Charles J. Shields
Der Mann, der den perfekten Roman schrieb
›Stoner‹ und das Leben des John Williams
Biographie
Aus dem amerikanischen Englisch von Jochen Stremmel
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
CHARLES J. SHIELDS, geboren 1951, ist Autor erfolgreicher Biographien, u. a. von Harper Lee und Kurt Vonnegut.
JOCHEN STREMMEL, geboren 1948, arbeitet seit 1990 als freiberuflicher Lektor und Übersetzer aus dem Englischen, u. a. von Elmore Leonard, Charles Willeford, Ross Thomas, Stephen King und Scarlett Thomas.
John Williams gilt heute als Ikone der modernen amerikanischen Literatur. Aber wer war dieser große Autor, der erst lange nach seinem Tod berühmt wurde? Wie viel hatte der Universitätsdozent aus Denver mit ›Stoner‹ gemein? Wieso hat ein feinsinniger Intellektueller wie Williams einen so abgründigen Western wie ›Butcher’s Crossing‹ verfasst? Und welchen persönlichen Schmerz könnte er in ›Augustus‹, seinem Roman über den römischen Kaiser, beschrieben haben?
John Williams wurde 1922 in Clarksville in Texas geboren. Er war Sprecher bei einem Radiosender, Funker im Zweiten Weltkrieg, Gründer eines der ersten Seminare für literarisches Schreiben – und ein zu Lebzeiten erfolgloser Autor, der allerdings immer elegant gekleidet war. Den einzigen großen Literaturpreis, den er erhielt, musste er sich mit einem anderen Autor teilen. Mit der Wiederveröffentlichung von ›Stoner‹ 2006 setzte die Entdeckung eines Autors ein, der heute zu den wichtigsten Schriftstellern Amerikas gezählt wird.
In dieser profund recherchierten und mitreißend erzählten Biographie zeichnet Charles Shields ein meisterhaftes Porträt dieses ungewöhnlichen Mannes.
Deutsche Erstausgabe
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
›The Man Who Wrote the Perfect Novel. John Williams, Stoner, and the Writing Life‹
bei University of Texas Press, Austin.
© Charles Shields 2017
Published by agreement with Overamstel Uitgevers B.V.
by arrangement with Folio Literary Management, LLC and Marianne Schönbach Literary Agency.
© der deutschsprachigen Ausgabe:
2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: FOCUS + ECHO / Dina Fluck unter Verwendung eines Fotos von Denver University Archive
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43626-7 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28191-1
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ISBN (epub) 9783423436267
Für meine Frau
Nichts als die Nacht
Er kommt aus Texas
Lies nicht so viel, sonst wird dein Gehirn müde.
John Williams’ Großvater, 1930er-Jahre
Die Arbeitslosen, die 1939 in Wichita Falls die Zeit totschlugen, schauten zweimal hin, wenn John Ed Williams – der Sohn des Hausmeisters im Postamt – auf dem Weg zu seinem Job im Lovelace Bookstore nach dem College an ihnen vorbeiging.
Seit der Eröffnung des Hardin Junior College vor ein paar Jahren bekam man Studenten wie den Williams-Jungen ziemlich häufig zu Gesicht. Anfang der 1920er-Jahre hatten sich College-Klassen von rund fünfundsiebzig Studenten im zweiten Stock der High School Ecke Avenue H und Coyote Boulevard versammelt. Aber nachdem der Erdöl-Magnat John G. Hardin fast eine Million Dollar in ein völlig neues Hochschulgelände von sechzehn Hektar ehemaligen Weidelands am Südrand der Stadt investiert hatte, war fast zweitausend High-School-Absolventen ein Studienplatz vor Ort ermöglicht worden. Wichita Falls, das bisher nur ein Endbahnhof im nördlichen Texas für den Viehtrieb gewesen war, hatte jetzt ein Zwei-Jahres-College für die Enkel von Pionieren – für die Bürger der Stadt ein Grund, stolz zu sein –, das dazu noch mitten in der schlimmsten wirtschaftlichen Depression gebaut worden war, die das Land erlebt hatte. Die Banken hatten Pleite gemacht, die Großen Ebenen waren aufgerissen und ausgelaugt durch übermäßige landwirtschaftliche Nutzung, und die berghohen Staubstürme, die durch Nordtexas fegten, hatten die Farbe von schmutzigem Rotz.
Aber hier kam ein extravagant gekleideter junger Mann, an dem so gut wie gar nichts nach Texas aussah. Anders als die meisten seiner Altersgenossen, die in der Innenstadt arbeiteten, trug John Ed anstelle eines Straßenanzugs einen Blazer und eine Bundfaltenhose. Statt einer Krawatte hatte er einen Seidenschal um den Hals geschlungen, als wollte er eine Art englischen Landjunker oder Dichter nachahmen. Er benahm sich so, als käme er von einem anderen Stern. Und in seiner Vorstellung zumindest kam er tatsächlich von einem andern Stern.
Die Großeltern mütterlicherseits von John Edward Williams, Elbert und Laura Lee Walker, kamen aus den Südstaaten Virginia und Tennessee. Elbert G. Walker war fünfundzwanzig und Laura Belle Lee erst sechzehn, als sie 1886 heirateten. Innerhalb weniger Jahre brachen sie westwärts auf, angezogen vom Oklahoma Land Run 1889, der rund achttausend Quadratkilometer des besten freien öffentlichen Landes in den Vereinigten Staaten zur Besiedelung freigab. Die beiden Töchter der Walkers, Emma und ihre jüngere Schwester Amelia – John Eds Mutter – kamen 1896 und 1898 im Indianer-Territorium Oklahomas zur Welt, wo manche Weiße und viele Indianer immer noch in Hütten lebten.
Elbert Walkers Metier war der Gartenbau – er baute Gemüse an, um es in der näheren Umgebung zu verkaufen. Aber er schien überzeugt zu sein, dass er woanders immer noch bessere Umstände vorfinden würde. Im Lauf der nächsten zwanzig Jahre zogen die Walkers durch die südlichen Großen Ebenen, packten zusammen und fingen jedes Mal wieder von vorn an. 1910 hatten sie Oklahoma den Rücken gekehrt und sich auf einer Farm in Texas außerhalb von Young niedergelassen, ein wohlhabendes Nest von Baumwollfarmern und Viehzüchtern. Zehn Jahre später wiederum konnte man sie als Kleinbauern in Logan im Tal des Arkansas River finden, wo viele ihrer Nachbarn auch aus Kentucky und Tennessee gekommen waren. Amelia und Emma – inzwischen zwei junge Damen Anfang zwanzig – wohnten zu Hause, obwohl Emma in der Schule unterrichtete. Aber Elbert war immer noch nicht zufrieden mit seinem Los, und er beschloss mit Anfang fünfzig, dass sie es in Clarksville in Texas besser treffen würden, wo seine Mutter bis zu ihrem Tod im Jahr 1908 gelebt hatte. Jedenfalls zogen sie dorthin.
