Was Märchen über dich erzählen

Jorge Bucay

Was Märchen über dich erzählen

Geschichten

Aus dem Spanischen
von Lisa Grüneisen

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Jorge Bucay

Jorge Bucay, 1949 in Buenos Aires, Argentinien, geboren, stammt aus einer Familie mit arabisch-jüdischen Wurzeln und wuchs in einem überwiegend christlichen Viertel von Buenos Aires auf. Er studierte Medizin und Psychoanalyse und ist heute einer der einflussreichsten Gestalttherapeuten des Landes. Mit ›Komm, ich erzähl dir eine Geschichte‹ gelang ihm der internationale Durchbruch. Bucays Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und haben sich weltweit über zehn Millionen Mal verkauft.

 

Lisa Grüneisen, 1967 geboren, arbeitet seit ihrem Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte als Übersetzerin. Sie übersetzte unter anderem Bücher von Carlos Ruiz Zafón, Carlos Fuentes, Miguel Delibes, Alberto Manguel und Frida Kahlo.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

»Der berühmte Satz ›Es war einmal‹, mit dem die meisten Märchen beginnen, erinnert mich an ein anderes berühmtes Wort: ›Abrakadabra‹. Beides eröffnet uns, jedes auf seine Art, den Zugang zu einem magischen Universum: Es ist das Universum der Emotionen. Emotionen sind das wertvollste und nützlichste Rüstzeug auf unserem Weg zu einem besseren, innerlich reicheren Menschen.«

Jorge Bucay

 

In »Was Märchen über dich erzählen« erzählt uns Jorge Bucay 15 altbekannte Märchen und Legenden ganz neu und zeigt, wie wir mit jedem Mal nicht nur die Geschichte anders lesen, sondern uns selbst auch besser verstehen lernen.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel ›Cuentos clásicos para conocerte mejor‹

© 2017 by Jorge Bucay

First edition by Espasa Libros, S.L.U., Barcelona 2017

Published by arrangement with UnderCover Literary Agents

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: hißmann, heilmann, Hamburg

Coverabbildung: Marcelino Truong

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490972-1

Fußnoten

Homer, Odyssee. Ü. Johann Heinrich Voß, 12. Gesang, Verse 184191.

Lucía, Manuel

und Pedro

»Warum liest du diese Märchen, wenn du sie schon auswendig kennst?«

Der Wolf erhob sich und antwortete mit heller Stimme:

»Um mich besser kennenzulernen!«

Jorge Bucay, 2017

Als der Verlag mir den Vorschlag machte, klassische Märchen neu zu interpretieren, war ich sofort von der Idee angetan. Das Projekt vereint zwei meiner großen Leidenschaften: Geschichten und Legenden auf ihrem Weg durch Raum und Zeit und mein Bestreben, das menschliche Verhalten zu ergründen und weiterzugeben, was ich auf diesem Weg lerne.

Nach intensivem Gedankenaustausch darüber, welche Märchen ich einer Neubetrachtung unterziehen sollte, fand ich es eine gute Idee und eine spannende Herausforderung, die bekanntesten Märchen und Legenden auszuwählen, bei denen wir so unterschiedlichen Figuren wie Rotkäppchen und Odysseus begegnen.

Als ich dann Informationen über diese Geschichten suchte, entschied ich mich, zunächst von den bekanntesten Versionen auszugehen, um dann weiter in der Zeit zurückzugehen und herauszufinden, wie viel von den jeweiligen Urtexten in jeder Geschichte steckte, und die komplexe Symbolik herauszuarbeiten, die sich in ihnen verbarg und immer noch verbirgt.

Die Idee dieses Projekts ist es, den Blick auf ein knappes Dutzend Märchen zu richten, die jeweilige Geschichte in wenigen Worten nachzuerzählen und dabei auf die Veränderungen einzugehen, die sie seit den ersten Versionen erfahren hat, um sie dann einer neuen Betrachtungsweise zu unterziehen, die es uns ermöglicht, Botschaften in ihr zu entdecken, die über die offensichtlichen, traditionellen Lesarten

Und selbst wenn das Lesen dieser Märchen dir keine neuen Erkenntnisse bringen sollte, wirst du die magische Erfahrung machen, für einen einzigartigen, geschützten Moment wieder das Kind zu sein, das du einmal warst. Das Kind von damals, das es genoss, wenn sich jemand zu ihm setzte und ihm einfach eine Geschichte erzählte.

Genau wie meine Enkel heute und meine Kinder vor einigen Jahren weigerten mein Bruder und ich uns vor vielen, vielen Jahren, abends die Augen zuzumachen, bevor jemand von unseren Eltern oder Großeltern uns eine Geschichte erzählt hatte. Wie sollte man einschlafen, ohne zuvor in diese wundersamen Welten eingetaucht zu sein, insbesondere, wenn sie von furchtbaren Drachen und bösen Hexen bewohnt waren, von Riesen und Ungeheuern, die, bevor sich der Tag verabschiedete, von unserem Lieblingshelden oder unserer Lieblingsheldin vertrieben oder besiegt wurden?

Weil mein Vater ein begeisterter Leser war, gab es in meinem Elternhaus Märchen für jeden Geschmack. Kurze und lange, Geschichten voller Abenteuer, Magie oder Zauberei, Tiergeschichten, Heldengeschichten, solche zum Lachen, solche fürs Herz und andere zum Fürchten. Manchmal suchten wir Kinder uns eines aus, andere Male derjenige, der es erzählte, aber das Ergebnis war immer bezaubernd, im wahrsten Sinne des Wortes.

