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Fledermausetot!


Hausmeister Pasows allererster Fall

Berlin-Krimi der Autorengruppe

Spandau Krimi Connection


Herausgegeben von Claudia Johanna Bauer

im Verlag Karim Pieritz, Berlin

Prolog mit fünf Freunden

Berlin, 18. Mai 1982

»Wo willst du hin?« Julia saß plötzlich aufrecht im Bett. »Bestimmt wollt ihr wieder was anstellen, du und Peter und Tobi.«

»Was geht dich das an?«, brummte Steffen. »Warum schläfst du nicht?«

»Du bist doch auch wach.«

»Aber ich bin zwölf und du erst neun.« Er verstaute ein Seil und eine Taschenlampe in seinem Rucksack. »Du brauchst deinen Schlaf.«

»Von wegen, ich komme mit!« Sie sprang aus dem Bett.

»Psst! Mama und Papa sind drüben im Wohnzimmer.«

»Mir doch egal. Wenn du mich nicht mitnimmst …«

»Du nervst«, knurrte er. »Die anderen werden sauer sein, wenn ich mit so ’nem Baby wie dir anrücke.«

»Peter kommt doch bestimmt auch mit Boomer.«

»Boomer ist ein Hund.«

»Ja, und? Er ist jünger als ich.«

Steffen musste grinsen. »Dann komm halt mit«, sagte er. »Es ist aber nicht ganz ungefährlich.«

»Echt? Cool! Ich hab keine Angst.«

»Aber beeil dich! Wir müssen gleich los.«

»Wohin geht’s denn?«, fragte sie, während sie sich die Latzhose über den Schlafanzug zog und die Turnschuhe über die nackten Füße stülpte.

»Sag ich dir draußen.«

Sie lauschten an der Tür. Aus der Küche drang das Knistern einer Plastikverpackung. Mama pfiff die Anfangsmelodie von Dallas.

»Kartoffelchips«, flüsterte Julia. »Es fängt gleich an.«

»Heute geht’s J.R. an den Kragen«, raunte Steffen. »Hat Tobi gesagt.«

»Und woher weiß der das?«

»Von seiner Schwester. Jetzt halt aber mal die Klappe!«

»Bäh, bäh, ich halt die Klappe, wenn ich …« Steffen presste ihr die Hand auf den Mund. Sie hörten, wie das Küchenlicht ausgeknipst wurde. Mamas Pantoffeln schlurften über den Teppichboden, die Wohnzimmertür wurde geöffnet und wieder geschlossen. »Jetzt!«

Sie huschten zur Wohnungstür, und Julia hielt vor Aufregung die Luft an. Aus dem Hausflur schlug ihnen der fettige Geruch von Kartoffelpuffern entgegen.

»Raus mit dir!«, zischte Steffen.

Die Fahrräder standen im Ständer gleich neben der Haustür. Sie öffneten die Zahlenschlösser und sausten los. Julia konnte Steffens Bonanza-Rad mit Fünfgangschaltung auf ihrem einfachen Mädchenfahrrad kaum folgen. »Wo fahren wir denn überhaupt hin?«, rief sie, ganz außer Atem. »Du hast versprochen, mir-«

»Und ich dachte schon, du fragst nie«, lachte Steffen. »Wir wollen Fledermäuse beobachten. Das hatten wir gerade in Bio. Frau Peschke meinte, dass in der Spandauer Zitadelle welche wohnen.«

»Und das muss ausgerechnet nachts sein?«

»Klar. Die sind nachts aktiv, Dummerchen.«

»Selber Dummerchen«, konterte Julia. »Fledermäuse sind nachts unterwegs, um Futter zu suchen. Das heißt, die sind jetzt gar nicht zuhause. Auf deine Bionote bin ich mal gespannt.«

»Tagsüber passt aber der Hausmeister auf«, hielt Steffen dagegen. »Der hat uns schon zweimal verjagt.«

»Aber nachts ist die Zitadelle zu. Hast du die dicken Mauern nicht gesehen? Wie wollt ihr da reinkommen?«

»Tobi bringt sein Schlauchboot mit«, erklärte Steffen. »An der Mauer sind überall Baugerüste wegen der Restaurierung. Das geht schon.«

Sie bogen von der Straße Am Juliusturm auf den Weg, der zur alten Festung führte und nahmen wenige Meter vor der Zugbrücke den kleinen Parkweg. Schon von weitem sahen sie das aufgepumpte, knallrote Schlauchboot, das im Schein der Taschenlampen aufblitzte.

Boomer, Peters kleiner Terrier, lief ihnen schwanzwedelnd entgegen.

»Mensch, haste wieder die kleene Klette mitjebracht?«, rief Tobi. »Wenn ick jewusst hätte, dass dit hier ’n Familientreffen wird, wär’ meine Oma ooch dabei.«

»Du bist gemein«, sagte Julia.

»Lasst uns lieber mal das Boot klarmachen«, lenkte Steffen ab. »Dallas läuft schließlich nicht ewig.«

Peter steckte den zappelnden Hund in seinen Rucksack und kletterte vorsichtig in das Boot. Steffen half Julia beim Einsteigen. Nur Tobi sprang mit einem Satz in ihre Mitte. Julia stieß einen Schrei aus, Boomer bellte, und das Boot kippte fast um.

»Typisch! Du musst immer übertreiben«, schimpfte Peter.

»Haste Angst, nass zu werden?«, grinste Tobi. »Bist wohl aus Zucker?«

Sie paddelten ein Stück den Zitadellengraben entlang. Als sie das Ufer mit der hohen Festungsmauer und dem Baugerüst erreichten, griff Steffen nach einen alten Spaten, der dort herumlag, rammte ihn in die Erde und band das Boot daran fest. Peter schwang sich als erster auf das Baugerüst, die anderen folgten. Es war nicht besonders schwierig, nach oben zu klettern und über die Mauer zu springen, aber Julia war der Ort nicht ganz geheuer. »War das nicht früher mal ein Gefängnis?«

»Stimmt«, nickte Peter. »Hier haben jede Menge Leute eingesessen. Oben im Turm. Die gehen hier jetzt alle als Gespenster um.«

Julia fröstelte. Dabei war es eine warme Mainacht.

»Die Zitadelle ist uralt«, raunte Peter. »Wurde fünfzehnhundertnochwas gebaut. Und der Juliusturm da drüben ist sogar noch älter.«

Julia zog den Kopf ein. Ständig raschelte es irgendwo, wisperte und flüsterte. Während sie im Mondschein über den grasbewachsenen Festungswall liefen, fühlte sie sich von allen Seiten beobachtet.

Ein dunkles, raues Bellen ließ sie zusammenfahren.

»War das Boomer?«, zischte Steffen.

»Nee. Boomer ist bei mir im Rucksack«, flüsterte Peter. »Das war der riesige Schäferhund vom Hausmeister.«

»Meinst du, er hat uns entdeckt?« Das Bellen wurde lauter.

