Für Susie, Sammy und Spencer
Niemand will das Auge der Katze essen.
Ich bin kein sonderlich abergläubischer Mensch, aber das verstehe ich. Wenn auf Tour mysteriöserweise einfach so ein Red Velvet Cake mit einem Katzengesicht in der Glasur im Backstage auftaucht, der Kuchen am darauffolgenden Abend unerklärlicherweise wieder da ist und fünf Tage und zwei Städte später immer noch, mit zwei herausgeschnittenen Stücken, aber weitestgehend unversehrtem Katzengesicht und vor allem vollständigen Augen – also da finde ich es nicht unverhältnismäßig, wenn man ein wenig vorsichtig wird. Was, wenn es ein dämonischer Katzenkuchen ist? Ist es wahrscheinlich nicht, aber niemand in der Band weiß, woher dieser Kuchen kam, oder kann sich erklären, wie er uns so weit folgen konnte, weswegen ich die Möglichkeit nicht völlig auszuschließen vermag, dass es sich hierbei um eine Art übersinnliche Süßspeise handelt.
Ich befinde mich in der Garderobe des Kings Theatre in Brooklyn, sitze auf einem Sofa, klimpere gedankenverloren auf meiner Gitarre herum und versuche, den Blickkontakt mit dem Katzenkuchen zu vermeiden. Nels Cline, der Gitarrist meiner Band Wilco, hat sich wagemutig bereit erklärt, als Erster einen Bissen zu probieren.
»Schmeckt überhaupt nicht nach dem Album«, verkündet er.
Das finde ich beruhigend.
Seit der Veröffentlichung des Albums ist uns zu Ohren gekommen, dass in den Häusern der Eltern oder Großeltern einiger unserer Anhänger Reproduktionen von exakt diesem Gemälde hängen. So konnten wir also einigen glücklichen Fans einen zwar unbeabsichtigten, aber dennoch befriedigenden Freak-Out als Bonus liefern. Wir haben versucht, den Künstler ausfindig zu machen (und mit »wir« meine ich Mark, meinen guten Freund und Studio-Manager, von dem auch die Idee zu dem Cover stammt). Das Bild wurde von jemandem namens Tamara Barett signiert, aber niemand mit diesem Namen will sich zu diesem Katzenporträt bekennen. Wir haben ein halbes Dutzend Tamara Baretts kontaktiert in der Hoffnung, dass eine von ihnen die Urheberschaft für sich beanspruchen würde, aber alle gaben sich ahnungslos. Wir haben sogar E-Mails ausgetauscht mit Tamara Burnett, einer Haustier-Porträtistin, deren Stil beinahe identisch ist mit dem von Tamara Barett. Aber Burnett ließ uns wissen, dass wir die falsche Tamara hatten, gestand jedoch: »Es sieht aus wie etwas, das ich gemalt haben könnte.«
Als wir das Bild auf unser Albumcover packten, hofften wir, ihre Aufmerksamkeit zu erregen – die der echten Tamara –, zumindest so weit, um sich einen Anwalt zu nehmen und uns mit einer Klage wegen unerlaubten Benutzens ihrer Kunst zu drohen. Dann hätten wir sie bezahlen können. Hat aber nicht funktioniert. Wir hörten nichts, keinen Piep. (Wir haben nicht mal was von George Lucas gehört, dabei war ich sicher, dass wir zumindest eine Unterlassungsaufforderung bekommen würden, weil wir das Album Star Wars genannt hatten. Wir hatten sogar ein Ersatz-Artwork in der Hinterhand, um das Album in Cease and Desist – Unterlassung – umbenennen zu können, für den Fall, dass er uns juristisch nachstellen würde. Aber nix. Alles umsonst.)
An diesem Punkt fragst du dich wahrscheinlich: »Geht das jetzt das ganze Buch über so weiter? Wird er fast 300 Seiten lang kitschige Katzenkunst übererklären?« Vielleicht. Es ist noch ein bisschen zu früh, um das sagen zu können. Sorry, wenn das hier nicht das sein sollte, was du erwartet hast. (Und sollte es das sein, tja, also … Hut ab, ich bin beeindruckt.)