Genauso gibt es für die Auswahl der Märchen in diesem Buch eine subjektive Begründung, die in den meisten Fällen zu Beginn des Kapitels erklärt wird (Rotkäppchen zum Beispiel ist das wohl bekannteste Märchen der Weltliteratur). Gleichzeitig wurden sie ausgewählt, weil ihnen eines gemeinsam ist:

In meiner Zeit als Psychotherapeut sagte ich meinen Patienten immer, dass wir, wenn wir uns verloren fühlen, nicht unbedingt einen Therapeuten brauchen, der uns heilt, oder eine Mama, die sich um uns kümmert. Manchmal brauchen wir nur ein Zeichen oder einen Lehrmeister, die uns darauf hinweisen, wo wir vom Weg abgekommen sind.

Die meisten dieser Märchen sind vor Jahrhunderten entstanden, um davor zu warnen, an welchem Punkt man die falsche Richtung einschlägt, und uns dazu zu ermuntern, etwas aus dem zu machen, was wir sind, und nicht aus dem, was wir gerne wären. Schon Bruno Bettelheim vertrat die Ansicht, dass Märchen viel mehr seien als eine Einschlafhilfe für Kinder.

Wenn der schiefe Turm von Pisa irgendwann umfiele, bliebe ein Schutthaufen aus Tausenden von Steinen zurück. Die Steine wären immer noch dieselben, die sich noch Wochen zuvor als Turm in den Himmel erhoben, und doch wäre das Bauwerk verschwunden. Das Werk liegt nicht im einzelnen Stein, sondern in der Schöpfung des Baumeisters und der Arbeit der Handwerker, die den Turm bauten. Sie sind es, die die Granitquader in einer bestimmten Art und Weise anordneten. Ohne diese Ordnung hätten wir kein stabiles Dach über dem Kopf, würden diese Worte keinen Text formen, wäre aus den Farben auf Da Vincis Palette nicht die Mona Lisa entstanden.

Mein Freund und Lehrmeister Jaime Barylko sagte einmal: »Frei zu sein heißt nicht, sich von Dingen loszusagen, so wie es heute oft verstanden wird – als würde man seine Kleidung ablegen, bis man völlig nackt ist. Nackt zu sein kann eine Weile ganz schön sein, aber man muss sich klarmachen, dass

Eine Erziehung, die hilft, Wichtiges von Nebensächlichem zu unterscheiden, Rache von Gerechtigkeit und das Beste zum Wohle vieler von den Interessen einiger weniger. Eine Gesellschaft, in der jeder genau weiß, welche Werte er verteidigt.

Eine Werteskala sollte deutlich zum Ausdruck bringen, was für jeden Einzelnen wirklich wichtig ist. Eine Gewichtung der Prioritäten, die jedes Mal eine innere Warnlampe aufleuchten lässt, wenn die Umstände unsere Prinzipien zu verletzen drohen. Eine Lebenseinstellung, die so fundamental ist, wenn es darum geht, mich für ein bestimmtes Verhalten zu entscheiden, dass ich sie nicht verletzen kann, ohne Abscheu vor dem Bild zu empfinden, das ich von mir selbst habe.

Die Hierarchisierung unserer Prinzipien, die, wie ihr Name besagt, immer vor unserer Zielsetzung stehen sollten.

Persönlichkeitsentwicklung beginnt mit dem Lernen und geht mit der Verinnerlichung des Gelernten weiter. Sie setzt sich fort, wenn wir uns der Angst vor dem Scheitern stellen und in der Lage sind, aus Fehlern zu lernen. Schließlich ist der Erfolg nicht zuletzt davon abhängig, ob wir Vertrauen in uns selbst haben und unabhängig vom Erfolg begreifen, dass es immer eine andere Möglichkeit gibt. Beharrlichkeit, Lernfähigkeit und Einsatz sind sicherlich das beste Rüstzeug für jeden, der gelegentlich Fehler macht, also für uns alle.

In jedem Kapitel widme ich mich einer Geschichte und folge dabei demselben Schema:

Zuerst gebe ich eine kurze Einleitung, um dich mit dem Kontext der Geschichte, ihren Ursprüngen und gegebenenfalls den Verfassern vertraut zu machen.

Danach folgt die Geschichte selbst, in meinen Worten nacherzählt, aber mehr oder weniger der Originalversion folgend, die ich bei meinen Recherchen gefunden habe.

Im Anschluss fasse ich kurz die Moral der Geschichte zusammen, die mehr oder weniger deutlich aus dem Erzählten hervorgeht und üblicherweise als die zentrale Botschaft angesehen wird.

Und schließlich folgt eine mehr oder weniger gewagte Neuinterpretation nach meinen eigenen Ideen und Vorstellungen. Dieser Abschnitt trägt den Titel »Die andere Tür«, denn meine Absicht und mein Wunsch ist es, dass du mich auf meinem Weg in die Magie dieser Märchen begleitest.

Im Verlauf der Recherchen zu diesem Buch stieß ich auf viele interessante und kuriose Fakten, die mir reizvoll oder überraschend erschienen. Fakten und »Gerüchte«, die keinen Eingang in meine Analyse der Geschichte fanden, die ich aber unbedingt mit dir teilen will, ganz besonders, wenn du, wie ich annehme, ebenfalls ein (großes?) Interesse an Märchen hast. Um das »Klima« des Buches zu wahren, beschloss ich, all diese Fakten zu sammeln, nach Märchen zu ordnen und sie in einem Anhang zusammenzufassen, dem ich den Titel »Notizen zu einer Recherche« gab. Hoffentlich erliegst du der Versuchung, dich mit ihnen zu beschäftigen.

Die meisten Geschichten in diesem Buch stammen aus der Bibel oder der Mythologie oder sind aus Sagen und Legenden entstanden, die man sich in alten Zeiten erzählte oder vorsang. Und obwohl Personen und Schauplätze wechseln und sie aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen stammen, erzählen die populärsten Märchen immer dieselben Geschichten.