»Hoffentlich nicht. Da drüben ist der Eingang.« Sie rannten los. Boomer jaulte, weil er lieber auf seinen eigenen Pfoten gelaufen wäre.

»Hier ist die Luke.« Steffen deutete auf eine Öffnung im Boden. »Auf der linken Seite sind Steigeisen in der Mauer. Beeilt euch!«

Tobi hockte sich hin und verschwand in dem viereckigen Loch. Peter folgte ihm mit dem Hund auf dem Rücken. »Jetzt du, Julia!«

Die Steigeisen fühlten sich kalt und feucht an. Rost kratzte an Julias Händen. Ihr Fuß rutschte ab, und sie wäre beinahe gestürzt.

»Pass doch auf!«, rief Peter von unten.

Sehen konnte sie nichts mehr, hier drinnen war es stockdunkel. Und es roch muffig. Endlich spürte sie den Boden unter den Sohlen.

Tobi knipste seine Taschenlampe an. Peter ließ Boomer aus dem Rucksack, der stellte sich auf die Hinterbeine und schnupperte an Julias Händen, sie fühlte seine nasse Nase. Die Jungs leuchteten die Umgebung ab. Im unruhigen Lichtkegel der Lampen konnte Julia einen langen, ziemlich niedrigen Gang erkennen, der sich zu beiden Seiten in der Dunkelheit verlor. In die Außenwand waren längliche Öffnungen eingelassen, durch die man einen Streifen Nachthimmel sehen konnte.

»Schießscharten für die Soldaten«, erklärte Peter.

Sie lauschten. Das Bellen hatte aufgehört. Stattdessen senkte sich bleierne Stille auf ihre Köpfe. Es roch hier so modrig, dass Julia fast die Luft wegblieb. In ihrem Bauch machte das Abendbrot merkwürdige Hopser. »Wo sind denn nun eure Fledermäuse?«

»Na, die werden wir jetzt suchen«, verkündete Tobi und stapfte los. »Immer schön die Wände ableuchten.«

»Die Fledermäuse wohnen in den Fugen, aus denen der Mörtel rausgefallen ist«, erklärte Peter. Boomer lief aufgeregt den Gang hinunter, noch sahen sie sein weißes Hinterteil, dann hatte das Dunkel ihn verschluckt. Aber er bellte nicht, also war da vorne alles in Ordnung. Sie setzten ihre Schritte vorsichtiger, während sie ihm folgten. Der Weg war nicht gepflastert. Immer wieder mussten sie Pfützen ausweichen. Zwischendurch blieben sie stehen und leuchteten die Wände ab.

»Da sind Fledermauslöcher«, rief Steffen. »Aber sie sind leer.«

»Hab ich dir doch gesagt, aber du wolltest mir ja nicht glauben.«

»Kleener Schlaumeier, wa?«, stichelte Tobi.

»Schade ist es trotzdem.« Peter stellte sich auf die Zehenspitzen und leuchtete in eines der Löcher. »Ist bloß Fledermauskacke drin.«

Auf einmal hallte aufgeregtes Kläffen von den Wänden wider.

»Boomer!« Peter rannte los.

Die anderen standen da wie erfroren. Sie schauten ihm nach, bis der Strahl seiner Taschenlampe in der Dunkelheit verschwunden war. Das Bellen brach ab. Es war wieder so still wie zuvor.

Tobi hatte sich als Erster von seinem Schreck erholt. »Peter?«, brüllte er.

Sie lauschten. Keine Antwort, bloß ein seltsamer Nachhall war zu hören.

»Los! Hinterher!« Die Jungen rannten mit den Taschenlampen voraus. Der finstere Gang dehnte sich endlos. Plötzlich ein Licht. Da war Peter, er beugte sich vor und leuchtete nach unten. Dicht vor seinen Schuhspitzen ging es steil abwärts. Neben ihm streckte Boomer neugierig den Kopf nach vorne.

»Seht euch das mal an.« Peter deutete mit dem Lampenstrahl in das Loch, Steffen und Tobi richteten ihre Taschenlampen auf die Stelle. Lichtkreise geisterten über verwitterte Mauerreste und ein uraltes Absperrseil. Die Grube war ziemlich tief, der Grund mit Matsch und Wasser bedeckt. Mittendrin steckten zwei Beine in blauen Jeans, Turnschuhe an den Füßen. Da lag ein Mensch.

 

Sekundenlang war es sehr still. Dann schrie Julia los. Tobi ließ vor Schreck seine Taschenlampe fallen, Scherben klirrten, Boomer kläffte wie verrückt. Peter versuchte, ihn zu beruhigen und nahm ihn an die Leine. »Mensch, du blendest mich mit deiner Lampe!«, fuhr Steffen ihn an. Riesige Schatten geisterten über das Mauerwerk.

»Der Typ ist mausetot«, jammerte Julia.

»Cool, ’ne echte Leiche.« Tobi starrte immer noch in die Grube.

»Lasst uns bloß abhauen!«, rief Peter.

»Ja, schnell weg!« Als Julia umdrehen wollte, stolperte sie über etwas Weiches. Ihr greller Schrei hallte von den Wänden. Boomer jaulte, zerrte Peter gegen Steffen. »Autsch, verdammt! Pass doch auf!«

Eine Taschenlampe platschte in die Grube und verlosch. Die andere knallte auf den Boden, brannte aber noch. Steffen spürte die Mauer neben seinen Füßen, taumelte über dem Abgrund. Tobi wollte ihn zurückreißen und trat dabei gegen die Taschenlampe. Der Lichtstrahl überschlug sich in der Luft. Ein Klatschen. Dann Finsternis.

»Du Idiot!«, schimpfte Steffen. »Gib mir deine Hand.«

Plötzlich ein Schrei. »Mensch, du hast mich geschubst!«

»Bist du das, Peter?«

»Mist, ich rutsche! Halt mich fest, Tobi! Ich will da nicht rein!«

Tobis Hand schnellte vor, erwischte tatsächlich einen Arm mit einem Jackenärmel. Der Stoff riss. Tobi fasste mit der anderen Hand nach, zog kräftig. Peter bekam plötzlich einen Stoß, der ihn gegen Julia schleuderte. Steffen kroch zurück auf sicheren Boden, und Tobi stürzte auf ihn, dann Peter, dann Julia.

»Mir tut mein Knie so weh«, jammerte sie. »Ich glaube, ich blute. Steffen, wo bist du? Bist du da?«

»Halt die Klappe, Julchen.«

»Steffen, ich hab Angst!«

»Du hättest das Baby nicht mitbringen sollen«, brummte Tobi.

»Boomer, bist du das?«

»Vielleicht kommen die Mörder ja wieder«, flüsterte Julia.

