Prof. James A. Robinson | Prof. Daron Acemoglu
Gleichgewicht der Macht
Der ewige Kampf zwischen Staat und Gesellschaft
Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke, Christa Prummer-Lehmair, Sonja Schuhmacher und Thomas Wollermann
FISCHER E-Books
Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke, Christa Prummer-Lehmair, Sonja Schuhmacher und Thomas Wollermann
Daron Acemoglu ist Professor für Wirtschaftswissenschaften am renommierten Massachussetts Institute of Technology (MIT). Er gehört zu den zehn meist zitierten Wirtschaftswissenschaftlern und ist Träger der John-Bates-Clark-Medaille, die als Vorstufe zum Nobelpreis gilt.
James A. Robinson ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Harvard University. Er ist der weltweit führende Experte für Entwicklungshilfe, Lateinamerika und Afrika. Er arbeitete in Botswana, Mauritius, Sierra Leone und Südafrika. Die beiden Autoren haben mit ihrem mittlerweile zum Klassiker gewordenen Titel »Warum Nationen scheitern« weltweit für Aufsehen gesorgt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Milizen in Libyen, Einschränkung der Presse- und Demonstrationsfreiheit in der Türkei, Umerziehungslager in Nordkorea. Gegenwärtig erleben wir viele Staaten als problematisch: sie sind entweder gescheitert, überreguliert oder despotisch. Aber wie viel Staat ist denn eigentlich notwendig? Der Starökonom Daron Acemoglu und Harvard-Politologe James A. Robinson geben hierauf eine überraschende und provokante Antwort. Anhand zahlreicher historischer und aktueller Beispiele – vom antiken Griechenland über das nationalsozialistische Deutschland bis zum aktuellen China – zeigen sie: Wohlstand, Sicherheit und Entwicklung sind in hohem Maße von dem richtigen Rahmen abhängig, in dem der permanente Kampf um Macht zwischen Staat und Gesellschaft ausgetragen wird. Ein überzeugende Analyse, die demonstriert: Ein starker Staat und eine starke Gesellschaft sind kein Widerspruch, sondern bedingen sich gegenseitig.
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Narrow Corridor. State, Societies, and the Fate of Liberty« im Verlag Penguin Press/Penguin Random House, New York.
©2019 by Daron Acemoglu and James A. Robinson.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490590-7
Für Arda und Aras; auch wenn dies hier weniger ist, als ich euch verdanke. DA
Für Adrián und Tulio. Für mich die Vergangenheit; für euch die Zukunft. JR
Dieses Buch handelt von der Freiheit und davon, wie und warum menschliche Gesellschaften sie errungen haben oder an dieser Aufgabe gescheitert sind. Es handelt gleichermaßen von den Folgen, die sich daraus ergeben. Unsere Definition von Freiheit schließt sich jener von John Locke an, der erklärt, »ein Zustand vollkommener Freiheit« sei dann erreicht, wenn Menschen
ihre Handlungen regeln und über ihren Besitz und ihre Person so verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.
So verstanden, ist Freiheit eine grundlegende Bestrebung jedes menschlichen Wesens. Locke betont jedoch, dass dabei …
… niemand einem anderen … an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll.
Unbestritten dürfte sein, dass in früheren Zeiten ebenso wie heute die Freiheit ein rares Gut war. Jahr für Jahr fliehen Millionen von Menschen aus ihrer Heimat im Nahen Osten, in Afrika, Asien und Mittelamerika und setzen dabei Leib und Leben aufs Spiel, nicht eines besseren Verdienstes oder bequemerer Lebensverhältnisse wegen, sondern weil sie sich und ihre Familien vor Angst und Gewalt schützen wollen.
Philosophen haben Freiheit oftmals ganz unterschiedlich definiert. Doch auf der elementarsten Ebene beginnt Freiheit, wie Locke gezeigt hat, dann, wenn die Menschen frei von Gewalt, Einschüchterung und anderen erniedrigenden Bedingungen sind. Die Menschen müssen ihr Leben frei gestalten können, ohne Angst, dafür bestraft oder mit drakonischen sozialen Sanktionen belegt zu werden.
Im Januar 2011 kam es auf dem Markt in Harika, einem Viertel der syrischen Hauptstadt Damaskus, zu spontanen Protesten gegen das despotische Regime von Baschar al-Assad. Nicht lange danach schrieben Kinder in der südlich von Damaskus gelegenen Stadt Dara’a »Das Volk will den Sturz der Regierung« an eine Hauswand. Die Kinder wurden festgenommen und gefoltert. Eine Menschenmenge forderte ihre Freilassung, worauf die Polizei zwei der Protestierer erschoss. Daraufhin kam es zu Massendemonstrationen, die sich rasch über das ganze Land ausbreiteten. Viele ihrer Teilnehmer wollten, wie sich herausstellte, tatsächlich den Sturz der Regierung. Kurze Zeit später brach der Bürgerkrieg aus, was dazu führte, dass sich die staatlichen Institutionen, das Militär und die Sicherheitskräfte aus einem Großteil des Landes zurückzogen. Statt Freiheit herrschte nun unkontrollierte Gewalt.
