Sabine Weigand
Die englische Fürstin
Zwischen Glanz und Rebellion
Roman
FISCHER E-Books
Sabine Weigand fuhr nach Schlesien, um das Leben der Daisy von Pless für ihren Roman »Die englische Fürstin« zu erkunden. Allen ihren insgesamt neun historischen Romanen liegen wahre Geschichten zugrunde, bei »Die Seelen im Feuer« zum Beispiel die Hexenakten von Bamberg, bei »Die Manufaktur der Düfte« die Aufzeichnungen einer Seifenfabrikantenfamilie in Deutschland. Sabine Weigand stammt aus Franken. Sie ist Historikerin, arbeitete als Ausstellungsplanerin für Museen und ist nun freie Autorin und Abgeordnete im bayerischen Landtag.
www.sabine-weigand.de
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Daisy ist die umschwärmteste Debütantin am englischen Hof, und 1891 heiratet sie den reichsten Fürsten im deutschen Kaiserreich. Doch in ihrer neuen Heimat, in der unzähligen Prachtgemächern von Schloss Fürstenstein, fühlt sich Daisy einsam und unsicher. Ständig eckt sie an, das steife Zeremoniell nimmt ihr den Atem. Doch nach und nach wirft Daisy Regeln über den Haufen und bezaubert bald den Hof und den Kaiser selbst. Mit ihrem Charme und Einfluss versucht sie, irgendwie den heraufkommenden Weltkrieg zu verhindern, wird jedoch selbst wegen ihrer englischen Herkunft als Spionin verdächtigt. Trotz aller Gefahr kämpft sie gegen das Elend der Grubenarbeiter in Schlesien und macht sich damit viele Feinde, ebenso, als sie versucht, als Krankenschwester Soldaten in einem Lazarettzug Hilfe zu bringen. Nach außen gelingt es Daisy, die strahlende, wohltätige Fürstin darzustellen. Dabei muss sie ein großes Geheimnis bewahren, was ihre eigenen Gefühle angeht. Darf sie eine Liebe leben, die alles gefährdet, wofür sie gekämpft hat?
Daisy von Pless hat es wirklich gegeben. Sabine Weigand erzählt nach Motiven ihres Lebens die Geschichte einer starken Frau zwischen Kaiserzeit und Moderne.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: bürosüd, München
Coverabbildungen: Original-Porträtfoto von Daisy von Pless Ende des 19. Jahrhunderts sowie ein Foto des schlesischen Schlosses Fürstenstein
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490882-3
Die mit * gekennzeichneten Personen sind historisch, ebenso alle weiteren namentlich genannten Mitglieder des europäischen Hochadels, Militärs sowie Mitarbeiter von Fritz Haber.
»Kinder, vite, vite, der Prince of Wales ist da!« Die französische Gouvernante klatschte in die Hände. »Ja, wo seid ihr denn? Ou êtes-vous?«
Mit Geheul brachen die drei Cornwallis-West-Geschwister – die zehnjährige Mary Theresa, der neunjährige George und die siebenjährige Constance – aus dem großen Barockschrank hervor und tanzten um die erschrockene Nanny herum, die sich mit ihnen im Kreis drehte. »Mon Dieu, mon Dieu, wie seht ihr nur aus?« Sie half den Kindern, ihre Matrosensachen anzuziehen, und versuchte, den Mädchen ordentliche Frisuren mit Schleifen und Bändern zu machen. Die jüngere Constance, genannt Shelagh oder Biddy, hielt brav still, während die Erstgeborene Mary Theresa, genannt Daisy, quecksilbrig auf ihrem Hocker herumrutschte. »Aua, lass mich, das ziept!«, quietschte sie, während der Kamm durch ihre dichten blonden Haare glitt. Die Französin tat einen Stoßseufzer. Seit die beiden anderen Kinderfrauen aus Geldgründen entlassen worden waren, musste sie ganz alleine mit den drei wilden Kindern zurechtkommen! »Tais-toi, Mademoiselle Daisy! Wer will sein fein, muss leiden Pein!« Daisy ließ sich widerwillig die Zöpfe hochstecken und schlüpfte in das weißblaue Rüschenkleid, an dem oben ein Knopf fehlte. Aber jetzt war es zu spät zum Annähen.
Zusammen mit ihrer Gouvernante gingen die Kinder die breite Treppe nach unten auf die Terrasse, wo ihre Mutter Patsy schon mit dem Thronfolger, Prinz Edward, beim Tee saß. Shelagh riss sich von der Hand der Nanny los, und alle drei Kinder rannten auf Edward zu. »Onkel Bertie, Onkel Bertie! Hast du uns was mitgebracht?« Sie liebten den leutseligen Prinzen mit dem struppigen Rauschebart und den schütteren Haaren, der immer Geschenke brachte und manchmal sogar mit ihnen spielte – was ihr eigener Vater niemals getan hätte.
»Na, wollen mal sehen … hm, nein, ich glaube nicht, dass da Geschenke drin sind. Muss ich wohl vergessen haben«, brummelte der Prinz und kramte in einer Ledertasche. Enttäuschte Gesichter bei den Kindern. »Oh, was ist denn das?«, grinste Edward und zog für Shelagh eine Puppe hervor, für George einen Satz Zinnsoldaten und für Daisy eine kleine Goldbrosche mit Marienkäfern.
Patsy Cornwallis-West legte dem Thronfolger die Hand auf den Arm und strahlte ihn an. »Du bist immer so gut zu den Kleinen, mein Bester«, lächelte sie.
»Weil sie so hübsch sind wie du, Pat«, erwiderte er. »Shelagh mit ihren dunklen Haaren ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten, und Daisy hat dein Temperament. In ein paar Jahren werden die beiden richtig Furore machen.«
»Du meinst, so wie ich, als ich mit fünfzehn in London debütiert habe?« Patsy zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
»Du warst eine Sensation, meine Liebe«, sagte er und strich leicht mit dem Zeigefinger ihre Wange entlang.
Das war Patsy tatsächlich gewesen. Sie zählte damals zum exklusiven Kreis der »professional beauties«, die aufgrund ihrer Schönheit in der Gesellschaft berühmt waren. Und sie war immer noch außergewöhnlich schön mit ihrem schwarzen Haar, dem Schwanenhals, den graugrünen Augen und den fein geschnittenen Zügen. So schön, dass der Kronprinz seine Augen kaum von ihr lassen konnte. »Sensation?« Sie lachte ihn kokett an. »Ach, mein Lieber, mit einunddreißig ist das alles vorbei. Da sitzt man dann und häkelt Spitzendeckchen, plant Rosenbeete und denkt sich Scharaden für Wohltätigkeitsgalas aus.«
Dann wurde sie wieder ernst. »Solange man es sich leisten kann«, fügte sie leise hinzu.
»Wird es gar nicht besser?«, fragte Edward.