In den Anfängen war der Geschichtenerzähler der wahre Träger der Kultur und Geschichte seines Volkes. Er trug die Werte der Gemeinschaft von Generation zu Generation weiter und hielt das Gedächtnis an die Geschichte derer lebendig, die keine Stimme besaßen. Die unter Hunger, Kälte und dem Unrecht der Mächtigen litten, ohne auch nur das Recht zu besitzen, darüber zu klagen. Eine authentische, schmerzliche Geschichte, die dank der volkstümlichen Erzählungen nicht von den Chronisten unterschlagen werden konnte.

Diese Geschichten, die Allgemeingut waren, gehören heute auch uns und geben uns die Möglichkeit, in der Tiefe zu begreifen, woher wir kommen, um so mit größerer Umsicht unseren eigenen Weg zu gehen.

Bei meinen Recherchen ist mir natürlich nicht entgangen, was für ein Segen es ist, mich beim Schreiben dieses Textes auf Hunderte von Büchern stützen zu können, die Psychologen, Psychoanalytiker, Literaten und Philosophen zu dem Thema verfasst haben, wahre Experten auf dem Gebiet der Mythen, Symbolik und verborgenen Bedeutungen der Märchen. Angefangen natürlich mit Bruno Bettelheims unvergleichlichem Kinder brauchen Märchen, gefolgt von weiteren genialen Köpfen aus Literatur, Psychologie und Philosophie, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben, die ich bewundere und denen ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Und nicht zuletzt wäre dieses ganze Projekt viel

Schöpferisches Lesen

Die Arbeit der argentinischen Autorin und Lehrerin María Hortensia Lacau, die den Begriff des schöpferischen Lesens prägte, hätte ein eigenes Kapitel in diesem Buch verdient.

Als die Pädagogin und Schulleiterin, die persönlich zu hören ich das Privileg hatte, im Januar 2006 starb, hinterließ sie Dutzende wundervolle Artikel und Bücher, die sich mit ihrer pädagogischen Arbeit beschäftigen. Eine Aufgabe, der sie ihr Leben widmete, wobei sie stets die Bedeutung des Lesens insbesondere für junge Menschen betonte. Ihr Buch Didáctica de la lectura creadora (Didaktik des schöpferischen Lesens) ist eine Fundgrube für alle, die sich für Literatur und Pädagogik gleichermaßen begeistern.

Der Akt des Lesens ist ein interaktiver Prozess zwischen Text und Leser, dem die Aufgabe zukommt, das geschriebene Wort zu übertragen, zu entschlüsseln und ihm eine Bedeutung zuzuweisen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Literatur ein Prozess der Teilhabe, bei welchem dem Lesenden eine zentrale Aufgabe zukommt. Oder um es mit José Martí zu sagen: »Beim Lesen muss man sich durchbeißen.«

María Hortensia Lacau erzählt, wie sie irgendwann feststellte, dass die Auswahl der Texte, die laut Lehrplan des Ministeriums im Unterricht gelesen werden sollten, zwar den Interessen und Möglichkeiten der Jugendlichen entsprach, die Inhaltsangaben und Interpretationen der Schüler zu ihrem Erstaunen jedoch zu wünschen übrigließen. Schnell wurde ihr

Sie schreibt:

»Man muss in den Jugendlichen die Liebe zum Lesen wecken und eine liebgewonnene Gewohnheit daraus machen, die nach und nach zu einem Teil des Lebens wird. Der jugendliche Leser muss zum Mitwirkenden werden, der eigene Projekte schafft, die mit dem Werk zu tun haben, zum begeisterten Kritiker, Augenzeugen und Berichterstatter. Das heißt, zwischen dem Jugendlichen, der im Mittelpunkt seiner Welt steht, und dem Buch, das er liest, muss eine emotionale Bindung entstehen.«

Dieses tiefere Durchdringen und Adaptieren der Lektüre kann nur stattfinden, wenn die Lesenden die Verantwortung dafür übernehmen, den Text auf der Grundlage ihrer eigenen Lebenserfahrung, ihres Wissensstandes und ihrer jeweiligen Lebenswirklichkeit zu interpretieren, zu dechiffrieren und ihm eine Bedeutung zuzuweisen.

Eine solche konstruktive Lektüre ließe sich folglich als ein vertrauter, inniger Kontakt mit dem geschriebenen Wort definieren, der es dem Lesenden ermöglicht, zum Coautor des Gelesenen zu werden. Zwischen Lesendem und Autor entsteht eine persönliche Bezugsebene, die neue Interpretationen, Ansätze und Ideen ermöglicht, so dass aus dem Werk ein neues Werk entsteht, das sich wiederum auf schöpferische Weise lesen lässt … Und immer so weiter.

Die Methoden, um diese Form des Lesens zu unterstützen, wurden nicht nur von María Hortensia Lacau beschrieben, sondern auch von der spanischen Pädagogin Morote Magán, und sie sind ebenso spannend wie unterhaltsam. Man könnte zum Beispiel:

 

 

Und der Vorschlag, der mir am besten gefiel:

 

Schon bei dem Gedanken an das eine oder andere Beispiel musste ich lachen. Hier ist eines davon:

TOTER WOLF AUFGESCHLITZT AM FLUSSUFER AUFGEFUNDEN

Die näheren Umstände des Vorfalls werden noch untersucht. Unter Verdacht stehen ein Mann, bei dem es sich dem Aussehen nach um einen Jäger handeln könnte, und ein rotgekleidetes Mädchen, die dabei beobachtet wurden, wie sie um das Haus einer älteren Dame schlichen. Diese könnte ihre Komplizin gewesen sein und ihnen geholfen haben, das grausame Verbrechen zu begehen.

Das hässliche Entlein

Einleitung

Es ist nicht nötig, diese kleine Anthologie in einer bestimmten Reihenfolge zu lesen, aber aus persönlichen Gründen habe ich mich dafür entschieden, mit diesem Märchen zu beginnen.

