Band 193
Herausgegeben für die Kulturabteilung der Stadt Wien
von Daniel Löcker
Vortrag im Wiener Rathaus
am 6. Mai 2019
Copyright © 2019 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
ISBN 978-3-7117-3013-8
eISBN 978-3-7117-5401-1
Informationen zu den Wiener Vorlesungen unter
www.wienervorlesungen.at
Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at
Helmut Konrad, emeritierter Universitätsprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Graz mit den Arbeitsschwerpunkten Kulturgeschichte und Arbeitergeschichte. Er war Rektor der Universität Graz, Präsident des Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien und Gastprofessor an amerikanischen Universitäten. Letzte Publikation: »Erkundungen zur Zeitgeschichte« (2016).
Gabriella Hauch, Universitätsprofessorin für Geschichte der Neuzeit/Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Wien; 2000–2011 Gründungsprofessorin des Instituts für Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Linz; 2017–2019 Co-Leiterin der Arbeitsgruppe frauenwahlrecht.at: Ausstellung und Buch Blaustrumpf ahoi! (Hg.), »Sie meinen es politisch!« 100 Jahre Frauenwahlrecht, Volkskundemuseum Wien.
Picus Verlag Wien
Der Autor und die Autorin
Die Wiener Vorlesungen
Helmut Konrad Das Rote Wien
Die Neue Stadt
Wien im Fokus der internationalen Forschung
Zur Vorgeschichte
Der Weltkrieg verschiebt die Parameter
Die Trennung von Niederösterreich
Die Eckpfeiler der Neugestaltung
Zur Finanzpolitik
»Jedes Tor eine Pforte der Schönheit«
Vom Säuglingspaket bis zur Urne
Eine »Freie Schule«
Der »Neue Mensch«
Die Zerstörung des Experiments
Woran anknüpfen?
Was aber war das Rote Wien?
Gabriella Hauch »… da war Wien und da war das restliche Österreich«
Anmerkungen zu den Geschlechterverhältnissen im Roten Wien
Die Familialisierung des Proletariats …
… und freie Liebe
Fürsorge …
… und »Menschenseele«
»Neue Frauen« …
Resümee und Ausblick
Vor mehr als dreißig Jahren wurde ein ebenso unverwechselbares wie hochkarätiges Wissenschaftsformat ins Leben gerufen: die Wiener Vorlesungen. Fächerübergreifend setzen sie sich mit den großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen unserer Zeit auseinander und bereichern so den Kulturkalender der Stadt Wien um einen wichtigen Erkenntnisraum.
Als Forschungsstandort und Universitätsstadt hat Wien eine Spitzenposition im mitteleuropäischen Raum inne und sieht es auch in ihrer Verantwortung, Impulsgeberin für aktuelle und zukunftsrelevante Fragestellungen zu sein. Die gesellschaftspolitische Relevanz von Wissenschaft steht dabei außer Frage: Bildung und Wissen sind wesentliche Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben und für eine funktionierende demokratische Zivilgesellschaft. Als ein sich ständig weiterentwickelndes Projekt der Aufklärung waren und sind die Wiener Vorlesungen »geistiger Initialzünder« für einen offenen und öffentlichen Diskurs, der nicht nur innerhalb wissenschaftlicher Zirkel geführt wird, sondern ein breites Publikum als Beitrag für eine offene Gesellschaft erreicht.
Auch nach drei Jahrzehnten geben die Wiener Vorlesungen Anstöße für Kontroversen und behandeln jene Themen, die für die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner besonders relevant sind. Ein an Fakten und Informationen übersättigter Raum, die oft rasche Folge wissenschaftlicher Erkenntnisse und die mitunter damit einhergehenden Problematiken verlangen einen stärkeren öffentlichen Diskurs über die Voraussetzungen und Folgen von Forschung. Hier bietet das lebendige und innovative Veranstaltungsformat der Wiener Vorlesungen ein Navigationssystem und fungiert als »Informationskatalysator« für neue Erkenntnisse aus zeitgenössischen Forschungswerkstätten und Labors. Es kann dazu beitragen, Dimensionen abzuschätzen, Fragen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen. Und vielleicht auch zum richtigen Handeln in unübersichtlichen Zeiten zu kommen.
Die Wiener Vorlesungen werden künftig insbesondere Wissenschaftlerinnen noch stärker einbeziehen. Der weiblichen Stimme der Forschung Gehör zu verschaffen, ist bedauerlicherweise nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Wir arbeiten daran, auch in diesem Bereich Vorurteile abzubauen.
Die Schauplätze der Wiener Vorlesungen sind vielfältig wie das Programm selbst: Sie verwandeln das Rathaus in eine temporäre offene Stadtuniversität ebenso wie sie eine Vielzahl anderer Orte in vielen Bezirken der Stadt zu Stätten der Bildung und des aktiven Austauschs transformieren.