Patsy winkte die Kinder weg, die mit ihrer Gouvernante wieder ins Haus gingen. »Willie kann einfach nicht mit Geld umgehen. Und Ruthin und Newlands sind so kostspielig im Unterhalt. Und dann erst die Dienstboten – wir mussten kürzlich wieder welche entlassen. Kein einziger Lakai ist uns geblieben, nur der Butler und meine Zofe! Stell dir vor, Bertie, wir haben in diesem Jahr zum ersten Mal keinen Sommerball gegeben, und nach Italien fahren wir auch nicht – Willie meint, wir müssen einfach sparen.« Sie deutete auf ihren Kuchenteller, der einen Sprung hatte. »Nicht einmal ein neues Teeservice darf ich kaufen! Kein neues Ballkleid für die Season! Du musst zugeben, Bertie, das ist so peinlich! Ich sage zu Willie: ›Schatz, es gibt einfach Dinge, auf die kann man nicht verzichten. Schließlich sind wir doch jemand! Wenn man von Baron Thomas de West abstammt, der nach dem Sieg von Crécy dem Schwarzen Prinzen die Krone des Königs von Frankreich überreicht hat, kann man doch nicht in Sack und Asche gehen!‹ Und weißt du, was er antwortet? ›Meine Liebe, du bist auch in Sack und Asche eine Augenweide!‹ Gütiger Himmel, was sollen nur die Leute sagen?«
»Ich werde sehen, ob sich nicht irgendwo ein schönes, lukratives Amt für Willie finden lässt«, erwiderte der Prince of Wales. »Ah, da ist er ja!«
William Cornwallis-West, ein hochgewachsener, gutaussehender Mann von fast fünfzig Jahren, gesellte sich zu ihnen. Zu dritt tranken sie weiter ihren Tee und sahen später noch den Kindern zu, die inzwischen wieder umgekleidet waren und jetzt auf ihren Ponys auf der Wiese vorbeigaloppierten. George war wie immer der Letzte, während die Mädchen sich vorne kreischend und kichernd ein Rennen lieferten. Shelagh war die Sportlichere von beiden, während Daisy die Hübschere war und in allen Bewegungen schon eine jungmädchenhafte Anmut zeigte. Sie würde eine umschwärmte Schönheit werden, das konnte jeder sehen.
»Ihr müsst eure Älteste einmal gut verheiraten«, bemerkte der Prinz, als ob er Patsys Gedanken gelesen hätte.
»Du hast recht«, sagte sie nachdenklich. »Dann wären wir alle Sorgen los.«
Eine Burg aus rotem Sandstein. Kinderlachen. Verstecken im dunklen Kellerverlies, Wettrennen, Fangen, Räuberüberfall. Zwei Mädchen und ein Junge klettern auf Bäume im Park, spielen Zirkus mit zahmen Eichhörnchen. Verkleiden sich, stibitzen heimlich Süßes aus der Küche, erschrecken die Dienstmädchen. Auf dem sorgsam gepflegten Rasen vor der Ruthiner Terrasse jagen wir drei Cornwallis-West-Geschwister übermütig hinter unseren Hunden her, das Kindermädchen atemlos und händeringend hinterdrein.
All diese Bilder gehen mir durch den Kopf, wenn ich heute an meine Kindheit denke. Es war eine so ganz andere Welt damals, voller Abenteuer, unbeschwert und ohne einen Gedanken an die Zukunft. Eine bunte Kinderwelt voller Süßigkeiten und Luftballons. Nie hätte ich damals geahnt, wohin mich das Leben einmal führen würde. In unvorstellbare Höhen und tragische Tiefen. Wenn ich in den Spiegel blickte, war da ein hübsches, blondes Ding mit halb aufgelösten Zöpfen und einem spitzbübischen Lächeln. Ein eigensinniges Mädchen, das erst noch nach den Regeln der Gesellschaft gezähmt werden musste, das schmerzhaft lernen würde, sittsam und brav zu sein – nur um viel später dann all das Erlernte wieder abzustreifen und seine eigenen Regeln aufzustellen.
Wo waren wir stehengeblieben?
Ich war ein Wildfang. Ich liebte Hunde und das Fischen, fuhr am liebsten mit meinem kleinen Boot auf einem Teich im Park herum. Meine jüngeren Geschwister steckte ich immer mit meinen verrückten Ideen an. Wir wurden dafür in dieser Zeit sprichwörtlich. König Edward, dessen Geliebte meine Mutter Mary Cornwallis-West damals immer noch war, nannte uns im Scherz seine ›Wild West Show‹, und diese Bezeichnung haftete uns an, bis wir erwachsen waren.
Die Affäre meiner Mutter mit König Edward, damals noch Prince of Wales, war allseits bekannt. Er hatte Patsy – so nannten sie alle, sogar wir Kinder – als Fünfzehnjährige kennengelernt, und er liebte sie über Jahre hinweg, bis die Liebe später in eine lebenslange Freundschaft mündete. Es gab sogar zeitweise Gerüchte, er sei der Vater von uns Cornwallis-West-Kindern, aber die hörten auf, als wir älter wurden und alle eine große Ähnlichkeit mit unserem Vater entwickelten. Was Vater dazu sagte? Nun, er hatte selber in Italien drei uneheliche Töchter, und er liebte Patsy so abgöttisch, dass er ihr immer alles verzieh. Er nannte sie Mussie, und sie ihn Wisteria Gigantia, weil er so groß war. Sie war schön wie eine Königin, und ich liebte und bewunderte sie sehr. Wenn sie sich mit uns Kindern beschäftigte, was nicht regelmäßig vorkam, war sie eine liebevolle Mutter. Aber meist widmete sie sich eher einem ihrer vielen Verehrer. Sie war leidenschaftlich und ungestüm – das machte ihr irisches Blut. Ich beobachtete sie oft heimlich beim Flirten, ohne zu wissen, worum es genau ging, aber ich sah, dass sie dabei glücklich und ganz in ihrem Element war. Natürlich wussten wir damals noch nichts von ihrer Beziehung zum Thronfolger. Für uns Kinder jedenfalls war der Prince of Wales ein guter Onkel, der immer Geschenke mitbrachte und oft sehr lustig mit uns war.
Der Familie Cornwallis-West gehörten damals zwei Landsitze: Ruthin in Nordwales und Newlands in South Hampshire an der Südküste. Die Burg Ruthin liegt im Tal des Clwyd, sie stammt noch aus dem Mittelalter, mit Burggraben, Bergfrid und Mauern. Newlands ist im Stil der englischen Gotik erbaut, mit Türmchen, Zacken, Spitzbogenfenstern und Butzenscheiben. Von da aus hatte man eine prächtige Aussicht über den Kanal und die Isle of Wight, und man sah von oben die Wasser des Solent dem Meer zuströmen. Das Schloss war über und über mit Kletterpflanzen bedeckt, was dazu führte, dass wir immer Spinnen und Käfer in den Zimmern hatten. Kreischattacken von uns Kindern waren die Folge. Patsy kreischte meist mit, zumindest wenn die Spinnen fett und haarig waren. Nur meinem Vater machten die Insekten nichts aus, er beobachtete sie sogar manchmal unter der Lupe. Der gute alte Poppets, er war schon ein wenig phlegmatisch. Aber sonst war es in Newlands herrlich.