Und vielleicht hatte er richtig gelegen mit dem Umzug, weil Clarksville sich in den 1920er-Jahren wacker schlug. Wenn man sich Texas als Pferd vorstellt, liegt Clarksville auf seinem Rücken, vierundzwanzig Kilometer südwestlich des Red River, der vor einigen Jahren noch die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko gebildet hatte. Seinen dreitausendfünfhundert Einwohnern standen zwei Banken zur Verfügung, zwei Zeitungen, zwei Getreidemühlen und ein Elektrizitätswerk, das Wohnhäuser und Geschäfte mit Licht erfüllte. Der größte Arbeitgeber in der Stadt war eine Fabrik, die Baumwollsamen presste, um das hellgelbe Öl zu gewinnen, und die Luft mit einem Duft erfüllte, der süß und nussartig war. Am Samstag verkauften Farmer Wassermelonen, Vieh und Gemüse von ihren Lastern und Fuhrwerken herab auf dem Marktplatz. In der Mitte des Platzes stand die Statue eines konföderierten Soldaten auf einem sieben Meter hohen Sockel und schaute nach Norden – und dort steht sie immer noch, Gesicht und Uniform von Wind und Regen glatt geschliffen wie eine Salzsäule –, allzeit bereit, eine weitere Invasion der Yankees zurückzuschlagen. Sonntags predigten die Priester von sieben Kirchen, fünf weißen und zwei schwarzen, zu ihren Gemeinden.
In Clarksville lernte die fünfundzwanzigjährige Amelia Walker J.E. Jewell kennen, der ein paar Jahre älter war als sie. Sie heirateten am 21. Januar 1921. Neunzehn Monate später brachte sie einen Sohn zur Welt, der die Vornamen seines Vaters erhielt: John Edward.
Zu dieser Zeit war die Geschichte der Familie Walker von Unbeständigkeit und dauernder Abwechslung geprägt. J.E. Jewell war auch der Sehnsucht seines Schwiegervaters verfallen, den Erfolg auf dem Weg nach anderswo zu suchen. Die beiden Männer hatten ihre Familien gemeinsam zu ihrem nächsten Bestimmungsort Wichita Falls geführt – vierhundert Kilometer nach Norden –, dem Schauplatz der ersten Erinnerungen des kleinen Jungen, aus dem John Ed Williams wurde.
In den frühen 1920er-Jahren war Wichita Falls vom Erdölfieber angesteckt worden. Seit im Jahr 1901 das »schwarze Gold« aus dem Bohrloch Lucas Nr. 1 in der Nähe der Stadt Beaumont an der Golfküste hochgeschossen war, hatte das Erdölfieber Texas ergriffen. Frisches Wasser, das nach faulen Eiern roch, bedeutete, dass irgendwo dort unter der Erde Petroleum – vielleicht ein ganzer See – in einem Salzstock eingeschlossen war. Riesige Bohrkronen, die von einem Derrickkran mit A-förmigem Gerüst zentriert wurden, drehten sich wie eiserne hypodermische Nadeln immer tiefer in die Erde. In Sour Lake Springs, wo das Wasser nach brennendem Schwefel stank, blähte sich eine schwarze klebrige Petroleumfahne dreißig Meter hoch in die Luft. Das unterirdische Erdölreservoir war so gewaltig, dass schon bald überall Derrickkräne aus dem Boden sprossen, sodass man glauben konnte, es mit einem Feld von hölzernen Eiffeltürmen zu tun zu haben, bedient von Tausenden Bohrarbeitern, die sich in zweiundfünfzig Saloons den Staub und Grieß aus der Kehle spülten.
1918 brach »Texas-Tee« am Stadtrand von Wichita Falls aus der Erde hervor. Glücksritter überrannten die Pensionen und waren bereit, absurde Zimmerpreise zu bezahlen. Wenn keine Zimmer verfügbar waren, schliefen die Neuankömmlinge in Hütten, Zelten, in Wagen und Lastern und überschwemmten die Schulen vor Ort mit verwirrten Kindern. Der Wert aller Bankguthaben stieg um vierhundert Prozent. Straßenecken wurden zu Börsen im Freien, wo Käufer und Verkäufer sich um Immobilien, wasserrechtliche Genehmigungen und Bohrrechte stritten. Firmen, die nur auf dem Papier existierten, warben mit Fantasienamen wie Over the Top, Sam’s Clover Leaf, Bit Hit und O Boy! für sich.
Die Walkers und die Jewells folgten dem Strom. J.E. fand eine Wohnung für seine Frau und seinen kleinen Sohn und einen Job als Verkäufer für Tierfutter und landwirtschaftliches Zubehör im Miracle Coal and Feed Store. Die Walkers, deren ältere Tochter in Clarksville geblieben war, um dort in einer Schule zu arbeiten, mieteten eine Farm ein paar Kilometer außerhalb der Stadt an der Walnut Road. Wenigstens hielten sich alle in der Nähe von Reichtümern auf.
Die Arbeit in der Futtermittelhandlung war sicher, aber J.E. wollte ein besseres Leben haben. In der Wichita Falls Times standen Kleinanzeigen, die darauf hinwiesen, dass ein schlauer Mann höher klettern könne. Eine versprach beispielsweise: »Eine Gelegenheit, richtiges Geld zu verdienen. Schnelles Geld außerdem. Falls Sie ein paar hundert Dollar in bar haben, kommen Sie zu Mr. McKinney ins Morgan Bldg.« Die Art der Gelegenheit für »richtiges Geld« bedurfte keiner weiteren Erklärung. Man hätte auf dem Mond leben müssen, um nicht zu wissen, dass es was mit Erdöl zu tun haben musste.
Mit Gelegenheiten für »schnelles Geld« gingen allerdings auch Schwindeleien, Betrug und die üblichen Ausflüchte einher. Das Spiel, das schnellen Reichtum versprach, war nichts für die Leichtgläubigen. Eine der größten Betrugsaffären hatte die Stadtväter von Wichita Falls 1919 zum Gespött des Landes gemacht. Ein Ermittler von Rechtsansprüchen auf Grundbesitz namens J.D. McMahon machte ihnen das Angebot, den ersten Wolkenkratzer in Texas an der Ecke Seventh und La Salle Street zu bauen und so der steigenden Nachfrage nach Büroraum gerecht zu werden. Kapitalanleger vor Ort malten sich ein Geschäftszentrum aus, einen Turm von klingelnden Telefonen und Lochstreifen-Maschinen, der dem renommierten St. James Hotel gegenüberlag. Nachdem sie die Entwürfe eifrig studiert hatten, brachten sie den Gegenwert von 2,7 Millionen Dollar auf, um den Turm zu bauen. Das fertiggestellte Newby-McMahon Building war allerdings, obschon hübsch aufgeteilt, nur zwölf Meter hoch, drei Meter breit und fünfeinhalb Meter tief. Das Treppenhaus nahm ein Viertel des Innenraums ein. Die aufgebrachten Geldgeber verklagten McMahon, wurden aber vom Richter abgeschmettert, als sich herausstellte, dass die Entwürfe eindeutig festhielten, das Wunderwerk von Wichita Falls solle nur vierhundertachtzig Zoll, nicht Fuß hoch werden – also rund zwölf statt einhundertsechsundvierzig Meter.
