Frédéric Martel
Sodom
Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan
Aus dem Französischen von Katja Hald, Elsbeth Ranke, Eva Scharenberg und Anne Thomas
FISCHER E-Books
Frédéric Martel, geboren 1967, ist Journalist und Soziologe und selbst homosexuell. Er ist katholisch, steht aber der Kirche nicht besonders nah. Er hat vier Jahre recherchiert, 1500 Informanten befragt, darunter 41 Kardinäle und 52 Bischöfe. Sein Motiv, dieses Buch zu schreiben, war der Wunsch, das System von Schweigen und Doppelmoral aufzubrechen und den Vatikan zu outen. Ganz in der Tradition des investigativen Journalismus- aufdecken, aufklären, verändern.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Der Vatikan ist eine der größten homosexuellen Gemeinschaften der Welt. Und zugleich geprägt von unnachgiebiger Homophobie. Erst diese Doppelmoral macht dieses System des Schweigens und die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche begreifbar. Der französische Journalist Frédéric Martel schreibt in einer augenöffnenden Reportage die Geschichte der letzten 50 Jahre des Vatikans neu. Er entlarvt den weltweiten Machtzirkel homosexueller Priester, Bischöfe und Kardinäle, genannt die Gemeinde. Sie verhindern jede Liberalisierung, um ihr Doppelleben zu schützen: Ob es um Kondome geht, um die gleichgeschlechtliche Ehe oder das Zölibat. Auch das Schweigen über sexuellen Missbrauch ist Teil dieses Systems.
Ein Buch, das die Pontifikate von Johannes Paul II., Benedikt XVI., und Franziskus in gänzlich neuem Licht zeigt. Grandios geschrieben, hautnah, spannend wie ein Roman über Macht und Intrigen im Vatikan.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Sodoma. Enquete au coeur du Vatican« 2019 im Verlag Éditions Robert Laffont, Paris.
© Éditions Robert Laffont, S.A.S. Paris, 2019
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, Hamburg
Coverabbildung: mauritius images / PACIFIC PRESS / Alamy
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491168-7
Sodom wurde in etwa 20 Sprachen und rund 40 Ländern veröffentlicht. Der französische Herausgeber ist Jean-Luc Barré.
Dieses Buch stützt sich auf eine Vielzahl von Quellen. Im Zuge der mehr als vierjährigen Recherche wurden fast 1500 Personen im Vatikan und 30 Ländern befragt – unter ihnen 41 Kardinäle, 52 Bischöfe und Monsignori, 45 Apostolische Nuntien und ausländische Botschafter und mehr als 200 Priester und Seminaristen. Alle Interviews wurden persönlich geführt (keines per Telefon oder E-Mail). Zu diesen Quellen kommt eine umfangreiche Bibliographie von mehr als tausend Verweisen, Büchern und Artikeln. Schließlich wurde ein Team von 80 »Researchern«, Korrespondenten, Beratern, Übersetzern und Dolmetschern eingesetzt, um die Recherchen in den 30 Ländern zu komplettieren.
Die Gesamtheit der Quellen, die Notizen, die Bibliographie, das Researcher-Team und drei unveröffentlichte Kapitel, die hier den Rahmen sprengen würden, wurden zu einem dreihundertseitigen Dokument zusammengefasst, das online zugänglich ist.
Dieser Codex von »Sodom« ist online verfügbar: www.sodoma.fr. Aktualisierungen werden außerdem unter dem Hashtag »sodoma« auf der Facebook-Seite des Autors: @fredericmartel, auf dem Instagram-Account: @martelfrederic und auf Twitter veröffentlicht: @martelf.
»Er gehört der Gemeinde an«, flüstert mir der Prälat verschwörerisch ins Ohr.
Der erste, der mir gegenüber diesen codierten Ausdruck benutzt hat, ist ein Erzbischof der Römischen Kurie.
»Wissen Sie, er ist sehr aktiv. Er gehört der Gemeinde an«, betont er leise, als er mir von dem Lebenswandel eines berühmten Kardinals erzählt, einem ehemaligen »Minister« unter Johannes Paul II. Wir kennen ihn beide gut.
Er fügt hinzu:
»Und wenn ich Ihnen erzählen würde, was ich weiß, würden Sie es nicht glauben!«
Und natürlich hat er es mir erzählt.
Jener Erzbischof wird uns in diesem Buch mehr als einmal begegnen – er ist der erste einer langen Prozession von Geistlichen, die mir jene Realität beschrieben haben, die ich vermutet hatte, die viele aber für Fiktion halten werden. Ein Märchen.
»Das Problem ist, man wird Ihnen nicht glauben, wenn Sie die Wahrheit über den ›Schrank‹ und die besonderen Freundschaften im Vatikan aussprechen. Man wird sagen, Sie hätten alles erfunden. Denn hier übertrifft die Realität die Fiktion«, vertraute mir ein Franziskanerpriester an, der ebenfalls seit mehr als dreißig Jahren im Vatikan lebt und arbeitet.
Dennoch haben mir viele diesen »Schrank« (vom englischen coming out of the closet für sich outen) beschrieben. Manche hatten Hemmungen, sorgten sich, was ich preisgeben würde. Andere raunten mir Geheimnisse zu und später Skandale. Wieder andere zeigten sich gesprächig, äußerst gesprächig, als hätten sie all diese Jahre darauf gewartet, das Schweigen endlich brechen zu können. Etwa vierzig Kardinäle und hundert Bischöfe, Monsignori, Priester und »Nuntien« (päpstliche Botschafter) erklärten sich zu einem Treffen bereit. Die bekennenden Homosexuellen unter ihnen – jeden Tag präsent im Vatikan – führten mich in ihre Welt der Eingeweihten ein.
Offene Geheimnisse? Gerüchte? Verleumdung? Ich bin wie der heilige Thomas: Ich muss sehen, um zu glauben. Also forschte ich eingehend und tauchte in die Kirche ein. Jeweils eine Woche pro Monat lebte ich in Rom und – dank der gastfreundlichen hohen Prälaten, die, wie sich manchmal herausstellte, selbst »der Gemeinde« angehörten – sogar regelmäßig innerhalb des Vatikans. Darüber hinaus reiste ich in mehr als dreißig Länder, traf Kleriker aus Lateinamerika, Asien, den Vereinigten Staaten und dem Mittleren Osten, um mehr als tausend Zeugenaussagen zusammenzutragen. Hundertfünfzig Nächte verbrachte ich jedes Jahr schreibend, weit weg von zu Hause, weit weg von Paris.