»Was denn für Mörder?«, fragte Tobi.

»Boomer, hör auf mit der Sauerei! Nicht die Nase ablecken!«

»Vielleicht war’s ein Unfall«, überlegte Steffen laut. »Der Typ ist nachts in das Loch gefallen, weil er’s nicht gesehen hat.«

»Vielleicht auch nicht.« Tobi rappelte sich auf. »Komm schon, Peter, hoch mit dir! Wo ist eigentlich dein Hund?«

»Eben war er noch da.« Peter tastete auf dem Fußboden nach der Leine, doch da war nichts. »Boomer! Bei Fuß!«

Im Gang blieb es still.

»Boomer holt Hilfe«, erklärte Julia. »Der ist klüger als ihr drei zusammen. Echt, wie kann man so blöd sein und alle Taschenlampen in die Matschepampe werfen.« Sie schnaubte empört.

»Pass auf, was du sagst, Zwerg!«

»Hört doch auf! Wir müssen hier weg«, bestimmte Peter. »Aber vorsichtig, fasst euch an den Händen.«

Sie tappten rückwärts, Schritt für Schritt, Meter für Meter. Durch eine der Schießscharten fiel ein Mondstrahl auf Peters schmutziges Gesicht. »Julchen, wie geht’s deinem Knie? Kannst du laufen?«

»Klar«, nickte sie. »Ist bloß ’n Kratzer.« Sie hakte sich bei Steffen unter und humpelte los.

»Tapferes Mädel«, lobte Tobi.

Auf einmal war Boomer wieder bei ihnen. Er strich ihnen um die Beine, als wollte er sich dahinter verstecken und fing sogar an zu winseln.

»Mensch, was haste denn?«, flüsterte Peter, »bist doch sonst nicht so ’n Schisser.« Plötzlich roch es nach Zigarrenqualm. Ein starker Lichtstrahl blendete sie.

»Keinen Schritt weiter, ihr Lausebande!« Die Stimme klang bedrohlich, dazu das Knurren eines großen Hundes. »Ick hab schon die Polizei jerufen. Also keene falsche Bewegung, sonst hetz ick euch meinen Schultheiss uff ’n Hals!«

»Der Hausmeister!« Julia klatschte vor Freude in die Hände. Die Jungen guckten irritiert, aber sie ließ sich nicht beirren. »Wir sind gerettet! Gerettet! Gerettet!«

1

Sie hatten J.R. erschossen.

Fritz Marlin beobachtete seine Frau. Dallas war zu Ende, aber Christine saß immer noch vor dem Bildschirm, völlig schockiert. Als ob die Welt keine anderen Probleme hätte! Marlin hasste die gemeinsamen Fernsehabende, bei denen ihm jedes Mal auffiel, wie wenig sie sich noch zu sagen hatten. Nach zwanzig Jahren Ehe. Aber sowas passierte nun mal. Kaum war der Sohn aus dem Haus, spürten die verlassenen Eltern nur noch Leere, sonst nichts. Sie hatten sowieso viel zu früh geheiratet, aber das Kind war unterwegs gewesen, und alles sollte seine Richtigkeit haben. Die Welt von 1962 war eine prüdere gewesen. Heutzutage nahmen die jungen Männer ihre Vaterpflichten nicht mehr so ernst. Ob Andi sich kümmern würde, wenn er eins von seinen vielen Mädchen geschwängert hätte?

Marlin erhob sich und öffnete das Fenster. Die laue Luft tat ihm gut. Es war still. Nur von »drüben«, aus Rosenthal, hörte er die Straßenbahn. Der kleine Ort lag jenseits der Mauer in Ostberlin. Marlin atmete tief durch, sah hinunter auf die grell beleuchteten Grenzanlagen. Als sie vor zwölf Jahren, wegen der Wohnungsnot, in eines der nagelneuen Hochhäuser des Märkischen Viertels gezogen waren, achter Stock, hatte ihn der Anblick noch erschreckt, mittlerweile gehörte er zum Alltag. Auf der Westseite verlief eine hohe Mauer mit einem aufgesetzten Betonrohr. Dahinter lag das Sperrgebiet, kahles Gelände, auf dem dank Unkrautvernichtungsmitteln kein Grashalm wuchs. Man sah eine schmale Straße für Dienstfahrzeuge und einen Parcours für die scharfen Wachhunde, den nach Osten eine niedrigere Mauer begrenzte. Dort, wo sich die Rosenthaler Einfamilienhäuser bis an die Mauer zogen, stand ein Wachturm. Ein unbefestigter Weg führte zu den Häusern. Marlin beobachtete eine Frau, die mit dem Fahrrad nach Hause fuhr. Er kannte sie vom Sehen, hatte ihr tagsüber schon manches Mal beim Rasenmähen in ihrem Garten zugeschaut. Was sonst noch zu ihrem Alltag gehörte, vermochte er sich nicht vorzustellen. Obwohl er als Westberliner Polizist durchaus in die DDR hätte reisen dürfen, tat er es nicht. Er mochte diese Mauerbauer nicht, die ihre eigenen Leute einsperrten.

Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Gedanken.

Christine fuhr auf. »Das kann doch wohl nicht wahr sein! Können die nicht auch mal ohne dich auskommen?«

Er zuckte die Achseln, nahm den Hörer ab. »Marlin.«

»Kollege«, hörte er den Mitarbeiter vom Dauerdienst sagen, »wir haben eine Leiche in der Spandauer Zitadelle, steckt mit dem Kopf im Schlamm. Fremdverschulden nicht ausgeschlossen. Verdacht auf ein Tötungsdelikt.«

»Bin unterwegs«, sagte Marlin. »Ich informiere Lemke.«

»Ich fass es nicht!« Christine machte schmale Augen.

»Musst du auch nicht«, sagte Marlin.

Seine Funktion als leitender Ermittler war ihm längst zur Routine geworden. Die anderen Mitarbeiter seiner Mordkommission – den Fotografen, die Spurensicherung, den Fahrzeugdienst, den Gerichtsmediziner und die Technik – würde der Dauerdienst verständigen. »Ich geh dann mal.«

Sie starrte ihn immer noch an. »Ständig bist du weg.«

»Ich war den ganzen Abend hier.« Er seufzte. »Geredet haben wir trotzdem nicht.«

»Weil ich dachte, wir könnten jetzt …« Es klang wie ein Vorwurf.

»Ach, Christine.« Mehr fiel ihm nicht ein.

