Lucia Lucia
Texte, die auf Liebe enden
Reality in Poetry
FISCHER E-Books
Lucia Lucia wurde im November 2017 mit ihrer Text-Performance von »Mathilda« berühmt. Ein Video-Mitschnitt aus dem Finale der deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften ging mit über 4 Mio. Aufrufen viral und sorgte für großes Presseecho. Seitdem tourt die Hamburger Stadtmeisterin über Bühnen in ganz Deutschland und der Schweiz, bereitet sich auf ihre erste eigene Solo-Tour vor und möchte nur eines: Schreiben & Performen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Mit Illustrationen von Serena Viola
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5192-3
Ich sehe was, was du nicht siehst,
und das ist die Poesie
jeder deiner Bewegungen,
in allem, was du tust,
liegt ein Satz,
triefend und klebrig,
in allem, was du tust,
liegt eine Sehnsucht.
Ich sehne mich danach,
in deinem Trinken
Glas zu sein,
in deinem Reden
Wort zu sein,
in deinem Kalender
nur ein Tag –
triff mich,
sprich mich,
trink mich.
Ich bin Forscherin der Frage, ob du deinen Kaffee auch schwarz trinkst und wenn ja, ob du das tust, weil er dir so schmeckt, oder weil du es mal wieder nicht geschafft hast, rechtzeitig Milch zu kaufen, ich wüsste gerne, ob du auch manchmal losgehst, nur der Milch wegen, und versehentlich mit zwei Tüten Chips und einer Fünf-Minuten-Terrine wieder nach Hause kommst, oder ob das nur ich bin, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegt, ich wüsste gerne, ob du dein Leben auf die Reihe kriegst und wenn ja, was für eines. Wenn wir miteinander schreiben, erhebe ich Daten über dich, analysiere deine Kommasetzung und die Farben deiner Emojis, versuche zu verstehen, was für dich den Unterschied zwischen einem gelben Lächeln und einem rosafarbenen Lächeln, einem pausbäckigen Lächeln, einem pausbäckigen Lächeln mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Lächeln über Kopf macht, versuche anhand deiner Anglizismen zu benennen, ob du desinteressiert oder cool bist oder beides, ob du mich einfach nicht spannend findest oder deine Hände bloß frieren und deine Finger zu klamm sind, um mir zu antworten, wenn laut früheren Erhebungen deine Reaktionszeit für Donnerstage zwischen dreizehn und vierzehn Uhr mal wieder sechs Prozent über dem Durchschnitt liegt. Ich versuche, den Wert deiner Herz-Emojis anhand ihrer Häufigkeit und ihres Anwendungskontextes zu ermitteln, um herauszufinden, ob ich sie persönlich nehmen darf – ich würde sie gerne persönlich nehmen, aber was wäre dann, wenn wir uns in einer Kneipe gegenübersäßen und ich mich zu weit zu dir hinüberlehnte und du plötzlich meinen Pulsschlag hören könntest, wie er dir aufdringlich entgegenklopft, denn den muss man ja wohl hören können, diesen Pulsschlag, so laut wie der ist, was wäre dann, wenn wir beide hören könnten, dass bei dir gar nichts laut klopft, und wenn wir beide merkten, dass du auch gar nicht ständig über Gegenstände stolperst, wenn du mich siehst, weil das nämlich nur ich bin, die andauernd vergisst, wie man läuft; dann wären all die kopfsteinpflaster- und laternenpfahl- und stuhlbeinförmigen blauen Flecken auf meinen Beinen gänzlich umsonst gewesen, all die Pläne und Hoffnungen bloß dumme Träumereien, wenn ich dich nicht richtig lesen lerne, wenn ich nicht den richtigen Moment abpasse, wenn ich nicht Expertin in dir bin.