Einer Geschichte zufolge, die man sich in der Familie erzählte, bewies J.E. eines Tages seinen Unternehmungsgeist an einer der Freiluftbörsen im Zentrum von Wichita Falls, wo geschäftliche Transaktionen aus einem Handschlag, Bündeln Bargeld und Verträgen bestanden, die an Ort und Stelle unterschrieben wurden. Er kaufte außerhalb der Stadt ein Stück Land, das er einem anderen Spekulanten mit Gewinn weiterverkaufen wollte. Er fand einen potenziellen Käufer, zeigte ihm das Grundstück und erhielt den Kaufpreis in bar. Auf dem Nachhauseweg hielt er an einer Tankstelle, um vollzutanken. Es heißt, er habe von seinem Glück erzählt. Falls das stimmt, stempelt es ihn als einen Angeber ab, der zu viel redete, wie der unglückliche Schwede in Stephen Cranes Kurzgeschichte »The Blue Hotel«, der sich buchstäblich zu Tode prahlte. Ein Anhalter näherte sich ihm und fragte ihn, ob er ihn in die Stadt mitnehmen könne; Jewell, der sich vielleicht großmütig vorkam, sagte ihm, er solle einsteigen. Irgendwann während der Fahrt steckte ihm der Fremde eine Pistole in die Rippen, zwang ihn, an den Straßenrand zu fahren, und tötete ihn. Ein Bündel Geldscheine, das an diesem Tag schon einmal den Besitzer gewechselt hatte, landete in der Tasche eines Dritten. Der Mörder setzte seinen Weg in die Wildnis zu Fuß fort.
Das wirkliche Opfer könnte allerdings die Wahrheit gewesen sein. Überprüft man die Zeitungsausgaben sowohl in Clarksville, wo die Jewells heirateten, als auch in Wichita Falls, wo sie lebten, findet sich kein Artikel über die Ermordung eines Mannes namens John Edward Jewell. An keinem der beiden Orte wird ein solcher Vorfall in den Gerichtsprotokollen erwähnt. Außerdem klingt das Szenario des Raubüberfalls nicht sehr plausibel. Warum sollte der Mörder einen Wagen mit vollem Tank und totem Fahrer stehen lassen?
Möglicherweise erscheint der letzte flüchtige Blick auf J.E. Jewell, wie er leibt und lebt und auf die untergehende Sonne zustrebt, unten auf der Titelseite der Ausgabe des Vernon Record vom 12. August 1924, der achtzig Kilometer von Wichita Falls entfernt veröffentlicht wurde. »Wie man aus dem Standesamt des County hört, macht Cupido derzeit Urlaub. Nur zwei Heiratsurkunden sind ausgestellt worden – eine für Miss Rose Lee Owen und ihren Verlobten J.W. Todd; die zweite für eine gewisse Mrs. L.L. Moreland und J.E. Jewell.«
Über John Williams’ Vater ist sehr wenig dokumentiert, und es gibt noch weniger Erinnerungen an ihn. Als Williams viele Jahre später seine eigene Heiratserlaubnis ausfüllte, schrieb er in die Zeile, die nach dem Geburtsort seines Vaters fragte, das Wort »Unbekannt«. »Unbekannt« wird auch Mr. Jewells endgültiger Aufenthaltsort auf dieser Erde bleiben.
Ohne einen Ehemann führte sich Amelia im Telefonverzeichnis von Wichita Falls mit einem »(wid)« hinter ihrem Namen auf, womit sie sich als Witwe zu erkennen gab, um den Ruf einer alleinstehenden Frau mit einem Kind zu schützen. Andererseits konnte die Abkürzung auch als eine Art Appell einer attraktiven Frau verstanden werden, die nur ein Jahr auf der High School gewesen war und allein ein kleines Kind aufzog. Ein zu etwa dieser Zeit aufgenommenes Studiofoto zeigt Mrs. Jewell, dunkelhaarig und ziemlich hübsch, wie sie John Ed behutsam an den Händen hält, ein blondes Kleinkind, das mit leicht überraschtem Blick demonstriert, dass es auf dem Schoß seiner Mutter stehen kann.
Nicht lange danach empfing Amelia Herrenbesuch – von George Clinton Williams.
George Williams war zehn Jahre älter als Amelia und stammte aus der Stadt Tyler im Osten von Texas. Während des Ersten Weltkriegs hatte er in der Nationalgarde gedient und sich unter Hinweis darauf, dass er für Frau und Tochter in Dallas sorgen müsse, von einer Einberufung zum Militärdienst befreien lassen. Seine Verwandten waren im Bankgeschäft, aber er hatte die Erwartungen der Familie enttäuscht und es vorgezogen, freitags für Schichtarbeit bezahlt zu werden. Er hatte als Busfahrer für die Stadt gearbeitet, Ziegelsteine auf dem Bau geschleppt und Feldfrüchte geerntet. Er war untersetzt, hatte einen breiten Rücken und große Hände.
George machte ihr einen Heiratsantrag, den Amelia annahm. Für eine noch nicht ganz dreißigjährige Frau bedeutete Hochzeit einen Ehemann, einen Verdiener und einen Vater für ihren Sohn. Romantik mag auch eine Rolle gespielt haben, aber in Wirklichkeit hatte Amelia keine große Auswahl. Ihre Hochzeit war ein weiterer Neuanfang, wie ihre umherziehenden Eltern ihn so häufig in ihrem Leben erhofft hatten.
Doch George war ein starker Trinker und brachte nichts Richtiges zustande, nicht einmal mit einem Erdölboom in seiner unmittelbaren Umgebung. Mehrere Male verließen er und Amelia klammheimlich mitten in der Nacht das Haus, um keine Miete zahlen zu müssen, bevor der Vermieter am nächsten Morgen mit dem Sheriff vor der Tür erschien. In Wichita Falls blieben sie keine sechs Monate, bevor sie mit ihren Habseligkeiten auf Großvater Walkers Farm erschienen, als er gerade das Frühlingsgemüse setzte. Zu diesem Zeitpunkt hatte schon ein anderer Pechvogel aus der Walker-Verwandtschaft in seinem Haushalt Zuflucht gesucht: eine ältere Tante, die den ganzen Tag in einem Schaukelstuhl in der guten Stube verbrachte und dann und wann verkündete: »Also, ich glaube, ich geh dann mal aufs Klo!« Im Mai 1925 brachte Amelia John Eds Schwester zur Welt, die den Namen eines Jungen erhielt, George Rae, weil ihr Vater lieber einen Sohn bekommen hätte.