Nicht ein einziges Mal während dieser vierjährigen Ermittlung habe ich verschwiegen, dass ich Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftler bin, als ich an teilweise unzugängliche Kardinäle und Priester herantrat. Alle Gespräche haben unter meinem richtigen Namen stattgefunden, und mein Gegenüber brauchte nicht mehr zu tun, als meinen Namen bei Google, Wikipedia, Facebook oder Twitter einzugeben, um meine detaillierte Biographie als Autor und Reporter einzusehen. Oft baggerten mich diese Prälaten diskret an. Berufsrisiko!
Warum willigten jene, die für gewöhnlich schweigen, ein, die Omertà zu brechen? Das ist eines der Mysterien dieses Buches und der Grund, warum ich es geschrieben habe.
Was sie mir erzählten, war lange Zeit unaussprechlich. Ein solches Buch wäre vor zwanzig, ja selbst vor zehn Jahren schwer zu veröffentlichen gewesen. Lange war, wenn ich so sagen darf, der Verkehr auf den Wegen des Herrn gesperrt. Heutzutage gibt es zumindest etwas Bewegung, da die Emeritierung Benedikts XVI. und der Reformwille dazu beitragen, die Zungen zu lösen. Dank der sozialen Netzwerke, der mutigeren Presse und der unzähligen kirchlichen »Sitten«-Skandale ist es möglich und notwendig, das Geheimnis heute preiszugeben. Dieses Buch nimmt daher nicht die Kirche in ihrer Gesamtheit ins Visier, sondern ein sehr besonderes »Genre« der Schwulengemeinde: Es erzählt die Geschichte der Mehrheit des Kardinalskollegiums und des Vatikans.
Viele Kardinäle und Prälaten, die in der Römischen Kurie ein Amt innehaben, die meisten, die im Konklave unter den von Michelangelo gemalten Fresken der Sixtinischen Kapelle zusammenkommen – eine der grandiosesten Szenen schwuler Kultur, voller viriler, von Ignudi, diesen strammen, entblößten Epheben, umringter Körper –, teilen dieselben »Neigungen«. Sie haben eine »Familienähnlichkeit«. Mit einer Anspielung, die zu einer Disco-Queen gepasst hätte, flüsterte ein Priester mir zu: »We are family!«
Die meisten Monsignori, die zwischen den Pontifikaten von Paul VI. und Franziskus auf den Balkon der Loggia des Peterdoms traten, um traurig den Tod (oder Rücktritt) des Papstes zu verkünden oder mit herzlicher Fröhlichkeit Habemus papam! zu rufen, teilen das gleiche Geheimnis. È bianca!
»Aktiv«, »homophil«, »eingeweiht«, »unstraight«, »mondän«, »kapriziös«, »questioning«, »ungeoutet« oder einfach »Schrankbruder«: Die Welt, die ich hier entdecke – mit ihren »fifty shades of gay«, übersteigt jede Vorstellungskraft. Die intimen Geschichten dieser Männer, die nach außen hin einen frommen Eindruck machen, im Privaten aber ein anderes Leben führen, also zwei völlig gegensätzliche Leben haben, bilden ein schwer aufzudröselndes Gewirr. Wohl noch nie war der Schein einer Institution so trügerisch, und ebenso trügerisch sind auch die Bekenntnisse zum Zölibat und die Keuschheitsgelübde, hinter denen sich eine ganz andere Wirklichkeit verbirgt.
Das bestgehütete Geheimnis des Vatikans ist für Papst Franziskus kein Geheimnis. Er kennt seine »andere Gemeinde«. Seit er in Rom ist, weiß er, dass er es mit einer ziemlich außergewöhnlichen Korporation zu tun hat, die sich nicht, wie lange angenommen, auf ein paar verlorene Schafe beschränkt. Es handelt sich um ein System – eine ziemlich große Schafherde. Wie viele es sind? Spielt keine Rolle. Halten wir einfach fest: Sie machen die große Mehrheit aus.
Anfangs war der Papst angesichts der Dimension dieser »verleumderischen Kolonie« mit ihren »reizende[n] Qualitäten« und ihren »unerträgliche[n] Makel[n]«, wie der französische Schriftsteller Marcel Proust in seinem berühmten Sodom und Gomorrha schreibt, natürlich überrascht. Aber was Franziskus kaum erträgt, ist weniger diese so weit verbreitete Homophilie als vielmehr die schwindelerregende Scheinheiligkeit derer, die eine engstirnige Moral predigen, während sie einen Lebensgefährten haben oder Abenteuer und sich manchmal auch Escorts gönnen. Das ist also der Grund, warum er rastlos die Frömmler geißelt, die unehrlichen Eiferer, die Heuchler. Diese Doppelzüngigkeit, diese Schizophrenie hat Franziskus oft in seinen morgendlichen Homilien in Santa Marta kritisiert. Und eine seiner Formulierungen verdient es, diesem Buch als Motto vorangestellt zu werden: »Hinter der Strenge versteckt sich immer etwas; häufig ein Doppelleben.«
Doppelleben? Die Katze ist aus dem Sack und der Zeuge dieses Mal glaubwürdig. Franziskus wiederholte seine Kritik an der Römischen Kurie unermüdlich: Er zeigte mit dem Finger auf die »Heuchler«, die »versteckte und oftmals lasterhafte Leben« führen, jene, die »ihre Seele« »schminken« und unter einem »Make-up leben«, die zum System erhobene »Lüge«, die so sehr schadet, »die Heuchelei schadet so sehr: das ist eine Lebensart«. Tut, was ich euch sage, und nicht, was ich tue!
