Auf Schiffen dagegen ging es ihm gut. Am wohlsten fühlte er sich allerdings auf dem Festland. Genauer gesagt, in einer schummrigen Bar an der Theke auf dem Festland, mit einem zwölf Jahre alten Scotch in der Hand.
Er schickte das Foto an seine Frau Beate und zwei, drei Freundinnen. Er hielt sich immer eine kleine Herde, wie er es nannte. Ja, er liebte Beate, denn sie fand ihn besser, als er war. Aber wenn er nicht wenigstens ab und zu eine Affäre nebenbei laufen hatte, fühlte er sich unwohl. Auch wenn er es nie zugegeben hätte, er bekam dann Angst. Ähnlich wie manchmal im Flugzeug. Es war die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Abhängig zu werden von unerreichbaren Piloten hinter terrorsicheren Türen zum Cockpit oder von der Frau, die jetzt die einzige war und folglich Macht über ihn hatte. Denn ganz ohne Frau konnte er nicht sein.
Beate war schon seine Hauptfrau, ohne jede Frage. Aber er brauchte neben ihr noch Reservefrauen. Er erklärte sich das so: Man hat ja schließlich auch ein Reserverad im Kofferraum. Werden die anderen Räder etwa deswegen eifersüchtig?
»Rupert, was ist?«, rief Ann Kathrin. Er stand so merkwürdig gedankenverloren da. »Wir haben einen Fall zu lösen!«
»Ja, ich komm ja schon. Als Gott die Zeit erschuf, hat er von Eile nichts gesagt. Schon vergessen?«, maulte Rupert.
Diesen Satz hatte der ehemalige Kripochef Ubbo Heide gern wie einen Schutzschild vor sich hergetragen, wenn die Hektik des Alltags ihn attackierte. So, wie Rupert ihn zitierte, lag darin fast der Anspruch, er könne an die Stelle des beliebten Chefs treten. Außer ihm glaubte das allerdings niemand. Er war als fünftes Rad am Wagen eigentlich nur nach Langeoog mitgekommen, weil Karin, mit der er vor Jahren mal ein kurzes, aber heftiges Abenteuer erlebt hatte, auf der Insel an einer Klangschalenmeditation teilnahm, wie sie ihm geschrieben hatte.
Er stellte sich so etwas völlig bescheuert vor, typischer Frauenkram, aber von Beate, der Reiki-Meisterin, war er ja bereits einiges gewöhnt und ertrug es mit Gelassenheit.
Horst Schmidt von der Langeooger Kaffeerösterei, der neuerdings wieder sein eigenes Bier braute, hatte für seinen Frank Weller ein Tandem mitgebracht. Er fand die Idee gut. Ann Kathrin konnte lenken und Weller mit seinen gebrochenen Armen hintendrauf sitzen und feste mitstrampeln.
Rupert gefiel das. Es war eine sehr wacklige Angelegenheit. Der Weg bis zur Ferienwohnung Düvels Balje war zum Glück nicht weit. Ann Kathrin kannte das Haus neben dem Gulfhof in der Willrath-Dressen-Straße. Sie wog kurz ab, ob es nicht besser wäre, den Weg zu Fuß zurückzulegen, aber dann fand sie die Idee von Horst so originell und wusste, dass dies alles bald, sehr bald schon, eine weitere Anekdote werden würde, die man sich über dieses seltsame ostfriesische Ermittlerpärchen erzählte.
Der Journalist Holger Bloem hatte erst vor kurzem gesagt: »Ihr seid längst Legende. Ann, du, Weller, Ubbo Heide, diese ganze ostfriesische Bande. Selbst Rupert gehört dazu.«
Weller lachte hinter ihr. Ihm machte es Spaß. Selbst als sie in der Kurve beinahe umgefallen wären, hatte er noch seine Freude an der Radtour. Er wurde hinter Ann Kathrin wieder zum Kind. Es war fast so aufregend wie seine erste Autobahnfahrt.
