Stasiland

Anna Funder

Stasiland

Aus dem Englischen von Harald Riemann

FISCHER E-Books

Mit einem aktuellen Nachwort von Anna Funder,
übersetzt von Reinhild Böhnke

Inhalt

Über Anna Funder

Anna Funder, geboren 1966, ist eine der bekanntesten Autorinnen Australiens. Ihr Debüt »Stasiland« wurde mit dem »Samuel Johnson Award« ausgezeichnet, dem angesehensten Sachbuch-Preis in der englischsprachigen Welt. Ihr Ernst-Toller-Roman »Alles, was ich bin« (2014), wurde ein internationaler Bestseller, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in 25 Sprachen übersetzt. Anna Funder lebt in Sydney.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Die DDR war im vordigitalen Zeitalter der perfekte Überwachungsstaat. In »Stasiland« betritt Anna Funder eine surreale Welt aus Lügen, in der die Wahrheit zum Verbrechen wurde. Dort findet sie erstaunliche Geschichten einfacher Menschen, die der kommunistischen Diktatur heroisch Widerstand leisteten, und solcher, die für den berüchtigten Geheimdienst arbeiteten, die Stasi.

 

Die australische Autorin, Germanistin und Juristin erzählt wahre Geschichten von Mut, Widerstand, Gewissen und Liebe in den Zeiten der DDR. Sie erkundet »den Raum zwischen Gewissen und Seele« (Scotland on Sunday). In einer Sprache, die »zugleich poetisch, bitter, lustig und traurig ist«, beschreibt Anna Funder »alltägliche Helden, die von der Geschichte unterschlagen werden« (The Observer). In ihrer Welt »wird die Unmenschlichkeit von ihrer eigenen Ironie geschlagen« (The Times).

 

Anna trifft Miriam, die als 16-jährige beschuldigt wurde, den 3. Weltkrieg anzuzetteln. Sie trifft den Kartenzeichner, der als junger Stasi-Offizier mit einem Pinsel und einer Dose Farbe durch Berlin ging und die Linie zog, auf der die Mauer gebaut werden sollte. Sie zieht mit dem legendären Rockstar, dem »Mik Jegger« des Ostens, den die Behörden als »nicht mehr existent« deklarierten, um den Block.

 

Spannend wie ein Thriller ist »Stasiland« das glänzend gezeichnete, zeitlose Porträt einer kafkaesken Welt. In einer Gegenwart vollständiger Überwachung ist die Würdigung von Gewissen und Mut so wichtig wie nie.

 

»Hervorragend und gespenstig.« William Gibson, The New York Times

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Stasiland« bei The Text Publishing Company, Melbourne.

 

© 2002, Anna Funder

All rights reserved

Für das Nachwort:

© 2019, Anna Funder

© der deutschen Übersetzung: Europäische Verlagsanstalt/Sabine Groenewold Verlage, Hamburg 2004

© der Übersetzung des Nachworts: Reinhild Böhnke, 2019

 

Für die vorliegende Ausgabe:

© 2013 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: bürosüd, München

Coverabbildung: ©plainpicture

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491155-7

Fußnoten

Aufgrund der Einstweiligen Verfügung des LG Berlin vom 3. August 2004, erwirkt von der »Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.«, früher das ›Insiderkomitee‹, sind die Feststellungen der Autorin auf Seite 146/147 geschwärzt.

Endnoten

Virginia Woolf, »A Room of One’s Own« (1928, 2000) S. 65

Vgl. Hubertus Knabe, »Die Täter sind unter uns«, List Taschenbuch, Berlin 2008, S. 184ff

BerRehaG, § 20(2) und § 23

Vgl. Knabe, S. 36

Vgl. Knabe, S. 36

Deutscher Bundestag: Schlussbericht der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR, 24. August 2006, Drucksache 16/2466, S. 14, wie zitiert in Knabe, S. 35

Christian von Hammerstein, in »Verlorene Spuren«, Der Spiegel, 21. August 2006, wie zitiert in Knabe, S. 36f

Vgl. Knabe, S. 35

Vgl. »Stasiland«, Fußnote auf S. 478, bezüglich S. 206

Vgl. z.B. Karsten Krampitz, »DDR neu erzählen«, dessen These ist, dass trotz der vielen Menschen, die die DDR verlassen wollten, der Sozialismus erlebt wurde als »eine von oben erteilte Garantie, dass es ihnen jedes Jahr ein klein wenig besser ginge, so sie sich an die Spielregeln hielten. Sozialer Aufstieg im Austausch gegen politisches Wohlverhalten«, Deutschlandfunk, 3. Oktober 2018 https://www.deutschlandfunk.de/erinnerungs politik-ddr-neu-erzaehlen.1184.de.html?dram: article.id=427797 Vgl. auch Jana Hensel, die die DDR beschreibt als ein Land der »Unfreiheit, aber Industrienation. Repressiver Charakter, aber ein Alltagsleben, das bislang zu wenig beachtet wurde.« Jana Hensel, »Unfrei, aber Industrienation«, in Die Zeit 53/2018, 18. Dezember 2018 https://www.zeit.de/2018/53/ddr-stasi-gedenk staette-hubertus-knabe

https://www.bstu.de/assets/bstu/content-migra tion/DE/Wissen/MfS-Dokumente/Downloads/Grundsatzdokumente/richtlinie-A76_ov.pdf

Vgl. z.B. Krampitz, »DDR neu erzählen«, der die Historikerin Carola S.Rudnick zitiert: »Dem ›Zeitzeugenangebot‹ seiner Einrichtung hätten begleitende, objektivierende Informationsmaterialien und Ausstellungen gefehlt, die die opferzentrierte, monoperspektivische Geschichtsvermittlung in einen übergeordneten historischen Kontext setzten.«

Vgl. z.B. den Protest prominenter Stimmen in: Offener Brief vom 1. Oktober 2018 an Dr. Klaus Lederer, Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Senator für Kultur und Europa. Von H. Bohley, F. Klier, E. Schönherz und B. Zehnpfennig https://www.theeuropean.de/dokumentation/ 14801-offener-brief-an-klaus-lederer

unter einer großen Glasglocke.«

Carson McCullers, Frankie

 

 

»Ihr beiden, Peiniger und Opfer (Kollaborateur!