Adam, ein Medienmanager aus Latakia, brachte auf den Punkt, was dies für Folgen hatte:
Wir dachten, wir hätten ein Geschenk bekommen, aber was wir bekamen, war alles Übel dieser Welt.
Der aus Aleppo stammende Dramatiker Husayn fasste es so zusammen: »Wir hätten nie erwartet, dass diese finsteren Gruppen nach Syrien kommen würden – jene, die jetzt das Sagen haben.«
Führend unter diesen »finsteren Gruppen« war der sogenannte Islamische Staat oder ISIS, wie man ihn damals nannte, dessen Ziel es war, ein neues »islamisches Kalifat« zu errichten. 2014 brachte ISIS die syrische Großstadt Raqqa unter seine Kontrolle. Auf der anderen Seite der Grenze, im Irak, eroberte ISIS die Städte Falludscha, Ramadi und die historische Stadt Mossul mit ihren 1,5 Millionen Einwohnern. ISIS und andere bewaffnete Gruppierungen füllten das Machtvakuum, das durch den Zusammenbruch der Regierungen in Syrien und im Irak entstanden war, mit unvorstellbarer Grausamkeit. Schwere körperliche Misshandlungen, Enthauptungen und Verstümmelungen waren an der Tagesordnung. Abu Firas, der für die Freie Syrische Armee kämpfte, schilderte die »neue Normalität« in Syrien:
Schon so lange habe ich nicht mehr gehört, dass jemand eines natürlichen Todes gestorben ist. Anfangs wurden ein oder zwei Menschen getötet. Dann zwanzig. Dann fünfzig. Dann wurde es Normalität. Wenn wir fünfzig Leute verloren haben, dachten wir: »Gott sei Dank, es sind nur fünfzig!« Ich kann ohne das Geräusch von Bomben und Geschossen nicht schlafen. Es ist, als würde etwas fehlen.
Amin, ein Physiotherapeut aus Aleppo, erzählte:
Einer meiner Kumpel rief seine Freundin an und sagte: »Schatz, ich habe keine Freiminuten mehr. Ich melde mich gleich noch mal mit Amins Telefon.« Nach einer Weile rief sie mich an und fragte nach ihm, und ich sagte ihr, dass er getötet worden sei. Sie brach in Tränen aus, und meine Freunde fragten: »Warum hast du ihr das erzählt?« Ich sagte: »Weil es passiert ist. Es ist normal. Er ist tot.« … Wenn ich in das Kontaktverzeichnis meines Handys schaute, waren nur ein oder zwei Namen noch am Leben. Bei uns hieß es: »Wenn einer stirbt, dann lösche seine Nummer nicht. Sondern ändere seinen Namen zu Märtyrer.« … Wenn ich also meine Kontaktliste öffnete, stand da überall Märtyrer, Märtyrer, Märtyrer.
Der Zusammenbruch des syrischen Staates verursachte eine Katastrophe enormen Ausmaßes. Von den rund 18 Millionen Syrerinnen und Syrern, die vor dem Krieg im Land lebten, kamen schätzungsweise 500000 ums Leben. Mehr als sechs Millionen wurden innerhalb des Landes vertrieben, und fünf Millionen sind aus dem Land geflohen und fristen ihr Dasein als Flüchtlinge.
Es überrascht nicht, dass der Kollaps des syrischen Staates eine derartige Katastrophe nach sich zog. Philosophen und Sozialwissenschaftler haben bereits seit langem nachgewiesen, dass ein Staat vorhanden sein muss, wenn man Konflikte lösen, den Gesetzen Geltung verschaffen und die Gewalt im Zaum halten will. John Locke schreibt:
Wo es kein Gesetz gibt, da gibt es auch keine Freiheit.
Doch die syrische Bevölkerung wollte mit ihren Protesten von Assads autokratischem System gewisse Freiheiten einfordern. Reumütig bekannte Adam:
Es ist schon ein bisschen paradox. Wir wollten mit unseren Demonstrationen erreichen, dass die Korruption aufhört, Schluss ist mit den kriminellen, üblen Vorgängen und den Misshandlungen von Menschen.
Aber erreicht haben wir nur, dass jetzt noch viel mehr Menschen misshandelt werden.