Wir hatten viele Freiheiten auf dem Land; überhaupt waren adelige Kinder in England keinem so strengen Reglement unterworfen wie auf dem Kontinent. Wir Cornwallis-West-Kinder noch viel weniger. Normalerweise hätte für jedes von uns eine Nanny, ein Hauslehrer und eine Gouvernante da sein müssen. Aber wenn das Geld fehlt, dann spart man eben am Personal. Einmal hatten wir einen Hauslehrer, dann wieder keinen, manchmal bekamen wir von einer Italienerin Klavierunterricht, und plötzlich fiel er wieder aus. Meist hatten wir nur eine Kinderfrau, die von unserem Ungestüm völlig überfordert war. Ständig büxten wir aus und taten, was wir wollten. Wir krochen durch die alten Gewölbekeller von Ruthin, versteckten uns in den Wäldern, stahlen uns in die Küche und stibitzten Süßes, verbrachten ganze Tage in den Ställen. Keine Gouvernante konnte unseren Übermut bändigen. Weil wir kein Geld für Hauslehrer hatten, musste Georgie in die Dorfschule gehen, wir Mädchen wurden von Patsy mehr schlecht als recht unterrichtet. Shelagh und ich waren glücklich dabei.
Aber wir hatten auch traurige Zeiten. Eines Tages wachten wir auf, und unsere französische Gouvernante war fort. Niemand zog uns an, niemand kümmerte sich um uns. Wir rannten in unseren Nachthemden nach unten, wo fremde Männer dabei waren, Möbel hinauszutragen. Patsy stand händeringend daneben und tupfte sich immer wieder mit einem Taschentuch die Augen. Wir bekamen Angst. »Mutter, was ist los?«, jammerte Georgie und hing sich an ihren Rüschenrock. Sie ging mit uns in den kleinen Salon. »Wir müssen Ruthin und Newlands verpachten«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Was ist verpachten?«, fragte Shelagh.
»Da ziehen Leute ein und bezahlen uns dafür, dass sie im Haus wohnen dürfen«, erklärte Patsy.
»Aber warum?«, schniefte Georgie.
»Weil wir kein Geld mehr haben«, sagte Patsy und tupfte sich wieder eine Träne weg. »Wisst ihr, Ruthin und Newlands und das Stadthaus sind sehr teuer zu unterhalten, und euer Vater hat keine hohen Einkünfte. Deshalb haben wir in den letzten Jahren schon die meisten Diener entlassen müssen. Wir müssen einfach sparen, und deshalb ziehen wir nach London.«
Ich war bestürzt. Aber wir hatten doch ein gutes Leben! Waren wir jetzt arm?
Wir zogen mit den wenigen Dienstboten, die wir uns noch leisten konnten, in unser Stadthaus am Eaton Place 49. Ein schmales, hohes, finsteres Haus, wo wir Kinder im vierten Stock unter dem Dach untergebracht waren. Die neue Nanny dort war ein schrecklicher Mensch, wir hatten solche Angst vor ihr. Sie schlug uns, sperrte uns ein, gab uns kein Abendessen. Wir lebten völlig abgetrennt von der Welt der Erwachsenen. Man betrachtete uns entweder als lästige Plage – wenn wir wieder einmal ohne Aufsicht im Haus herumliefen oder in die Teestunde platzten, wurden wir gescholten und weggescheucht – oder als eine Art lebendiges Spielzeug. Einmal am Tag, nach dem Lunch, wurden wir zurechtgemacht, schön gekämmt und angekleidet, und den Eltern vorgeführt. Meistens, wenn Gäste da waren. Wir durften ihnen die Hand küssen, mussten uns eine halbe Stunde ganz still verhalten und wurden dann wieder hinausgeschickt. Ansonsten überließ man uns den Dienstboten. Die wenigstens kümmerten sich um uns, steckten uns, wenn wir Hunger hatten, Bissen zu, drückten und herzten uns. Sie nannten uns bei unseren Kosenamen – ich war Dany, Shelagh war Biddy und George war Buzzie. Dass Miss Pawskie uns schikanierte, drang nie bis zu unseren Eltern vor, und wir Kinder wagten nicht, uns zu beschweren. Ich war damals schon elf und Biddy acht, wir Mädchen hielten zusammen, aber mein Bruder Buzzie litt schrecklich. Er konnte es nicht verwinden, dass er nicht mehr in Ruthin auf den Wiesen toben durfte, dass die Gouvernante ihn oft grundlos misshandelte. Er zog sich immer mehr zurück und wurde zu dem schüchternen, unglücklichen Menschen, der er bis zum Ende blieb. Shelagh tröstete sich mit Büchern und Handarbeiten, sie saß den ganzen Tag auf irgendwelchen Sofas und las oder stickte. Ich dagegen flüchtete mich fast täglich in die kleine Küche, die im Souterrain lag.
Hier war das Reich von Mrs. O’Malley, der Köchin, die ich liebte wie eine Großmutter. Sie war bei uns, seit ich denken konnte, eine dicke, gemütliche Frau mit graugesträhntem Dutt und weit ausladenden Hüften. Ihr Gesicht war immer gerötet von der Hitze des Herdes, und sie hatte die weichsten, wärmsten Hände auf der ganzen Welt. »Kleine Miss«, nannte sie mich, und verwöhnte mich mit Kuchen, Pudding, heißer Milch mit Honig, eben mit allem, was tröstete. So oft ich konnte, hockte ich mich zu ihr an den riesigen Tisch und hörte ihren Geschichten zu. Sie war Irin, und sie erzählte von Geistern und Feen, von Lepreachauns und der Banshee. Und sie las mir aus Liebesromanen vor, in denen junge Ladys nach Irrungen und Wirrungen ihr ewiges Glück bei dem Mann fanden, der sie heiratete. Ich glaube, ohne Mrs. O’Malley hätte ich die Zeit in London nicht überstanden. Dann, irgendwann, hatten wir wieder mehr Geld und konnten unser altes Leben in Ruthin und Newlands wieder aufnehmen.
Mit vierzehn war ich ein feingliedriges junges Mädchen, das bei offiziellen Anlässen Volantkleider trug und auf Fotografien träumerisch lächelnd Blumenkörbchen auf dem Schoß hielt. Mein helles Haar war vorne zu einem kurzen Pony geschnitten und hinten hochgetürmt. Gott, wie ich diese Frisur hasste. Vorher wurde mein Haar immer mit Zuckerwasser benetzt, auf Lockenwickler gedreht und so eng gebunden, dass es weh tat. Aber Patsy meinte immer nur: »Il faut souffrir pour être belle!«
Wenn keine Gäste da waren und wir Kinder uns selbst überlassen blieben, konnte ich noch das freche Gör sein, das in Schlammpfützen fiel und sich bei Akrobatenkunststückchen den Fuß verrenkte. Aber dann schritt meine Mutter ein und verbot mir das alles an meinem fünfzehnten Geburtstag, weil sie der Meinung war, ich müsse nun endlich erwachsen werden.