»Das ist doch wichtig, Fritz!« Sie riss die Augen auf, machte ihr Puppengesicht. So hatte sie ihn früher immer rumgekriegt. »Es geht um Andi! Dein Sohn hat sich mit diesen Linksradikalen … diesen … diesen Hausbesetzern angefreundet!«

»Es ist nicht so wichtig, dass es nicht auch bis morgen Zeit hätte. Ich muss jetzt los.«

Sie stemmte die Hände auf die Sessellehnen, drückte sich hoch. »Wann hast du Andi das letzte Mal gesehen? Letzte Woche? Letzten Monat? Sind wir dir inzwischen so gleichgültig geworden?« Ihre Stimme schrillte ihm in den Ohren. Hastig griff er nach seinem Jackett und zog sich vor dem Spiegel die Krawatte zurecht. Seine Hand fuhr prüfend über die graumelierten Bartstoppeln, er brauchte dringend eine Rasur. Aber Christines Gezeter trieb ihn aus der Wohnung. Er steckte den Autoschlüssel ein, trat in den Hausflur. An der Straßenecke stand eine Telefonzelle, von dort würde er Lemke anrufen.

»Geh ruhig schon schlafen«, sagte er noch. »Bei mir wird’s sicher spät.«

 

»Eine Leiche kopfüber im Schlamm«, brummte Lutz Lemke.

»Ja, schöne Bescherung«, nickte Marlin, während er mit überhöhter Geschwindigkeit Richtung Spandau fuhr.

»Und ausgerechnet an dem Abend, wo J.R. erschossen wird.«

»Was? Du guckst das auch?« Marlin warf seinem Partner einen spöttischen Seitenblick zu. »Hätt ich dir gar nicht zugetraut. Dachte, du wärst dienstags immer beim Karatetraining.«

»War ich auch.« Lemke wirkte verlegen. »Vorher.«

»Da habt ihr extra früher Schluss gemacht, was? Wegen J.R.!«

Lemke sagte nichts.

»War nur Spaß«, grinste Marlin. »Ich freu mich schon drauf, nachts mit dir durch die mittelalterlichen Gänge der Zitadelle zu kriechen.« Er warf einen Seitenblick auf Lemkes helle Jeans und das weiße Hemd unter dem Sportjackett. »Das wird bestimmt ’ne ziemlich staubige Tour.«

»Du meinst, ich bin falsch angezogen?«

Marlin zuckte die Schultern. »Na ja, ich ja auch.«

»Vielleicht bietet uns der Hausmeister ja vorher noch ’n Schnäpschen an. Hab gerade mit dem Kollegen vor Ort gesprochen.« Lemke schloss die Augen und zitierte aus dem Gedächtnis: »Der diensthabende Hausmeister, ein gewisser Herr Pasow, machte auf die eintreffenden Polizisten einen stark alkoholisierten Eindruck …«

»Sein gutes Recht, so spät am Abend.«

»... und bot ihnen gleich einen Schluck aus seiner Bierpulle an.« Lemke kicherte. »Ist doch gut, oder? So sollte ein Polizist immer begrüßt werden.« Er zog eine Stuyvesant aus seiner Zigarettenschachtel und klopfte sie gegen sein Feuerzeug.

»Lass doch«, sagte Marlin. »Wir sind ja gleich da.« Sie bogen auf die Brücke der Zitadelle ein, Blaulicht erfüllte die nächtliche Szenerie.

Lemke zündete sich die Zigarette an. »Inspektor Columbo steigt auch immer rauchend aus dem Auto.«

»Dein großes Vorbild, was? Ein bisschen vertrottelt.«

»Von wegen vertrottelt. Der Mann ist genial.« Lemke kniff ein Auge zu und zog die andere Braue hoch. »Genau wie ich.«

Sie hielten neben dem Wagen der Spurensicherung, wo mehrere Mitarbeiter bereits die schweren Gerätschaften ausluden. Marlin zog den Schlüssel ab und stieß die Fahrertür auf. »Na, dann wollen wir mal.«

Sein Blick schweifte über die Truppe. »Meine Herren … und meine Damen.« Er nickte den beiden Polizistinnen im Team freundlich zu, bevor er in gewohnt spöttischem Ton fortfuhr: »Hier wartet eine neue unvergleichliche Aufgabe auf uns und unseren Tatendrang …«

Ein Quietschen unterbrach ihn. Marlin schaute sich um, konnte das Geräusch aber nicht einordnen. Es war schmerzhaft schrill, als würde Kreide über Schiefer oder Metall auf Metall schaben. »Was ist denn das?«

Nun reckten alle die Köpfe und schauten sich um. Das Geräusch brach kurz ab, erklang erneut, wurde immer lauter und lauter.

»Es kommt von da drüben«, rief Inga, während sie ihren weißen Arbeitsanzug über die Hüften zog. Sie deutete auf die gewaltige Zugbrücke. »Aus der Zitadelle.«

Das Quietschen steigerte sich zu einem Kreischen. Alle wandten sich den großen Festungstoren zu. Dort erschien im Dunkel zunächst nur ein schwarzer Umriss mit einem gewaltigen Schatten. Das Ding wurde größer und der Lärm, der von ihm ausging, immer ohrenbetäubender. Eine monströse, schwankende Gestalt wankte den Polizisten im Zickzackkurs entgegen.

Nun sahen sie es. Das nervenzerrende Kreischen stammte von einer ungeschickt geführten Schubkarre, auf der sich ein Lehmhaufen türmte. Die Gestalt verlangsamte ihre Schritte, hielt inne, der ganze Körper sackte zum Luftholen zusammen. Doch dann, mit jähem Ruck und lautem Aufschrei, rannte das Wesen die letzten Meter mit der kreischenden Karre auf die Polizisten zu. Am Ende der Brücke knallte die Karre an die Bürgersteigkante, und es gab einen zweiten gewaltigen Ruck. Wie von einem Katapult geschleudert flog der Lehmhaufen durch die Luft und klatschte auf das Kopfsteinpflaster, den Polizisten direkt vor die Füße. Die sprangen zurück und rissen die Augen auf. Was war das für ein Ding, das da gelandet war? Das konnte doch nicht …

»Scheiße«, sagte Marlin.

»Das kannst du laut sagen«, flüsterte Lemke.

Vor ihnen auf dem Pflaster lag ein junger Mann. Der Kopf schien unnatürlich verdreht, der Mund war wie zum Schrei geöffnet.

»Ick hab mir jedacht, spar ma paar Steuern«, verkündete der sichtlich betrunkene Mann an der Schubkarre und versuchte, Marlin vertrauensvoll in die Augen zu schauen. »Pasow heiß ick, Erwin Pasow, Herr Kommissar. Hab ihm janz alleene rausjezogen, den Kerl. War nich janz einfach. Hab ihm denn abjetastet und seine Brieftasche jefunden. René Vogelsang heißt er, is Student. Sowat hab ick mir gleich jedacht.«

»Ah ja«, sagte Marlin, dem alle anderen Worte gerade fehlten.