Zum einen ist Das hässliche Entlein das wohl bekannteste und am häufigsten erzählte Märchen in Südamerika. Ich wage zu behaupten, dass es kein Kind gibt, das die Geschichte nicht irgendwann einmal gehört hat.

Zum anderen haben auch die meisten Erwachsenen die Geschichte präsent und wären in der Lage, sie mehr oder weniger detailgetreu einem Kind zu erzählen oder sich in einer Unterhaltung darauf zu beziehen.

Der dritte und vielleicht wichtigste Grund ist, dass ich niemanden kenne, der sich nicht irgendwann einmal mit der Hauptfigur dieses Märchens von Hans Christian Andersen identifiziert hätte, das 1845 zum ersten Mal erschien.

Und der letzte, wenn auch nur für mich maßgebliche Grund ist, dass es nach meiner Erinnerung die erste Geschichte in meinem Leben war, die man mir erzählte, und diejenige, die ich am häufigsten hörte. Ich weiß noch genau, wie der Einband des Buchs aussah, aus dem meine Eltern mir immer vorlasen.

Es war meine absolute Lieblingsgeschichte, und obwohl ich sie auswendig konnte, entschied ich mich jedes Mal für Das hässliche Entlein, wenn meine Eltern mir die Wahl ließen, welche Geschichte ich zum Einschlafen hören wollte (so wie

Die Geschichte

Wie schön war doch der Sommer! Wie wunderbar war es, durch die Felder zu streifen und das goldgelbe Korn, den grünen Hafer und die Heustadel in der weiten Landschaft zu betrachten!

Flamingos staksten auf ihren langen Beinen umher und machten die Landschaft perfekt. Ach, es war herrlich, auf dem Land zu sein.

Im Sonnenlicht stand ein altes Gutshaus. Es war von einem tiefen Wassergraben umgeben, an dessen Ufer Pflanzen mit riesigen Blättern wuchsen, so groß, dass ein Kind sich darunter verstecken konnte.

Im Schutz dieser wilden, überwucherten Böschung hatte eine Hausente ihr Gelege, weit genug vom Hühnerhof entfernt, um nicht beim Brüten gestört zu werden, und nah genug, um dorthin zurückkehren zu können, sobald die Jungen geschlüpft waren.

Nach einem Monat wurde die Ente unruhig, denn sie spürte, dass es Zeit für ihre Küken war, auf die Welt zu kommen. Ungeduldig betrachtete die Entenmutter das Gelege und wartete auf Neuigkeiten.

Schließlich zersprangen die Eier eins nach dem anderen. »Piep, piep!«, schnatterten die kleinen gelben Daunenbällchen, als sie die Köpfchen aus den Eierschalen streckten.

»Quack, quack«, antwortete die Entenmutter, um die Kleinen zu ermuntern, so schnell wie möglich aus ihren Schalen zu schlüpfen und ihre ersten Schrittchen zu machen, sich an das Tageslicht zu gewöhnen, das sie ein wenig blendete, und das satte Grün zu genießen, das sie umgab.

»Quack, quack«, lachte die Entenmutter. »Ihr glaubt, das sei schon die ganze Welt? O nein! Die Welt reicht bis zu der Wiese auf der anderen Seite des Wassergrabens, aber so weit bin ich noch nie gewesen … Nun, ich hoffe, ihr seid vollzählig. Wir müssen ins Wasser, bevor es dunkel wird«, drängte sie und erhob sich vom Nest.

In diesem Moment kam eine betagte Entendame vorbei.

»Was stehst du da herum?«, sagte sie, und es klang ein wenig vorwurfsvoll. »Da liegt noch ein Ei im Nest.«

Die Entenmutter sah sich um und stellte fest, dass das größte Ei tatsächlich noch intakt war. »Wie lange dauert das denn noch?«, fragte sie sich. »Ich kann doch nicht ewig hier hocken bleiben.« Dennoch setzte sie sich wieder auf ihr Gelege, wie es ihr der Instinkt befahl.

»Das Kleine macht keine Anstalten, zu schlüpfen«, jammerte sie. »Aber sieh dir die anderen an: Sind es nicht die hübschesten Entlein der Welt? Sehen aus wie ihr Vater in jungen Jahren. Warum lässt sich dieser Nichtsnutz nicht mal blicken?«

»Du weißt doch, wie die Männer sind«, sagte die alte Entendame, um etwas zu sagen. »Lassen einen mit der Arbeit allein.«

»Ich denke, ich bleibe noch ein Weilchen sitzen«, sagte die Entenmutter. »Aber wenn sich nicht bald etwas tut, gehe ich. Ich hocke schon so lange hier, mir tut alles weh.«

»Na dann, alles Gute«, sagte die alte Entendame und watschelte davon.

Schließlich zerbrach das Ei.

»Piep! Piep!«, rief das Kleine und purzelte aus dem Ei. Seine Stimme klang merkwürdig für ein frisch geschlüpftes Entenküken. Der Entenmutter gefiel das ganz und gar nicht. Sie betrachtete das Küken eingehend und stellte fest, wie groß und hässlich es war.

Und das stimmte: Sein graues, struppiges Gefieder war ganz anders als der weiche gelbe Flaum seiner Geschwister.

Das letzte Tageslicht fiel durch die grünen Blätter, und der Himmel färbte sich orangerot.

Die Entenmutter watschelte mit der gesamten Familie zum Wassergraben und sprang, platsch!, hinein.

»Quack, quack«, lockte sie. »Kommt, kommt, habt keine Angst!«

Eins nach dem anderen sprangen die Kleinen hinterher. Das Wasser schlug über ihren Köpfchen zusammen, doch als sie wieder auftauchten, schwammen sie völlig mühelos. Im Handumdrehen waren alle im Wasser, und auch das hässliche graue Entlein folgte den anderen guten Mutes. Die kleine Schar paddelte mit den Füßchen und schwamm der Entenmutter hinterher.