Instrument!), seid vielleicht auf ewig durch die

Obszönität dessen, was sich dir offenbart hat, durch

das traurige Bewußtsein dessen, wozu Menschen fähig

sind, aneinander gebunden. Wir sind alle schuldig.«

Breyten Breytenbach,

 

 

Wahre Bekenntnisse eines Albino-Terroristen

»›Wie lautet euer Urteil?‹ fragte

der König ungefähr zum zehntenmal.

›Nein, nein!‹ sagte die Königin,

›zuerst die Strafe, dann das Urteil!‹«

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Verkatert bugsiere ich mich wie ein Auto durch die Menschenmenge am Bahnhof Alexanderplatz. Mehrmals verschätze ich mich mit der Entfernung und schramme an einer Mülltonne und einer Litfasssäule entlang. Morgen werden auf meiner Haut blaue Flecken erscheinen wie Bilder von einem Negativ.

Grinsend wendet sich ein Mann von der Mauer ab und zieht seinen Hosenschlitz zu. Ihm fehlen Schnürsenkel und ein paar Zähne; sein Gesicht ist ebenso aus dem Leim wie seine Schuhe. Ein anderer Mann im Overall, mit einem Besen breit wie ein Tennisplatz-Feger, schiebt Desinfektionsgranulat den Bahnsteig entlang. Er formt Bögen aus grünem Pulver, Zigarettenkippen und Urin. Ein Betrunkener torkelt, als könne der Boden ihn nicht halten.

Ich will mit der S-Bahn zum Ostbahnhof, um dort in den Regionalzug nach Leipzig zu steigen, etwa zwei Stunden von hier. Ich setze mich auf eine grüne Bank, blicke auf die grünen Kacheln, atme grüne Luft. Auf einmal wird mir übel. Ich muss unbedingt an die Luft und bahne mir den Weg zurück zur Treppe nach oben. Dort ist der Alexanderplatz, eine riesige weite Fläche aus grauem Beton, entworfen, damit die Leute sich klein fühlen. Es funktioniert.

Unten steht eine korpulente Frau mit violetter Schürze und schrillem Make-up. Schützend lehnt sie sich über ihre Stapel Kondome, Papiertücher und Tampons auf dem gläsernen Tresen. Offensichtlich eine Frau, die den Müll des Lebens nicht scheut. Sie hat glänzende, weiche Haut und mehr als ein weiches Doppelkinn. Etwa fünfundsechzig ist sie.

»Guten Morgen«, sage ich. Ich bin befangen. Ich habe Geschichten von deutschen Babys gehört, deren Input an Nahrung und Output an Fäkalien man gewogen hat, um die Verhältnismäßigkeit herauszufinden. Schon immer fand ich diese Art mütterlicher Beobachtung unpassend. Nachdem ich die Toilette benutzt habe, lege ich eine Münze auf ihren Teller. Mir kommt der Verdacht, dass die Desinfektionströpfchen die Ausdünstungen menschlicher Körper mit etwas Schlimmerem übertünchen sollen.

»Wie isses da oben?«, will die Klofrau wissen und weist mit dem Kopf die Treppe hoch.

»Ganz schön kalt.« Ich zuckele meinen kleinen Rucksack zurecht. »Aber nicht allzu schlimm, nicht allzu viel Schneematsch.«

Ich weiß nicht, ob das Drohung oder Prahlerei ist, jedenfalls ist es das, was sie Berliner Schnauze nennen. Ich habe keine Lust, hier zu bleiben, aber hinauf in die Kälte will ich auch nicht. Der Desinfektionsgeruch ist so scharf, dass ich nicht weiß, ob es mir schlechter oder besser geht.

»Seit einundzwanzig Jahren bin ich jetzt hier, seit Winter ’75. Ich habe weit Schlimmeres als das hier gesehen.«

»Ganz schön lange Zeit.«

»Und ob. Stammkunden habe ich, wissen Sie. Die kennen mich, und ich kenn sie. Einmal war ein Prinz da, ein Hohenzollern.«

Wahrscheinlich erzählt sie jedem von dem Prinzen, geht mir durch den Kopf. Aber es funktioniert – ich werde neugierig. »Äh, bevor die Mauer fiel oder danach?«

»Davor. Er war auf einer Tagesreise aus dem Westen. Ich habe eine ganze Menge Leute aus dem Westen hier gehabt. Er hat mich auf sein Schloss eingeladen« – sie streicht mit der glatten Hand über ihren riesigen Busen –, »aber natürlich konnte ich nicht.«

Natürlich konnte sie nicht: Die Berliner Mauer verlief ein paar Kilometer von hier, und über die kam man nicht hinweg. Zusammen mit der Chinesischen Mauer war sie eines der längsten Bauwerke aller

»Noch nicht. Aber ich würde gerne. Bali oder so. Oder China. Ja, China.« Sie trommelt mit den bemalten Fingernägeln auf der Glasvitrine und blickt verträumt in mittlere Fernen über meine linke Schulter. »Wissen Sie, was ich wirklich gerne tun würde? Am liebsten würde ich mal einen Blick auf deren Mauer werfen.«

 

Der Zug fährt aus dem Ostbahnhof hinaus und erreicht seine Fahrgeschwindigkeit. Das Geschaukel wirkt beruhigend wie eine Wiege, bringt meine nervösen Finger zum Stillstand. Die Stimme des Schaffners kommt aus dem Lautsprecher und sagt unsere Stationen an: Wannsee, Lutherstadt Wittenberg, Bitterfeld. Im Norden Deutschlands lebe ich im grauen Bereich: graue Gebäude, graue Erde, graue Vögel, graue Bäume. Draußen spult sich die Stadt und dann das Land in Schwarzweiß ab.