»Hab ick jut jemacht, wa?« Der kompakt gebaute junge Hausmeister strich sich mit unverhohlenem Stolz über sein Bäuchlein. »Und? Komm ick jetzt ins Fernsehen?«

2

»Ist dir je ein größerer Vollidiot begegnet als dieser Hausmeister?« Lemke ließ seinen Blick über die wuchtigen Festungswälle schweifen. Über der Havel lag ein Teppich aus milchweißem Frühnebel.

Marlin zuckte die Achseln. »Wir hatten da mal einen Autohändler, der in einem seiner Autos ein totes Mädchen fand. Und was macht der Spinner? Er schafft die Leiche zur Konkurrenz rüber, weil er um seinen guten Ruf fürchtet.« Er bohrte die Hände in die Jackentaschen, die Morgenluft war noch kühl. »Wir hatten auch mal einen Bauherrn, der einen toten Obdachlosen von seiner Baustelle räumen ließ, weil die Arbeit nicht in Verzug geraten sollte. Einer der Bauarbeiter hat ihn angezeigt, weil er es nicht über sich brachte, den Leichnam einfach auf der Schutthalde abzuladen, wie man ihm befohlen hatte.«

Lemke nickte. »Menschen haben oft seltsame Motive.«

Sie gingen über die Zugbrücke, nickten dem wachhabenden Polizisten am Eingangstor zu und betraten den weitläufigen Hof. Marlin ließ seinen Blick über die Baugerüste schweifen, die sich an mehreren Stellen die Festungsmauern hinaufzogen. »Was machen die hier eigentlich?«

»Restaurierungsarbeiten«, sagte Lemke. »Waren dringend nötig. Der Juliusturm stammt aus dem 13. Jahrhundert, und der Rest ist nicht viel jünger.«

Marlin taxierte den runden Steinkoloss. »Ein geschichtsträchtiger Ort.« Er betrachtete die trutzigen Gebäude und die Schutzwälle, auf denen Gras und Büsche wuchsen. Dahinter lag die Schleuse mit Zugang zur Havel. »Wieso ausgerechnet hier?«, murmelte er. »Was zieht einen jungen Menschen an diesen Ort?«

»Vielleicht gehörte er einer schlagenden Studentenverbindung an, und die Sache ist aus dem Ruder gelaufen«, mutmaßte Lemke. »Dazu würde der Ort passen.«

Marlin schüttelte den Kopf: »Die Verletzungen des Opfers sehen aus, als hätte ihm jemand einen Knüppel über den Schädel gezogen. Oder einen anderen schweren Gegenstand, bei dem ganzen Schlamm schwer zu sagen. Da drüben im Werkzeugschuppen eignet sich fast jeder Gegenstand dazu. Das soll die Spurensicherung abklären.«

»Gibt es schon Anhaltspunkte, wann es passiert ist?«, fragte Lemke. »Hat der Gerichtsmediziner was gesagt?«

Marlin zuckte die Achseln. »Wir müssen den Obduktionsbericht abwarten.« Die ersten Sonnenstrahlen wärmten ihn. Allmählich fühlte er sich weniger müde. »Was hat er hier gemacht, unser René Vogelsang? Die ganze Zitadelle ist eine einzige Baustelle. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er, wie die Kinder, nach Fledermäusen gesucht hat.«

»Vielleicht ein Stelldichein? Der Ort ist durchaus romantisch.«

»Möglich«, nickte Marlin. »Warum kommt man sonst hierher?« Er blickte sich um, erkannte die Schultheiss-Brauerei am gegenüberliegenden Ufer.

»Hier in der Nähe hat der SSV sein Vereinsgelände«, sagte Lemke. »Da hab ich als kleiner Junge gekickt.«

»Später nicht mehr?«

»Später kamen andere Interessen.« Er zündete sich eine Stuyvesant an.

»Dass du so früh schon rauchen kannst«, brummte Marlin.

»Kein Problem.« Lemke schlug seinen Jackenkragen hoch. »Die Nazis haben hier Experimente mit Gas gemacht, um die Schutzmasken für die Soldaten zu verbessern, sowas in der Art.«

Marlin runzelte die Stirn. »Wo hast du das denn her?«

»Warst du nie hier im Museum?«

Wieder ein Achselzucken. »Kannst du die Raucherei nicht einfach lassen?«

Ein drahtiger kleiner Mann mit Schutzhelm kam ihnen entgegen, zwei weitere Helme trug er in der Hand. »Wachsmuth. Ich bin hier der Bauleiter. Würden Sie die bitte aufsetzen?«

»Brauchen wir die wirklich da drinnen?«, brummte Marlin.

»Die Vorschriften«, sagten Wachsmuth und Lemke gleichzeitig. Alle drei grinsten.

»Schön, dass Sie Verständnis haben«, sagte Wachsmuth. »Was man von dem Hausmeister hier leider nicht behaupten kann.«

»Pasow?«, feixte Lemke.

Wachsmuth schnaubte. »Rennt mit seinem Köter zwischen meinen Leuten rum – natürlich ohne Helm! – hält sie von der Arbeit ab, weiß alles besser und schwingt Reden, dass ich von meinem Job nichts verstehe!« Er holte tief Luft, um sich wieder zu beruhigen.

»Wir haben den Herrn auch schon kennengelernt«, nickte Marlin.

»Na, dann will ich Ihnen unseren Renaissancebau mal erklären.« Wachsmuth stapfte los. »Es gibt vier Bastionen, das sind die massiven Wachtürme«, begann er und machte eine Lassowurfbewegung in sämtliche Himmelrichtungen. »Sie sind durch Schutzwälle verbunden. Darin befinden sich Verteidigungsgänge auf mehreren Etagen. Früher gab’s hier weit und breit keine Bäume, sondern nur freies Feld. Jeder Angreifer sollte schon von weitem zu sehen sein.«

»Alles gut und schön«, brummte Marlin.

Sie passierten einige Schutthaufen, kletterten über Ansammlungen verwitterter Mauerreste.

»Die ganz alten Mauern sind aus Feldstein«, erklärte Wachsmuth, »aus Backstein die etwas jüngeren. Wir haben diesen Weg gerade erst freigeräumt. Lag ’ne Menge Schutt rum.«

Marlin musterte die Backsteinwand, an der sie entlanggingen. Einige der dunkelroten Steine sahen so marode aus, dass er unwillkürlich seinen Schutzhelm zurechtrückte. »Der Tote wurde in einem Gang an der Wasserseite gefunden?«

»Genau da gehen wir jetzt hin«, nickte Wachsmuth.

Sie passierten den Torbogen und hielten auf eine Eisentür zu. Dahinter war es dämmrig. Wachsmuth deutete auf eine Mauernische. »Hier links hatten sie übrigens früher ihre Toilette.«

Lemke musterte das große, gemauerte Loch. »Freischwebend in Gegenwart aller Kollegen«, grinste er. »Da lobe ich mir den Fortschritt.« Er schnippte seine Zigarettenkippe in die Öffnung.

Marlin sagte nichts.