Niederlagen schienen Amelia zu verfolgen. Als John vier Jahre alt war, musste er ein furchtbares und anrührendes Bild seiner Mutter mitansehen, das sich ihm tief einprägte. Er hörte ein Geräusch aus dem Schrank in der Diele. Als er die Tür aufmachte, tauchte seine Mutter hinter einem Vorhang schwingender Mäntel und Jacken auf, wo sie sich wie ein Kind versteckte, die Hände vor das Gesicht geschlagen, schluchzend.
Während dieser ersten Jahre der Weltwirtschaftskrise hatte das Schweigen für die Walkers und die Jewells eine geradezu physische Präsenz, weil sie arm und müde waren. Später schrieb Williams über die Familie auf der Farm in Stoner: »Abends saßen die drei beim Licht der Petroleumlampe und starrten in die gelbe Flamme; der einzige Laut, den man in der knappen Stunde zwischen Abendbrot und Bett hören konnte, war meist nur das Räkeln eines müden Körpers auf einem harten Stuhl oder das leise Knarren eines Pfostens, der sacht unter dem Alter des Mauerwerks nachgab.« Glücklicherweise gab es ein Radio, und John Ed durfte ihm am Abend mit den Erwachsenen zusammen zuhören, »zusehen«, erinnerte er sich, als ob Stimmen sich im gelben Licht der Senderskala in Gesichter verwandelten.
Außerdem gab es ein paar Zeitschriften im Haus. Für zehn Cent konnte seine Mutter sich in die Seiten einiger ihrer Lieblingsmagazine flüchten. Sie hatte einen Narren an Ranch Romances, Clues, Love Romances und Sweetheart Stories gefressen. Damit ihr Sohn allerdings nicht zu viel Geschmack an Küssen und verzückten Schwärmereien gewann, machte Amelia ihn mit Flying Stories bekannt, einem monatlich erscheinenden Magazin, dessen Helden die Skywaymen waren – Piloten mit kantigem Kinn unter einem Lederhelm, die den Nordpol überquerten, in Wirbelstürmen niedrig über haushohe Wellen flogen und Fliegerkollegen während des Flugs aus ihren zerfetzten Doppeldeckern retteten. Im Blue Book of Fiction and Adventure standen bessere Geschichten von Autoren wie Sax Rohmer, Agatha Christie und Edgar Rice Burroughs. Aus der Schulbibliothek entlieh er sich jeden Western von Zane Grey, den er in die Finger bekam, darunter auch der berühmte Das Gesetz der Mormonen. Grey, ein Zahnarzt aus dem Mittleren Westen, der unter der Autorität (und den Schlägen) seines Vaters gelitten hatte, fand ein Ventil für seine Leidenschaft, indem er Romane über einen imaginierten amerikanischen Westen schrieb, dessen Wildheit so gut wie unberührt von amtlichen Gesetzen, von Recht und Ordnung war und stattdessen von einem ungeschriebenen Kodex der Loyalität, Großzügigkeit und Integrität geprägt wurde. Greys idealisiertes Grenzland verlieh Männern und Frauen wieder ihre natürliche Anmut, als wären sie ins Paradies zurückgekehrt.
Venters trat aus der Schlucht heraus und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, überrascht von dem Bild, das sich ihm bot. Die Biegung der großen Steinbrücke war vom Sonnenaufgang erfasst worden, und durch die prachtvolle Wölbung brach ein herrlicher goldener Strom, der mit einer langen Schräge hinunter in die Mitte von Surprise Valley schien. Nur durch die Wölbung fiel das Sonnenlicht, sodass das ganze übrige Tal noch im Schlaf lag, dunkelgrün, geheimnisvoll, verschattet, und seine Ebene mit Wänden verschmolz, die so neblig und weich wie Morgenwolken waren.
Eines Tages würde Williams die Mythologie des Alten Westens in Butcher’s Crossing infrage stellen, besonders die Vision Ralph Waldo Emersons, dass ein naturnahes Leben Menschenseelen Tugend einflöße. Aber während seiner Kindheit waren John und seine Mutter von einer umfassenden Liebe zu Geschichten erfasst – je melodramatischer und anschaulicher, desto besser –, weil sie die Macht hatten, ihre Leser von der Eintönigkeit des Landlebens wegzuzaubern.
Vielleicht war das der Grund, warum seine Mutter bis zu seinem neunten Lebensjahr wartete, bevor sie ihm die wichtigste Geschichte seines Lebens erzählte. Ihre Entscheidung, das Geheimnis seiner Geburt preiszugeben, könnte ein Akt der Liebe gewesen sein, weil es Hinweise darauf gibt, dass John in George Williams’ Gegenwart nicht glücklich war, der oft als »schwieriger Mensch« bezeichnet wurde. Die Wahrheit könnte der Versuch einer Mutter gewesen sein, ihren Sohn in seinem Gefühl zu bestärken.
Angesichts ihrer Liebe zu Romanzen präsentierte sie ihrem Sohn die Geschichte vermutlich so, dass er sie zu würdigen wusste. Die Handlung und ihr Rahmen waren für den Westen nicht ungewöhnlich – die Walkers waren einfache Menschen, Farmer, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet hatten.
Sein Vater war vom gleichen Schlag gewesen. Aber ein geheimnisvoller Fremder und eine Tragödie hatten alles geändert. Johns Nachname war nicht Williams – nicht vor dem Gesetz, weil George ihn nicht adoptiert hatte –, sondern Jewell. George war sein Stiefvater, und seine kleine Schwester George Rae, die gerade fünf Jahre alt geworden war, seine Halbschwester. Sein Vater J.E. Jewell war ermordet worden, als John noch ein Säugling war, überfallen und getötet, als er auf dem Heimweg zu seiner Familie war, und der Mann, der ihn umgebracht hatte, war nie erwischt worden.