Die vergangene Nacht ist rauchig verschwommen – einer der Kneipenbesuche mit Klaus und seinen Freunden. Trotzdem ist es nicht ein Kater der

Ich erinnere mich daran, wie ich Deutsch lernte – so schön, so seltsam –, in der Schule, in Australien, auf der anderen Seite der Erde. Meine Familie war verdutzt darüber, dass ich eine so komische, hässliche Sprache lernte, und natürlich war man zu fein, um dies auszusprechen, zudem die Sprache des Feindes. Aber mir gefiel daran, wie man lange, geschmeidige Wörter bilden konnte, indem man kurze zusammenfügte, baukastenartig. So wurden Dinge geschaffen, für die es im Englischen keinen Namen gab: Weltanschauung, Schadenfreude, Sippenhaft, . Mir gefiel die schwungvolle Spannbreite von »herzlich« bis »Herzweh«. Und mir gefiel die Ordnung, die Direktheit, die ich in den Menschen vermutete. In den 1980er Jahren zog ich dann für eine Weile nach Westberlin und dachte lange und gründlich darüber nach, was wohl hinter dieser Mauer vor sich ging.

Eine schmerbäuchige Frau mir gegenüber wickelt ein belegtes Schwarzbrot aus. Bis jetzt ist es ihr gelungen, so zu tun, als sei ich gar nicht da, obwohl sich unsere Knie berühren könnten, wenn wir nicht aufpassen. Sie hat die Augenbrauen zu Bögen der Überraschung oder Drohung übermalt.

Ich denke über die Gefühle nach, die ich für die frühere Deutsche Demokratische Republik entwickelt habe. Ein Land, das nicht mehr existiert, doch ich sitze hier im Zug und rase hindurch – vorbei an seinen einstürzenden Häusern und verwirrten Menschen. Dieses Gefühl bedarf eines Wortes, eines Kunstwortes: Ich kann es nur mit dem Ausdruck Horror-Romanze wiedergeben. Es ist ein dummes Gefühl, aber ich will nicht daran rütteln. Die Romanze ist Teil des Traums einer besseren Welt, die die deutschen Kommunisten aus der Asche ihrer Nazivergangenheit zu errichten suchten: jedem nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen. Der Horror kommt von dem, was sie in seinem

Meine Mitfahrerin holt eine Packung Zigaretten der Marke West heraus, die seit dem Fall der Mauer die beliebteste zu sein scheint. Sie zündet sich eine an und bläst den Rauch über meinen Kopf hinweg. Nachdem sie zu Ende geraucht hat, drückt sie die Kippe im Klappaschenbecher aus, verschränkt die Hände über dem Bauch und schläft ein. Ihr aufgemalter Gesichtsausdruck bleibt unverändert.

Zum ersten Mal besuchte ich Leipzig 1994, fast fünf Jahre nachdem die Mauer im November 1989 gefallen war. Ostdeutschland wirkte immer noch wie ein geheimer, umzäunter Garten, ein aus der Zeit gefallener Ort. Ich wäre nicht überrascht gewesen, hätten die Dinge hier anders geschmeckt – Äpfel wie Birnen oder Wein wie Blut. Leipzig war der Angelpunkt für das, was jetzt jeder die Wende nennt. Die Wende war die friedliche Revolution gegen die kommunistische Diktatur in Ostdeutschland, die einzige erfolgreiche Revolution in der Geschichte Deutschlands. Leipzig war der Beginn und das Herz davon. Jetzt, zwei Jahre später, kehre ich zurück.

1994 fand ich eine durch Wildwuchs geprägte Stadt vor. Krumm wanden sich die Straßen, und es gab bröckelnde Passagen, die unerwartet in den nächsten Häuserblock hineinführten, und niedrige Bögen schleusten die Leute in Kellerkneipen. Mein

Die Stasi war die nach innen gerichtete Armee, durch die die Regierung die Kontrolle behielt. Ihre Aufgabe war, alles über alle zu wissen, und zwar mit allen Mitteln. Sie wusste, wer dich besuchte, wusste, mit wem du telefoniert hast und ob deine Frau mit anderen Männern schlief. Sie war eine Bürokratie-Metastase, die in der ostdeutschen Gesellschaft wucherte: Offen oder geheim war immer jemand in der Nähe, der die Stasi über Kollegen und Freunde in den Schulen und Fabriken, in jedem Block und jeder Kneipe informierte. Trotz aller Detailbesessenheit gelang es der Stasi nicht, das Ende des Kommunismus und damit das Ende des Staates vorauszusehen. Zwischen 1989 und 1990 wurde sie von innen nach außen gekehrt: eben noch stalinistischer Bespitzelungsapparat, am Tag darauf Museum. In vierzig Jahren produzierte »die Firma« eine Aktenmenge,

Zu guter Letzt fand ich die Runde Ecke, und sie war riesig. Ein paar Stufen führten hinauf zu der breiten, metallverkleideten Doppeltür. Ich schrumpfte wie Alice im Wunderland. Rechts war ein bleiches Viereck in der Zementfassade, ein Stück des Hauses, das nicht von den Abgasen verfärbt war. Ein Schild, auf dem so etwas wie »Ministerium für Staatssicherheit – Bezirksverwaltung Leipzig« stand, muss hier gehangen haben. Es war während der Revolution in einer Art ängstlicher Freude abgenommen und seitdem nie wieder gesehen worden.