Ich muss wohl nicht sagen, dass Franziskus genau wusste, an wen er sich hier wandte, ohne sie namentlich zu nennen: Kardinäle, Päpstliche Zeremonienmeister, ehemalige Staatssekretäre, Substitute, Minutanten oder Kardinalkämmerer. In den meisten Fällen handelt es sich nicht nur um eine diffuse Veranlagung, eine Fluidität, um Homophilie oder eine »Neigung«, wie man zu der Zeit sagte, nicht einmal um unterdrückte oder sublimierte Sexualität – was alles in der Kirche Roms ebenso häufig anzutreffen ist. Viele der Kardinäle, die, »obwohl vollblütig, den Frauen nicht zugetan sind!«, wie Der Dichter (Rimbaud) sagt, sind praktizierend. Wie umständlich ich so etwas Simples ausdrücke! Etwas, das früher so anstößig war, und heutzutage so banal geworden ist!
Praktizierend, ja, aber noch »im Schrank«. Denken Sie nur an den Kardinal, der in der Öffentlichkeit auf dem Balkon der Loggia auftritt und den ein rasch vertuschter Prostitutionsskandal eingeholt hat; oder den französischen Kardinal, der lange Jahre einen anglikanischen Geliebten in Amerika hatte; oder den, der in seiner Jugend Abenteuer aneinanderreihte wie eine Nonne die Perlen ihres Rosenkranzes – und nicht zu vergessen jene, die ich im Apostolischen Palast traf und die mir ihren Lebensgefährten als Assistenten, Minutanten, Substituten, Chauffeur, Kammerdiener, Faktotum, ja sogar Leibwächter vorgestellt haben!
Der Vatikan ist eine der größten homosexuellen Communitys der Welt, und ich bezweifle, dass es selbst im Castro in San Francisco, diesem symbolträchtigen, wenn heutzutage auch eher gemischten Lesben- und Schwulenviertel, so viele Homosexuelle gibt!
Bei den sehr alten Kardinälen ist der Grund für die Geheimhaltung in der Vergangenheit zu suchen: Ihre stürmische Jugend und frivolen Jahre liegen vor der Zeit der Schwulenbewegung, was ihr Doppelleben und ihre vorsintflutliche Homophobie erklärt. Oft hatte ich bei meiner Recherche den Eindruck, eine Reise in die Vergangenheit zu machen – in die 1930er- oder 1950er-Jahre, die ich zwar nicht erlebt habe, doch muss damals die Doppelmentalität des erwählten Volks und des verfluchten Volks geherrscht haben, die einen Priester, den ich oft getroffen habe, sagen ließ: »Benvenuto a Sodoma!« (»Willkommen in Sodom!«)
Ich bin nicht der Erste, der dieses Phänomen thematisiert. Viele Journalisten haben bereits Skandale und Affären innerhalb der Römischen Kurie aufgedeckt. Aber das ist nicht mein Thema. Anders als diese Vatikanjournalisten, die einzelne »Entgleisungen« anprangern, dabei aber das »System« außer Acht lassen, sollten wir uns weniger den hässlichen Episoden als vielmehr dem sehr banalen Doppelleben der meisten kirchlichen Würdenträger widmen. Nicht den Ausnahmen, sondern dem System und Modell, dem Muster (pattern), wie die amerikanischen Soziologen sagen. Persönliche Umstände interessieren mich eher weniger, was wichtig ist, ist der Regelfall, die kollektive Psychologie, die allgemeine Homosozialität. Natürlich Details, aber auch die großen Prinzipien – und wie wir sehen werden, finden sich vierzehn allgemeine Regeln in diesem Buch. Das Thema ist: die intime Gemeinschaft von Priestern, ihre Verletzlichkeit, das mit dem erzwungenen Zölibat verbundene Leid, das zum System geworden ist. Es geht also nicht darum, diese Homosexuellen zu verurteilen – auch die Closet Cases nicht, denn ich mag sie! –, sondern darum, ihr Geheimnis und ihre gemeinsame Lebensform zu verstehen. Es ist nicht meine Absicht, diese Männer zu kritisieren oder sie zu Lebzeiten zu outen. Mein Konzept ist nicht das name and shame, jene amerikanische Praxis, bei der Namen veröffentlicht werden, um Menschen bloßzustellen. Ich möchte ganz klar sagen, dass ein Priester oder ein Kardinal sich in meinen Augen überhaupt nicht schämen sollte, homosexuell zu sein. Ich finde sogar, es sollte ein potentieller Sozialstatus sein.
Doch ist es notwendig, ein System zu entlarven, bei dem das homosexuelle Doppelleben mit einer äußerst atemberaubenden Homophobie gepaart ist, und zwar von den kleinsten Seminaren bis hin zum Allerheiligsten – dem Kardinalskollegium. Fünfzig Jahre nach Stonewall, der Homosexuellenrevolution in den Vereinigten Staaten, ist der Vatikan die letzte zu befreiende Bastion! Viele Katholiken ahnen die Lüge inzwischen, auch wenn sie nie die Möglichkeit hatten, eine Beschreibung von Sodom zu lesen.
Ohne dieses Lektüreraster bleibt die jüngste Geschichte des Vatikans und der römischen Kirche jedoch undurchsichtig. Wenn wir ihre gigantische homosexuelle Dimension verkennen, bringen wir uns um einen der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der meisten Komponenten, die die Geschichte des heiligen Stuhls seit Jahrzehnten prägen: die heimlichen Beweggründe, die Paul VI. dazu gebracht haben, das Verbot künstlicher Empfängnisverhütung zu bekräftigen, die Ablehnung des Kondoms und die strikte Verpflichtung zum Priesterzölibat; die Bekämpfung der »Befreiungstheologie«, die Affären der Vatikanbank zu Zeiten des berühmten, übrigens ebenfalls homosexuellen Erzbischofs Marcinkus; die Entscheidung, das Kondom als Mittel im Kampf gegen Aids zu verbieten – und das, obwohl die Pandemie 35 Millionen Tote fordern würde-; die Skandale Vatileaks 1.0 und 2.0; die häufige und oft bodenlose Frauenfeindlichkeit vieler Kardinäle und Bischöfe, die in einem Umfeld ohne Frauen leben; die Abdankung Benedikts XVI.; die aktuelle Revolte gegen Papst Franziskus … Jedes Mal spielt die Homosexualität eine zentrale Rolle, was viele zwar ahnen, was jedoch nie wirklich ausgesprochen wird.