»Quack, quack!«, rief die Mutter nach einer Weile. »Kommt, folgt mir, ich will euch den anderen im Hühnerhof vorstellen. Aber bleibt ganz dicht bei mir, nicht, dass ihr zertrampelt werdet. Und gebt auf die Katze acht!«

Sie hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass alle ihr folgten.

»Los, los, sputet euch! Und macht einen artigen Knicks vor der alten Entendame dort drüben. Sie ist die vornehmste von uns, angeblich fließt spanisches Blut in ihren Adern. Seht nur, sie trägt einen roten Ring um ihr Bein; das ist die höchste Auszeichnung, die man erringen kann.«

Stolz und zufrieden gab sie ihrer Schar weitere Anweisungen:

»Kommt, Kinderchen«, lockte sie. »Seid artig und grüßt höflich. Senkt den Schnabel, schaut zu Boden und sagt ›Quack‹! Und dreht nicht die Füße nach innen, das gehört sich nicht.«

»Uh, was für ein garstiges Ding! Nehmt es, und verschwindet von hier, wir können seinen Anblick nicht ertragen.«

Ein junger Enterich kam näher und drohte, es in den Hals zu hacken.

»Lasst es in Ruhe! Es hat niemandem etwas zuleide getan«, schritt die Entenmutter ein. »Es war zu lange in seinem Ei, deshalb ist es nicht so hübsch wie die anderen.«

»Mag sein«, sagte die alte Ente mit dem roten Ring. »Ich hoffe, das Hässliche wächst sich aus, wenn es älter wird, und es bleibt nicht so riesig, sonst reicht das Futter nicht. Aber du solltest dir gut überlegen, was du mit ihm machst. Wenn du es draußen auf dem Teich zurückließest, wärst du deine Sorgen los. Es wirkt stark und wird seinen Weg machen. Was deine übrigen Jungen betrifft, so sind sie wirklich reizend«, setzte die alte Ente hinzu. »Sie sind im Hühnerhof herzlich willkommen. Es würde mich freuen, wenn sie sich hier wie zu Hause fühlten.«

Sie nahmen die Einladung an und blieben im Hühnerhof. Die Küken fühlten sich sehr wohl dort – alle, bis auf das arme Entlein, das zuletzt geschlüpft war. Die anderen Enten und Hühner und sogar der Truthahn, der sich immer schon für etwas Besonderes gehalten hatte, hackten nach ihm, knufften es und lachten es aus.

Eines schönen Tages plusterte der Truthahn sein Gefieder auf wie ein Schiff unter vollen Segeln und stürzte sich ohne jeden Grund, nur weil ihm der Sinn danach stand, mit lautem Gegacker auf das arme hässliche Entlein, bis sein Kopf tiefrot anlief. Das arme Entlein lief erschreckt und aufgescheucht durch den Hühnerhof. Es hatte inzwischen gemerkt, dass es anders war als die anderen, doch es verstand nicht, warum man es deswegen abwies und angriff.

»Hoffentlich holt dich die Katze, du garstiges Ding!«

Eines Tages scheuchte die Magd, die immer das Futter brachte, das kleine Entlein vor sich her und wäre dabei beinahe über es gestolpert. In seiner Wut verpasste das Mädchen dem armen Entlein einen Tritt, dass es bis in den Schweinetrog flog.

»Geh mir aus den Augen, du hässlicher Vogel!«, schrie sie.

Nachdem das Entlein den ganzen restlichen Tag geweint hatte, traf es eine Entscheidung. Es war nicht wie die anderen und würde niemals sein wie sie … Auch wenn es nicht zu verstehen war, machte dieses Anderssein es ihm unmöglich, noch länger mit den anderen im Hühnerhof zusammenzuleben.

Falls es noch irgendeinen Zweifel gehabt hatte, so schwand dieser, als es seiner Mutter von seinen Plänen erzählte und diese nach langem Schweigen mit gesenktem Kopf murmelte, vielleicht sei es besser so.

Noch am selben Abend verließ das arme, verachtete Entlein den Hühnerhof.

Mit einem Satz hüpfte es über den Zaun und scheuchte mehrere Spatzen auf, die erschreckt aus den Büschen aufflatterten.

Das kleine Entlein lief immer weiter, bis es erschöpft den großen See erreichte, wo, so hatte es die Mutter erzählt, die Wildenten lebten. Es kauerte sich ins Schilf und schlief entkräftet und traurig ein.

Als die Wildenten am nächsten Morgen losfliegen wollten, entdeckten sie den sonderbaren Gast.

»Was bist du für ein seltsames Ding?«, fragten sie.

Das Entlein wusste nicht, was es antworten sollte. Stattdessen verbeugte es sich ein ums andere Mal, um artig und wohlerzogen zu erscheinen.

»Ich glaube, gerade deshalb gefällst du mir«, sagte eine von ihnen, die die Anführerin zu sein schien. »Du kannst mit uns kommen, wenn du willst.«

»Solange du nicht eine von unseren Schwestern heiraten willst …«, setzte eine weitere hinzu.

»Genau, genau«, pflichteten die anderen bei.

Das arme Entlein dachte nicht im Traum ans Heiraten oder gar ans Fliegen. Es wollte nur in Ruhe im Schilf hocken und ein bisschen Wasser aus dem See trinken.

»Paff! Peng!«, knallte es plötzlich, und die Wildenten flogen aufgescheucht davon. Zwei von ihnen jedoch waren von den Kugeln der Jäger getroffen und fielen tot ins Schilf. Ihr Blut färbte das Wasser rot.