Drinnen ging ich umher. Alle Schreibtische waren noch genau so, wie man sie in der Nacht, in der die Demonstranten das Haus besetzten, verlassen hatte – erschreckend ordentlich. Telefone mit Wählscheibe standen paarweise da wie zur Brut. Reißwölfe waren hinausgeworfen worden, nachdem sie während des verzweifelten letzten Versuchs der Stasi, die brisantesten Akten zu vernichten, zusammengebrochen waren. Über einem Schreibtisch ein Kalender von 1989, mit einer von der Taille aufwärts nackten Frau, aber abgesehen davon hingen meist nur kommunistische Insignien an den Wänden. Die nachgebaute

Das Bürgerkomitee, das das Museum verwaltet, hatte Dokumente auf billige Spanplatten montiert: einen Abzug des berühmten Fotos von den Herbstdemonstrationen 1989. Er zeigte ein Meer von Menschen mit Kerzen in der Hand, den Kopf im Nacken, sahen sie am Gebäude hoch ihren Aufpassern direkt ins Gesicht. Sie wussten, dass ihr Leben von hier aus beobachtet, manipuliert und manchmal ruiniert wurde. Es lagen Kopien der immer hektischer lautenden Telexe vom Berliner Hauptquartier der Stasi aus, wo sich die Offiziere hinter blechverkleideten Fenstern verbarrikadiert hatten. »Alle MfS-Objekte sichern«, stand da, und »Gewalt größeren Ausmaßes verhindern. Mit allen Mitteln Ruhe und Ordnung wieder herstellen«.

Am besten gefielen mir die Bilder von Demonstranten, die das Gebäude am 4. Dezember 1989 besetzt hatten und die noch mit einem Ausdruck der Überraschung auf dem Gesicht auf den Fluren saßen, als warteten sie halb darauf, hinausgeworfen zu werden. Als sie das Gebäude betraten, wurden sie von der Stasi aufgefordert, ihre Personalausweise zu zeigen, wie in einer Parodie der Kontrolle, die sie genau in dem Augenblick verloren. Unter Schock

Beim Öffnen der Akten wurden große und kleine Geheimnisse enthüllt. Vielleicht nicht zuletzt die Ticks des gewöhnlichen Mannes von der Straße. Folgendes Dokument war zu sehen:

 

ZEICHEN FÜR BEOBACHTUNG:

1. Achtung! Objekt erscheint

– mit der Hand oder Taschentuch an die Nase fassen

2. Objekt setzt sich in Bewegung, es geht weiter, nachkommen

– mit der Hand über Haar streichen, Hut kurz lüften

3. Objekt bleibt stehen

– eine Hand auf den Rücken legen oder vor dem Bauch halten

4. Beobachter möchte aus konspirativen Gründen abgelöst werden

– bücken und Schuhe neu binden

5. Objekt kommt zurück

– beide Hände auf Rücken oder Bauch

6. Beobachter will mit Gruppenleiter oder anderem Beobachter sprechen

– Brieftasche oder dergleichen herausnehmen und darin blättern.

Im hinteren Teil des Gebäudes waren in drei Räumen Stasi-Artefakte unter Glas ausgestellt: eine Schachtel mit Perücken und Schnurrbärten neben kleinen Tuben mit Klebstoff zur Fixierung; Frauenhandtaschen aus Plastik mit eingebauten, in einer Verzierung aus Blütenblättern getarnten Mikrophonen; Wanzen, die man in Wohnungen eingebaut hatte, und Stapel von Briefen, die nie den Westen erreicht hatten. Einer der Umschläge trug eine Kinderhandschrift mit Buntstiften – jeder Buchstabe der Adresse in einer anderen Farbe.

Ein Glaskasten enthielt nichts als leere Gläser. Während ich darauf starrte, trat eine Frau auf mich zu. Sie sah aus wie die weibliche Ausgabe von Luther, nur war sie schön. Um die fünfzig, mit hohen Wangenknochen und direktem Blick. Sie sah mich freundlich an, aber auch so, als wüsste sie, dass ich ein Regime für nicht ganz bei Trost hielt, das von seinen Mitgliedern verlangte, Bereitschaftsgelöbnisse zu unterschreiben, die aussahen wie Trauscheine, Geburtstagskarten von Kindern an ihre Großeltern

Frau Hollitzer erklärte mir, dass die Gläser »Geruchsproben« enthielten. Die Stasi hatte eine quasi wissenschaftliche Methode entwickelt, Verbrecher aufzuspüren: »Geruchsproben«. Die Theorie war, dass wir alle unseren eigenen Geruch haben, der uns ausweist und den wir auf allem hinterlassen, was wir berühren. Dieser Geruch kann eingefangen werden, und mit Hilfe von Spürhunden kann das entsprechende Pendant gefunden werden. Die Stasi brachte ihre Hunde samt Gläser an den Ort, von dem man annahm, dass dort illegale Zusammenkünfte abgehalten worden seien, und sah dann zu, ob die Hunde Gerüche von Leuten wieder erkannten, deren Duftmarken in den Gläsern eingefangen waren.