Dieses Paradox, von dem Adam spricht, ist in menschlichen Gesellschaften schon von jeher präsent. Von ihm handelt eines der ältesten schriftlichen Zeugnisse, über die wir verfügen, die 4200 Jahre alten sumerischen Tontafeln mit dem Gilgamesch-Epos. Gilgamesch war der König von Uruk, der vielleicht ersten Großstadt der Welt, gelegen am Ufer des Euphrat im Süden des heutigen Iraks. Das Epos erzählt von der bemerkenswerten Stadt, die Gilgamesch erschuf, in der der Handel florierte und die ihren Einwohnern öffentliche Dienstleistungen bot:
Sieh wie ihre Wallanlagen wie Kupfer in der Sonne
glänzen! Nimm die steinerne Treppe … wandle auf der
Mauer von Uruk umher, folge ihrem Lauf um die Stadt,
beschaue ihre mächtigen Fundamente, prüfe ihr
Ziegelwerk, wie meisterhaft es erschaffen ist, schaue
hinaus auf das Land, das die Stadt umschließt, die
prächtigen Paläste und Tempel, die Läden und
Marktplätze, die Häuser und öffentlichen Plätze.
Doch die Sache hatte einen Haken.
Wer kann es mit Gilgamesch aufnehmen? … Die Stadt gehört ihm, er stolziert darin umher, hochmütig, den Kopf hoch erhoben, und trampelt seine Bürger nieder wie ein wilder Stier. Er ist der König, er tut, was ihm beliebt, nimmt dem Vater seinen Sohn und zermalmt ihn, nimmt der Mutter die Tochter und missbraucht sie … keiner wagt es, sich ihm zu widersetzen.
Gilgamesch kannte keine Grenzen für sein Tun. Darin ähnelte er dem syrischen Despoten Assad. In seiner Verzweiflung flehte das Volk Anu an, den Gott des Himmels und die oberste Gottheit des sumerischen Pantheons:
Himmlischer Vater, Gilgamesch … hat alle Grenzen
überschritten. Das Volk leidet unter seiner Tyrannei …
Willst du, dass dein König so herrscht? Darf ein Hirte
seine eigene Herde niedermetzeln?
Anu erhörte das Flehen und bat Aruru, die Schöpfungsmutter,
einen Doppelgänger für Gilgamesch zu erschaffen, sein
zweites Ich, einen Mann, der ihm an Stärke und Mut
gleichkommt, einen Mann, der seinem stürmischen Herzen
in nichts nachsteht. Erschaffe einen neuen Helden,
lasse die beiden einander vollkommen ebenbürtig sein,
auf dass Uruk Frieden findet.
Anu fand also eine Lösung für das, was wir als das »Gilgamesch-Problem« bezeichnen – zur Förderung des Guten die Befugnisse und die Macht des Staates zu kontrollieren. Anus Lösung bestand darin, einen »Doppelgänger« zu erschaffen, ähnlich dem, was man heute als »Gewaltenteilung« kennt. Gilgameschs Doppelgänger Enkidu sollte ihn im Zaum halten. James Madison, einer der Gründerväter des US-amerikanischen Regierungssystems, hätte das gefallen. 4000 Jahre nach Gilgamesch forderte er, eine Verfassung müsse so beschaffen sein, dass »Ehrgeiz dem Ehrgeiz entgegenwirkt«.
Gilgameschs erste Begegnung mit seinem Doppelgänger fand statt, als er gerade im Begriff war, sich durch Raub eine neue Braut zu beschaffen. Dabei stellte sich Enkidu ihm in den Weg, und sie kämpften miteinander. Obwohl Gilgamesch schließlich die Oberhand gewann, war danach seine unangefochtene, despotische Macht dahin. Die Saat der Freiheit in Uruk?
Leider nein. Eine von oben verordnete Gewaltenteilung funktioniert in der Regel nicht, und dies war auch in Uruk der Fall. Schon bald taten sich Gilgamesch und Enkidu zusammen:
Sie umarmten und küssten sich.
Sie hielten einander die Hände wie Brüder.
Sie gingen Seite an Seite.
Sie wurden wahre Freunde.
Alsbald nahmen sie sich vor, das Ungeheuer Humbaba zu töten, den Hüter des großen Zedernwaldes. Als die Götter den Himmelsstier losschickten, um die beiden für diesen Frevel zu bestrafen, töteten sie mit vereinten Kräften auch ihn. Die Aussicht auf Freiheit verflüchtigte sich mit dem Verschwinden der Gewaltenteilung.
Woraus soll die Freiheit erwachsen, wenn nicht aus einem Staat, der durch Doppelgänger oder die Gewaltenteilung eingehegt wird? Aus einem Regime wie dem von Assad gewiss nicht. Bestimmt auch nicht aus der Anarchie, die dem Zusammenbruch des syrischen Staats folgte.