Williams behauptete später, diese Enthüllung seiner Identität – ein Donnerschlag von den Lippen seiner Mutter – habe ihm nichts ausgemacht, weil er schon vorher den Verdacht hatte, dass irgendetwas zwischen ihm und seinem Stiefvater stand, ein Gefühl der Fremdheit, wie er es nannte, das nicht weggehen wollte. Aber es ist schwer zu glauben, dass ein neunjähriger Junge derart gelassen sein konnte. Den Dingen einen Namen zu geben war die erste Verantwortung, die Adam von Gott unmittelbar nach Erschaffung der Welt zugewiesen wurde. Und die psychologische Arbeit der Herstellung einer Eigenidentität wird immer dann wiederholt, wenn ein Kind das andere fragt: »Wie heißt du?« In Märchen macht die Enthüllung eines Geheimnisses, eine verborgene Identität – das hässliche Entlein, das ein Schwan wird, die verachtete Stieftochter, die den Schuh aus Glas anziehen kann, der Junge, der erfährt, er sei ein »Zauberer. Und ein verdammt guter« – Kindern so viel aus, weil es die Selbstwahrnehmung aufbricht und normalerweise fantastische, unverwirklichte Möglichkeiten offenbart.
In John Williams’ Fall war die Moral von der Geschichte allerdings negativ. Bis zu dem Augenblick, in dem seine Mutter ihm die Wahrheit gestand, hatten ihn die Erwachsenen in seiner Familie absichtlich belogen. Sie waren alle mitschuldig daran gewesen, eine Fiktion über ihn aufrechtzuerhalten. Ob sie dies nun aus Liebe oder aus Scham getan hatten, es lief auf dasselbe hinaus: Sie hatten es die ganze Zeit gewusst, er aber nicht. Die Lektion bestand darin, dass etwas durchaus wahr sein konnte, wenn alle glaubten, dass es wahr sei. Hatten seine Lehrer nicht jeden Morgen zur Anwesenheitskontrolle »John Williams?« gerufen, und hatte er nicht geantwortet »Hier!«? Jedes Kind hätte daraus den Schluss gezogen – besonders eines, das so intelligent war wie er –, dass die Wahrheit wandelbar war. Lügen, faustdicke Lügen, Fiktionen, Flunkereien, erfundene Geschichten können Bedeutung schaffen. Wie stark eine Lüge wirklich war, konnte man dadurch feststellen, wie sehr man jemanden dazu bringen konnte, an sie zu glauben – und die besten waren die überzeugendsten. Für John Williams, den zukünftigen Romanschriftsteller, war die Lektion vielleicht sehr schmerzhaft, dafür aber äußerst tiefgreifend.
Etwa zu dieser Zeit beschloss Großvater Walker, dass John Ed ein bisschen abgehärtet werden müsste. Obwohl der Junge den größten Teil seiner Freizeit auch im Freien verbrachte – das Jagen machte ihm Spaß, und er erledigte seine häuslichen Pflichten vor und nach der Schule –, entwickelte er ein Stottern, als ob er ängstlich wäre. Er verbrachte jede freie Minute lesend im Haus. »Lies nicht so viel«, sagte Walker zu ihm, »sonst wird dein Gehirn müde.«
Am ersten kalten Tag des Winters, als John zehn Jahre alt war, nahm Walker das Kleinkalibergewehr herunter und ging mit seinem Enkel nach draußen zum Schweinestall auf der anderen Seite des Hofs. »Wenn du Schweinefleisch isst, solltest du wissen, wo es herkommt.« Sie unterhielten sich darüber, welches der Tiere den gesündesten Eindruck machte, bevor der alte Mann in den Stall kletterte, zwei Bretter in die Hand nahm und das Tier damit auf das Hinterteil und die Seiten schlug, um es zum Zaun zu steuern. Es zottelte auf John zu und schnupperte mit seinem schmutzigen Rüssel an ihm. Walker band das Schwein am Zaunpfosten fest, damit es nicht ausweichen konnte.
»Erschieß es«, sagte der alte Mann und tippte auf einen Punkt genau zwischen seinen Augen.
John Ed hob den Lauf des Gewehrs, zielte zwischen die Bretter des Zauns und zog den Abzug durch. Der Rückstoß des Gewehrs trieb ihm den Kolben gegen die Schulter, und der Knall ließ die anderen Schweine wegflitzen. Der alte Mann ging in die Knie, zog ein Fleischermesser heraus und schlitzte dem Schwein den Hals auf, woraufhin sich ein Blutschwall über seine Vorderfüße ergoss. Es brach mit dem Hinterteil zuerst zusammen, bevor es sich halbwegs auf eine Seite legte und durch den Schlitz ausblutete. Sie holten den Pick-up, banden das Seil um seine Hinterfüße und zerrten es hinüber zur Scheune.
Sie füllten ein Ölfass mit Wasser von der Pumpe, machten Feuer darunter und warteten, bis das Wasser brühheiß war. Als Walker fand, dass die Temperatur hoch genug war, schlang er das freie Ende des Seils durch einen Flaschenzug an einem Deckenbalken der Scheune über ihnen. Dann zogen sie das Schwein an den Hinterbeinen in die Höhe, schwenkten es an den richtigen Platz und ließen es kopfüber in das kochende Wasser tauchen. Nach ein paar Minuten zogen sie es dampfend und sauber wieder heraus. John Ed half die Borsten von der Haut abzukratzen, bis das Fleisch weiß war. Mit einem kleineren Messer schnitt Walker einen Kreis um das Rektum des Schweins, zog es heraus, ging auf die Vorderseite, zerteilte die Leistengegend und band die Rute ab, damit nicht überall Pisse herumspritzte.
In Butcher’s Crossing ist Williams’ Beschreibung der Häutung eines Kadavers durch einen erfahrenen Büffeljäger von der gleichen Genauigkeit und Sachlichkeit:
Mit einem leisen Reißen teilte sich die Haut. Anschließend löste er mit einem kürzeren Messer den Hodensack ab, durchschnitt die Stränge, die den Sack und den schlaffen Penis mit dem Körper verbanden, trennte die Hoden, die ungefähr so groß wie kleine Holzäpfel waren, aus dem Sack und legte sie beiseite; dann schlitzte er die noch fehlenden Zentimeter bis zum Anus auf. »Die Eier behalte ich«, sagte er. »Sind verdammt gut und machen deinen Dödel hart.«
Walker nahm eine Bügelsäge, hielt den Kopf des Schweins an einem Ohr fest, damit der Rest nicht ins Schwingen geriet, und sägte durch den Hals. Der Kopf löste sich und fiel schwer auf den Scheunenboden. Walker schob ihn mit dem Stiefel zur Seite. Dann steckte er das Schlachtermesser in das Loch des Halses und riss es nach oben durch die Brust, hielt inne, um die Rippen auseinanderzuziehen, und machte einen Schritt zurück, um den Weg freizumachen. Die Därme kamen zum Vorschein, purzelten heraus und landeten feucht vor seinen Füßen.