Meistens wurden die Geruchsproben erschlichen. Die Stasi konnte in Wohnungen eindringen und ein Stück Kleidung mitnehmen, das direkt auf der Haut getragen wurde, in der Regel Unterwäsche. Eine andere Möglichkeit war, einen »Verdächtigen« unter irgendeinem Vorwand vorzuladen und danach den Plastikstuhl, auf dem er gesessen hatte, mit einem Lappen abzuwischen. Das gestohlene Kleidungsstück oder der Lappen wurde dann in einem Glas versiegelt. Die Behälter sahen aus wie Einweckgläser für Marmelade. Auf einem Etikett stand: »Name:

Als die Bürger von Leipzig in das Gebäude eindrangen, fanden sie eine große Sammlung Geruchsproben vor. Dann verschwanden die Gläser. Erst im Juni 1990 tauchten sie wieder auf – im »Geruchs-Speicher« der Leipziger Polizei. Aber sie waren leer. Offenbar hatte die Leipziger Polizei sie für ihre eigenen Zwecke verwendet, sogar noch in der Zeit, nachdem die Mauer gefallen war und Demokratie hier ihren Anfang nahm. Immer noch trugen die Gläser sorgfältige Beschriftungen. Aus ihnen ging hervor, dass die Leipziger Stasi Geruchsproben von der gesamten politischen Opposition in diesem Teil Sachsens gesammelt hatte. Niemand weiß, wer diese Stofffetzen und alten Socken heute hat noch warum sie überhaupt aufbewahrt werden.

Später erzählte mir Frau Hollitzer von Miriam, einer jungen Frau, deren Mann in einer Zelle der Stasi-Untersuchungshaft ganz in der Nähe umgekommen war. Es ging das Gerücht, die Stasi habe die Beerdigung organisiert und sogar den vollen Sarg durch einen leeren ersetzt und den Leichnam eingeäschert, um alle Beweise für die Todesursache zu vernichten. Ich stellte mir vor, wie die Sargträger so taten, als ächzten sie unter dem Gewicht eines leeren Sarges, oder sie ächzten vielleicht wirklich unter einem mit achtzig Kilo Steinen und alten Zeitungen

Ich kehrte nach Australien zurück, aber jetzt bin ich wieder in Berlin. Miriams Geschichte, diese seltsame Geschichte aus zweiter Hand über eine Frau, die ich nie kennen gelernt hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. Ich fand einen Teilzeitjob beim Fernsehen und machte mich daran, ein paar Geschichten aus diesem auf Abwege geratenen Land aufzutreiben.

 

Ich arbeite bei einem Fernsehsender im ehemaligen Westberlin, der nach dem Krieg von der Regierung aufgebaut wurde, um ein freundliches Deutschlandbild in die ganze Welt auszustrahlen. Mein Job besteht darin, Briefe von Zuschauern zu beantworten, die das Programm gesehen haben und Fragen dazu stellen.

Bei der Zuschauerpost bin ich eine Kreuzung aus Kummerkasten, freier Forschungsassistentin und Empfängerin von Flaschenpost. »Liebe Zuschauerpost, ich hätte gern die Adresse der Klinik von Dr. Manfred von Ardenne, um seine neue Ultrahoch-Temperatur-Krebsbehandlung bei fortgeschrittenem Stadium zu versuchen, wie in Ihrem Bericht gezeigt …«; »Liebe Zuschauerpost, vielen Dank für Ihren interessanten Bericht über Asylbewerber in Ihrem Land. Ich bin sechzehn und lebe in Akra. Könnten Sie mir bitte Unterlagen über Asylbewerbung zuschicken …«. Hier und da schreibt ein Neonazi aus Missouri oder Liverpool und will Informationen über »Gründungszellen« in Ostdeutschland. Ein Mann aus Birmingham, Alabama, schickte mir sein Foto in Uniform bei der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen 1945. Vor ihm Leichen.

Uwe Schmidt war auch da. Beide sind Wessis.

Uwe hat eine ebenso große journalistische Energie wie Scheller, aber die von Uwe ist eher sexueller, nicht chemischer Natur. Uwe wird ständig von seinen Freundinnen sitzen gelassen, und so ist er zu den meisten Tageszeiten und in fast jeder Gesellschaft ziemlich abgelenkt durch seinen Trieb.

Ich mag Uwe, und er tut mir Leid, weil ich weiß, dass er sich auf der Suche nach den Gründen, warum ihn seine Freundinnen sitzen lassen, langsam von

»Pardon?«, sagte er.

Ich entschloss mich, noch einmal von vorne anzufangen. »Wir haben einen Brief von einem in Argentinien lebenden Deutschen bekommen, bezüglich der Puzzle-Frauen.«

»Puzzle-Frauen? Puzzle-Frauen?«, fragte Uwe und versuchte sich an die Geschichte zu erinnern.

»Sie sitzen in Nürnberg und setzen die geschredderten Teile der Stasi-Akten zusammen, die sie nicht verbrennen oder einstampfen konnten.«

»Richtig. Schon im Bilde«, sagte Scheller. Er trommelte mit dem Radiergummiende eines Bleistifts auf den Tisch.

»Der Mann sagt, er habe Dresden nach dem Krieg verlassen. Er will wissen, ob wir mal ein Feature darüber machen könnten, wie es tatsächlich um die Ostdeutschen bestellt ist, anstatt nur, wie er sagt, ›Sendungen über das, was für die armen Verwandten dort getan wird‹.«

»Puzzle-Frauen«, murmelte Uwe.

Ich wagte mich vor. »Und ich finde, er hat Recht –

»Wie du weißt, senden wir nicht landesweit«, sagte Scheller, »also gibt es keinen Grund, Themen zur Zufriedenstellung der Ossis zu produzieren.«

Ich sah hinüber zu Uwe, abgewandt zu einer Seite, die Füße auf Schellers Schreibtischdomäne. Gedankenverloren rollte er einen Füllhalter über seine Knöchel und stellte sich Fragen über Frauen.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich zu Scheller. »Aber der Osten …, ich finde nur, wir sollten einfach ein paar Geschichten von dort zeigen. Von hier, meine ich.«

»Was für Geschichten?«, fragte Scheller. Hinter ihm gab der Computer ein Glockenspielsignal von sich, das eine neue E-Mail ankündigte.