Die schwule Dimension erklärt natürlich nicht alles, aber sie ist ein entscheidender Lektüreschlüssel für jeden, der den Vatikan und seine moralischen Grundeinstellungen verstehen will. Genauso ist anzunehmen – auch wenn das nicht Gegenstand dieses Buches ist –, dass der Lesbianismus ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des klösterlichen Lebens von Schwestern und Nonnen ist, unerheblich ob Ordensgemeinschaft oder nicht. Schließlich ist die Homosexualität leider auch eine der Erklärungen für die institutionalisierten Vertuschungen von Sexualverbrechen und -vergehen, die inzwischen in die zehntausende gehen. Warum? Wie? Weil durch die »Kultur der Geheimhaltung«, die nötig war, um den großen Einfluss der Homosexualität in der Kirche zu verschleiern, sexuelle Missbräuche vertuscht werden und Täter von diesem Schutzsystem in der Institution profitieren konnten. Allerdings ist Pädophilie nicht Thema dieses Buches.
»Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche«, sagte Kardinal Ratzinger, als sich ihm seinerseits die Relevanz des »Schranks« anhand eines geheimen Berichts dreier Kardinäle erschloss. Er war einer der Hauptgründe für seinen Rücktritt. Sein Inhalt wurde mir wiedergegeben: Dieser Bericht stelle weniger die Existenz einer sogenannten »Schwulenlobby« in den Fokus als die Allgegenwart von Homosexuellen im Vatikan, die zum System gewordene Erpressung und Belästigung. Es ist, wie Hamlet sagen würde, »etwas faul im Staate« Vatikan.
Die homosexuelle Soziologie des Katholizismus erklärt auch das Ende der Berufungen zum Priestertum. Wie wir sehen werden, hatten sich junge Italiener, die entdeckten, dass sie homosexuell waren, oder Zweifel an ihrer Sexualität hatten, lange ins Priestertum geflüchtet. So wurden diese Parias zu Eingeweihten. Sie machten eine Schwäche zu einer Stärke. Mit der homosexuellen Befreiung der 1970er-Jahre und der schwulen Sozialisierung der 1980er-Jahre gingen die katholischen Berufungen automatisch zurück. Heutzutage würde es einem homosexuellen Jugendlichen, selbst in Italien, nicht einfallen, einem Orden beizutreten. Das Ende der Berufungen hat vielfältige Ursachen, aber die homosexuelle Revolution ist paradoxerweise eine der zentralsten.
Diese Matrix erklärt letztendlich den Krieg gegen Franziskus. Um ihn nachvollziehen zu können, müssen wir hier kontraintuitiv vorgehen. Der lateinamerikanische Papst benutzte als Erster das Wort »schwul« – nicht nur das Wort »homosexuell« –, und wenn wir ihn mit seinen Vorgängern vergleichen, ist er wohl der Pontifex maximus der Moderne, der sich am meisten schwulenfreundlich zeigt. Er fand für die Homosexualität gleichermaßen magische wie taktische Worte: »Wer bin ich, dass ich urteile?« Und wir können davon ausgehen, dass der Papst wahrscheinlich weder jene Veranlagungen noch Neigungen hat, die vier seiner jüngsten Vorgänger nachgesagt werden. Dennoch steht Franziskus heute gerade wegen seiner vermeintlichen Liberalität in Fragen der Sexualmoral im Kreuzfeuer einer aggressiven Offensive der konservativen Kardinäle, die äußerst homophob – und mehrheitlich zugleich heimlich homophil sind.
Eine verkehrte Welt gewissermaßen! Man könnte sogar eine ungeschriebene Regel formulieren, die sich in Sodom fast immer bewahrheitet: Je homopohober ein Prälat ist, desto wahrscheinlicher ist er selbst homosexuell. Diese Konservativen, diese Traditionalisten, diese dubia sind oft die berühmten »Rigiden mit einem Doppelleben«, von denen Franziskus so oft spricht.
»Der Karneval ist vorbei«, soll der Papst bei seiner Wahl zu seinem Zeremonienmeister gesagt haben. Seitdem durchkreuzt der Argentinier die Spielchen des heimlichen Einverständnisses und die homosexuelle Brüderlichkeit, die sich unter Paul VI. in aller Stille eingebürgert und unter Johannes Paul II. zugenommen hatten, bevor sie unter Benedikt XVI. ausgeartet sind und ihm zum Verhängnis wurden. Mit seiner ruhigen Art und seiner entspannten Einstellung gegenüber Sexualität fällt Franziskus aus dem Rahmen. Er gehört nicht der Gemeinde an!
Haben der Papst und seine liberalen Theologen eingesehen, dass das Priesterzölibat jämmerlich gescheitert ist? Dass es eine Fiktion ist, die es in der Realität so gut wie nicht gibt? Haben sie geahnt, dass die von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. geführte vatikanische Schlacht gegen die Schwulen von vorneherein verloren war? Ein Krieg, der nach hinten losgehen würde, gegen die Kirche, nun, da sich jeder der tatsächlichen Motive bewusst wird: ein Krieg, den ungeoutete Homosexuelle den geouteten erklärt haben! Mit anderen Worten, ein Krieg zwischen Schwulen.
Der in diese Klatschgemeinschaft geratene Franziskus ist jedoch gut informiert. Seine Assistenten, seine nächsten Mitarbeiter, seine Zeremonienmeister und anderen Liturgieexperten, seine Theologen und Kardinäle – hier sind die Schwulen ebenfalls Legion – wissen, dass die Homosexualität im Vatikan viele Berufene und viele Erwählte betrifft. Als ich sie befrage, deuten sie sogar an, die Kirche sei durch das Eheverbot für die Priester soziologisch homosexuell geworden; und durch die Vorschrift einer widernatürlichen Enthaltsamkeit und einer Kultur der Geheimhaltung sei die Kirche mitverantwortlich für Zehntausende sexuelle Missbräuche, die sie von innen aushöhlen. Sie wissen auch, dass der Sexualtrieb, und vor allem der homosexuelle Trieb, einer der Hauptstimuli und Hauptbeweggründe des vatikanischen Lebens ist.
Franziskus weiß, dass er dafür sorgen muss, dass sich die Positionen der Kirche ändern, und dass dies nur möglich ist, wenn all jene gnadenlos bekämpft werden, die die Sexualmoral und Homophobie benutzen, um ihre Scheinheiligkeit und ihr Doppelleben zu vertuschen. Aber die Sache ist die: Die heimlichen Homosexuellen sind in der Mehrheit, mächtig und einflussreich, und sie tun, jedenfalls die »rigidesten«, ihre homophoben Positionen lautstark kund.