Das war Schweineschlachten, Routinearbeit auf einer Farm, aber Williams, der es mit dem Auge eines Schriftstellers beobachtete, erkannte eine Prozedur, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hatte. Wie ein Tier durch einen Schuss gefällt wird und vor dem Messer kapituliert; wie ihm die Haut abgelöst wird, als würde man eine Frucht schälen. Doch im Gegensatz zur Grausamkeit und Verschwendung der Büffeljäger würde hier alles vom Ohr des Schweins bis zu seinem Fuß zum Verzehr genutzt werden.
Als John Eds Kindheit Anfang der 1930er-Jahre zu Ende ging und er in die Pubertät kam, begann auch für seine Familie ein neuer Lebensabschnitt. 1932, im dritten Jahr der Weltwirtschaftskrise, schwemmte Franklin Delano Roosevelts Optimismus – sein Wahlkampfsong trug den Titel »Happy Days are Here Again« – ihn bis ins Weiße Haus. Während seiner ersten einhundert Tage im Amt flossen durch die bundesweiten Wirtschafts- und Sozialreformen Milliarden Dollar von Washington aus durch das ganze Land.
Die Williams’ gehörten zu den Nutznießern. In Wichita Falls suchte ein riesiges neues Postamt an der Ecke der Tenth und der Lamar Street, wo früher eine baufällige Methodistenkirche gestanden hatte, nach Hausmeistern. George Williams bewarb sich und erhielt einen Job im öffentlichen Dienst mit einem Gehalt, das dem eines Buchhalters zu Beginn seiner Berufstätigkeit entsprach. Er und Amelia mieteten ein Haus an der Lee Street. 1938 verließen John Eds Großeltern Elbert und Laura Walker ihre ertragsarme Farm und zogen zu ihnen. Mehr als fünfzig Jahre war Laura ihrem Mann von einem Ort zum andern gefolgt: von Tennessee in den 1880er-Jahren über das Indianer-Territorium Oklahomas und Texas nach Arkansas und von dort wieder nach Texas. Aber mit achtundsechzig litt sie an Krebs, und sie starb, kurz nachdem sie die Farm verlassen hatten – nicht in einem Krankenhaus, sondern in einer weiteren vorübergehenden Unterkunft.
Nicht lange nach ihrem Tod kaufte George ein ziemlich großes Haus an der Broad Street für Amelie, die Kinder und ihren Großvater. Es war ihr erster Wohnsitz, der nicht jemand anderem gehörte.
»Ho, ho! War ich damals nicht ein toller Hecht?«
Wir verweilen einen Moment in einem Morast aus Dummheit und Selbstgefälligkeit, und dann machen wir unseren High-School-Abschluss.
John Williams mit siebzehn, 1939
Eine Biografie sollte sich mit der Suche eines Menschen nach seiner Identität befassen. Die Frage »Wer bin ich?« zu beantworten ist die große Aufgabe des Lebens, und alle Anstrengungen eines Menschen sind in irgendeiner Weise Reaktionen auf diese unausgesprochene Frage. Kinder beginnen sie zu hören, sobald sie sich als eigenständige Wesen wahrnehmen, die sich von allen anderen unterscheiden. Nicht allen steht die gleiche Menge an Freiheit zur Verfügung, die man darauf verwenden kann, sein Selbst zu konstruieren. Aber jedes Kind, das weiß, wo es lebt, wer seine Eltern sind, wer es liebt, wer nicht, und so weiter, hat zumindest ein grundsätzliches Gefühl dafür, »wer es ist«.
Als John Williams im Alter von neun Jahren feststellte, dass er jemand anders war – nicht der Sohn seines Vaters, kein Williams und nicht auf die Weise mit seiner kleinen Schwester verwandt, wie er es sich vorgestellt hatte –, stellte das seine Welt auf den Kopf. Die Geschichte dessen, der er war – die er sich die ganze Zeit selbst erzählt hatte –, war in Wirklichkeit eine Geschichte über einen anderen Jungen, der ihm ähnlich war, aber mehr auch nicht. Er steckte in der Haut von John Williams, und die Erwachsenen in seiner Familie – seine Mutter, sein Stiefvater und seine Großeltern – hatten vereinbart, ihn auf diese Weise allen anderen zu präsentieren, ihn selbst eingeschlossen. Man kann sich kaum vorstellen, dass es für einen zukünftigen Autor eine überzeugendere frühe Lektion zu dem Thema gibt, welche Macht Wörter haben können, um Unglauben außer Kraft zu setzen.
In der Zwischenzeit war die Frage »Wer bin ich?« gerade in dem Moment wieder aktuell geworden, als er in die Pubertät kam, eine Phase, in der junge Menschen verschiedene Gesichter an der Welt ausprobieren, um festzustellen, wie sie aufgenommen werden. Weil seine Mutter ihn über seine Herkunft aufgeklärt hatte, war er empfänglicher als die meisten anderen für die Idee, sich für ein völlig neues Erscheinungsbild zu entscheiden, eines, das ihn dafür entschädigen würde, wie man ihn getäuscht hatte, eines, das anderen den Eindruck von Kompetenz und Selbstbeherrschung vermitteln würde. Idealerweise würde es auch mit seiner Liebe für Bücher und Geschichten und mit seiner Begeisterung für den Heroismus von Piloten und Grenzern harmonieren.
An einem Frühlingsnachmittag des Jahres 1936 – er war noch keine vierzehn – sah er einen solchen Typ in Wichita Falls im Kino. Auf der Leinwand, und diese Erfahrung begeisterte ihn.
Eine Tante hatte ihn eingeladen, zusammen mit ihr und einem Freund, den er sich aussuchen durfte, den Film Flucht aus Paris mit Ronald Colman als Sidney Carton anzuschauen. Bevor sie ihre Eintrittskarten kauften, gingen sie zum Mittagessen, und die Jungs bestellten Gläser mit kalter Buttermilch, die sie aber erst trinken wollten, wenn ihre Begleiterin auf die Toilette gegangen war. Sobald die Luft rein war, zog John eine mit Whiskey gefüllte Hustensirup-Flasche hervor – vermutlich aus dem Vorrat seines Stiefvaters – und verteilte ihren Inhalt gleichmäßig auf ihre beiden Gläser. Als seine Tante sich frisch gemacht hatte und an den Tisch zurückkehrte, wischten sich die Jungen gerade ihre Buttermilch-Schnurrbärte ab und grinsten.
Für zwei heranwachsende Jungen war das ein gelungener Streich. Und die mit Whiskey korrigierte Buttermilch verstärkte nicht nur die Erregung, die sie angesichts einer grandiosen Hollywood-Verfilmung von Dickens’ Roman empfanden, sondern sie verschaffte Williams auch seine erste richtige alkoholinduzierte Euphorie in der Öffentlichkeit. Western waren die übliche Matinee-Kost, und die Zuschauer waren entzückt von Cowboy-Idolen auf der Leinwand und ihrer kalten »Gewalt ohne Wut«, wie Williams es später nannte. Aber Ronald Colmans Darstellung riss ihn auf eine Weise mit, wie es kein Revolverheld je geschafft hatte.