Wachsmuth knipste eine starke Taschenlampe an. Er schritt so zügig aus, dass sie im Dämmerlicht Mühe hatten, ihm zu folgen. Der Lichtstrahl wanderte über die Wände. Sie waren feucht. In den Ritzen zwischen den Mauersteinen fehlte der Mörtel.

»Da verstecken sich die Fledermäuse«, erklärte Wachsmuth. »Vor allem im Winter, wenn’s draußen kalt ist. Jetzt im Frühjahr kommen sie raus. Die Kinder lernen das in der Schule.« Er ließ ihnen keine Zeit zum Schauen. »Vorsicht! Einige Stellen sind so niedrig, dass wir uns bücken müssen. Die Leute waren früher kleiner als wir.«

Sie hasteten vorwärts. Marlins schwerer Atem hallte von den Wänden. Schon von weitem sahen sie die Notleuchten der Spurensicherung. Das rotweiße Absperrband leuchtete im Dunkeln.

»Hier hat der Tote gelegen.«

Der Lichtstrahl kletterte das Tonnengewölbe hinauf und kreiste um die Öffnung in der Decke. »Das da oben sind keine Luftschächte, sondern Fluchtwege. Sie wurden von oben nach unten benutzt, wenn Angreifer in die Festung eingedrungen waren. Wenn die Soldaten die Stellung oben nicht mehr halten konnten, sind sie hier runtergerutscht, um sich vor dem Feind in Sicherheit zu bringen.«

Lemke legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den schmalen Durchlass. »Die Kerle waren damals wohl auch sehr schmächtig.«

»Wie unser Toter«, bemerkte Marlin.

»Ist denn hier über der Öffnung die freie Natur?«, fragte Lemke irritiert. »Das ist doch Tageslicht da oben, oder?«

Wachsmuth schüttelte den Kopf. »Über dieser Öffnung liegt ein weiterer Wehrgang«, erklärte er, »ebenfalls mit einer Öffnung in der Decke. Erst darüber ist freie Natur.«

»Dann sollten wir uns den Gang da oben genauer ansehen«, schlug Marlin vor. »Hören wir mal, was die Spurensicherung zu sagen hat.«

 

Er atmete auf, als sie den oberen Wehrgang betraten. Hier roch es nicht mehr so nach Grabgewölbe. »Morgen, Richard.«

»Morgen, Fritz«, sagte der Spurensicherer.

»Habt ihr schon was Brauchbares?« Marlin deutete auf den Boden, überall steckten Schilder mit Nummern.

Richard Gietz harkte sich durch die rotgelockten Haare. »Ja, einiges. Folgt mir. Aber immer schön in meine Fußstapfen treten, hört ihr?«

»Oh, ich möchte keine Beweise vernichten«, rief Wachsmuth. »Ich werde nicht mehr gebraucht, oder?«

Marlin schüttelte den Kopf. »Danke für die Führung.«

Lemke blickte ihm nach. »Wenn doch unser Freund Pasow auch so rücksichtsvoll gewesen wäre«, seufzte er.

»Erwähne den Namen nicht in meiner Nähe«, sagte Richard. »Mit seinem Hund hat der Kerl für unzählige Trugspuren gesorgt.«

»Und weißt du, wie der Hund heißt?«, fragte Lemke. »Schultheiss. Wie das Bier.«

»Nicht zu fassen«, brummte Marlin. Sein Blick glitt über die Schilder im Sand. Anhand der absteigenden Zahlenfolge erkannte er, dass sie sich dem mutmaßlichen Tatort näherten.

An einer alten Tür blieb Richard stehen. »Hier haben wir Abdrücke von Fingerbeeren gefunden. Das Schloss ist voll davon.«

Marlin begutachtete das schlichte Vorhängeschloss, das leicht zu knacken war. »Da freuen sich die Daktyloskopen.«

»Korrekt«, sagte Richard. »Jemand hat den Sandboden mit einem Reisigbesen gekehrt und damit alle eventuell vorhandenen Spuren verwischt. So einen Besen haben wir da in der Ecke beim übrigen Werkzeug gefunden.« Er deutete auf den Boden. »Hier sind rote Spritzer, und dort an der Wand auch. Höchstwahrscheinlich Blut. Wir haben Proben fürs Labor genommen.«

»Warten wir’s ab«, sagte Marlin. »Sonst noch was?«

Richard deutete den Wehrgang hinunter. »Da hinten lagen diverse Werkzeuge, die jedes Täterherz schneller schlagen lassen würden. Wachsmuth war stinksauer, als wir das alles beschlagnahmt haben. Aber die Restaurierung muss sowieso erst mal ruhen, bis wir hier fertig sind.«

Sie betraten den oberen Wehrgang, der frei von Schutt war.

Plötzlich blieb Richard stehen. »Oh nein! Guck dir das an!«

»Was denn?«, fragte Marlin, doch er sah es sofort. Auch hier war der Boden sorgfältig gefegt worden, und sämtliche Nummernschilder der Spurensicherung waren verschwunden.

»Pasow«, entfuhr es Lemke.

»Nicht schon wieder«, zischte Marlin.

»Suchen Se wat, Herr Wachtmeester? Det janze Zeug hier vielleicht?« Pasow steckte die Hand in eine seiner vielen Kitteltaschen und zog ein sorgfältig geschichtetes Päckchen Nummernschilder hervor. »Wenn man wat finden will, muss man uffräumen. Hat Ihre Mutter Ihnen det nich beijebracht? Wir sind doch hier nich bei Hänsel und Gretel.« Er streckte die Hand aus. »Hier hamse Ihre Dinger wieder. Ick hab se schön der Reihe nach sortiert.«

Marlin zog scharf die Luft ein. »Dies ist ein Tatort!«, fuhr er den Mann an. »Sie haben hier nichts zu suchen!«

»Wie denn? Wat denn?«, brauste Pasow auf. »Ick bin hier der Hausmeister! Ick trage im Namen der Stadt Berlin die volle Verantwortung für det janze Jebiet. Von wejen, ick hab hier nüscht zu suchen! Wer sind Sie denn überhaupt?« Das Letzte klang vorwurfsvoll.

»Kriminalhauptkommissar Marlin.« Er zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn Pasow unter die Nase. »Wir haben uns heute Nacht schon kennengelernt. Aber daran können Sie sich wahrscheinlich nicht erinnern.«

»Wat soll ’n det heißen?«, fragte Pasow, sichtlich irritiert.

Marlin ignorierte die Frage. »Sie verschwinden jetzt augenblicklich von diesem Tatort, oder ich lasse Sie festnehmen!«

Aber der Kerl blieb stehen. Er rührte keinen Fuß und keinen Finger, sondern schaute bloß mit prüfender Neugier zuerst auf Marlins Ausweis, den er immer noch in der Hand hielt, und dann auf Marlins Gesicht.