Soviel also zum Papst. Er residiert mittlerweile in Sodom. Bedroht, angegriffen von allen Seiten, kritisiert, lebt Franziskus, wie gesagt wurde, »unter Wölfen«.
Doch das trifft es nicht ganz: Eigentlich lebt er unter Tunten.
»Guten Abend«, sagte die Stimme. »Ich wollte Ihnen danken.«
Francesco Lepore mimt mit Daumen und kleinem Finger einen Telefonhörer. Er hat gerade abgenommen und wirkt auf einmal ebenso wichtig wie die Worte seines mysteriösen Gesprächspartners, der mit einem starken Akzent Italienisch spricht. Lepore erinnert sich an alle Einzelheiten des Gesprächs:
»Das war am 15. Oktober 2013 gegen 16.45 Uhr, ich kann mich noch gut daran erinnern. Ein paar Tage zuvor war mein Vater gestorben, und ich fühlte mich einsam und verlassen. Da hat mein Handy geklingelt. Mit unterdrückter Nummer. Ich gehe ran und sage automatisch:
›Pronto‹. Die Stimme fährt fort. ›Buona sera! Hier ist Papst Franziskus. Ich habe Ihr Schreiben bekommen. Kardinal Farina hat es an mich weitergeleitet, und ich wollte Ihnen sagen, wie sehr mich Ihr Mut berührt hat, und wie sehr mich die Kohärenz und die Ehrlichkeit Ihres Briefes angesprochen haben.‹
›Heiliger Vater, ich bin es, der gerührt ist; dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mich extra anzurufen. Das war nicht nötig. Ich wollte Ihnen einfach nur schreiben.‹
›Doch, doch‹, beharrt Franziskus, ›Ihre Ehrlichkeit, Ihr Mut haben mich berührt. Ich weiß nicht, was ich jetzt für Sie tun kann, aber ich würde Ihnen gerne helfen.‹«
Francesco Lepore versagt vor Verblüffung über den unerwarteten Anruf fast die Stimme, er zögert. Nach kurzer Stille fährt der Papst fort:
»Darf ich Sie um etwas bitten?«
»Worum?«
»Würden Sie für mich beten?«
Francesco Lepore schweigt.
»Ich habe ihm schließlich gesagt, dass ich nicht mehr bete. Aber dass er für mich beten kann, wenn er will«, erzählt Lepore.
Franziskus erklärt, dass er bereits für ihn betet, und fragt:
»Darf ich Sie segnen?«
»Diese Frage des Papstes habe ich natürlich bejaht. Danach gab es eine kurze Stille, er hat mir noch einmal gedankt, und so endete das Gespräch.«
Nach einem kurzen Moment sagt Lepore:
»Wissen Sie, ich bin nicht unbedingt ein Freund dieses Papstes. Ich habe Franziskus nie groß verteidigt, aber seine Geste war wirklich rührend. Ich habe das noch nie jemandem erzählt, habe es für mich behalten, wie ein Geheimnis, etwas Schönes. Ich erzähle es zum ersten Mal.« (Kardinal Farina, den ich zweimal in seiner Wohnung im Vatikan interviewt habe, hat mir bestätigt, dass er Lepores Brief an den Papst weitergegeben und der Anruf stattgefunden hat.)
Zum Zeitpunkt des Anrufs befindet sich Francesco Lepore gerade im offenen Bruch mit der Kirche. Er hat gekündigt und wurde »laisiert«, wie es so schön heißt. Der Priester und Intellektuelle, Stolz der Kardinäle im Vatikan, hat die Soutane an den Nagel gehängt. Er hat Franziskus einen Brief geschrieben, auf gut Glück, aus seinem Schmerz heraus, hat die Geschichte eines homosexuellen Priesters erzählt, der Lateinübersetzer des Papstes wurde. Seine Geschichte. Um endlich abzuschließen. Damit sein Leben endlich wieder stimmt, um die Heuchelei zu beenden. Damit hat er alle Brücken hinter sich abgebrochen.
Dieser Anruf von höchster Stelle konfrontiert ihn allerdings unerbittlich mit seiner Vergangenheit, die er vergessen, einem Kapitel, das er abschließen wollte: Dazu gehören seine Liebe zum Latein und zum Priesteramt; seinen Eintritt ins Seminar; seine Priesterweihe; sein Leben im Gästehaus Santa Marta; seine speziellen Freundschaften mit (unzähligen) Bischöfen und Kardinälen; die endlosen Gespräche über Christus und Homosexualität unter Priestern, manchmal auf Latein.
Verlorene Illusionen? Zweifellos. Er war rasch aufgestiegen: ein junger Priester, der bei den angesehensten Kardinälen und schließlich sogar bei den letzten drei Päpsten Dienst tat. Man hatte Großes mit ihm vor; man versprach ihm eine Karriere im Apostolischen Palast, vielleicht ein Bischofsamt, oder gar die purpurne Kardinalswürde!
Das war vor seiner Entscheidung. Francesco stand vor der Wahl: Vatikan oder Homosexualität – und im Gegensatz zu vielen Priestern und Kardinälen, die ein Doppelleben führen, wollte er mit sich selbst im Reinen sein und hat sich für die Freiheit entschieden. Franziskus hat bei jenem Telefonat nicht direkt das Thema Sexualität angesprochen, aber es ist eindeutig Lepores Ehrlichkeit zu verdanken, dass ihn der Papst persönlich angerufen hat.
»Meine Geschichte schien ihn anzusprechen, und vielleicht auch, dass ich gewisse Praktiken des Vatikans aufdeckte, wie unmenschlich meine Vorgesetzten mich behandelten; es gibt so etwas wie das Recht der ersten Nacht und viele Gönner. Und wie sie mich fallengelassen haben, sobald ich kein Priester mehr war.«
Es ist bezeichnend, dass Franziskus Francesco Lepore explizit für seine »Diskretion« dankt, was sein Schwulsein angeht, für eine Art »Demut«, »im Geheimen«, anstatt eines aufsehenerregenden öffentlichen Coming out (der gewiefte Papst bietet indirekt an, eine neue Arbeit für ihn zu finden).