Unsere Antwort ist einfach: Freiheit benötigt den Staat und die Gesetze. Sie wird aber nicht vom Staat oder den Eliten, die ihn kontrollieren, erteilt. Vielmehr wird sie von den gewöhnlichen Bürgern, von der »Gesellschaft«, errungen. Die Gesellschaft muss den Staat kontrollieren, so dass er ihre Freiheit schützt und fördert, anstatt sie zu unterdrücken, wie es Assad in Syrien vor 2011 getan hat. Freiheit benötigt eine mobilisierte Gesellschaft, die an der Politik partizipieren kann, die nötigenfalls protestiert und in der Lage ist, die Regierung aus dem Amt zu wählen. Die Freiheit geht aus einem fragilen Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft hervor.
In diesem Buch möchten wir darlegen, dass Freiheit nur entstehen und gedeihen kann, wenn sowohl der Staat als auch die Gesellschaft stark sind. Ein starker Staat wird benötigt, um die Gewalt zu kontrollieren, den Gesetzen Geltung zu verschaffen und öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen, die unabdingbar sind, wenn den Menschen ermöglicht werden soll, ihr Leben nach eigenem Gutdünken zu führen. Eine starke, mobilisierte Gesellschaft wird benötigt, um den starken Staat zu kontrollieren und ihm Fesseln anzulegen. Doppelgänger-Lösungen und Gewaltenteilung beheben das Gilgamesch-Problem nicht, weil ohne die Wachsamkeit der Gesellschaft die Verfassungen und Garantien nicht viel mehr wert sind als das Papier, auf dem sie geschrieben stehen.
Zwischen der von despotischen Staaten erzeugten Angst und Repression einerseits und der Gewalt und Gesetzlosigkeit bei Abwesenheit eines Staates andererseits liegt ein schmaler Korridor der Freiheit. In diesem Korridor halten sich Staat und Gesellschaft die Waage. Dieses Gleichgewicht wird nicht durch ein revolutionäres Moment hergestellt. Es ist ein ständiges, tägliches Ringen zwischen beiden Kräften, das sich positiv auswirkt. Im Korridor der Freiheit treten Staat und Gesellschaft nicht einfach nur in Konkurrenz zueinander, sondern sie kooperieren auch. Dies versetzt den Staat besser in die Lage, die Leistungen zu erbringen, nach denen die Gesellschaft verlangt, und fördert eine stärkere gesellschaftliche Mobilisierung zur Kontrolle dieser Fähigkeit.
Warum dies ein Korridor und keine Tür ist, hat seinen Grund darin, dass die Erringung der Freiheit in einem Prozess vonstattengeht. Man muss in dem Korridor einen langen Weg zurücklegen, bevor die Gewalt unter Kontrolle gebracht ist, Gesetze verfasst und durchgesetzt sind und der Staat beginnt, seinen Bürgern Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Es ist ein Prozess, weil der Staat und die Eliten erst lernen müssen, mit den Fesseln zu leben, die ihnen die Gesellschaft anlegt, ebenso wie die verschiedenen Segmente der Gesellschaft lernen müssen, trotz ihrer Differenzen zusammenzuarbeiten.
Dieser Korridor ist deshalb schmal, weil all diese Aufgaben nicht leicht zu bewältigen sind. Wie lässt sich ein Staat mit einer riesigen Bürokratie, einem mächtigen Militär und dem Vermögen, über Recht und Gesetz zu entscheiden, in Schranken halten? Wie kann man sicherstellen, dass sich ein Staat, der dazu aufgerufen ist, in einer komplexen Welt mehr Verantwortung zu übernehmen, gebändigt und kontrollierbar bleibt? Wie dafür sorgen, dass eine Gesellschaft ihre Kooperationsbereitschaft aufrechterhält und sich nicht gegen sich selbst wendet, zerrissen von Differenzen und Spaltungen? Wie verhindern, dass all dies nicht zu einem Nullsummenspiel wird? Dies ist ganz und gar nicht einfach, und deshalb ist der Korridor schmal. Gesellschaften treten in ihn ein und verlassen ihn wieder, jeweils mit weitreichenden Folgen.
Nichts davon lässt sich künstlich in die Wege leiten. Ohnehin neigen Staatsführer in der Regel nicht dazu, Freiheit aus eigenem Antrieb bewusst herbeizuführen. Sind der Staat und seine Eliten zu mächtig und verhält sich gleichzeitig die Gesellschaft unterwürfig, warum sollten dann die Herrschenden den Menschen Rechte und Freiheit einräumen? Und selbst wenn sie es täten, könnte man darauf vertrauen, dass sie zu ihrem Wort stehen?