»Mann, Mann, Mann! Da hamse inner letzten Zeit aber jut zujelegt, wa? Det sind doch bestimmt zehn Kilo mehr, die Se jetzt uff de Waage hieven. Ick sage ja immer, so ’n Bürojob is nüscht.«

»Hauen Sie ab, Mann!«, schnappte Marlin.

»Oha, da hab ick ’n wunden Punkt jetroffen.«

Marlin schnaubte.

»Kieken Se mir an«, fuhr Pasow fort. »Ick drehe meine Runden, schaffe Ordnung, sorje für Klarheit. Ick bin aktiv und hätte den Fall hier in nullkommanix jelöst.« Er nickte selbstgefällig. »Und Sie? Verfuttern am Schreibtisch unsere Steuerjelder, so isset doch.«

»Sie sollen hier gar nichts lösen«, presste Marlin mühsam hervor.

Doch der Hausmeister war jetzt in Fahrt und offenbar nicht mehr aufzuhalten. Er griff in eine andere Tasche seines geräumigen Kittels. »Det komische Plastikband hier hamse unten vajessen. Hab ich abjemacht, bevor noch eener drüber stolpert, wa? Ja, wenn Se Erwin Pasow nich hätten!« Er schaute Marlin tief in die Augen.

Der hatte größte Schwierigkeiten, sich zu beherrschen.

In diesem Moment bog der Schäferhund des Hausmeisters um die Ecke, schnürte zielstrebig über den Schauplatz und hob sein Bein genau über dem Loch, durch das, so vermutete Marlin, René Vogelsang tot oder lebendig in den unteren Wehrgang gestürzt war. Zuerst hörten sie es plätschern, dann kam ein Schrei von unten.

»Der Schrei aus der Gruft«, sagte Lemke trocken.

Dann brüllte Marlin los.

 

Zwei Polizisten von der Spurensicherung hatten den Hausmeister mitsamt seinem Hund abgeführt, weg vom Tatort, weg von Marlin. Der brauchte ein Weilchen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.

Lemke trat näher an die Einstiegsluke im Boden heran. Da unten hatte die Leiche vor ihrem Abtransport gelegen.

»Schau dir mal den Rand an«, riet Richard Gietz.

Lemke hockte sich hin, doch erkennen konnte er nichts. »Habt ihr Faserspuren gefunden?

»Jepp. Volltreffer.«

»Und das Rote hier am Rand? Auch Blut?«

»Wir haben auch davon Proben genommen«, sagte Richard.

»Wie ist er hierhergekommen?«, überlegte Lemke. »War er bewusstlos, oder ist er selbst gelaufen? Und wenn ja, was wollte er hier? War es ein Täter oder mehrere? Hat ihn jemand getragen? Oder hergeschleift? Oder wurde er mit einer Schubkarre befördert?«

»Hör auf«, knurrte Marlin. »Das ist nicht lustig.«

»Kommt, es gibt noch weitere Spuren«, sagte Richard, und sie folgten ihm nach draußen, durchquerten vorsichtig das unwegsame Gelände. Überall standen Baugerüste und kleine Bauwagen. Richard blieb an einem großen Stein stehen. »Der Brocken hat einen Durchmesser von etwa anderthalb Metern. Dahinter haben wir im Sand Fußeindruckspuren gefunden. Jemand muss sich hier versteckt haben, denn nur die Eindrücke der Schuhspitzen sind sichtbar. Die Person hat also gehockt. Irgendwann stand sie auf und verließ die Stelle, und zwar auf demselben Weg, den sie gekommen war. Vermutlich über den Rasen, da sich keine weiteren Spuren finden ließen.« Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare und lächelte. »Übrigens meine ich mit ›sie‹ nicht ›die Person‹, sondern tatsächlich eine Frau. Wir haben im Sand auch fünfmarkstückgroße Löcher gefunden, vermutlich von Damenschuhen mit hohen Absätzen.«

»Sieh einer an, eine Beobachterin also«, sagte Marlin.

»Oder eine Lauscherin«, meinte Lemke. »In Anbetracht der Größe des Steins, hinter dem sie hockte.«

Richard nickte. »Und dann gibt’s vielleicht noch was, diese gelben Kreuze an den Wänden. Wir haben sie an vielen Stellen gefunden.« Er deutete auf die Mauer hinter sich. »Wurden mit Wachsmalstift angebracht, und zwar ziemlich systematisch. Keine Ahnung, ob die was mit der Tat zu tun haben.«

»Oder mit der Restaurierung der Zitadelle?«, mutmaßte Lemke.

Richard zuckte die Schultern. »Wachsmuth meinte jedenfalls, seine Männer hätten keine Zeit für solche Spielereien.«

3

Die Carl-Schurz-Straße lag in der Spandauer Altstadt.

»Schon elf«, stellte Marlin fest, als die Glocken der Nikolaikirche schlugen. »Der Blumenladen von Frau Vogelsang liegt noch ein Stück weiter vorne. Überbringst du diesmal die traurige Nachricht?«

Lemke nickte, aber er sagte nichts. Trotz einiger Berufserfahrung fiel ihm diese Aufgabe immer noch schwer. Er schaute zu Marlin, der in sich zu ruhen schien. Ob er ihn bitte sollte …?

»Du bist doch nicht erst seit gestern bei der Mordkommission«, sagte Marlin, als könnte er Gedanken lesen. »Du musst dir ein dickeres Fell zulegen, Lutz, sonst gehst du vor die Hunde.« Abrupt blieb er stehen. »Das kann doch nicht wahr sein! Da drüben ist schon wieder eins.« Er steuerte auf das Optikergeschäft an der Ecke zu. An der Mauer neben dem Schaufenster verkündete ein Plakat: Haut die Bullen platt wie Stullen! Marlin riss es ab. »Die werden immer radikaler.«

»Da ist der Blumenladen von Frau Vogelsang.« Lemke deutete auf den kleinen Laden, vor dem palettenweise Balkonpflanzen und Eimer mit gebundenen Blumensträußen aufgebaut waren. An der Eingangstür klebte der Fleurop-Blumenbote. Die Tür wurde geöffnet, und eine Frau erschien in der Tür, ein Bund Tulpen in der Hand.

»Tag, die Herren. Womit kann ich Ihnen dienen?«

Sie bückte sich und stellte eilig die Blumen in einen Eimer. Dann richtete sie sich wieder auf. »Einen Strauß vielleicht?« Sie hatte die braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Unter dem offenen Kittel trug sie Bluejeans und einen engen Pullover, der ihre Oberweite betonte. »Hat vielleicht jemand Geburtstag …?« In ihre Mundwinkel schlich sich ein aufforderndes Lächeln.

»Äh … nein.« Lemke sah in das lächelnde Gesicht – und konnte nicht. Beim besten Willen konnte er dieser freundlichen Frau jetzt nicht ins Gesicht sagen, dass ihr einziger Sohn ermordet worden war.