Vielleicht denkst du außerdem: »Apropos Katzen, ich wette, es gibt eine überaus durchdachte und interessante Erklärung dafür, dass Wilco eine Perser- oder möglicherweise auch Langhaar-Katze auf ein Albumcover packen.« Zuerst einmal: Vielen Dank für diese Vermutung. Lass mich deine Frage beantworten, indem ich sie nicht wirklich beantworte. Das Katzenbild hängt, wie bereits erwähnt, im Loft, wo wir proben und zuweilen auch aufnehmen, wir sehen es also jeden oder beinahe jeden Tag.
Das Loft ist jedoch ein weitläufiger Raum, in dem sich eine Menge Kunst befindet. Das Katzenbild hängt in der Küche, also sehen wir es nur während des Mittagessens und in den Snack-Pausen zwischen den Jamsessions. (Ja, genauso reden professionelle Musiker. »Jemand Bock auf ’ne Jamsession?« »Klar, warum nicht, lass uns bisschen jammen.« »Also dann, es sei Jam!«) Im Aufnahmebereich, auf dem Mischpult, stehen zwei gerahmte, signierte Schwarz-Weiß-Fotos von Bob Newhart und Don Rickles. Es sind die zentralen Objekte des Raums. Beide sind mit Für Wilco signiert, aber nur Dons Signatur ist noch sichtbar. Newharts Signatur ist nicht mehr da. Und damit meine ich nicht etwa ›verblasst‹. Sie ist weg. Verschwunden. Seine Handschrift wurde ausgelöscht von der Kraft traurigen Mid-Tempo-Rocks. Ich weiß, dass dies keine befriedigende Erklärung ist, aber mehr habe ich nicht.
Zwischen den Newhart- und Rickles-Porträts befindet sich ein genauso großartiges (und ebenfalls signiertes) Foto von Rich Kelly & Friendship. Solltest du mit diesem Ensemble aus New Jersey nicht vertraut sein, möchte ich, dass du etwas für mich tust. Lege dieses Buch zur Seite, gehe zum nächsten Gerät mit einer Internetverbindung, dirigiere deinen Browser zu YouTube und suche nach »Rich Kelly & Friendship« und »I’d Like to Teach the World to Sing«. Und dann guck’s dir an. Und zwar ganz. Solltest du es eilig haben, spule vor bis zu Minute 1:35, wenn der Bassist in ein fröhliches Fuß-Solo ausbricht. Alles an diesem Video, aber vor allem das Tanzen, macht mich glücklich. Ich liebe es, wie der Gitarrist seinen Mikrofonständer aus dem Weg stellt und damit suggeriert, dass der fröhliche Fuß-Freak-Out des Bassisten ansteht. Ich liebe es, wie sie, wenn es vorbei ist, seinen Namen rufen – »Tom Sullivan!« – und damit erneut bestätigen, dass das eben, jawohl, ein Solo war, und nicht einfach nur der Moment, an dem Tom Sullivans Diätpillen reinknallten. Das ist nicht nur ein grobkörniges Video der besten Lounge-Band, von deren Existenz du bis gerade eben noch nichts wusstest, sondern nichts weniger als magischer Realismus. Jetzt habe ich natürlich kein abgeschlossenes Studium der Kunstgeschichte vorzuweisen, weiß also nicht, ob das technisch korrekt ist, aber auf jeden Fall wirkt es wie magischer Realismus auf mich, weil es etwas ist, das wirklich geschehen und somit real ist – und es ist verdammt noch mal magisch.
Dieses gerahmte Foto von Rich Kelly & Friendship in uniformen Smokings, flankiert von den Porträts von Don Rickles und Bob Newhart, bildet das bestimmende Element im Loft. Man könnte es sogar die Heilige Dreifaltigkeit unseres Aufnahmebereichs nennen. Man kann es unmöglich ignorieren oder so tun, als sei es nicht da, nicht mit all diesen Augenpaaren, die einem überallhin folgen. Das wäre, als würde man in die Basilika Santa Chiara in Italien gehen und nicht das San-Damiano-Kreuz bemerken. Natürlich bemerkt man es. Da hängt ein riesiges, historisch bedeutsames Kruzifix an der Wand! Genau dieses Gefühl wollen wir den Leuten geben, wenn sie das Loft betreten. Man blickt auf Bob, Don und Rich, wie man hoch zum Damiano-Kreuz starren würde – in stummer Ehrfurcht, mit offenem Mund und voller Bewunderung ob der überwältigenden, unbegreiflichen Unendlichkeit des Universums.