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich, weil ich es wirklich nicht wusste. »Es muss doch Leute geben, die sich irgendwie gegen das Regime auflehnten oder unschuldig ins Gefängnis kamen.« Ich spürte, wie ich mich dafür erwärmte, ein bisschen gefährlich. »Ich meine, nach dem Zweiten Weltkrieg suchte man rauf und runter nach dem kleinsten Anzeichen von Widerstand gegen Hitler – als ob man ein Bruchteil

»Sie sind keine Nation.« Scheller war jetzt gereizt.

»Ich weiß, es war aber eine Nation.«

»Ach«, sagte er, »es waren bloß Deutsche, die vierzig Jahre lang im Kommunismus lebten und sich zurückentwickelten, und alles, was sie jetzt wollen, ist Geld für einen großen Fernseher und Urlaub auf Mallorca wie alle anderen auch. Es war ein Experiment, und es ist fehlgeschlagen.«

»Na gut, was schlägst du vor, was soll ich diesem Mann schreiben?« Ich hörte, wie meine Stimme höher wurde. »Soll ich ihm schreiben, niemand hier ist an den Ostdeutschen und ihren Geschichten interessiert, weil sie nicht zu unserem Image in Übersee passen?«

»Gott noch mal!«, rief Scheller. »Du wirst die tolle Geschichte über menschliche Courage nicht finden, nach der du suchst – das hätte man schon vor Jahren veröffentlicht, gleich nach 1989. Die sind doch bloß ein Haufen Meckerer mit ein paar angepassten Menschenrechtsaktivisten darunter, aber wirklich nur ein paar. Die hatten einfach das verdammte Pech, hinter dem Eisernen Vorhang zu enden.« Er senkte den Kopf. »Was ist bloß in dich gefahren?«

Er ging mit mir zu meinem Schreibtisch zurück, fürsorglich wie ein Arzt mit seinem Patienten, dem er etwas Schlechtes mitteilen musste. Durch diese Geste wurde mir klar, dass ich zu weit gegangen war. Er sagte: »Er hat einfach kein Interesse daran.«

»Niemand ist an diesen Leuten interessiert.«

»Sieh mal.« Behutsam ergriff Uwe meine Unterarme und drehte mich zu sich herum wie einen Tanzpartner. Seine Augen waren grün und liefen schräg nach oben, die Zähne klein und makellos wie Perlen. »Wahrscheinlich hast du Recht. Niemand hier ist interessiert – sie waren rückständig und pleite, und diese ganze Stasi-Sache …« Seine Stimme verlor sich. Sein Atem roch nach Minze. »Sie ist irgendwie … unangenehm.«

In meinem Antwortschreiben dankte ich dem Argentinier für seinen Vorschlag, teilte ihm aber mit, dass »die Aufgabe des Senders leider nur darin besteht, über Aktuelles zu berichten, und wir insofern nicht in der Lage sind, individuelle Geschichten mit ›Standpunkten‹ zu recherchieren«.

Vor einer Woche schrieb er zurück. Er war wütend, erklärte mir, dass Geschichte sich aus individuellen Geschichten zusammensetze. Er behauptete, dass Streitfragen in Ostdeutschland unter den Teppich gekehrt würden und die Leute gleich mit

 

Die Frau mir gegenüber wacht auf, als der Zug in Leipzig einfährt. Da etwas Intimes darin liegt, andere Leute im Schlaf zu beobachten, nimmt sie jetzt meine Existenz zur Kenntnis. »Wiedersehen«, sagt sie beim Verlassen des Abteils.

Miriam Weber steht am Ende des Bahnsteigs, eine kleine, stille Frau im Strom aussteigender Passagiere. Sie hält eine einzelne Rose, sodass ich sie erkennen kann. Wir geben einander die Hand, ohne uns allzu genau anzusehen, und reden über Züge, Reisen, Regen. Es ist wie ein ›Blind Date‹, weil wir uns am Telefon gegenseitig beschrieben haben. Ich weiß, sie hat ihre Geschichte noch nie zuvor einem Fremden erzählt.

Wir fahren durch Leipzig. Die Stadt ist eine einzige Baustelle, eine einzige Bewegung auf ein neues Ziel zu. Kräne wühlen in Gruben wie in offenen Wunden. Die Leute ignorieren sie, während sie sich mit gesenktem Kopf auf den Gehsteigen und schmalen

Miriams Wohnung liegt unterm Dach. Das Haus hat fünf Treppenaufgänge, breite, geschwungene Stufen mit einem anmutigen, dunklen Geländer. Ich bemühe mich, nicht allzu laut zu keuchen, nicht an meinen Brummschädel zu denken; versuche mich zu erinnern, wann Fahrstühle erfunden wurden. Die Wohnung ist ein großer heller Raum unter dem Dachvorsprung, voller Pflanzen und Lampen, mit Blick über ganz Leipzig. Von hier aus könnte man jeden kommen sehen.

Wir sitzen in großen Rattansesseln. Ich sehe Miriam direkt an. Sie ist eine Frau Mitte vierzig mit hübschem, kurz geschnittenem Haar, das absteht wie bei einem Jungen aus einem Comic, und kleiner, runder Brille. Sie trägt einen langen schwarzen Pullover und Hosen und zieht die Beine unter sich ein. Sie hat eine überraschend kräftige, nikotingefärbte Stimme. Sie ist so schmal, dass ihre Stimme von nirgendwo und überall herzukommen scheint: Es ist nicht sofort klar, dass es ihre ist; sie erfüllt den Raum und hüllt uns ein.