Von diesem Moment an änderte sich mein Leben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich einzufügen in eine Welt der Regeln und Gesetze. Eine junge Dame tut dies nicht und das nicht. Eine junge Dame lacht nicht laut. Eine junge Dame rennt nicht. Eine junge Dame hält sich in allem vornehm zurück. Sie isst nicht, bis sie satt ist, sie macht sich nicht schmutzig, sie redet nur, wenn sie gefragt wird. Sie ist stets sittsam und unterwürfig. Sie lernt Gesellschaftstänze, deklamiert Frühlingsgedichte, spielt Klavier, wenn sie darum gebeten wird. Sie trägt unbequeme Mieder, in denen sie kaum Luft bekommt, und viel zu enge Schuhe. Du liebe Güte, wie litt ich unter diesem Korsett, in das ich eingeschnürt war! Ich verstand nicht, wozu das alles gut sein sollte. Aber ob ich wollte oder nicht – in dieser Zeit wurde ich unter den kundigen Händen meiner Mutter ein folgsames, mit Argusaugen behütetes Wesen, das sich brav an die Regeln hielt, sich die Tränen verbiss, immer lächelte und niemals aufbegehrte.
Mein Gott, wie lange habe ich diese Regeln in meinem Leben befolgt! Und heute? Heute gilt das alles nicht mehr. Das willfährige Kind folgt jetzt, nach all den Jahren, seinen eigenen Grundsätzen. Der Weg dorthin war lang und steinig, aber ich weiß, er hat sich gelohnt.
Ein Jahr nach unserer Rückkehr nach Ruthin hatten wir den Sommer über Gäste, darunter den jungen Gordon Wood. Er hatte den hübschesten Schnurrbart, den man sich vorstellen kann, und konnte wunderbar Klavier spielen. Ich beobachtete ihn zuerst verstohlen, er wirkte schon sehr männlich mit seinen breiten Schultern und der dunklen, angenehmen Stimme. Immer, wenn er mich ansah, begann mein ganzer Körper zu prickeln wie Sodawasser, und gleichzeitig fühlte ich mich, als würde ich schweben. Himmel, ich war so schüchtern, ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte, als er mich fragte, ob wir etwas Vierhändiges spielen wollten. Dann saß er neben mir am Flügel – natürlich mit angemessenem Abstand, aber doch so nah –, und wir spielten und spielten, bis die Glocke zum Abendessen rief. Er war so süß! Er fragte, ob ich am nächsten Tag mit ihm spazierengehen wolle, und natürlich hätte ich ablehnen müssen. Das war nicht schicklich. Aber er sah mich so flehentlich an, dass ich nicht nein sagen konnte.
Heimlich schlich ich mich zu ihm hinaus, und wir gingen in eine stille Ecke des Parks. Erst war es peinlich, und wir wussten nicht, was wir reden sollten. Mein Herz klopfte so laut, dass ich Angst bekam, er könne es hören. Auch er war befangen, aber dann redeten wir über Pferde und Musik und den Tanzunterricht, er machte den hochnäsigen Herzog von Westminster nach, der ebenfalls bei uns zu Gast war, wir lachten über zwei Eichhörnchen, die sich um eine Nuss stritten. Ich flocht ihm einen Kranz aus Gänseblümchen, und er schenkte mir ein kleines blaues Vogelei, das vor uns auf dem Weg lag. »So blau wie deine Augen«, sagte er, und in meinem Bauch flatterten tausend Schmetterlinge. Ich war verliebt, zum ersten Mal in meinem Leben. Wir verbrachten vier herrliche Wochen, lasen uns Gedichte vor, trafen uns heimlich im Pavillon, an versteckten Stellen tief im Park, wo er es wagte, meine Hand in seine zu nehmen. Nein, nicht was Sie denken! Er hat nie auch nur versucht, mich zu küssen. Aber wir waren unendlich verliebt, und er schenkte mir zum Abschied ein Herz von Mondsteinen mit kleinen Diamanten, das an einer dünnen goldenen Kette hing – was beinahe einer Verlobung gleichkam. Ich war glücklich. Wir schworen uns, einander täglich zu schreiben, und er bat mich, ihm treu zu bleiben. »Zur Herbstjagd sehen wir uns wieder«, versprach er, aber die Zeit bis dahin erschien mir ewig.
Wir schrieben uns tatsächlich jeden Tag. Als heimliche Postbotin diente die gute Mrs. O’Malley, die es nicht übers Herz brachte, meine Bitte abzulehnen. Sie schmuggelte meine Briefe aus dem Schloss, und Gordie adressierte seine an sie. Und dann stand plötzlich meine Mutter im Zimmer, just in dem Augenblick, als ich Gordies Kettchen aus dem Versteck nahm, um es eine Weile in der Hand zu halten.
»Was hast du da?«, fragte Patsy.
»Ich … ich … das hab ich gefunden.« Mir fiel keine bessere Ausrede ein.
Patsy hielt gebieterisch die Hand auf, und ich legte das Kettchen hinein. Sie sah es mit gerunzelter Stirn an, dann musterte sie mich lange. Ich muss so rot angelaufen sein wie eine Himbeere, denn sie holte tief Luft, und dann versetzte sie mir eine Ohrfeige. »Lüg nicht! Wer hat dir das geschenkt?«
Ich hielt mir die Wange und versuchte, nicht zu weinen. »Gordie«, sagte ich ganz leise.
»Ach, du liebe Güte!« Mutter verdrehte die Augen zum Himmel.
»Wir lieben uns«, sagte ich.
Die nächste Ohrfeige klatschte in mein Gesicht. Dann suchte Patsy in meinen Schubladen, und natürlich fand sie Gordies Briefe. Ich wäre am liebsten in einem Mauseloch verschwunden. »Sei doch nicht so böse«, bat ich.
Aber sie war mir böse. »Schlag dir den aus dem Kopf«, zischte sie. »Der hat keine tausend Pfund im Jahr! An so einen Hungerleider verschwendet man sich nicht!«
»Aber wir sind doch selber nicht reich!«, protestierte ich.
»Eben darum!«
Ich brach in Tränen aus. Unter Patsys Augen musste ich Gordies Kettchen mit dem Anhänger in ein Schächtelchen packen und an ihn adressieren. Nicht einmal einen Brief durfte ich beilegen. Dann nahm sie mir das Schächtelchen fort, und damit mein ganzes Glück.