Als weitere Schüsse ertönten, flogen immer mehr Wildenten und Gänse vom See auf, um den Kugeln zu entkommen. Halbtot vor Angst, steckte das Entlein den Kopf unter den Flügel und duckte sich in eine Mulde hinter zwei Steinen, die es im Uferschilf entdeckt hatte.

Blaue Pulverschwaden waberten durch das dunkle Blattwerk, um sich dann draußen über dem See aufzulösen. Das Entlein musste von dort fort, doch in diesem Moment näherte sich ein riesiger Jagdhund und durchstöberte jeden Zentimeter des morastigen Geländes, die gewaltige Zunge hing ihm von Geifer triefend aus dem Maul.

Mit seinen Pfoten scharrte der Jagdhund die Steine beiseite, hinter denen das Entlein saß, so dass es auf einmal schutzlos dasaß. Das arme Tier schloss die Augen, als es erkannte, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte.

Der Hund kam ganz nah, die Schnauze nur noch Zentimeter von dem zitternden Entlein entfernt, schnüffelte einige endlose Sekunden lang, fletschte seine scharfen Zähne … und trottete davon, ohne ihm auch nur eine Feder zu krümmen.

»Ich bin so hässlich, dass nicht mal die Hunde mich als Beute erkennen«, sagte es sich und blieb ganz still sitzen, während die Schrotkugeln über seinen Kopf hinwegpfiffen und dichter Pulverdampf in der Luft lag.

Schließlich vertrieb ein aufziehendes Unwetter die Wildenten und die Jäger. Das kleine Entlein wartete noch eine Weile, bis es sicher war, dass alles ruhig blieb; dann verließ es, so schnell es konnte, den See, ohne zu wissen, wohin.

Nach einer Weile erreichte es eine alte Hütte, die war so krumm und windschief, dass es wie ein Wunder anmutete, dass sie noch aufrecht stand. Aber sie bot doch wenigstens Schutz vor Regen und Wind.

Das Entlein kroch durch eine Ritze hinein und schüttelte sich die Nässe aus dem Gefieder. Zum ersten Mal nach langer Zeit würde es ohne Angst schlafen können.

Am nächsten Morgen stellte das Entlein fest, dass die Hütte einer alten Frau gehörte, die dort mit einem Kater und einem Huhn zusammenlebte.

Die beiden Tiere entdeckten den sonderbaren Besucher als Erste. Der Kater begrüßte den Fremden mit einem Schnurren, das Huhn gackerte dazu.

»Wen haben wir denn da?«, fragte die alte Frau, als sie hinzukam und unseren kleinen Helden in einer Ecke entdeckte. Sie freute sich, dass sie nun Enteneier haben würde, um ihren kargen Speiseplan zu bereichern.

»Falls es kein Enterich ist«, überlegte die Alte laut. »Das werden wir in den nächsten Tagen herausfinden müssen.«

Sie ließen dem kleinen Entlein drei Wochen Zeit, um mit dem Eierlegen zu beginnen, aber natürlich warteten sie vergeblich. Schließlich fragte das Huhn:

»Sag mal, kannst du überhaupt Eier legen?«

»Nein.«

»Nein.«

»Dann bist du zu nichts nutze. Verzieh dich in deine Ecke und sei still.«

»Aber ich kann schwimmen«, erklärte das Entlein.

»Schwimmen?«, sagten die Tiere. »Wozu soll das gut sein? So ein Blödsinn!«

»Es ist herrlich, übers Wasser dahinzugleiten«, sagte das hässliche Entlein. »Den Kopf unter die Oberfläche zu stecken und bis zum Grund zu tauchen!«

»Herrlich!«, spottete das Huhn. »Mir scheint, du bist verrückt geworden. Frag den Kater, keiner ist so klug wie er! Frag unsere alte Herrin, die weiseste Frau der Welt! Glaubst du, sie machen sich etwas daraus, zu schwimmen oder zu tauchen?«

»Du verstehst mich nicht«, sagte das Entlein.

»Nun, wenn ich dich nicht verstehe, dann weiß ich nicht, wer dich sonst verstehen soll. Du hältst dich wohl für klüger als den Kater oder meine Herrin, von mir gar nicht zu sprechen! Du hast Glück gehabt, ein warmes, angenehmes Zuhause zu finden, und alles, was dir einfällt, ist … Schwimmen!«

Das Huhn schüttelte das Gefieder und setzte überheblich hinzu:

»Du bist ein Nichtsnutz. Du solltest lernen, Eier zu legen oder zu schnurren, wenn du nicht willst, dass wir dich vor die Tür setzen. Ich meine es nur gut mit dir; nur gute Freunde sagen einem die Wahrheit.«

Also fragte das kleine Entlein, in welche Richtung der See lag, und ging seiner Wege.

Dort schwamm und tauchte es nach Herzenslust; doch nicht einmal die Krähen, die in den Bäumen ringsum hockten, schenkten ihm ein Krächzen.

Dann kam der Herbst. Die Blätter färbten sich gelb und

Eines Abends, die Sonne ging herbstlich leuchtend am Horizont unter, da erschien eine Gruppe wunderschöner großer Vögel am Ufer. Noch nie zuvor hatte das Entlein so schöne Tiere gesehen. Sie waren schneeweiß und hatten lange, schlanke Hälse.

Die Schwäne stießen durchdringende Rufe aus, dann breiteten sie ihre mächtigen Schwingen aus und erhoben sich hoch in den Himmel, immer höher, und flogen in Richtung Süden davon.

Das hässliche Entlein überkam eine merkwürdige Unruhe, eine Mischung aus Bewunderung und Neid. Niemals wieder würde es diese herrlichen Vögel vergessen können! Wie schön wäre es doch, an andere Orte zu fliegen, statt unentwegt umherschwimmen zu müssen, um nicht auf dem Eis festzufrieren. Jede Nacht wurde die Fläche, auf der es schwimmen konnte, kleiner und kleiner.