Einige Zeit später macht Monsignore Krzysztof Charamsa, ein Prälat aus dem Kreis um Kardinal Ratzinger, den Mund auf, und sein äußerst mediatisiertes Coming out hat eine heftige Reaktion des Vatikans zur Folge. Auf einen Anruf des Papstes kann er lange warten!
An diesem Beispiel wird das ungeschriebene Gesetz von Sodom deutlich: Wer zum Vatikan gehören will, sollte besser die »Schrankregel« der Ungeouteten befolgen: homosexuelle Priester und Bischöfe tolerieren, die Situation gegebenenfalls genießen, aber alles im stillen Kämmerlein. Toleranz und Diskretion gehen Hand in Hand. Es erinnert an Al Pacino in Der Pate: »Don’t ever take sides against the family«.
Im Laufe meiner umfangreichen Nachforschungen sollte ich feststellen, dass Schwulsein im Klerus beinahe der Norm entspricht. Ein nicht zu überschreitendes Tabu ist die Mediatisierung oder das öffentliche Engagement. In der katholischen Kirche ist Schwulsein leicht, banal, manchmal sogar erwünscht; doch öffentliche Stellungnahmen und Sichtbarkeit sind verboten. Wer diskret schwul ist, gehört zur »Gemeinde«; wer einen Skandal provoziert, kickt sich selbst ins Abseits und wird ausgeschlossen.
Mit Blick auf diese »Regel« wird einem die volle Tragweite von Franziskus’ Anruf erst bewusst.
Ich bin Lepore ganz zu Anfang meiner Recherchen begegnet. Vor dem Brief und dem Anruf. Dieser von Berufs wegen stille Mann – er ist der diskrete Übersetzer des heiligen Vaters – hat zugestimmt, offen mit mir zu reden. Ich hatte damals nur wenige Kontakte im Vatikan. Francesco Lepore war einer meiner ersten schwulen Priester, einer von über zehn. Ich hätte nie gedacht, dass anschließend so viele Prälaten des heiligen Stuhls die Beichte ablegen würden.
Warum reden sie? Ganz Rom vertraut sich mir an, Priester, Schweizer Gardisten, Bischöfe, die unzähligen Monsignori und, mehr als alle anderen, Kardinäle. Richtige Plaudertaschen! All die Eminenzen und Exzellenzen sind äußerst gesprächig, wenn man sie zu nehmen weiß, geradezu geschwätzig, in jedem Fall aber unvorsichtig. Jeder hat seine Gründe: Manche reden aus Überzeugung, um in dem verbissenen ideologischen Kampf Stellung zu beziehen, der sich mittlerweile im Vatikan zwischen Traditionalisten und Liberalen abspielt; andere aus Machthunger und, nennen wir das Kind beim Namen, Eitelkeit. Manche reden, weil sie selbst schwul sind und alles über die anderen ausplaudern wollen, anstatt von sich zu sprechen. Und schließlich gibt es jene, die sich aus Verbitterung darüber auslassen oder weil sie gern lästern und tratschen. Alte Kardinäle, die von Gerede und Verleumdung leben. Sie erinnern an die Stammgäste verrufener homophiler Clubs der 1950er-Jahre, wie sie sich weltmännisch und mit gehässiger Grausamkeit über alle lustig machten, weil sie selbst nicht zu ihrer Sexualität stehen konnten. Im »Schrank« der Ungeouteten, hinter verschlossenen Türen, erwartet man Grausamkeit am wenigsten.
Francesco Lepore wollte da raus. Er hat mir von Anfang an seinen echten Namen genannt und war einverstanden, dass ich unsere Gespräche aufzeichne und veröffentliche.
Bei unserem ersten Treffen in Rom, das Pasquale Quaranta, ein gemeinsamer Freund und Journalist bei La Repubblica, organisiert hatte, kam Lepore aufgrund der ewigen Streiks ein wenig zu spät zum Restaurant Eataly an der Piazza della Repubblica. Ich hatte das Eataly ausgesucht, weil es ziemlich verschwiegen außerhalb des Vatikans liegt, so dass man sich ungestört unterhalten kann. Oft, beinahe monatlich, haben wir uns zu langen Gesprächen und Spaghetti all’amatriciana getroffen. Und jedes Mal wurde der ehemalige Priester plötzlich ganz lebhaft.
Auf dem alten, etwas vergilbten Foto springt einem der kreideweiße Piuskragen auf der schwarzen Soutane ins Auge: Francesco Lepore, nachdem er gerade zum Priester geweiht worden war. Er hat kurze Haare, ist ordentlich gekämmt und glatt rasiert; genau das Gegenteil von heute, jetzt trägt er einen Vollbart und Glatze. Ist es derselbe Mann? Der verkappte Priester und der bekennende Schwule – zwei Gesichter einer Realität.
»Ich wurde in Benevento geboren, in Kampanien, nördlich von Neapel«, erzählt Lepore. »Meine Eltern waren katholisch, aber praktizierten den Glauben nicht. Sehr früh spürte ich eine tiefe religiöse Anziehungskraft. Ich mochte Kirchen.«
Viele der interviewten schwulen Priester haben von dieser »Anziehungskraft« gesprochen. Eine mysteriöse Suche nach der Gnade. Faszination für die Sakramente, die Pracht des Tabernakels, den doppelten Vorhang, das Altarziborium und die Monstranz. Der Zauber der Beichtstühle, jene phantastischen Kabinen, märchenhaft, weil ihnen ein Versprechen innewohnt. Prozessionen, Andachten, Banner. Auch die bunten Habite, Talar, Soutane, Albe, Stola. Der Wunsch, das Geheimnis der Sakristeien zu durchdringen. Und dann die Musik: die gesungene Vesper, die Männerstimmen und der Klang der Orgel. Und die Betstühle nicht zu vergessen!