Es tat so weh. Ich weinte und weinte. Tagelang, wochenlang. Mein Vater, der es nicht ertrug, mich leiden zu sehen, meinte schließlich: »Vielleicht wäre es das Beste, wir schickten sie für ein Jahr auf Mrs. Woolfs Finishing School nach London. Da kommt sie auf andere Gedanken.«
Patsy fand das völlig unnötig und außerdem zu teuer. »Liebeskummer vergeht«, meinte sie, »und erweiterte Bildung braucht ein Mädchen nicht. Ein wenig Französisch und Deutsch, ein paar Literaturkenntnisse, ein bisschen Geschichte und Geographie, das alles hat sie ja schon, und das ist mehr als ge nug.«
»Nun, wenn du meinst.« Wie immer gab Vater sofort nach. »Du hast ja recht.«
»Natürlich habe ich recht«, lächelte Patsy und tätschelte Vaters Hand. »Zu viel Wissen verdirbt ein Mädchen nur, und sie taugt dann nicht mehr zur Ehefrau.«
Ich wäre gern nach London gegangen, aber mich fragte ja keiner. Das nehme ich meiner Mutter bis heute übel. Sie hat mich ahnungslos und dumm ohne Ruder und Kompass in die Welt geschickt. Ohne richtige Erziehung, ohne gute Bildung. Auf nichts, was später kam, war ich vorbereitet.
»Daisy, ich muss mit dir reden!« Patsy Cornwallis-West klopfte auf den freien Platz neben sich auf dem Sofa. Im Kamin flackerte ein kräftiges Feuer; es war Januar, und draußen herrschte bittere Kälte.
Die schlanke, hochgewachsene Siebzehnjährige im wadenlangen blauen Musselinkleid und den weißen Strümpfen setzte sich folgsam. Patsy betrachtete ihre Tochter prüfend. Unter dem gerüschten Oberteil zeichneten sich sichtbar die Brüste ab. Dekolleté und Taille sah man nicht, weil das Kleid noch in Mädchenart hochgeschlossen und weit geschnitten war. Aber das würde schon gehen, mit ein wenig Schnüren. Dafür waren Daisys Fesseln schlank, und ihre Haut war makellos, typisch für alle Frauen der West. Die Brauen würde man zupfen müssen, das ließ die Augen ausdrucksvoller erscheinen. Mit ein bisschen Schminke würde Daisy erwachsen genug aussehen für das, was Patsy mit ihr vorhatte.
»Was würdest du sagen, wenn wir nächste Woche nach London zur Schneiderin fahren?«, begann Patsy.
Daisy klatschte in die Hände. »Bekomme ich ein neues Kleid?« Das war im sparsamen Hause West nicht oft der Fall.
»Nicht nur eines, mein Kind. Eine ganze Ausstattung.« Patsy lächelte breit. »Dein Vater und ich haben beschlossen, dass du in dieser Season debütieren wirst.«
»Debütieren?« Daisy stieß einen lauten Jubelschrei aus. »Wann? Wie? Oh, Mutter, erzähl mir mehr!«
Patsy lächelte. »Die ›Season‹ dauert von April bis August, und in dieser Zeit ist alle Welt in London. Der Adel aus aller Herren Länder, die Politik, die reichen Amerikaner, die Familien aus dem Geldwesen, eben alle gehen auf die Feste und Feiern. Jeder, der etwas auf sich hält, gibt einen Ball oder einen Empfang. Aber das wichtigste Ereignis ist auf jeden Fall das ›Debüt‹!«
Das wusste Daisy natürlich. Debüt, das war die Einführung junger Mädchen in die Gesellschaft und ihre erstmalige Präsentation vor der Königin. Für eine junge englische Adelige das wichtigste Ereignis in ihrem Leben.
»Ich selber habe ja sehr jung debütiert«, sagte Patsy. »Ach, was habe ich getanzt, nächtelang, und alle Männer haben mich umschwärmt! Es war wie im Märchen! Drei Heiratsanträge habe ich bekommen!«
Heiratsanträge, die sie abgelehnt hatte, weil sie eine Affäre mit Kronprinz Edward begann und sich hochfahrende Hoffnungen machte. Umsonst, natürlich, denn sie war nicht standesgemäß. Sie hatte viel riskiert und am Ende verloren. Schließlich hatte Edward die Ehe mit William Cornwallis-West vermittelt – eine bessere Partie war nach der Liebschaft mit dem Prinzen nicht mehr möglich.
Daisy sollte es anders ergehen. Sie war rein und unberührt wie frisch gefallener Schnee, und sie war wunderschön, genau wie ihre Mutter damals. Patsy war wild entschlossen, dafür zu sorgen, dass ihre älteste Tochter in die richtigen Hände kam. Es durfte kein Fehler gemacht werden. Eine reiche Heirat musste es sein, eine sehr reiche. Das verhieß die Lösung vieler dringlicher Probleme.
Diese Gedanken behielt Patsy Cornwallis-West allerdings erst einmal für sich. Zunächst sollte ihre Älteste sich einfach nur freuen.
Drei Monate später siedelte die ganze Familie ins Stadthaus am Eaton Place um. Mit zwei Kutschen kam man in Belgravia an, die dritte mit dem ganzen Gepäck war schon einen Tag vorher losgeschickt worden. Daisy war in heller Aufregung. Sie bekam zum ersten Mal in ihrem Leben ein eigenes Zimmer, und als sie den Schrank voller Kleider sah, konnte sie ihr Glück kaum fassen. In einer halben Stunde würde die Schneiderin kommen und letzte Hand anlegen, und dann konnte die Season beginnen.
Während Daisy mit den Fingerspitzen über die schönen Stoffe und den zarten Tüll strich, kam Shelagh herein, Tränen in den Augen. »Ich will nicht, dass du heiratest und weggehst«, sagte sie.
Daisy umarmte ihre kleine Schwester ungestüm. »Ach Shelagh, alles ist so wundervoll! Morgen sehe ich die Königin! Ich werde auf allen Londoner Bällen tanzen! Und dann …« Sie breitete die Arme aus. Ach, es würde genau so sein, wie in den Romanen, die ihr Mrs. O’Malley immer vorgelesen hatte. Ein schöner junger Mann würde sich in sie verlieben. Natürlich würde er aus bestem Hause kommen und sagenhaft reich sein. Sie würden sich heimlich küssen, und dann würde er sie fragen, ob sie seine Frau werden wolle. »Ich platze bald, so aufgeregt bin ich«, rief Daisy und drehte sich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse. »Ob ich wohl hübsch genug bin? So wie Mutter, dass sich alle nach mir umdrehen?«
»Du bist noch viel hübscher«, sagte Shelagh. »Sieh doch mal in den Spiegel! Du hast wunderschöne blonde Haare, und deine Augen sind blau wie Vergissmeinnicht! Und ich wollte, ich hätte deinen Mund! Niemand findet meine schmalen Lippen schön. Und du hast Mutters Pfirsichhaut. Du wirst die Schönste von allen sein!« Sie fasste ihre ältere Schwester an den Händen. »Ganz bestimmt lernst du den Mann deines Lebens kennen, und er verliebt sich in dich und nimmt dich mit auf sein Schloss und legt dir die ganze Welt zu Füßen!«
»Ach, das wäre so schön!« Daisy stieß einen kleinen Juchzer aus und ließ sich nach hinten aufs Bett fallen.