In jenen Tagen wurde es so kalt, dass das Entlein am Ende tatsächlich festgefroren wäre, hätten es nicht ein paar Bauernkinder zitternd am Ufer gefunden und mit nach Hause genommen, wo ihre Mutter es wärmte und fütterte, bis es wieder zu Kräften kam.

Das Entlein blieb bei der mitleidigen Familie, die ihm eine Kiste im Werkzeugschuppen herrichtete. Manchmal wollten die Kinder mit ihm spielen, doch diese Spiele endeten fast immer damit, dass etwas im Haus zu Bruch ging oder Gefahr für Leib und Leben des armen Entleins bestand, wie einmal, als es beim Indianerspielen beinahe am Marterpfahl verbrannte …

Irgendwann fürchtete sich das hässliche Entlein vor ihren Einfällen; wenn die Kleinen nach ihm riefen, um zu spielen, hüpfte es schnell aus seiner Kiste und versteckte sich.

Eines Morgens, als es sich vor den kleinen Rackern ins

Vielleicht aus Instinkt breitete es die Flügel aus, um sich in der Sonne zu wärmen. Wie sehr sie gewachsen waren! Das Entlein öffnete sie noch mehr und schlug damit auf und ab, damit sie vollständig trockneten. Das Rauschen, das sie verursachten, war viel lauter als sonst, und für einen kurzen Moment hob das Entlein vom Boden ab.

Halb laufend, halb fliegend erreichte es einen großen Garten mit blühenden Apfelbäumen und üppigem Flieder, dessen Zweige sich über einen plätschernden Bach neigten. Oh, wie schön war es dort im frischen Frühlingsgrün!

In diesem Moment erschienen drei herrliche weiße Schwäne, ganz ähnlich jenen, die das Entlein damals hatte davonfliegen sehen, und es überraschte sich dabei, wie es dachte:

»Ich werde mich ihnen anschließen! Sie werden mich hässliches Ding für meine Dreistigkeit mit ihren Schnäbeln tothacken, aber was soll’s! Besser, von ihnen totgehackt zu werden, als noch länger die Knüffe der anderen Enten, das Gehacke der Hühner, die Tritte der Gänsemagd und den strengen Winter zu ertragen.«

Das hässliche Entlein ließ sich ins Wasser gleiten, um zu den schönen Schwänen zu gelangen, die ihm mit aufgeplustertem Gefieder entgegenschwammen, als sie es entdeckten.

Als das Entlein sie kommen sah, fürchtete es, sie könnten es angreifen, und wollte seine übliche Verbeugung machen. Doch als es den Kopf neigte, erblickte es im klaren Wasser sein eigenes Spiegelbild. Und was es sah, war nicht länger ein abstoßend hässlicher grauer Vogel, sondern … ein wunderschöner Schwan!

Die anderen Schwäne schwammen um es herum und liebkosten es mit ihren Schnäbeln, als wollten sie ihm sagen, dass alles in Ordnung sei und sie es als einen der Ihren willkommen hießen.

»Seht nur, da ist ein neuer Schwan!«

Und die anderen Kinder stimmten fröhlich ein:

»O ja, ein neuer Schwan! Schaut nur, wie hübsch er ist!«

»Nein, er ist nicht hübsch. Er ist der Allerschönste!«

Unser Held war sehr, sehr glücklich, und auch wenn er sich an die Verachtung und die Demütigungen der Vergangenheit erinnerte, verspürte er keinen Groll.

Der Flieder neigte seine Zweige vor ihm, bis sie das Wasser berührten, und die sanften, warmen Sonnenstrahlen ließen sein zartes weißes Gefieder noch heller leuchten … Der Neuankömmling reckte seinen schönen Hals und er- hob sich in die Lüfte, gefolgt von den übrigen Schwänen, die sich nicht von ihm trennen wollten, wie das bei Schwänen so ist.

Aus der Luft schaute der Schwan, der vor kurzem noch ein hässliches Entlein gewesen war, auf den Hühnerhof hinab, in dem er die ersten Tage seines Lebens verbracht hatte, und freute sich aus tiefstem Herzen … Noch nie zuvor war er so glücklich gewesen.

Die Moral

Gemeinhin wird die Geschichte vom hässlichen Entlein als Metapher für die Erfahrung von Zurückweisung und Ablehnung in der schwierigen Zeit des Heranwachsens gelesen. Es ist eine Situation, auf die sich ohne weiteres der Begriff Mobbing anwenden lässt. Ich bin sicher, dass sich jeder, der diese Geschichte liest, in irgendeiner Form mit dem hässlichen Entlein identifizieren kann. In irgendeiner Phase unseres Lebens oder in einer bestimmten Situation haben wir uns doch alle irgendwie zurückgewiesen oder ausgegrenzt gefühlt – wegen unserer

Die andere Tür

Die Geschichte vom hässlichen Entlein endet damit, dass es feststellt, sein Glück gefunden zu haben.

Und genau an diesem Punkt möchte ich dich mitnehmen und dazu ermuntern, genauer hinzuschauen, damit wir gemeinsam noch mehr aus dieser wunderbaren Geschichte ziehen.

Das Glück ist ein ebenso bedenkenswertes Thema wie Liebe und Hass, unser Unvermögen, uns mitzuteilen, unsere Einstellung zum Tod oder die merkwürdige Überzeugung, dass wir die Wahrheit für uns gepachtet haben und genau zu wissen glauben, was gut ist und was schlecht, was schön und was hässlich.

Was sind solche Probleme anderes als Hindernisse auf unserem Weg zu uns selbst? Was könnte uns mehr beschäftigen, auch wenn es vielen, auch mir, schwerfällt, das Ziel mit einem einzigen Wort zu benennen?