An der Geschichte der Frauenbewegung verdeutlicht sich, wie sich die Ursprünge der Freiheit seit der Zeit des Gilgamesch bis heute entwickelt haben. Welche gesellschaftlichen Veränderungen seit jenen Tagen, in denen – wie es im Epos heißt – »die Jungfräulichkeit jedes Mädchens … ihm gehörte«, haben dazu geführt, dass Frauen heute Rechte haben (zumindest in einigen Gesellschaften)? Könnte es sein, dass diese Rechte von Männern gewährt wurden? Die Vereinigten Arabischen Emirate beispielsweise verfügen über einen Rat zur Gleichstellung der Geschlechter, der 2015 von Scheich Muhammad Bin Raschid Al Maktum eingesetzt wurde, dem Vizepräsidenten und Premierminister des Landes und Herrscher von Dubai. Der Rat vergibt jedes Jahr Preise an »die Verwaltungsbehörde mit der besten Bilanz hinsichtlich der Gleichstellung der Geschlechter« sowie an die Bundesbehörde mit der entsprechend besten Bilanz und an »die beste Gleichstellungsinitiative«. Die Preise des Jahres 2018, die Scheich Maktum persönlich überreichte, haben eines gemeinsam – sie alle wurden einem Mann verliehen. Die Lösung, die die Vereinigten Arabischen Emirate verfolgen, hat den Makel, dass sie von Scheich Maktum künstlich eingeführt und der Gesellschaft auferlegt wurde, ohne Beteiligung der Gesellschaft.
Man vergleiche dies zum Beispiel mit der erfolgreicheren Geschichte der Frauenbewegung in Großbritannien, wo den Frauen die Rechte nicht einfach zu Füßen gelegt wurden, sondern wo sie sie hart erkämpfen mussten. Frauen schlossen sich zu einer sozialen Bewegung zusammen, den sogenannten Suffragetten, die aus der British Women’s Social and Political Union hervorging, einer ausschließlich von Frauen gebildeten, 1903 gegründeten Organisation. Die britischen Frauen warteten nicht darauf, dass Männer ihnen Preise für die »beste Gleichstellungsinitiative« verliehen. Sie mobilisierten sich, engagierten sich in Protestaktionen und übten zivilen Ungehorsam. Sie zündeten einen Sprengsatz am Sommerhaus des damaligen Schatzkanzlers und späteren Premiers David Lloyd George und ketteten sich vor dem Parlament an das Geländer. Sie verweigerten die Entrichtung von Steuern, und wenn man sie ins Gefängnis warf, traten sie in Hungerstreik und mussten zwangsernährt werden.
Emily Davison war prominente Vorkämpferin der Suffragettenbewegung. Am 4. Juni 1913 stürmte sie beim berühmten Epson Derby mitten auf die Galopprennbahn und stellte sich Anmer, dem Pferd König Georges V., in den Weg. Manchen Berichten zufolge soll Davison dabei die lila-weiß-grüne Fahne der Suffragetten geschwungen haben. Davison wurde von Anmer erfasst, das Pferd stürzte und begrub sie unter sich. Vier Tage später starb sie an ihren Verletzungen. Fünf Jahre danach konnten Frauen erstmals an Parlamentswahlen teilnehmen. Die Frauen in Großbritannien bekamen nicht aufgrund der Großherzigkeit männlicher Führer Rechte, sondern weil sie sich organisiert und sich selbst ermächtigt hatten.
Die Geschichte der Frauenemanzipation ist kein Ausnahmefall. Freiheit hängt fast immer von der Mobilisierung der Gesellschaft und ihrer Fähigkeit ab, gegenüber dem Staat und seinen Eliten ein Machtgleichgewicht herzustellen.
Im Jahr 1989 sagte Francis Fukuyama das »Ende der Geschichte« voraus, da sich alle Länder den politischen und wirtschaftlichen Institutionen der Vereinigten Staaten angleichen würden, was er als »dreisten Sieg des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus« bezeichnete. Nur fünf Jahre später entwarf Robert Kaplan in seinem Beitrag The Coming Anarchy ein radikal anderes Zukunftsbild. Am Beispiel von Westafrika verdeutlichte er seine düstere Vision:
Westafrika wird zum Symbol der [Anarchie] … Krankheiten, Übervölkerung, sinnlose Verbrechen, Mangel an Ressourcen, Flüchtlingsströme, die zunehmende Erosion der Nationalstaaten und internationalen Grenzen sowie das Erstarken privater Armeen, Sicherheitsfirmen und internationaler Drogenkartelle sind heute in Westafrika höchst eindrucksvoll zu beobachten. Westafrika bietet eine prägnante Einführung in die Problemstellungen, über die zu diskutieren oft äußerst unangenehm ist, mit denen unsere Zivilisation aber schon bald konfrontiert sein wird. Die politische Welt dahingehend neu zu vermessen wird somit noch einige Jahrzehnte dauern … Ich denke, ich muss mit Westafrika beginnen.