Die Tür zur Ferienwohnung war verschlossen. Ann Kathrin rief die Besitzer an. Rupert tippte auf seinem Handy herum und maulte: »Düvels Balje … Was soll das heißen? Badewanne des Teufels?«
Weller zuckte nur mit den Schultern. Ann Kathrin erklärte kurz die Lage: »Wir erreichen telefonisch weder Frau Schnell noch Frau Claudius oder ihren Enkel Marvin. Sie haben ihre Handys nicht abgeschaltet, aber es geht niemand ran. Wir schauen uns die Ferienwohnung hier an, dann gehen wir zu Claudius.«
Rupert guckte, als würde er den Sinn ihrer Worte nicht verstehen. Weller übersetzte für ihn: »Wir verschaffen uns ein Bild der Lage.«
Rupert nickte widerwillig: »Klar. Die Damen laufen uns schon nicht weg. Die Insel ist ja nicht groß.«
Rupert nahm das alles nicht wirklich ernst. Thallium hin, Thallium her, es ging doch hier letztendlich um zwei Halbstarke, eine Mutti und eine Omi. Im Grunde ein Fall für Frauen.
Er war in Gedanken schon bei seiner ehemaligen Freundin Karin. Er erinnerte sich nur zu gern an ihren unnachahmlichen Hüftschwung. Sie hatte göttlich lange Beine.
Der Vermieter kam mit dem Schlüssel. Er war freundlich und verbindlich. Nicht ohne Stolz zeigte er die hell eingerichtete Wohnung mit Blick auf die Dünen.
Ann Kathrin sah aus dem Fenster. Zwei Rehe guckten zum Haus, als wollten sie sehen, wer sich darin herumtrieb.
Cosmo hatte ein eigenes Zimmer. Seine Turnschuhe lagen vor dem Bett und ein Kopfhörer ebenfalls. Auf dem Nachtschränkchen standen zwei Energydrinks in Dosen, eine leer, eine halbvoll.
Weller grinste: »Gute Methode, wenn man schlaflose Nächte liebt …«
»Irgendwelche Hinweise auf Drogen?«, fragte Ann Kathrin. Sie hob ein aufgeklapptes Buch vom Kopfkissen. »Unsichtbare Wunden von Astrid Frank«, sagte sie mehr zu sich selbst. Sie blätterte darin und las ein paar Sätze vor: »Manchmal wünschte ich, sie würden mich schlagen. Denn wenn man geschlagen wird, gucken die Leute hin! Nur wegen ein paar gemeiner Worte oder böser Blicke greift niemand ein. Wenn sie mich schlagen würden, dann hätte ich sichtbare Wunden!«
Weller schaute Ann Kathrin an. Rupert kniete sich hin, um unters Bett und unter den Schrank gucken zu können.
Ann Kathrin drehte das Buch in ihren Händen, als könne sie den Inhalt ertasten. »Anna ist ein hübsches, kluges und fröhliches Mädchen. Zu ihrem 13. Geburtstag bekommt sie von ihrem Vater ein Tagebuch geschenkt. ›Für deine Geheimnisse‹, sagt er.«
»Welcher Junge liest denn so einen Mädchenkram?«, fragte Rupert.
»Mädchenkram?«, empörte Ann Kathrin sich.
»Ja, was denn sonst?« Rupert tippte sich gegen die Stirn. »Ich meine, Jungs in dem Alter, die lesen Comics oder Pornos, aber doch nicht solche sentimentalen Mädchentagebücher.«
Ann Kathrin sah das ganz anders: »Das Buch könnte«, sagte sie, »ein deutlicher Hinweis darauf sein, dass Cosmo Schnell gemobbt wurde. Und möglicherweise haben wir es mit einem Suizid zu tun.«
»Das folgerst du daraus, dass der so ein Mädchenzeug liest? Vielleicht ist er einfach nur schwul«, lachte Rupert.
Weller versuchte, die Wogen zu glätten: »Vielleicht hat er einfach eine Freundin, die …«, gab er zu bedenken.