Nennen wir es, wie wir wollen:

Selbstverwirklichung

Erleuchtung

Erfolg

Erkenntnis

spiritueller Gipfel

Bewusstwerdung

innerer Friede

oder einfach: Glück.

Manche verirren sich unterwegs und kommen ein bisschen später ans Ziel, andere entdecken eine Abkürzung und werden zu Wegbereitern für die Übrigen. Da sind jene Glücklichen, die den Weg von Anfang an klar und deutlich vor sich sehen; andere, wie das hässliche Entlein, haben zunächst zu kämpfen.

Andere Wegbereiter und viele andere Geschichten haben mich gelehrt, dass viele Wege zum erwünschten Ziel führen, unendlich viele Routen, die uns in die richtige Richtung lenken; doch all diesen Wegen ist gemeinsam, dass man Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen finden muss, die jeder Mensch sich stellt, sobald er denken kann.

Es sind drei Fragen, die sich der Protagonist des Märchens, wenn auch unausgesprochen, stellt und durch konkretes Handeln und mutige Entscheidungen beantwortet.

An diesem Punkt kann man das Märchen neu lesen und erkennen, dass es keinen Weg gibt, auf dem es nicht darum geht, Antworten auf diese drei Fragen zu finden: Wer bin ich?

Wohin gehe ich?

Und … mit wem?

Fragen, die sich allenfalls für kurze Augenblicke ausblenden lassen, denn wer keine Antworten darauf findet, dem werden sie unterwegs immer wieder begegnen.

Fragen, die man beantworten muss, wenn man vorankommen will, denn bei der Suche nach Antworten lernt man, was man unbedingt wissen muss, um weiterzukommen.

Fragen, die wir nacheinander und in genau dieser Reihenfolge für uns beantworten müssen.

Was wäre aus dem hässlichen Entlein geworden, wenn es den Weg eingeschlagen hätte, den die anderen Bewohner des Hühnerhofs ihm vorzeichneten?

Was würde aus dir, wenn du der Überzeugung wärst, dein

Das hässliche Entlein macht einen Bewusstwerdungsprozess durch: Nein, es ist nicht so, wie die anderen behaupten. Ja, ich bin anders, aber das macht mich nicht unbedingt verachtenswert. Und dann macht es sich auf den Weg zu sich selbst.

Es ist keine Ente, keine Gans, keine Katze und auch kein Huhn, und es muss zunächst lernen, all das nicht länger sein zu wollen, bevor es herausfindet, wer es wirklich ist. Der Preis für diesen Eigensinn ist hoch und die Aufgabe nicht leicht.

Eine Lebenslektion, die wir eigentlich aus dem Mund von spirituellen Führern erwarten, beschäftigt uns auch heute, doch nun kommt sie von Ökonomen, Finanzministern oder Staatschefs. Das unmittelbare Ziel des Wachstums ist nicht länger an finanzielle Sicherheit, Reichtum oder Besitz gekoppelt, sondern liegt in der Freiheit, und das setzt Verzicht voraus.

Die Tugend des Verzichts wurde in fast allen Religionen und von nahezu allen spirituellen Führern als Schlüssel zu einem besseren Selbst gepriesen. Und sie alle hatten recht.

Vom heiligen Franziskus von Assisi bis hin zu Buddha gibt es viele Lebenswege, die als Vorbild für ein entsagungsreiches Leben taugen, doch wenn man ihre Geschichte liest, zeigt sich, dass die kulturellen Paradigmen ihrer Zeit in der Welt, in der wir leben, oft keine Gültigkeit mehr besitzen.

Von klein auf haben wir gelernt, unsere Schulsachen, unsere Kleidung und all unsere kleinen Besitztümer wertzuschätzen. Man hat uns beigebracht, sie pfleglich zu behandeln,

genau hinsehen

teilen

nichts horten

nichts anhäufen.

Wer einen Ort hat, den er als seinen erachtet, wird ihn logischerweise wertschätzen. Das klingt gut und richtig, doch Wertschätzen ist etwas anderes als Sich-Festklammern. »Ich genieße, was ich habe« ist etwas ganz anderes als »Ich brauche das, um ich selbst zu sein«. Sich dafür zu entscheiden, an einem bestimmten Ort zu sein, ist etwas anderes, als dort gefangen zu sein.

Es klingt wie eine Binsenweisheit, dass der Mensch nicht ist, was er hat, und dass es nicht glücklich macht, Dinge anzuhäufen. Aber was man oft beobachten kann, legt die Vermutung nahe, dass gar nicht wenige Mitmenschen das glauben.

Und dann ist da dieses hässliche Entlein, das über den Zaun des Hühnerhofs flattert und allen Schutz zurücklässt, um sich völlig allein und auf sich gestellt auf seine Suche zu machen.

Auch davon erzählt dieses Märchen: Wie das Verlassen des schützenden Umfelds (oder der »Komfortzone«, wie es heute heißt) eine entscheidende Rolle in unserem Leben spielen kann. Wenn wir etwas von diesem hässlichen Entlein lernen können, dann, dass es Mut braucht, sich aus vorgegebenen Bahnen zu befreien und das Wagnis einzugehen, dem eigenen Herzen, seinen Gefühlen, Empfindungen und Idealen zu folgen.

Aber wir werden diese Entscheidung treffen, du und ich, und das nicht nur einmal. Glaubst du nicht?

Auf unsere Menschenwelt übertragen: Was gibt unserem Leben Sinn?

Das hässliche Entlein weiß nicht so viel über seine Ziele wie du oder ich, aber es hat eine klare Vorstellung davon, dass es etwas Besseres sucht als das, was das Schicksal für es bereithält. Es will das Beste für sich und die schönen Dinge des Lebens genießen. Das ist nicht schlecht, wenn man im falschen Nest gelandet ist, findest du nicht?