Viele haben außerdem in der Kirche so etwas wie eine »zweite Mutter« gefunden, und es ist ja bekannt, dass der irrationale, immer selbstgewählte Kult um die heilige Jungfrau ein Klassiker unter diesen Brüdern ist. Mama! Wie viele schwule Schriftsteller, von Marcel Proust bis Pasolini, über Julien Green, Roland Barthes und sogar Jacques Maritain, haben die innige Liebe der Mutter besungen, Ergüsse, die nicht nur wesentlich sind, sondern häufig den Schlüssel zu ihrer Selbstzensur darstellen (sowohl unter den Schriftstellern als auch unter den Priestern gibt es einige, die ihre Homosexualität erst nach dem Tod der Mutter akzeptiert haben). Mama, die ihrem kleinen Jungen stets treu geblieben ist, ihm jene große Liebe gab und über den erwachsenen Sohn wachte wie über ihren Augapfel; Mama hatte es meist längst begriffen.
Francesco Lepore wollte allerdings in die Fußstapfen von Papa treten.
»Mein Vater war Lateinlehrer, und ich wollte die Sprache lernen, um dieser Welt näherzukommen«, erzählt Lepore. »Wollte perfekt Latein beherrschen. Und seit ich zehn oder elf war, wollte ich Priester werden.«
Und das wird er auch, gegen den Willen seiner Eltern: Schon mit fünfzehn möchte er die geistliche Laufbahn einschlagen.
Der klassische Weg junger Priester: katholische Schulausbildung, danach ein fünfjähriges Hochschulstudium in Philosophie und Theologie, gefolgt von dem, was in Italien noch immer »niedere Weihen« heißt, mit Tätigkeiten als Lektor und Akolyth, noch vor dem Diakonat und der Ordination.
»Am 13. Mai 2000, mit vierundzwanzig Jahren, wurde ich Priester, im gleichen Jahr fanden der Jubilee und die World Gay Pride statt.« Lepores Zusammenfassung ist bestechend prägnant.
Der junge Mann begriff sehr schnell, dass die Verbindung zwischen Priestertum und Homosexualität kein Widerspruch war, nicht einmal ein Zufall, wie er anfangs geglaubt hatte.
»Ich habe immer gewusst, dass ich schwul bin. Gleichzeitig hatte ich so eine Art Hassliebe für diese Art von Neigungen, es zog mich an und stieß mich ab. Ich bewegte mich in einem Milieu, das Homosexualität grundsätzlich als etwas Schlechtes sah; ich las theologische Bücher, die sie als Sünde definierten. Sehr lange habe ich sie als Schuld erlebt. Mein Ausweg bestand im Leugnen meiner sexuellen Neigungen, indem ich sie auf die Religion verlagerte: Ich entschied mich für die Keuschheit und das Seminar. Priester werden war wie Buße tun für einen Fehler, den ich nicht begangen hatte. In den Jahren an der Universität Santa Croce in Rom widmete ich mich intensiv dem Gebet und der Askese, bis hin zur Selbstkasteiung, ich versuchte sogar, Franziskaner zu werden, um meine Religion noch intensiver zu leben, und es gelang mir, fünf Jahre lang keusch zu bleiben, ich habe nicht einmal masturbiert.«
Der Weg von Francesco Lepore zwischen Sünde und Kasteiung, das quälende Bedürfnis, mithilfe härtester Beschränkungen seinen Neigungen zu entkommen, ist für das Italien des 20. Jahrhunderts beinahe normal. Die geistliche Laufbahn war für viele, die sich ihre sexuelle Orientierung nicht eingestanden, die ideale Lösung. Zehntausende italienischer Priester glaubten aufrichtig, dass die religiöse Berufung die »Lösung« ihres »Problems« sei. Das ist die erste Regel von Sodom: Das Priesteramt war lange Zeit das ideale Hintertürchen für junge Schwule. Homosexualität ist einer der Gründe ihrer Berufung.
Bleiben wir einmal bei dieser Formel. Um den Werdegang der meisten Kardinäle, Bischöfe und unzähliger Priester zu verstehen, die uns im Folgenden begegnen werden, muss man von ebenjener fast Darwinistischen Selektion ausgehen, für die es eine soziologische Erklärung gibt. In Italien war dies sogar lange Zeit die Norm. Für die oft femininen jungen Männer, denen ihre Sehnsüchte Sorgen machten, die sich zu ihrem besten Freund hingezogen fühlten und die man wegen ihrer affektierten Sprechweise verspottete, gab es im Italien der 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahre nicht viele Möglichkeiten. Manche begriffen früh, beinahe instinktiv, wie sie aus dem auferlegten Schwulsein eine Stärke, aus der Not eine Tugend machen konnten: Indem sie Priester wurden. So konnten sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückgewinnen, immer im Glauben, dem Ruf Christi und dem ihrer eigenen Sehnsüchte zu folgen.
Hatten sie eine andere Wahl? In einer lombardischen Kleinstadt oder einem piemontesischen Dorf galt Schwulsein damals als das Böse schlechthin. Man kann das »pechschwarze Scheitern« kaum begreifen; man fürchtet jene »Verheißung einer Liebe von verwirrender Vielfalt«, es graut einem vor dem »unsäglichen, geradezu unerträglichen Glück«, um mit Rimbaud zu sprechen.
Sich dem hinzugeben, und sei es noch so diskret, hieße, sich für ein Leben in Lüge oder als Geächteter zu entscheiden; dagegen erschien ein Leben als Priester wie ein Ausweg. Alles ist leichter, wenn ein ungeouteter Schwuler dem Klerus beitritt: Er lebt unter Männern und trägt prächtige Gewänder; man fragt nicht mehr, ob er eine Freundin hat; seine Schulkameraden, die schlechte Witze auf seine Kosten rissen, sind beeindruckt; er, der Verspottete, kommt zu höchsten Ehren; er, der einer »Rasse« angehörte, »auf der ein Fluch lastet«, steigt zum auserwählten Volk auf; und Mama, die wie gesagt längst alles begriffen hat, ohne ein Wort darüber zu verlieren, bestärkt ihn in dieser wunderbaren Berufung. Vor allem aber können das Gebot der Keuschheit und das Zölibat den zukünftigen Priester nicht schrecken, im Gegenteil: Freudig nimmt er diese Beschränkung an! Dass ein junger schwuler Italiener zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren sich für die Ordination und das Gebot des Zölibats unter Männern entschied, war also gang und gäbe, wenn nicht ein Sachzwang.