In seinem 2018 erschienenen Artikel Why Technology Favors Tyranny traf Yuval Noah Harari ebenfalls eine Zukunftsprognose. Ihr zufolge seien die Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz Vorboten »digitaler Diktaturen«, die es Regierungen ermöglichen würden, unser Handeln, Kommunizieren und Denken zu überwachen, zu kontrollieren und sogar zu steuern.
Also mag die Geschichte vielleicht an ihr Ende kommen, aber auf ganz andere Weise, als Fukuyama sich das vorgestellt hat. Doch wie? Wird Fukuyamas Vision der Demokratie triumphieren oder doch die Anarchie oder die digitale Diktatur? Die zunehmende staatliche Kontrolle des Internets, der Medien und des Lebens der gewöhnlichen Bürger in China könnte darauf hindeuten, dass wir auf dem Weg in eine digitale Diktatur sind, während die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten und in Afrika uns vor Augen führen, dass die Vorstellung künftiger Anarchie gar nicht so weit hergeholt sein könnte.
Doch wir wollen uns diesem Thema auf systematische Weise nähern. Beginnen wir deshalb, wie Kaplan vorschlägt, mit Afrika.
Hält man sich an der westafrikanischen Küste am Golf von Guinea ostwärts und durchquert Äquatorial-Guinea, Gabun und Pointe-Noire in Kongo-Brazzaville, gelangt man an die Mündung des Kongo-Flusses, den Eingang zur Demokratischen Republik Kongo, einem Land, das oft als Inbegriff der Anarchie beschrieben wird. Dort kursiert ein Witz: Seit seiner Unabhängigkeit von Belgien im Jahr 1960 gab es in dem Land sechs Verfassungen, alle mit einem gleichlautenden Artikel 15. Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, der im 19. Jahrhundert in Frankreich diverse Staatsämter innehatte, sagte einmal, eine Verfassung solle »kurz und unbestimmt« sein. Artikel 15 der kongolesischen Verfassung erfüllt diese Kriterien, er ist kurz und unbestimmt und lautet schlicht: Débrouillez-vous – Sorgt für euch selbst.
Unter einer Verfassung stellt man sich zumeist ein Dokument vor, in dem die Verantwortlichkeiten, Pflichten und Rechte der Bürger und des Staates festgeschrieben sind. Der Staat soll die Konflikte zwischen den Bürgern lösen, sie beschützen und die wesentlichen öffentlichen Dienstleistungen zur Verfügung stellen wie etwa Bildung, Gesundheitsfürsorge und Infrastruktur, um den Menschen zu ermöglichen, ihr Leben angemessen zu gestalten. Aber eine Verfassung sollte nicht sagen, sorgt für euch selbst.
Artikel 15 ist nur ein Witz. In der kongolesischen Verfassung gibt es keinen solchen Artikel. Aber dieser Witz trifft den Nagel auf den Kopf. Die Kongolesen haben mindestens seit der Unabhängigkeit 1960 für sich selbst gesorgt (und davor war ihre Lage noch schlechter). Ihr Staat hat wiederholt darin versagt, auch nur etwas von dem zu leisten, was von ihm erwartet wird, und er ist in weiten Teilen des Landes nicht präsent. Fast überall im Kongo sind die Gerichte, Straßen, Kliniken und Schulen im Verfall begriffen. Mord, Raub, Erpressung und Einschüchterung sind gang und gäbe. Während des Zweiten Kongokriegs, der von 1998 bis 2003 tobte, verwandelte sich das Leben der meisten, ohnehin schon arg gebeutelten Kongolesen in eine wahre Hölle. Schätzungsweise fünf Millionen Menschen kamen dabei ums Leben. Sie wurden umgebracht, starben an Krankheiten oder verhungerten.
Nicht einmal in Friedenszeiten hat es der kongolesische Staat vermocht, die Zusagen seiner Verfassung einzuhalten. Artikel 16 lautet:
Alle Bürger haben das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und auf freie Entwicklung ihrer Persönlichkeit, sofern sie die Gesetze, die öffentliche Ordnung, die Rechte anderer und die öffentliche Moral respektieren.
Ein Großteil der Kivu-Region im Osten des Landes wird jedoch nach wie vor von Rebellengruppen und Warlords kontrolliert, die die dort lebenden Menschen ausplündern, drangsalieren und ermorden und die Bodenschätze des Landes rauben.
Wie steht es mit dem echten Artikel 15 der kongolesischen Verfassung? »Die staatlichen Behörden sind verantwortlich für die Verhinderung sexueller Gewalt …«. Doch 2010 nannte ein Vertreter der Vereinten Nationen das Land »die Welthauptstadt der Vergewaltigung«.