Rupert fand ein dickes Chemiebuch und eins über Wettbewerbsrecht. »Also, hier tippe ich mal darauf, dass der kleine Kiffer seine eigenen Drogen designen wollte.« Rupert hielt das Chemiebuch hoch und ließ es auf das Bett fallen. »Und das hier … soll wohl so eine Art Leitfaden sein: Wie schalte ich meine Konkurrenten aus?«
Ann Kathrin sah das anders: »Ich denke, er war im Chemie-Leistungskurs und schrieb ein Referat über Wettbewerbsrecht, vermutlich in Soziologie.«
Rupert guckte fragend.
»Früher nannte man das Gesellschaftskunde«, erklärte Ann Kathrin.
Rupert guckte, als hätte er das Wort noch nie gehört. Ann Kathrin lächelte milde: »Jedenfalls ist er ein guter Junge, der mit seiner Mutter in Urlaub fährt und seine Schulaufgaben mitnimmt.«
Rupert schmollte: »Ich konnte Streber noch nie leiden.«
Weller machte immer wieder Bewegungen, als wolle er etwas aufheben oder betasten. Es war ihm unmöglich, sich daran zu gewöhnen, beide Arme nicht bewegen zu können. Manchmal hätte er den rechten am liebsten gegen die Wand gedonnert, um den Gips abzubrechen, aber er blieb vernünftig.
Ann Kathrin betrachtete im Badezimmer eine Haarbürste, in der viele Haarbüschel hingen. »Typisch für die Wirkung von Thallium«, sagte sie. »Haarausfall.«
Rupert durchsuchte im Schrank eine schwarze Regenjacke nach Drogen. »Diese Dinger«, erklärte er, »haben so viele Taschen. Ideal zum Schmuggeln …«
Weller spottete mit Hinweis auf seine Arme: »Na, dann bin ich wohl der Einzige, dessen Fingerabdrücke hier nicht überall zu finden sind.«
Rupert ließ die Jacke los, als sei sie plötzlich zu heiß geworden. »Ich kontaminiere hier doch keinen Tatort, verdammt!«
»Ach nee? Was machst du dann?«, stichelte Weller.
»Das ist doch kein Tatort«, protestierte Rupert.
Ann Kathrin mischte sich ein: »Wir wissen noch nicht, wo der Tatort ist und ob es überhaupt einen gibt.«
Ein paar schreckliche Minuten lang glaubte Ingeborg Claudius, sie müsse hilflos auf dem Rücken liegend dabei zusehen, wie ihr Enkel Marvin erdolcht wurde. Ihre Wirbelsäule brannte, und ihr Kopf schien explodieren zu wollen. So, dachte sie, muss sich ein Schlaganfall anfühlen.
Sie hämmerte mit den Fäusten sinnlos neben sich auf dem Boden herum. Sie biss die Zähne aufeinander, dass der Kiefer schmerzte, aber sie konnte es nicht verhindern.
Nie würde sie den flehenden Blick ihres Enkelsohns vergessen. Er stierte sie voller Verzweiflung an, und sie war nicht in der Lage, ihm zu helfen. Nichts in ihrem bisherigen Leben hatte jemals so weh getan. Nichts. Nicht der Tod ihrer Eltern und auch nicht die Affäre ihres Mannes. Die Abgründe, die sich damals für sie aufgetan hatten, waren, verglichen mit dem Höllenschlund, in den sie jetzt blickte, leichte Prüfungen gewesen. Vorhersehbar. Ja, fast natürlich. Eltern sterben. Partner werden untreu. Das alles gehörte zum Leben dazu. Menschen fürchteten es, rechneten aber damit. Hatten Angst davor, planten aber bereits über die Zeit hinaus. Das Leben musste weitergehen.
Aber diese Situation hier war in ihrer Monstrosität nicht für sie vorhersehbar gewesen. Eine Scheidung. Ja! Ein Verkehrsunfall. Ja! Eine böse Diagnose … All das geschah im Laufe eines Lebens. Aber nicht so eine Szene wie aus einem Horrorfilm.
Nimm mich! Töte mich, wenn du töten musst. Aber lass um Himmels willen Marvin in Ruhe