»Und das Gemeine ist: Ich darf nirgends mit!«, schmollte Shelagh.
Daisy setzte sich auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Warte nur, in drei Jahren tanzt du auf deinem eigenen Debüt. Und dann werde ich es sein, die dich beneidet.«
Der große Saal im Buckingham Palace war in das Licht von fünf riesigen Kronleuchtern getaucht, reflektiert von den unzähligen Spiegeln, die die Wände bedeckten. An den Längsseiten waren Stuhlreihen aufgestellt, dort saßen in ihrer festlichsten Garderobe die Mütter, Großmütter, Schwestern und Tanten der Debütantinnen und fächelten sich Luft zu.
Gewisper, Kichern, das feine Rascheln von Tüll. Vielleicht hundert junge Damen warteten draußen im Vorzimmer, alle in jungfräuliches Weiß gekleidet, Daisy mitten unter ihnen. Die meisten Mädchen waren kreidebleich, entweder vor Aufregung oder weil sie zum ersten Mal in einem Mieder eingeschnürt waren, das sie kaum atmen ließ. Auch Daisy bekam kaum Luft, der untere Rand des Mieders schnitt wie ein Messer in ihre Taille. »O Gott, ich kann das nicht!«, rief die kleine, sommersprossige Rothaarige neben ihr. »Gleich werde ich …!« Und dann erbrach sie sich mitten auf den gewienerten Holzboden. Daisy konnte gerade noch zur Seite springen, sonst wäre ihr Kleid und damit der ganze Abend ruiniert gewesen. Und dann wurde auch schon ihr Name aufgerufen. »Mary Theresa Olivia Cornwallis-West!« Sie raffte ihre langen Röcke, holte noch einmal tief Luft und betrat den Saal.
Ganz hinten sah Daisy die alte Königin auf einer Art Thron sitzen. Sie wusste, dass Victoria seit dem Tod ihres Gemahls Albert stets tiefstes Schwarz trug, dazu ein weißes Spitzenhäubchen, das ihr schwammiges Gesicht umrahmte. Klein und korpulent, das graue Haar in der Mitte gescheitelt und straff zurückgekämmt, saß die Beherrscherin Britanniens da wie eine missgelaunte, behäbige Matrone und blickte Daisy mit strenger Miene entgegen.
Himmel, dachte Daisy, und spürte, wie ihre Hände zitterten, jetzt nur keinen Fehler machen. Sie ging auf die Königin zu. Fuß vor Fuß. Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Aufrecht bleiben, als ob man ein rohes Ei auf dem Kopf balancieren würde, so hatte sie es gelernt. Die Arme locker seitlich am Körper, ein Lächeln auf den Lippen, aber nicht zu breit. Nicht auf den Kleidersaum treten. Die Augen niederschlagen. O Gott, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Schließlich stand sie vor der Queen, die aus der Nähe noch strenger wirkte und ihr beinahe Angst einjagte. Jetzt der Hofknicks, hundert Mal hatte sie ihn geübt. Das linke Bein etwas zurücknehmen, das Knie in die Kniekehle des rechten Beins drücken und dann aufrecht tiefer gehen, nicht zu viel und nicht zu wenig. Daisy hielt den Atem an, und der Knicks gelang ihr gut. Die Königin lächelte dünn und streckte ihr die winzige behandschuhte Hand zum Kuss entgegen. Daisy nahm sie und hauchte einen angedeuteten Kuss darauf. Geschafft. Unendlich erleichtert drehte sie sich um und machte einen Schritt zurück. Und dann geschah das Schreckliche: Sie trat auf ihre zwei Meter lange Schleppe, taumelte, stolperte und stürzte!
Ein spitzer Schrei aus den Reihen der Zuschauerinnen: Das war Patsy, ihre Mutter! Unterdrücktes Raunen, das Rauschen von Fächern. Einen Moment, der ewig zu dauern schien, wusste Daisy nicht, was sie tun sollte. Alles drehte sich vor ihren Augen, und ihr Knie tat weh. Dann stemmte sie sich vom Boden hoch, kam auf die Beine, richtete sich auf. Ihre Wangen brannten wie Feuer. Sie atmete durch, stellte sich gerade hin, warf die Schleppe hinter sich und ging dann gemessenen Schrittes und erhobenen Hauptes durch die Reihen.
Draußen war es mit ihrer Contenance vorbei, und sie brach in bittere Tränen aus. Eine größere gesellschaftliche Blamage konnte man sich nicht vorstellen. Vor den Augen der Königin!
Dann war auch schon Patsy bei ihr. »Wie konntest du dich nur so dumm anstellen? Schämen musste ich mich für dich! Gott im Himmel!«
»Es tut mir so leid …« Daisy schluchzte immer mehr, so dass zwei der drei Straußenfedern aus ihrem Kopfputz fielen. »Die Schleppe … ich hab die Schleppe vergessen …«
»Hundert Mal hab ich’s dir gesagt: beim Umdrehen einen Halbkreis laufen!« Patsys Wut begann zu verrauchen. »Na komm, Kopf hoch. Übermorgen ist der Ball bei den Chapman-Hustons, da machst du alles besser.«
Eingehakt in den Arm ihrer Mutter ließ sich Daisy hinausführen, vorbei an zwei tuschelnden Damen. Sie hörte die eine flüstern: »Die Ärmste! Das ist ein ganz schlechtes Omen.«
Daisys Herz sank. Jetzt würde ganz London über sie lachen. Niemand wird mit mir reden wollen, dachte sie, niemand mich zum Tanz auffordern. Es wird keine Einladungen geben und keine Ausfahrten. O Gott, bestimmt finde ich keinen einzigen Verehrer. Sie wünschte sich weit weg, nach Ruthin oder Newlands oder am liebsten noch weiter. Die Season würde ganz schrecklich werden …
In diesem Jahr gaben der Herzog und die Herzogin von Portland den ersten Ball, und ganz entgegen meinen Befürchtungen war ich eingeladen. Ich trug das neue veilchenblaue Ballkleid mit großem Dekolleté und weiße Seidenhandschuhe bis zu den Ellbogen, dazu Blumen in den hochgesteckten Haaren. »Sei nicht so aufgeregt«, sagte meine Mutter, als wir den Saal betraten, »das macht Flecken im Gesicht.«
Ich tat mein Bestes, aber meine Knie waren ganz weich. Ich griff nach dem angebotenen Glas Champagner, aber Patsy nahm es mir sofort aus der Hand. »Kein Alkohol!«, sagte sie. »Wir wollen doch beim Tanzen nicht schwindlig werden.«
Kaum saßen wir auf unseren Plätzen, trat ein junger Mann heran, verbeugte sich vor Patsy und bat um einen Eintrag in meine Tanzkarte. Ja, damals war das noch so altmodisch, man wurde nicht selber gefragt. »Walzer oder Polka?«, fragte meine Mutter geschäftsmäßig, und er entschied sich für die Polka. Ich war grenzenlos erleichtert. Meine schlimmste Vorstellung war gewesen, dass sich kein Tänzer für mich interessieren würde, und nun hatte ich wenigstens schon einen!