Die Kongolesen sind auf sich allein gestellt. Débrouillez-vous.
Dies trifft nicht nur auf die Kongolesen zu. Reist man Richtung Golf von Guinea zurück, trifft man auf einen Ort, der Kaplans düstere Zukunftsvision vollkommen zu bestätigen scheint – Lagos, das Wirtschaftszentrum Nigerias. Kaplan beschreibt Lagos als eine Stadt, »deren Kriminalität, Umweltverschmutzung und Übervölkerung sie zum Klischee par excellence der urbanen Dysfunktion der Dritten Welt machen«.
Im Jahr 1994 herrschte in Nigeria eine Militärdiktatur, mit General Sani Abacha als Präsident. Abacha sah es nicht als seine Aufgabe an, Konflikte unparteiisch zu lösen oder die Nigerianer zu beschützen. Er konzentrierte sich darauf, seine Gegner umzubringen und die Bodenschätze des Landes auszubeuten. Er soll seinem Land mindestens drei Milliarden Dollar geraubt haben, vermutlich noch viel mehr.
Im Jahr zuvor, 1993, kehrte der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka nach Lagos zurück. Er wollte von Cotonou aus, dem Regierungssitz des benachbarten Benin, die Grenze zu Nigeria überqueren (siehe Karte 1). Das schilderte er wie folgt: »Als wir uns der Grenze zwischen Benin und Nigeria näherten, wurde die ganze Geschichte auf einen Schlag deutlich. Die Schlange der am Straßenrand geparkten Wagen, die die Grenze nicht passieren konnten oder wollten, war auf beiden Seiten kilometerlang.« Er sah Leute, die gewagt hatten, die Grenze zu passieren. »Mit verbeulten Fahrzeugen und/oder ausgeplünderten Taschen waren sie zurückgekommen, man hatte sie mit Waffengewalt gezwungen, Wegezoll zu zahlen, als sie bis zur ersten, von Demonstranten errichteten Straßenblockade vorgeprescht waren.«
Karte 1: Westafrika: Das historische Königreich der Aschanti, das Land der Yoruba, das Land der Tiv und Wole Soyinkas Reiseweg von Cotonou nach Lagos
Soyinka ließ sich jedoch nicht abschrecken, passierte zu Fuß die Grenze und suchte nach jemand, der ihn in die Hauptstadt bringen konnte. Aber er hörte immer nur: »Oga Wole, eko e da o« (Meister Wole, Lagos ist nicht gut). Ein Taxifahrer deutete mit seiner bandagierten Hand auf seinen bandagierten Kopf und erzählte, was ihm zugestoßen war. Eine blutrünstige Gang hatte ihn verfolgt und erwischt, obwohl er mit Vollgas im Rückwärtsgang versucht hatte zu entkommen.
Oga … diese Kerle haben meine Windschutzscheibe eingeschlagen, obwohl ich schon rückwärts gefahren bin. Gott hat mich gerettet. Eko ti daru, Lagos ist ein Chaos.
Schließlich fand Soyinka ein Taxi, das ihn nach Lagos brachte, doch der zögerliche Fahrer meinte: »Mann, die Straße ist schlecht. Sehr schlecht.« Und so begann, wie Soyinka schrieb, »die albtraumhafteste Reise meines Daseins«:
Die Straßensperren bestanden aus leeren Benzinfässern, abgefahrenen Reifen, Felgen, Verkaufsbuden, Holzklötzen, Baumstämmen, kleinen Felsbrocken … Die angeworbenen Straßenrowdys hatten die Sache … in die eigenen Hände genommen … An manchen der Straßensperren wurde ein Wegezoll erhoben, man zahlte und konnte weiterfahren – aber das bot eine Sicherheit, die nur bis zur nächsten Barriere reichte. Manchmal bestand der Zoll aus einem Kanister voll Benzin, das aus dem Wagentank abgezapft wurde, dann durfte man die Fahrt fortsetzen – bis zur nächsten Schranke. … Einige der Fahrzeuge hatten eindeutig einen Gassenlauf durch Wurfgeschosse, Knüppel, ja bloße Fäuste hinter sich, andere schienen direkt vom Filmset von Jurassic Park hierher verfrachtet – man hätte schwören können, dass abnormale Zahnabdrücke in der Karosserie zu sehen waren.
Als sich Soyinka Lagos näherte, wurde die Situation noch schlimmer:
Normalerweise dauert die Fahrt von dort ins Herz von Lagos ungefähr zwei Stunden. Jetzt waren bereits mehr als fünf Stunden vergangen, und wir hatten noch keine fünfzig Kilometer hinter uns gebracht. Meine Besorgnis wuchs … Es lag eine mit Händen greifbare Spannung in der Luft, als wir näher und näher an Lagos herankamen. Die Blockaden standen dichter, die Zahl demolierter Fahrzeuge nahm zu, und, am schlimmsten, es lagen Leichen am Straßenrand.