Das also sahen wir, als wir das Star Wars-Album aufgenommen haben. Jeder Song, jeder Ton entstand unter ihrem wohlwollenden, kollektiven Blick. Ich erinnere mich, wie ich die Zeile »Orchestrate the shallow pink refrigerator drone« sang, aufblickte und das Gefühl hatte, als würde Don meinen Blick erwidern und sagen: »Pink refrigerator drone? Junge, geht’s noch?!«
Der springende Punkt ist, dass es keinen faszinierenden oder ästhetisch anspruchsvollen Grund dafür gibt, dass wir eine Katze auf das Cover unseres Albums genommen und es Star Wars genannt haben. Das Album brauchte einen Titel und ein Cover. Das Katzen-Gemälde hätte genauso gut das Don-Rickles-Porträt sein können. Und statt Star Wars hätten wir das Album auch Jerry Maguire oder E.T. nennen können, und es hätte genauso viel Sinn ergeben. Ich versuche hier nur, das für dich alles in den richtigen Kontext zu setzen. Es wäre absolut plausibel, wenn Wilco ein Album namens Wrath of Khan gemacht hätten mit einem Albumcover, das lediglich aus einer alten Schwarz-Weiß-Nahaufnahme von Don Rickles im Smoking besteht.
Und das kann immer noch passieren.
Ich bin generell eher ein gehemmter Mensch, und zwar aus vielerlei Gründen, die ich dir später hoffentlich noch werde erläutern können, und ein Buch über einen selbst zu schreiben macht die Sache nicht gerade besser. Man ist im Grunde die Hauptfigur seiner eigenen Geschichte. Wie soll man sich da nicht in einem fort fragen: »Für wen halte ich mich eigentlich?« Und: »Sieh dich an, schreibst du also ein Buch. Bist was ganz Besonderes, hä?!« Es soll kein Roman werden, also gehe ich mal davon aus, dass es meine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen. Ich bin mir aber auch absolut darüber im Klaren, dass ich nicht vollkommen objektiv sein kann. Ich meine, ich kann dem Protagonisten ja keinen fatalen Fehler andichten, von dem wir alle wissen, dass er im letzten Kapitel die Ursache seines Untergangs sein wird. Also, ich meine, hoffentlich kann ich das nicht im Falle dieses Buches, wie auch immer. Vielleicht gibt es da ja einen fatalen Fehler in meinem Leben, und ich bin der Einzige, der ihn nicht sieht. Vielleicht schreibe ich mich hier geradewegs auf einen Nervenzusammenbruch zu und bin der Letzte, der es begreift. Das allerdings klingt nach einem ziemlich guten Buch.
Wenn du jedoch ich bist, was ich bin, ist es schwer, nicht davon auszugehen, dass einige von euch hier einfach nur die ersten Seiten überfliegen, um herauszufinden, ob dieses Buch euer Geld wert ist. Bist du sicher, dass du 22 Euro blechen willst für ein paar Kapitel zum Thema »Hier alles, was mir während des dreieinhalbminütigen Gitarrensolos auf ›At Least That’s What You Said‹ durch den Kopf ging«? Wie Tuli Kupferberg von The Fugs sagte, als ich ihn einst traf und wissen ließ, dass er mein Held war: »Tja, man hat’s halt nicht leicht.« Niemand verfügt über genügend entbehrliches Einkommen, um es für das Memoir eines mäßig erfolgreichen Indie-Rock-Verfechters zu verschwenden, wenn dieses nicht mindestens ein bisschen gute Unterhaltung liefert.
Hier also gleich mal ein paar Spoiler, bevor wir irgendjemandes Zeit vergeuden.
1. In diesem Buch werden zwei verschiedene Typen namens Jay verhandelt.
Du wirst auf Zack sein müssen, um da dranzubleiben. Über beide wird ziemlich ausführlich geschrieben, und zuweilen tauchen sie sogar im selben Absatz auf. Ich habe mein Bestes gegeben, um klarzumachen, von wem die Rede ist, wenn ich »Jay« schreibe, aber wie schon gesagt: Augen auf! Sei wachsam.