Eine Viertelstunde später war die erste Seite meiner Tanzkarte voll. Patsy platzte fast vor Stolz. »Das war der Sohn des zweiten Earls von Irgendwo«, raunte sie mir zu, oder »wunderbar, der junge Viscount von Soundso«. Ich saß da uns ließ alles geschehen, und als die Musik begann, tanzte ich brav mit jedem, in der Reihenfolge, die Patsy bestimmt hatte. Es war herrlich und doch irgendwie verstörend – außer Gordie, der meine Hand gehalten hatte, hatte mich doch noch niemals ein Mann angefasst! In der Tanzstunde hatte ich nur mit der Tanzlehrerin getanzt. Und jetzt griffen die Männer an meinen Rücken! Und sie waren so nah, dass ich riechen konnte, wenn einer schwitzte! Ich tat mein Bestes, hielt mich gerade, blieb im Takt, lächelte und schwebte über die Tanzfläche. Über allem wachten Patsys prüfende Augen; und sie ermutigte nur diejenigen Herren zu einem zweiten Tanz mit mir, die aufgrund ihrer Nachforschungen als Ehepartner für mich in Betracht kamen. Anfangs hatte Loyd Tyrell, der vierte Baron Kenyon, die Nase vorn. Er tanzte wunderbar, und er machte mir einen Sack voll Komplimente! Außerdem sah er unverschämt gut aus. Ich war drauf und dran, mich in ihn zu verlieben.
Und dann, mitten am Abend, kam jemand, für den meine Mutter alle Tanzverpflichtungen über den Haufen warf. »Fürst Hans Heinrich von Pless«, stellte er sich vor und machte eine militärisch knappe Verbeugung. »Dürfte ich um den nächsten Walzer bitten?«
In diesem Augenblick wechselte zu meinem Leidwesen der Spitzenplatz in Patsys Favoritenliste.
Er war gerade erst der deutschen Botschaft als Sekretär zugeteilt worden und sprach mit einem starken deutschen Akzent. Ich verstand ihn schlecht und fühlte mich ihm gegenüber unsicher wie ein kleines Mädchen. Er war groß und schlank, hatte ein angenehmes Gesicht mit stechenden, hellen Augen, schmale Lippen und einen blonden Schnurrbart. Wegen seiner ausgeprägten Stirnglatze hielt ich ihn für fast so alt wie Onkel Bertie. Er tanzte mit mir, als habe er einen Stock verschluckt, und dann lieferte er mich wieder bei Patsy ab. Das Ganze wiederholte sich noch drei Mal – Patsy warf einfach drei andere Tänzer aus der Liste –, und dann war auch schon Mitternacht und die Kutschen fuhren vor.
»Die Familie ist geradezu unglaublich reich!«, schwärmte Patsy, als wir zu Hause ankamen. »Sie besitzt halb Schlesien, zwei große und ein paar kleinere Schlösser, etliche Jagdsitze und ein großes Haus in Berlin. Drei Städte, zwanzig Dörfer, riesige Wälder. Es sind Kohlemagnaten, denk nur! Kohle treibt die Industrie an, das ist eine sichere Einnahmequelle für die Zukunft. Und sie gehören zum deutschen Uradel!«
»Er ist auch uralt«, wagte ich trotzig einzuwerfen. Ich mochte ihn nicht, er war zwar höflich, aber langweilig und steif, und außerdem tanzte er schlecht.
»Uralt? Ich bitte dich! Er ist dreißig! Und du gefällst ihm, das habe ich sofort gemerkt. Viermal hat er um einen Tanz gebeten!« Meine Mutter, die gerade meine Haare zum Nachtzopf flocht, ließ vor lauter Begeisterung eine Strähne fallen. »Er ist auf der Suche nach einer Frau, das habe ich von meiner Freundin Amanda erfahren. »Eigentlich«, sie kicherte, »hatte er es auf Mary von Teck abgesehen. Aber die Königin hat letzte Woche entschieden, dass die kleine Prinzessin den Duke of Clarence heiraten soll. Pech gehabt!« Patsy knotete das Zopfband fest. »Und das ist unser Glück!«
»Aber ich mag ihn nicht!«
»Jetzt lern ihn doch erst einmal ein bisschen kennen. Ich werde uns auf den wichtigsten Festen avisieren, da treffen wir ihn bestimmt. Und jetzt geh schlafen, morgen musst du wieder schön sein.« Sie drückte mir einen Gutenachtkuss auf die Stirn und ging zur Tür. »Gott, was wäre das für eine großartige Partie!«, rief sie noch. »Du bist ein Goldstück, Daisy!«
Ja, Patsy war ehrgeizig, was die Verheiratung ihrer Töchter anging. Und in jenen Zeiten tat sich eine Frau etwas darauf zugute, wenn sie ihre Tochter gleich in ihrer ersten Season weggeben konnte. Weggeben – ein scheußliches Wort. Dabei half ihr in meinem Fall auch noch mein guter Onkel Bertie, der uns auf ihre Bitten hin für den 23. Juli einlud, auf eines seiner exklusiven Gartenfeste in Marlborough House.
Zu dieser Zeit war ich schon die ungekrönte Königin der Season. Mein Sturz zu Anfang war vergessen. Ich war der umschwärmte Mittelpunkt jedes Balls, die jungen Männer rissen sich darum, ihren Namen auf meine Tanzkarte setzen zu dürfen. »Ach bitte, Mrs. Cornwallis-West, machen Sie für mich eine Ausnahme!«, hieß es. Oder: »Dürfte ich mich gleich für drei Tänze eintragen?« Anfangs hatte mich das alles noch verlegen gemacht, ich wusste gar nicht, wie ich mit so viel Aufmerksamkeit umgehen sollte. Aber bald begann ich, das Spiel zu genießen. Ich fühlte mich großartig, wenn mir viele Verehrer gleichzeitig den Hof machten. »Aber Sirs, einer nach dem anderen!«, rief ich, wenn sie sich darum drängten, mir ein Glas Bowle zu holen. Ich kokettierte, flirtete, wiegte mich beim Gehen in den Hüften. Ich erinnerte mich an Patsys Augenaufschlag, wenn sie mit männlichen Besuchern sprach, und ahmte ihn nach. Ich verbarg mein Gesicht geheimnisvoll hinter dem Fächer, nur um dann über seinen Rand hin einem Verehrer einen tiefen Blick zuzuwerfen. Und wenn er dann rot wurde, spürte ich, dass ich Macht über ihn hatte. Ich, die schüchterne Daisy, der Wildfang vom Land, die Tochter aus armem Haus – ich war diejenige, um die sich alles drehte, die von allen begehrt wurde! Es war ein neues, nie gekanntes, triumphales Gefühl.