In A Tale of Two Cities ist Sidney Carton ein englischer Rechtsanwalt im 18. Jahrhundert, der seine Begabung mit Alkohol und Selbstmitleid verschwendet. Aber dann übernimmt er den Fall des französischen Aristokraten Charles Darnay, der verhaftet worden ist, weil man ihn verdächtigte, für die Franzosen zu spionieren. Im Lauf der Gerichtsverhandlung lernt Carton Darnays Angebetete Lucie Manette kennen und verliebt sich in sie. Er wünscht sich, er wäre ein besserer Mann, jemand, der eine Frau wie sie verdient hätte. Ironischerweise sehen Carton und Darnay sich so ähnlich, dass sie Brüder sein könnten, was als Anspielung darauf verstanden werden darf, was für ein Mensch Carton hätte sein können. Um Lucies willen hält er ein brillantes Plädoyer für Darnay und erreicht einen Freispruch, woraufhin sein Mandant und Lucie heiraten und nach Paris zurückkehren.
Einige Zeit später wird Darnay allerdings wieder verhaftet, diesmal zur Zeit der Schreckensherrschaft, und zum Tode verurteilt. Carton sieht eine Möglichkeit, für sein verpfuschtes Leben Sühne zu leisten und dafür zu sorgen, dass er in Lucies Erinnerung ehrenhaft fortleben wird. Er wird sich aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Darnay an dessen Stelle hinrichten lassen.
Während er am Fuß der Guillotine darauf wartet, aufgerufen zu werden – ein Unschuldiger, der sein Leben für einen anderen opfert –, hat der ehemalige Zyniker Carton seinen Frieden mit sich gemacht. »Was ich jetzt tue, ist viel, viel besser als alles, was ich bisher getan habe; die Rast, zu der ich gehe, ist viel, viel besser als jede, die ich bislang kennengelernt habe.« Während er die Stufen hochsteigt, kommt der Himmel über den Dächern von Paris ins Bild, was seine Erlösung noch unterstreicht.
Williams war hingerissen – er glaubte, ein Gleichnis gesehen zu haben, dessen Botschaft nur für ihn bestimmt war. Während A Tale of Two Cities einerseits eine Geschichte über Unrecht, Unterdrückung und das christusähnliche Opfer eines Mannes für einen andern ist, ist der Film nämlich zugleich ein Märchen über zwei Identitäten, die Geschichte vom Prinz und dem Bettelknaben.
Carton und Darnay sind zwei Hälften, eine dunkle und eine helle. Einer verkörpert vergebene Chancen und Unglück; der andere ist sein Double und repräsentiert Güte, Rechtschaffenheit und Erfolg. Ronald Colman stellte die Figur Carton mit einer Mischung aus Eleganz, Sex-Appeal und Verletzlichkeit dar. Seine sorglose Reaktion auf überwältigendes Leid ist ein fröhliches Kompliment. Er leidet innerlich, aber nach außen wirkt er gelassen, ein bisschen verrückt, der Dichter mit einem Pferdefuß. Aber indem er die schlimmsten Rückschläge mit Würde erträgt, verwandelt er einen Unglücksfall in einen moralischen Triumph.
Hier verbarg sich eine Botschaft, eine Haltung, die Williams – ein ziemlich kleiner Junge, der den Eindruck hatte, sich von den anderen zu unterscheiden – beherzigen konnte. Vielleicht war es möglich, durch reine Willenskraft zu dem Menschen zu werden, der man sein wollte. Diesen Menschen darzustellen, daran festzuhalten, auch wenn andere Leute dich skeptisch ansehen, könnte eine neue Erfindung zur Folge haben: dich, den Helden deines eigenen Lebens.
Eine Woche später stellte Miss Annie Laurie Smith, seine Englischlehrerin im achten Schuljahr an der Reagan Junior High School, ihm und seinen Mitschülern ein Klausurthema, das sie sich aussuchen durften. John Ed stürzte sich auf Colmans Darstellung als Thema seiner Klausur. Miss Smith, die Leiterin des Fachbereichs Englische Literatur, war seine Lieblingslehrerin, und er wollte sie beeindrucken.
Ein paar Tage später hörte er mit einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz zu, während sie seinen Aufsatz der ganzen Klasse vorlas. Abschließend sagte sie, dass seine Analyse von Colman als Sidney Carton als »Arbeit eines College-Studenten« durchgehen könnte. Aber sie lobte seinen Aufsatz nicht nur, sie stellte ihn auch in ihrem besonderen Schaukasten im Flur aus, der herausragenden Arbeiten vorbehalten blieb.
Diesen Augenblick vergaß er nie. »Es war eines der ersten Komplimente, die ich für irgendetwas, das ich getan hatte, bekommen habe.« Im Lauf eines Tages war er von einem gewöhnlichen Mitschüler zu »etwas Besonderem unter uns« befördert worden, wie es einer seiner Klassenkameraden formulierte.
Durch seinen Umzug in die Stadt, nachdem sein Stiefvater eine Stelle bei der Post bekommen hatte, geriet John Ed in den Einzugsbereich der Senior High School von Wichita Falls. Als er dort 1936 sein erstes Schuljahr begann, klang ihm das Lob von Miss Smith noch in den Ohren.
Von diesem Zeitpunkt an betrachtete er sich als Autor mit »ernsthaften Absichten und Vorsätzen«. Er arbeitete an der Schulzeitung mit und steuerte Gedichte für das literarische Magazin bei, weil Schreiben »etwas war, was ich konnte und worin ich mir etwas zutraute«. Aus Schul- und Stadtbibliothek lieh er sich unzählige Titel von Willa Cather, John Steinbeck, William Faulkner und Thomas Wolfe, den er zu seinem derzeitigen Lieblingsschriftsteller erkor. Die Lektüre von Schau heimwärts, Engel! machte ihn mit dem Weg des jungen Schriftstellers Eugene Gant bekannt, der sich aus Lebensverhältnissen emporschwingt, die in vieler Hinsicht denen von Williams ähnelten. Als ihm klar wurde, dass ihn seine Erziehung nicht von der Karriere eines Schriftstellers ausschloss, die er sich als ein Leben voller Romantik vorstellte, war das für ihn eine fast »religiöse Erfahrung«.