»Mit sechzehn wurde ich offiziell zum Staatsfeind. Mit sechzehn.« Miriam sieht mich durch die Brille an, und ihre Augen sind groß und blau. In ihrer Stimme liegt eine Mischung aus Stolz, darauf, ein solcher

1968 wurde die alte Universitätskirche in Leipzig plötzlich, ohne jede Diskussion in der Öffentlichkeit, abgerissen. Zweihundertfünfzig Kilometer entfernt war der Prager Frühling in vollem Gange, und die Russen hatten ihre Panzer noch nicht in die Stadt gebracht, um die Demonstranten niederzuwalzen. Der Abriss der Kirche in Leipzig wurde zum Brennpunkt für das weit verbreitete Unbehagen, das die Leipziger von ihren tschechischen Vettern übernommen hatten. Dreiundzwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte die junge Generation Fragen, wie ihre Eltern kommunistische Ideale in die Tat umgesetzt hatten.

Die Leipziger Demonstrationen wurden vom ostdeutschen Regime als Warnzeichen einer Zeit verstanden, in der aus einem Funken schnell ein Flächenbrand entstehen konnte. Die Polizei ging mit Wasserwerfern vor und verhaftete viele Demonstranten. Miriam und ihre Freundin Ursula empfanden das als Unrecht. »Man hat ja mit sechzehn auch so eine Vorstellung von Gerechtigkeit, und es war mehr diese Gerechtigkeit, für die man eingetreten ist; man wollte keinen Umsturz oder so. Wir fanden nur, dass es nicht fair war, so brutal gegen

Die beiden beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen. In einem Schreibwarengeschäft kauften sie einen Kinderdruckkasten mit Stempelkissen, kleinen Gummibuchstaben und einer Vorrichtung zum Einsetzen.

»Konnte man solche Sachen kaufen?«, fragte ich. Ich wusste, dass Vervielfältigungsmaschinen, Schreibmaschinen und später Fotokopierer in der DDR strikt (wenn auch nicht besonders wirksam) durch behördliche Genehmigungen kontrolliert wurden.

»Die gab’s danach nicht mehr«, lächelt sie. »Die hat die Stasi dann aus dem Verkehr gezogen.«

Miriam und Ursula stellten Flugblätter her, »Dialog, keine Wasserwerfer!« und »Volk der Volksrepublik, mach den Mund auf!«, und eine Nacht lang klebten sie sie überall in der Stadt an. Sie trugen Handschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. »Also richtig professionell. Ich meine, man hat ja genug Romane gelesen«, sagt sie lachend. Miriam verbarg die Plakate in ihrer Jacke; Ursula hatte Kleister und einen Pinsel in einer Milchkanne versteckt. Sie waren schlau: Sie klebten ihre Flugblätter in Telefonzellen über die Anweisungen und an Straßenbahnhaltestellen über die Fahrpläne. »Wir wollten sichergehen, dass die Leute sie lasen.« Sie zogen

Die Mädchen kamen an der Bezirksleitung der SED vorbei. Alles lief gut. »Wir sahen uns nur an und konnten nicht widerstehen.« Sie gingen hinein und sagten auf gut Glück zu dem Wachhabenden, sie seien gekommen, um Herrn Schmidt zu sprechen, in der Hoffnung, es gäbe einen Mann dieses Namens im Haus. Immer wieder überlegten sie später, was sie wohl getan hätten, wäre Herr Schmidt herausgekommen.

Der Wachhabende griff zum Telefon. Er legte den Hörer wieder auf. »Äh, nein, Genosse Schmidt ist im Moment nicht da.« Die Mädchen sagten, sie würden am nächsten Tag wiederkommen.

»Auf dem Weg nach draußen waren da diese schönen glatten Säulen …«

Miriam ist jedenfalls davon überzeugt, dass sie damit durchgekommen wären, hätten sie es dabei belassen, aber auf dem Heimweg gingen sie dann einen Schritt zu weit. Als sie an einem Haus vorbeikamen, in dem einige ihrer Klassenkameraden wohnten, steckten sie Flugblätter in die Briefkästen zweier Jungs, die sie kannten. Am nächsten Tag riefen die Eltern des einen die Polizei.

»Warum haben die denn wegen ein paar Flugblättern gleich die Polizei gerufen?«, fragte ich.

»Weil sie doof waren oder in der Partei, wer weiß?«

Ruhig, aber bestimmt erwidert Miriam: »Damals war es nicht harmlos. Es war Staatsverleumdung.«

In Ostdeutschland liefen Informationen in einem geschlossenen Kreis zwischen der Regierung und ihren Pressedienststellen. Da die Regierung alle Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender kontrollierte, war die Ausbildung zum Journalisten in Wirklichkeit eine Ausbildung als Regierungssprecher. Bücher waren nur eingeschränkt zu bekommen. Die Zensur übte permanent Druck auf Autoren aus und wurde von den Lesern als gegeben hingenommen, sodass diese lernten, zwischen den Zeilen zu lesen. Das einzige Massenmedium, das die Regierung nicht kontrollieren konnte, waren die westlichen Fernsehsender, dennoch versuchten sie es: Bis in die frühen 70er Jahre hinein überwachte die Stasi die Ausrichtung der Antennen, die aus den Wohnungen hingen, und bestrafte jeden, dessen Antenne nach Westen zeigte. Später gaben sie auf. Die Vorteile einschläfernder, kommerzieller Programme wogen offenbar die Gefahren von Nachrichtensendungen aus der freien Welt auf.

Staatsfeindliche Hetze wurde von der Geheimpolizei verfolgt, nicht von der gewöhnlichen Volkspolizei. Die Stasi ging mit Methode vor. Sie verhörte alle Klassenkameraden der beiden Jungen, die das Flugblatt bekommen hatten. Sie sprach mit dem Rektor,

»Wir hatten zwar alles weggeworfen, aber ein paar kleine Gummibuchstaben waren auf den Teppich gefallen, und die haben sie gefunden.«

Miriams Eltern erklärten der Polizei, sie wüssten überhaupt nicht, wie so etwas in ihrem Haus hatte geschehen können.