Bald stand in den Zeitungen, ich sei die schönste, charmanteste, umschwärmteste Debütantin der letzten Jahre. Die Männer lagen mir zu Füßen. Eine Schlagzeile des »Daily Telegraph« lautete: »Daisy Cornwallis-West hat London im Sturm genommen!« Meine Mutter war so begeistert, dass sie mir den ganzen Tag Luftküsse zuwarf.
Beim Gartenfest der Gräfin von Carnarvon war der deutsche Fürst wieder zur Stelle, und Mutter ließ kaum jemand anderen mit mir tanzen. Er führte mich über die weißen Kieselwege, versorgte mich mit Champagner und erzählte mir märchenhafte Dinge über sein Leben in Schlesien, seine Pferdezucht und die legendären Wisentjagden, die er jedes Jahr veranstaltete. Er war freundlich, und einmal wagte er es sogar, meine Hand zu nehmen, die ich ihm erschrocken wieder entzog. Ich mochte ihn immer noch nicht, und wenn er noch so reich war.
Schließlich trafen wir uns ein drittes Mal, auf einem Maskenball in Mulholland House. Wir tanzten einen Walzer, und dann, aus heiterem Himmel, machte er mir im Wintergarten einen Antrag! Ich fühlte mich schrecklich. Was sollte ich ihm antworten? Da stand er nun, dieser Mann, der in mir keine Gefühle weckte, und wartete auf ein Ja. Ich wusste, dass meine Eltern die Verbindung wollten, und dass eine Tochter die Pflicht hatte, sich ihrem Willen zu fügen. Schon wollte ich nicken, aber dann brach der Trotz in mir durch. Es war doch mein Leben, und ich wollte einen Mann, den ich liebte! Ich dachte an meinen süßen Gordie, an den Baron Kenyon, den ich wirklich gern mochte. Also erklärte ich Hans Heinrich mit stockenden Worten, dass es mir leidtue. »Ich liebe Sie nicht«, sagte ich.
»Die Liebe wird später kommen«, entgegnete er.
»Ich bin viel zu jung für Sie«, sagte ich.
»Zwölf Jahre sind doch kein großer Unterschied.« Er ließ sich nicht abbringen.
»Aber ich bin arm«, protestierte ich.
»Was zählt, ist die Abstammung«, lächelte er. »Ihre Familie führt sich väterlicherseits auf die Dynastie von König Heinrich III. Plantagenet zurück, und mütterlicherseits auf die keltischen Könige von Irland. Damit entsprechen Sie vollkommen den Ansprüchen der Fürsten von Pless.« Er wirkte unglücklich. »Daisy, darf ich Sie wenigstens bitten, noch einmal darüber nachzudenken?«
Ich gab nach und versprach es ihm, damit er ging.
»Denk nur, er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will!« Shelagh und ich saßen in unseren Nachthemden auf meinem Bett und flochten uns gegenseitig Zöpfe.
Shelagh schlug die Hände vor den Mund. »O Gott, ist das aufregend! Wie ist er? Was macht er? Wie sieht er aus? Tanzt er gut?«
Ich überlegte. »Aussehen tut er eigentlich nicht so gut«, sagte ich. »Er ist ja auch schon dreißig! »Und wie er ist? Hm. Höflich, ruhig, ernst, vornehm, irgendwie deutsch. Er tanzt wie ein Besenstiel, aber das tun die meisten. Aber dafür ist er unglaublich reich, sagt Mutter. Seinem Vater gehört halb Schlesien, das liegt im Osten von Deutschland. Die Familie ist alter Adel. Und er ist der älteste Sohn und erbt einmal alles. Zur Zeit ist er Attaché an der deutschen Botschaft.«
Shelagh sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Das klingt irgendwie langweilig«, meinte sie enttäuscht.
Ich seufzte. Sie hatte ja recht.
»Ist er denn wenigstens unsterblich in dich verliebt?«
»Natürlich, du Dummchen! Würde er mich sonst heiraten wollen?«
»Und du? Liebst du ihn?«
Ich trank einen Schluck Kakao, um nicht gleich antworten zu müssen. »Mutter sagt, ich muss ihn nicht lieben. Nur gernhaben, das reicht schon.«
»Also, mir würde das nicht reichen!« Shelagh warf ihren fertigen Zopf hinter sich. »Ich müsste verrückt nach ihm sein! Und er dürfte keinen Augenblick von meiner Seite weichen. Zu Füßen müsste er mir liegen, mich anbeten! Und er müsste lustig sein. Und stark und mutig. Und hübsch.«
Ich schluckte. Genau das wünschte ich mir auch.
Die halbe Nacht wälzte ich mich in den Kissen. Und dann fasste ich einen Entschluss.
Am nächsten Tag ging ich zu Patsy. Natürlich war der Fürst von Pless schon auf dem Ball bei ihr vorstellig geworden. Sie umarmte mich stürmisch. »Was bist du nur für ein Glückspilz, Daisy! Eine bessere Partie hätten wir uns nicht erträumen können! Ich freue mich so für dich!«
»Mutter …«
»Wo möchtest du das Hochzeitskleid machen lassen? Für Rouff’s in Paris ist keine Zeit mehr, aber es gibt ja auch gute Londoner Schneider … Ich würde sagen, etwas Mädchenhaftes mit viel Tüll, und dann echte Blumen, Orchideen oder …«
»Mutter, ich …«
»Die Feier kann natürlich nicht hier am Eaton Place stattfinden, da ist viel zu wenig Platz. Am ehesten in Frage käme das Savoy, oder vielleicht …«
»Ich will ihn nicht heiraten!«
Patsy hielt abrupt inne. »Was?«
»Ich will ihn nicht heiraten«, sagte ich, schon leiser.
»Unsinn, Schätzchen, natürlich willst du.« Patsy schüttelte leicht indigniert den Kopf. »Der Fürst von Pless ist direkt vom Himmel in deinen Schoß gefallen. Einen besseren Ehemann findest du nicht. Er ist reich und hat Manieren, und er sieht passabel aus. Außerdem liebt er dich.«
»Hat er das gesagt?«
»Aber natürlich«, flötete Patsy im Brustton der Überzeugung. »Er ist hingerissen von dir. Er wird dich auf Händen tragen, Kleines.«
»Aber ich … ich bin nicht in ihn verliebt! Und ich will auch nicht weg von hier, weg von euch allen.«
»Deutschland ist doch nicht aus der Welt!« Patsy wurde langsam ungehalten. »Und Schlesien soll sehr schön sein, das sagen alle. Daisy, denk doch, du würdest auf einem riesigen Schloss leben, zehnmal, ach was sag ich, hundertmal so groß wie Ruthin! Du müsstest niemals über Geld nachdenken, hättest alles, Kleider, Schmuck, Pferde, Kutschen, Dienerschaft. Du könntest leben wie eine Königin!«
»Ich will trotzdem nicht. Der Baron Kenyon …«
»… ist ein armer Schlucker gegen den Fürsten.«
»Aber Mutter, wenn doch …«