Marlin warf ihm einen Seitenblick zu.

Lemke räusperte sich. »Sind Sie Frau Vogelsang?«

Ihr Blick fiel auf das Plakat in Marlins Hand, und das Lächeln verrutschte. »Hier werden keine Plakate aufgehängt«, erklärte sie bestimmt. »Wenn es das ist, vertrödeln Sie hier ihre Zeit. Wir wollen Sonne statt Reagan – ich halte ganz und gar nichts von dem Blödsinn.« Es klang scharf.

»Wir sind von der Polizei«, stieß Lemke hervor. »Hier ist mein Dienstausweis.« Er zog ihn aus der Jackentasche und streckte ihn der aufgebrachten Frau entgegen. Aus dem Laden ertönte das schrille Klingeln eines Telefons.

»Wollen wir nicht lieber reingehen«, schlug Marlin vor. »Ich nehme an, Sie sind Verena Vogelsang? Die Mutter von René Vogelsang?«

Sie musterte ihn aus schmalen Augen. »Ist was mit René?«

»Lassen Sie uns bitte reingehen«, wiederholte Marlin und deutete auf die Ladentür, hinter der immer noch das Telefonklingeln zu hören war. »Sie sind doch Frau Vogelsang?«

Sie nickte und hielt ihnen die Tür auf. Das Klingeln brach ab. »Also, um ihre Fragen gleich vorweg zu nehmen: Ich kenne Renés Anschrift nicht. Jedenfalls nicht genau. Es ist irgendein besetztes Haus in Kreuzberg, in das mein Herr Sohn sich einquartiert hat.« Sie marschierte zur Kasse und stützte sich mit den Fäusten auf die Verkaufstheke. »Ich kann Ihnen auch keine Namen nennen. Die Leute, mit denen er seine Zeit verschwendet, kenne ich nicht. Und wo er arbeitet, weiß ich auch nicht. Von mir hat er jedenfalls keinen Pfennig mehr gesehen, seit er sein Studium geschmissen hat.« Sie schnaubte verächtlich. »Aber er ist volljährig. Es interessiert mich nicht, was er jetzt wieder angestellt hat.«

»Frau Vogelsang«, begann Lemke mit sanfter Stimme, »wir müssen Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen …«

Sie hob das Kinn, starrte ihn an.

»Ihr Sohn René wurde tot aufgefunden. Aufgrund der bisherigen Ermittlungen müssen wir wohl von Mord ausgehen.«

»Ach ja?« Die Frau starrte ihn an, in ihrem Gesicht zuckte kein Muskel.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Marlin.

»Mit mir? Ja doch. Mit mir ist alles in Ordnung.«

»Sicher?«, fragte jetzt auch Lemke.

»Ganz sicher.«

»Wir würden Sie gern mit ins Leichenschauhaus nehmen. Zur Identifizierung«, sagte Lemke.

Frau Vogelsang nickte. »Einen Moment bitte.« Sie hängte ihren Kittel ins Hinterzimmer, nahm ihre Handtasche, schloss mit ruhigen Händen ihr Geschäft ab und folgte den Kommissaren.

 

Der Raum war bis unter die Decke gefliest, wirkte kalt und steril. Marlin bemerkte, wie die Frau neben ihm fröstelte. Ihr brauner Pferdeschwanz nahm das leise Zittern auf und verstärkte es. Sie tastete nach Marlins Arm und hakte sich bei ihm ein. Es gab keine Fenster, nur hartes Neonlicht. Marlin spürte, wie ihre Finger sich in seinen Oberarm krallten. Beruhigend tätschelte er ihre Schulter. »Es dauert nicht lange.«

Hinter ihnen glitt die Metalltür geräuschlos ins Schloss. An der Wand standen drei Metalltische, auf denen die typischen länglichen Säcke lagen. In der Mitte des Raums stand eine Bahre aus silberhellem Stahl, darauf lag ein Körper, von einem grünen Tuch bedeckt.

»Ist er das? Ist das René?«, fragte die Frau mit rauer Stimme.

Marlin warf einen flüchtigen Schulterblick zu Lemke. Der nickte ihm zu. Dann bat er den Gerichtsmediziner, das Gesicht freizulegen.

Das grüne Tuch wurde zurückgezogen.

»Ist das Ihr Sohn?«, fragte Marlin.

Frau Vogelsang reagierte nicht, schaute nicht einmal hin. Ihr Blick fixierte die gegenüberliegende Wand. »Was ist das für ein Surren?«

Lemke und Marlin wechselten einen weiteren besorgten Blick. Lemke räusperte sich: »Das ist das Surren der Belüftung. Hier gibt’s keine Fenster, verstehen Sie?«

Frau Vogelsang nickte. Nach einem Moment des Schweigens fragte sie: »Aber warum riecht es so merkwürdig, wenn doch eine Belüftung da ist? Das ist doch seltsam, finden Sie nicht?«

Marlin stieß hörbar die Luft aus. »Ist das Ihr Sohn, Frau Vogelsang?« Diesmal kam es lauter, weniger sanft.

Sie zuckte zusammen, wandte sich dem Kopfende der Bahre zu und betrachtete mit leicht gerunzelter Stirn das graue, leblose Gesicht. Obwohl die Augen geschlossen waren, konnte man deutlich erkennen, wie groß sie gewesen sein mussten. Mit langen, dunklen Wimpern. Die blutleeren Lippen hatten einen weichen Schwung. Es war ein junges, zartes, seltsam unschuldiges Gesicht, fand Marlin, der unwillkürlich an seinen Sohn denken musste. Die linke Hand des jungen Mannes war unter dem Tuch hervorgerutscht und hing über den Rand der Bahre.

Marlin gab sich Mühe, Andi aus seinem Kopf zu verscheuchen. Private Belange hatten hier nichts zu suchen. Er beobachtete Frau Vogelsang. Die Anspannung in ihrer Miene wich einem langsamen Begreifen. Wieder schien sie zu frösteln, das Zittern wurde stärker, die Unterlippe begann zu flattern – und Marlin begriff. Ein Zucken seiner Augenbraue alarmierte Lemke. Ohne weitere Absprache packten beide genau in dem Moment zu, als die Frau in sich zusammensackte, hielten sie fest. Niemand sprach ein Wort.

Dann riss sie mit einem heftigen Atemzug Luft in ihre Lungen und richtete sich langsam wieder auf. Still nahm sie Renés kalte Finger in ihre Hände, umschloss sie, streichelte sie und hob sie an die Stirn. Legte ihre Wange in die Handfläche des Toten. So verharrte sie lange.

Dann wurde die Hand sanft wieder auf die Bahre gebettet und mit dem grünen Tuch bedeckt. Ohne ein Wort drehte die Frau sich um und verließ den Raum.