Im Fokus der Wiener Vorlesungen steht mehr denn je die Kommunikation mit einem offenen und neugierigen Publikum. Es werden daher prominente Denkerinnen und Denker im Sinne einer zeitgemäßen Wissenschaftsvermittlung eingeladen, ihre Erkenntnisse und Einsichten mit der Bevölkerung zu teilen und einen offenen Dialog zu führen. Dazu ist kein Studium nötig, das ideale Publikum hat kein Alter, keine Titel, aber eine große Wachheit und eine unbändige Neugier auf das Neue, das Unbekannte und brennende gesellschaftliche Fragen.
So bieten die Wiener Vorlesungen einen faszinierenden Einblick in die Werkstatt der Wissenschaft, der die Vielfalt des Gesellschafts- und Geisteslebens unserer Zeit widerspiegelt und den Blick für die Differenziertheit und Diversität der Gegenwart schärft.
Veronica Kaup-Hasler
Stadträtin für Kultur und Wissenschaft
Am 24. Oktober 1927 überreichte Josef Luitpold Stern dem Wiener Bürgermeister Karl Seitz ein Geschenkpaket. Der Geburtstag des Bürgermeisters, sein achtundfünfzigster, lag zwar schon fünfzig Tage zurück, aber es war ja auch mehr als Geschenk an die Stadt als an Karl Seitz gedacht. Das Paket war schwer, etwa drei Kilo, und groß, 42 mal 32 Zentimeter. Zwei Jahre hatten Josef Luitpold und Otto Rudolf Schatz, der großartige bildende Künstler, daran gearbeitet, und der Verlag der Büchergilde Gutenberg Berlin hatte es »vom Stock gedruckt«. Es ist ein Loblied auf die Neue Stadt, ein prachtvolles Kunstwerk, Text und Bild in wunderbarer Holzschnittarbeit.
Josef Luitpold Stern, der sein dichterisches Werk unter dem Pseudonym Josef Luitpold veröffentlichte, war Leiter der sozialdemokratischen Bildungszentrale und, aus einer assimilierten jüdischen Familie stammend, von Kindesbeinen an im sozialdemokratischen Milieu sozialisiert. Die Büchergilde Gutenberg hatte er mit begründet. Der Text allerdings ist wohl ganz bewusst ein Psalm, ein Gebet:
»… Selig sind, die Häuser bauen für die Völker der Erde. Selig sind, die ihre Kraft einsetzen für die Heimstätten der Menschen … Selig sind, denen das Herz ergrimmt vor den niedrigen Sinnen der Satten. Selig die Massen, wenn sie beginnen, die Erde in ein Heim für jeden zu wandeln … Selig der Mensch der kommenden Tage, er kennt nicht die Steinschlucht der bösen Straßen, er kennt nicht das Schrecknis lichtlosen Atmens … Der Neuen Stadt der Neue Mensch. O süsse Kindheit einer schönern Zeit. Selig, selig das Menschengeschlecht.«1
In diesem Werk verdichtet sich die Selbstinszenierung des »Roten Wien«, wie die Nachwelt dieses Experiment nannte, in ihrer eindringlichsten Form. Das Kunstwerk ist so bedeutend, dass es Platz in den von Wolfgang Maderthaner ausgewählten neunundneunzig Dokumenten fand, mit denen das Österreichische Staatsarchiv 2018 eindrucksvoll die gut tausendzweihundert Jahre österreichische Geschichte nachvollziehbar gemacht hat.2 Drei Monate nachdem der Justizpalast in Flammen gestanden war und die Arbeiterschaft schmerzlich zur Kenntnis nehmen musste, dass ihr Wien auch andere politische Kräfte beherbergte, wird die Stadt zur Insel für die »Neuen Menschen«. Dass es hier Opposition gab, dass die Stadt Sitz der Bundesbehörden, der Niederösterreichischen Landesregierung, des Parlaments und der Bundesregierung war und dass daher die im Psalm besungene Welt selbst in der Metropole nur eine Gegenkultur war, wenn auch eine bedeutsame und die Stadt gründlich überformende, wurde in diesem Kunstwerk ganz bewusst ausgeblendet. Die »Neue Stadt«, geschrieben und künstlerisch umgesetzt 1926 und in den ersten Monaten des Jahres 1927, benennt diese Widersprüche nicht, die zeitnah in ihrer gewaltsamen Eruption am 15. Juli 1927 etwa das dichterische Werk von Elias Canetti so entscheidend geprägt haben. Vielmehr entwirft Josef Luitpold ein Bild, das voller Versprechungen für eine glückliche Zukunft ist, gleichsam ein fast oder vielleicht sogar direkt religiöses Heilsversprechen, das er im »Roten Wien« sieht. Und es ist ein Versprechen für die »Massen«, ja sogar für das gesamte »Menschengeschlecht«.
Die nationale und internationale Forschung hat diese Verwobenheit und wechselseitigen Bedingungen sehr rasch deutlich gemacht. Weder räumlich noch zeitlich sind die Trennlinien, die man so klar zu erkennen glaubt, genau fixiert.