Die Schulbibliothek wurde von ihm tatsächlich auf eine derart extreme Weise heimgesucht, dass die Wichita Times Record einen Artikel über den Schüler und »Dichter-Kritiker« veröffentlichte, der »vier bis fünf Romane, Gedichtanthologien oder Biografien pro Woche« zu lesen pflegte. Der Reporter bat Williams, sich neben Stapeln von Büchern auf einem Tisch hinzustellen, um seine Größe mit seinem Lesehunger vergleichen zu können. »Sie, verehrte Leser, sind Opfer einer optischen Täuschung. Die Bücher sind John Ed Williams nicht zu hoch. Er hat sie alle gelesen, und außerdem noch eine ganze Menge mehr.« Die Bibliothekarin der High School sprach voller Stolz von Williams, als wäre er ihr Schützling, und sie bestätigte, dass er »der begeistertste und beständigste Leser der gesamten Schülerschaft« sei. »Kein anderer Schüler kommt auch nur in seine Nähe, was die Zahl der gelesenen Bücher betrifft.«
Der Witz, der in dem Zeitungsfoto über seine Körpergröße gemacht wurde, ging auf seine Kosten. Er wartete vergeblich auf den Wachstumsschub, den Teenager normalerweise bekommen. Er würde kein »hochgewachsener schlanker Junge« wie Thomas Wolfes Eugene Gant werden. Er würde schließlich eine Größe von einem Meter fünfundsechzig erreichen und einen jungenhaften Körperbau behalten, der sich gegen alle Wirkungen zur Wehr setzte, die ein ausgiebiges Training hätte haben können. Weil er sich bewusst war, dass mit Körpergröße eine Art eingebauter Hochachtung verbunden ist, die kleineren Männern nicht zuteilwird, arbeitete er stattdessen daran, seine Ausstrahlung und seine Männlichkeit zu steigern.
Er legte Wert auf seine äußere Erscheinung und achtete auf den Gesamteindruck seiner Kleidung, eine Gewohnheit, die er sein Leben lang beibehielt. Sein Leinwandheld Ronald Colman erschien weiterhin in Verfilmungen literarischer Vorlagen, etwa James Hiltons Roman Der verlorene Horizont und Anthony Hopes Der Gefangene von Zenda. Wie großartig wäre es, wenn er Colmans Eleganz und die Bandbreite seiner Gefühle aufweisen könnte, wie sie in jenen Filmen dargestellt wurden! In die Brusttasche seines Anzugsjacketts steckte er ein gefaltetes Taschentuch. Seine Haare ließ er so lang wachsen wie Eugene Gant, und er kämmte es sorgfältig jeden Morgen vor dem Spiegel. Um sein Stottern zu überwinden, belegte er Schauspielkurse, machte Sprechübungen und lernte, wie man eine Baritonstimme aus der Brust ertönen lässt. Er stellte fest, dass er ein guter Schauspieler war, und schrieb einen »imaginären Sketch mit den Grübeleien eines aufgewühlten Abraham Lincoln an einem Nachmittag im Weißen Haus«, den er vor einer Schulversammlung darbot. Es ist ein Zeichen für seine Willenskraft, dass er ein eigenes Stück schrieb und allein vor der gesamten Schülerschaft zur Aufführung brachte, mit einem falschen Bart im Gesicht und mindestens einen Fuß kleiner als die Figur, die er darstellte, und die ganze Zeit in der festen Überzeugung, dass er seiner Begabung wegen jedes Recht hatte, sich ihrer Aufmerksamkeit zu stellen.
Im Coyote, dem Jahrbuch der High School, schrieb er, um die Angabe der beiden Dinge gebeten, die er am meisten mochte, als Erstes »Mich«, und, wie es sich für einen geheimnisvollen jungen Mann ziemte, die Farbe »Schwarz«. (Als er eines Nachmittags zu Hause sein Kleinkalibergewehr reinigte, schoss er sich in die Schulter und wurde mit einem Sanitätswagen zum Krankenhaus gefahren. Nach diesem Zwischenfall schlenderte er, schwungvoll eine Zigarette rauchend, den anderen Arm in einer Schlinge, durch die Innenstadt. Wer konnte da noch zweifeln, dass er verrückt, gefährlich und ein schlimmer Junge war?)
Natürlich hob auch die Sexualität ihr geschwollenes Haupt. Im Lovelace Bookstore an der Ninth Street, wo er nach der Schule arbeitete, lieh ihm ein älterer Junge, T.G. Willis, der Geschäftsführer der Briefmarken-Abteilung, eine zensierte Ausgabe von D.H. Lawrence’ Skandalroman Lady Chatterley und ihr Liebhaber, für die amerikanischen Leser von »fuck«, »orgasm« und »penis« befreit. Aber es war trotzdem aufschlussreich: »Und er nahm ihr die Blätter aus dem Haar, wobei er ihr feuchtes Haar küsste, und die Blumen von ihren Brüsten, und küsste ihre Brüste, küsste ihren Nabel und küsste ihr Schamhaar, wo er die gewundenen Blumen unangetastet ließ.«
Wer es obszöner haben wollte, konnte im Drugstore Magazine wie Spicy Adventure, Spicy Mystery oder Spicy Detective erwerben, von denen er sich manchmal auf seinem Heimweg Hefte kaufte. Im Spicy Detective gab es einen Comic-Strip, in dem »Sally Sleuth« die Hauptrolle spielte, eine unkonventionelle Gesetzeshüterin. In dem Comic ging es darum, dass ihr im Verlauf der ersten Bilder der Geschichte die Kleider ausgezogen wurden. In einer Episode fesselten Gauner sie mit den Handgelenken an die Rückenlehne eines Stuhls; sie hatte nur noch einen Schlüpfer an und wurde von den Männern ausgepeitscht.
In seinem letzten Schuljahr hatte er unter seinen Klassenkameraden den Ruf eines Schöngeists erworben. Er war Redakteur der Schulzeitung, und im Jahr zuvor hatte er den ersten Platz in einem Dichterwettstreit des Staates gewonnen. Bis zum Abschluss brauchte er nur drei statt vier Jahre. »Seid gegrüßt und lebt wohl!«, schrieb er in einem Essay für das Jahrbuch von 1939. »Wir verweilen einen Moment in einem Morast aus Dummheit und Selbstgefälligkeit, und dann machen wir unseren High-School-Abschluss.«
»Ho, ho!«, lachte er, als ihm der Satz viele Jahre später vorgelesen wurde. »War ich damals nicht ein toller Hecht?«
Im August meldete er sich am Hardin Junior College an. Er war inzwischen ein junger Mann, und als College-Student hatte er sich dafür entschieden, seiner Kleidung eine künstlerische Note zu geben: Er trug ein geknotetes Halstuch über seinem offenen Oberhemd und gab so den abgewirtschafteten Farmern und den arbeitslosen Geschäftsleuten an den Straßenecken von Wichita Falls Grund zu der Annahme, dass es mit der jüngeren Generation kein gutes Ende nehmen würde.
hatte ich in der High School gelesen