Ein italienischer Benediktinermönch, der am Päpstlichen Athenaeum Sant’Anselmo arbeitet, erklärt mir den Gedankengang:
»Die Entscheidung für das Priesteramt war für mich zunächst das Ergebnis eines tiefen, gelebten Glaubens. Aber im Nachhinein interpretiere ich es auch als einen Versuch, meine Sexualität zu bändigen. Ich habe immer gewusst, dass ich schwul war, aber erst viel später, mit über vierzig, habe ich diesen wesentlichen Teil meiner Persönlichkeit angenommen.«
Natürlich ist jeder Lebensweg einzigartig. Viele italienische Priester haben mir erzählt, dass sie ihr Schwulsein erst nach der Ordination entdeckt haben, oder erst, als sie anfingen, im Vatikan zu arbeiten. Viele sind den Schritt sogar noch viel später gegangen, mit weit über vierzig.
Zur soziologischen Selektion kommt noch die episkopale, was das Phänomen zusätzlich verstärkt. Homophile Kardinäle fördern Prälaten dieser Neigung, und diese entscheiden sich für schwule Priester. Die Nuntien wiederum, Botschafter des Papstes mit der Aufgabe, geeignete Kandidaten für ein Bischofsamt zu bestimmen, nehmen ebenfalls eine »natürliche« Selektion vor, weshalb der Schwulenanteil rekordverdächtig hoch ist. Laut meiner Quellen werden Priester bevorzugt, bei denen bemerkt wird, dass sie jene Neigung teilen. Profaner ausgedrückt: Nicht selten befördern Nuntien oder Bischöfe einen Priester aus der »Gemeinde«, weil sie sich davon einen bestimmten Gefallen versprechen.
Das ist die zweite Regel von Sodom: Je näher man dem Allerheiligsten kommt, desto mehr Schwule werden es; je höher man in der katholischen Hierarchie nach oben klettert, desto höher der Anteil an Schwulen. Im Kardinalskollegium und im Vatikan ist das bevorzugte Verfahren etabliert: Homosexualität wird zur Norm, Heterosexualität zur Ausnahme.
Eigentlich habe ich dieses Buch im April 2015 begonnen. Eines Abends lud mich mein italienischer Verleger Carlo Feltrinelli in Mailand zum Abendessen ins Rovello, Via Tivoli, ein. Wir kannten uns schon, weil er drei meiner Bücher verlegt hat, und ich wollte mit ihm über Sodom sprechen. Seit über einem Jahr recherchierte ich zur Schwulenfrage in der katholischen Kirche, führte Interviews in Rom und mehreren Ländern, las zahlreiche Texte, aber mein Projekt war noch rein hypothetisch. Ich hatte mein Thema, wusste aber noch nicht, in welcher Form ich es aufbereiten würde.
Vor jenem Abendessen dachte ich, dass Carlo Feltrinelli ein solches Vorhaben ablehnen würde; dann hätte ich es aufgegeben, und Sodom wäre nie erschienen. Doch das Gegenteil war der Fall. Der Verleger von Boris Pasternak, Günther Grass und, seit kurzem, Roberto Saviano, bombardierte mich mit Fragen und ermutigte mich, sprach gleichzeitig aber auch eine Warnung aus:
»Das Buch müsste zeitgleich in Italien, Frankreich und den USA erscheinen, damit es mehr Gewicht bekommt. Haben Sie auch Fotos? Sie müssen mir schon beweisen, dass Sie mehr wissen, als Sie mir erzählen.«
Er schenkte sich Wein nach, dachte weiter laut nach. Und zischte plötzlich:
»Die werden Sie lynchen!«
So bekam ich grünes Licht. Ich stürzte mich ins Abenteuer und verbrachte jeden Monat eine gewisse Zeit in Rom. Aber damals wusste ich noch nicht, wie umfangreich meine Recherchen sein würden. Sodom hatte begonnen. Komme, was wolle.
In der Via Ostiense 178 im Süden Roms befindet sich die volkstümliche Trattoria Al Biondo Tevere. Die Terrasse liegt direkt am Tiber – daher der Name. Banal, entlegen, schwach besucht, und im Januar schrecklich kalt. Warum zum Teufel wollte Francesco Gnerre sich bloß in dieser abgelegenen Kaschemme mit mir treffen?
Der pensionierte Literaturprofessor hat sich in seiner Forschung zu einem nicht unwesentlichen Teil mit der italienischen Schwulenliteratur befasst. Außerdem hat er über vierzig Jahre lang Hunderte von Buchrezensionen in diversen Zeitschriften für Homosexuelle veröffentlicht.
»Tausende Schwule haben ihr Bücherregal nach Francesco Gnerres Artikeln in Babilonia und Pride zusammengestellt, ich auch«, erklärt mir der Journalist Pascale Quarante, der das Treffen organisiert hat.
Gnerre hat diesen Ort ganz bewusst ausgesucht. Der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini war in der Nacht des 1. November 1975 im Al Biondo Tevere, zusammen mit dem jungen Prostituierten Pelosi, der ihn wenige Stunden später an einem Strand von Ostia ermorden sollte. Dieses »letzte Abendmahl«, kurz vor einem der schrecklichsten und berühmtesten Verbrechen in der Geschichte Italiens, ist Gegenstand einer seltsamen Gedenkkultur an den mit Lackfarbe gestrichenen Wänden des Restaurants. Zeitungsausschnitte, Fotos von Drehs, Bilder aus Filmen; das ganze Pasolini-Universum lebt hier fort.
»Der Vatikan ist der größte Schwulenverband Italiens«, bemerkt Gnerre.
Das ist sozusagen das Antipasto zu einem langen Bericht über die Geschichte der verschlungenen Beziehungen italienischer Priester zur Homosexualität. Die erwähnten katholischen Romanciers sind dabei der Bindestrich. Der Literaturkritiker spricht auch von Dante:
»Dante war nicht homophob«, erklärt Gnerre. »In der Göttlichen Komödie gibt es vier Anspielungen auf Homosexualität, in Hölle und Fegefeuer, wenn auch nicht in Paradies. Dante hat Sympathien für seine schwule Figur Brunetto Latini, der außerdem sein Rhetoriklehrer war. Auch wenn er ihn in den dritten Ring vom siebten Kreis der Hölle platziert hat, respektiert er aber das Schwulsein.«