Die Mädchen wurden einen Monat lang in eine Einzelzelle gesperrt. Sie bekamen weder Besuch von ihren Eltern noch von Rechtsanwälten, keine Bücher, keine Zeitungen, keinen Telefonanruf.

Anfangs hielten sie sich an ihren Plan. »Nein, ich weiß auch nicht, wie die Flugblätter dorthin gelangten; nein, das kann unmöglich sie gewesen sein.« »Aber letzten Endes machen sie dich mürbe. Genau wie im Krimi. Sie wandten den alten Trick an und sagten jeder von uns, die andere habe gestanden, also könnten wir es ebenso gut. Ohne jeden Besuch, ohne Bücher oder sonst etwas denkst du dann: Na ja, wahrscheinlich hat sie doch was gesagt.«

Die Mädchen wurden bis zu ihrem Prozess freigelassen. Als Miriam nach Hause kam, dachte sie, um

 

Man braucht keine zwei Stunden von Leipzig nach Berlin, aber Miriam war nie in ihrem Leben dort gewesen. Alleine in der großen Stadt, kaufte sie am Bahnhof einen Stadtplan. »Ich wollte mir die Grenze an ein paar Stellen ansehen. Ich dachte: Das darf doch nicht wahr sein, irgendwo muss man hier doch rüberkommen.«

Am Brandenburger Tor staunte sie, dass sie so nahe an die Mauer herangehen konnte. Sie konnte nicht fassen, dass die Wachposten sie überhaupt in die Nähe ließen. Später fand sie heraus, dass die Grenzanlage an dieser Stelle überhaupt erst hinter der Mauer begann. »Selbst wenn ich es da rauf geschafft hätte, hätte ich nur den Kopf rüberstrecken und den DDR-Wachposten einen Gruß zuwinken können.« Sie winkt mit beiden Händen und zuckt mit den Schultern.

Als der Abend anbrach, sahen ihre Chancen dürftig aus. »Ich hatte kein einziges Loch gefunden«, sagt Miriam. Ihr war kalt und elend zu Mute. Sie stieg in die S-Bahn zum Alexanderplatz, um mit dem Zug zurück nach Hause zu fahren. Es war dunkel, und sie würde wieder ins Gefängnis kommen. Auf Hochgleisen ruckelte der Zug zwischen den Gebäuden hindurch. Häuser auf beiden Seiten, glatte Gebäude

»Ich dachte: Wenn ich hier entlangfahre, und neben mir ist dieser große Maschendrahtzaun, dann muss auf der anderen Seite ja eigentlich Westberlin sein.« Sie stieg aus, wechselte den Bahnsteig und fuhr mit dem nächsten Zug zurück. Es war genau, wie sie gedacht hatte: ein hoher Drahtzaun. Wieder stieg sie aus und ging zurück.

»Später suchte ich die Brücke an der Bornholmer Straße auf dem Stadtplan. Ich hatte davon gehört und geglaubt, es müsse einer der Orte sein, an denen Ost- und Westdeutschland ihre Spione austauschten. Heute sehe ich nichts als diese Brücke, sobald ich einen Stadtplan aufschlage. Es ist, wie wenn du bemerkst, dass jemand schielt, und du nichts anderes mehr in seinem Gesicht siehst.«

Eine Bahnlinie des Westens traf im geteilten Deutschland nur selten auf eine Bahnlinie aus dem Osten. An der Bornholmer Straße schwenkt noch eine Bahnlinie von Nordwesten herunter nach Südwesten und eine Ostbahn von Südosten nach Nordosten. Auf der Karte sehen sie aus wie zwei Figuren im Profil beim Maori-Nasenkuss.

»Ich warf einen Blick auf die Gegend und entschied: gar nicht so schlecht.« Miriam konnte die Grenzanlage sehen, dieses Gewirr aus Draht und Beton, Asphalt und Sand. Davor lag ungefähr ein Hektar eingezäunter Schrebergärten, jeder davon mit eigenem kleinem Schuppen. Diese handtuchgroßen Parzellen sind eine traditionell deutsche Lösung für die Sehnsucht der Städter nach Werkzeugschuppen und Gemüsebeeten. Sie bilden einen grünen Flickenteppich an den unerwartetsten Stellen der Stadt, entlang an Bahngleisen oder Kanälen oder, wie hier, im Windschatten der Mauer.

Miriam durchquerte die Gärten, kletterte über die Zäune, die sie voneinander trennten, und versuchte, näher an die Mauer heranzukommen. »Es war dunkel, und ich hatte Glück, denn normalerweise – das haben sie mir später gesagt – patrouillierten sie auch

Der ganze Streifen wurde von einer Reihe hoher Straßenlampen auf Masten beleuchtet, die sich exakt im selben Winkel neigten, wie Untertanen. Darüber explodierte das Silvesterfeuerwerk. Die Brücke war etwa hundertfünfzig Meter entfernt. Zwischen ihr und dem Westen befanden sich ein Maschendrahtzaun, ein Patrouillenstreifen, ein Stacheldrahtzaun, eine zwanzig Meter breite Asphaltstraße für den Personentransport und ein Fußweg. Dann erstreckten sich die Wachhäuser des Ostens in ungefähr hundert Metern Abstand voneinander und dahinter wieder Stacheldraht. Miriam nimmt ein Stück Papier und kritzelt alle möglichen Linien durcheinander, damit ich auch ein Bild vor Augen habe.

»Über das alles hinweg konnte ich die Mauer sehen, die ich vom Zug aus bemerkt hatte, die Mauer, die an der Bahnstrecke entlang verläuft. Ich nahm an, dass dahinter der Westen war, und ich hatte Recht. Ich hätte mich irren können, aber ich hatte Recht.« Wenn es für sie eine Zukunft geben sollte, dann lag sie da drüben, und sie musste dorthin gelangen.