Leichen sind kein ungewöhnlicher Anblick in Lagos. Als ein hochrangiger Polizeibeamter vermisst gemeldet wurde, suchte die Polizei im Gewässer unter einer Brücke nach seinem Leichnam. Die Suche endete nach sechs Stunden und dem Fund von 23 Toten, von denen keiner die gesuchte Person war.
Während das nigerianische Militär das Land ausplünderte, war es für die Bewohner von Lagos nicht leicht, sich durchzuschlagen. Die Stadt war ein Hort des Verbrechens, und der internationale Flughafen befand sich in derart marodem Zustand, dass er von ausländischen Fluggesellschaften gemieden wurde. Gangs, die sich »Area Boys« nannten, machten Jagd auf Geschäftsleute, raubten sie aus und töteten sie sogar zuweilen. Die Area Boys waren nicht die einzige Gefahr für die Menschen. Auf den Straßen fand man nicht nur Leichen, dort türmte sich der Müll, und Ratten liefen umher. Ein Reporter der BBC berichtete 1999, dass »die Stadt … unter einem Berg von Abfällen verschwindet«. Es gab weder eine öffentliche Stromversorgung noch fließendes Wasser. Wollte man in der Wohnung Licht haben, benötigte man einen Generator. Oder Kerzen.
Das albtraumhafte Leben der Bewohner von Lagos beschränkte sich nicht darauf, dass ihre Straßen von Ratten und Müll verseucht waren und auf den Gehsteigen Leichen lagen. Sie lebten in ständiger Angst. Im Zentrum von Lagos zu wohnen, mit den Area Boys vor Ort, war kein Spaß. Selbst wenn man heute von ihnen verschont blieb, konnten sie es schon morgen auf einen abgesehen haben – vor allem, wenn man die Kühnheit besaß, sich darüber zu beschweren, was sie der Stadt antaten, oder wenn man ihnen nicht die von ihnen eingeforderte Unterwürfigkeit bewies. Ständige Angst, Unsicherheit und Ungewissheit kann ebenso zermürbend sein wie die tatsächliche Gewalt, weil sie einen – um einen Begriff des Philosophen und Politikwissenschaftlers Philip Pettit zu benutzen – unter die »Dominanz« einer anderen Menschengruppe stellt.
In seinem Buch Republicanism: A Theory of Freedom and Government schreibt Pettit, die Grundlage eines erfüllten, ehrbaren Lebens sei Nicht-Dominanz – die Freiheit von Dominanz, Angst und extremer Unsicherheit. Pettit zufolge ist es inakzeptabel,
unter der Gewalt von jemand anderem leben zu müssen, in einer Art und Weise, die einen schutzlos macht vor einem Übel, das der andere einem willkürlich aufzuerlegen in der Lage ist.
Eine solche Dominanz herrscht beispielsweise dann, wenn
eine Ehefrau in die Lage gerät, dass ihr Mann sie nach Belieben schlagen kann, ohne dass sie die Möglichkeit hat, dies zu verhindern; wenn ein Arbeitnehmer es nicht wagen kann, sich über seinen Arbeitgeber zu beschweren, und wehrlos einer Vielzahl von Schikanen ausgesetzt ist … zu denen der Arbeitgeber womöglich greift; wenn der Schuldner von der Gnade des Gläubigers oder des Bankbeamten abhängig ist, dass dieser ihn nicht in Armut und Ruin stürzt.
Pettit betont, bereits die Drohung mit Gewalt oder Misshandlung könne ebenso schlimm sein wie die tatsächlich ausgeübte Gewalt oder die Misshandlung selbst. Natürlich kann man der Gewalt dadurch entgehen, dass man sich den Wünschen oder Befehlen der anderen Person fügt. Doch der Preis dafür ist, etwas zu tun, was man nicht möchte, und dieser Bedrohung ständig ausgesetzt zu sein. (Ökonomen würden dazu sagen, Gewalt liege »außerhalb des Gleichgewichtspfads«, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht das eigene Verhalten beeinflusst oder Folgen hat, die fast so schmerzlich sind wie die tatsächlich ausgeübte Gewalt.) Pettit schreibt, solche Menschen
leben überschattet durch die Anwesenheit eines anderen, selbst wenn sich keine Hand drohend gegen sie erhebt. Sie leben in der Ungewissheit, wie der andere reagieren wird, und müssen die Launen des anderen wachsam im Auge behalten … Sie finden sich … nicht in der Lage, dem anderen ins Auge zu blicken, und sehen sich vielleicht sogar dazu gezwungen, zu schmeicheln, um sich bei ihm beliebt zu machen.