2. Verschreibungspflichtige Schmerzmittel werden keine Erwähnung finden.
Solltest du dieses Buch in der Hoffnung auf wilde, drogenumnebelte Storys über meine Abhängigkeit von Opiaten zur Hand genommen haben, hast du leider Pech gehabt. Ich will diese Jahre hinter mir lassen. Und offen gesagt, gibt es da auch nicht wirklich viel zu erzählen. Wenn du eine Menge Vicodin nimmst, ist dein Leben nicht gerade eine intellektuelle Achterbahnfahrt. Es gibt eine Menge Taubheit und eine Menge Traurigkeit darüber, dass du gerade nicht betäubt bist. Und das war’s.
Belassen wir’s hierbei: Ich hatte ein paar Suchtprobleme, und dann ging’s mir wieder besser. Heute geht’s uns allen gut. Danke der Nachfrage! Oh, und die Songs, die ich während dieser Zeit meines Lebens geschrieben habe, sind lediglich musikalische Meditationen darüber, wie glücklich ich da war. Tut mir leid, wenn es diesbezüglich irgendwelche Missverständnisse gegeben haben sollte.
3. Der letzte Teil war ein Witz.
Himmelherrgott, natürlich werde ich über die Drogen schreiben. Ich nehme dich nur auf den Arm. Hättest du Keith Richards geglaubt, wenn er seine Autobiografie mit den Worten begonnen hätte: »Hört mal, Leute, je weniger über meine Erfahrung mit Heroin gesagt wird, desto besser. Ich schreibe lieber darüber, wie es ist, ein Großvater zu sein.«
4. Ich wünschte, dieses Buch würde von den Raccoonists handeln.
Wenn du noch nie von den Raccoonists gehört hast, weiß ich nicht, wie du es wagen kannst, dich einen Fan zu nennen. Wie kann es sein, dass du nichts von der Band weißt, die ich mit meinen Söhnen Spencer und Sammy gegründet habe? Es gibt nur einen offiziell veröffentlichten Song, »Own It«. Es ist die B-Seite einer Split-7-Inch mit Deerhoof. Wir haben jedoch genug Material für ein ganzes Album aufgenommen, inklusive einiger der besten George-Harrison-, Teenage-Fanclub- und Skip-Spence-Coverversionen, die jemals von einem Fünfzehnjährigen gesungen wurden. (Ich persönlich habe das Gefühl, dass eine Textzeile wie »A severed eye would gratify my soul, I must confess« einfach überzeugender klingt, wenn sie von einem Typen kommt, der seine Mathe-Hausaufgaben noch nicht gemacht hat.) Wir haben noch nichts von alldem veröffentlicht, denn die musikalische Mission der Raccoonists ist es, so rätselhaft wie möglich zu sein. Diese Zeilen des Wilco-Songs »The Late Greats« fassen es ganz gut in Worte: »So good you won’t ever know / You’ll never hear it on the radio.« Das könnte die Raccoonists meinen. Tut es nicht. Nicht mal ansatzweise. Aber es könnte, und mehr sage ich ja nicht.
Ich habe dieses Buch nur geschrieben, um endlich die Story des größten Rock-Trios aller Zeiten zu erzählen – mit mir an der Gitarre, einem Teenager-Schlagzeuger und einem Fast-Teenager-Sänger. Einem Trio, das noch nie ein offizielles Album veröffentlicht hat, auf Tour war oder auch nur außerhalb eines Kellers gehört wurde und von der Welt größtenteils noch nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Dieses Buch sollte wie das von Michael Azerrad sein, Our Band Could Be Your Life, dabei aber nicht von Bands wie Black Flag und den Minutemen handeln, sondern ausschließlich von den Raccoonists. Ich hätte all die skandalösen Details ausgeplaudert, wie jenes, dass der ursprüngliche Name der Band eigentlich The Rockingest war, ich Spencer aber missverstanden hatte, dachte, er hätte The Raccoonists gesagt, und sagte: »Das ist der großartigste Bandname, den ich je gehört habe«, woraufhin er keinen Einspruch einlegte, weswegen wir es bei The Raccoonists beließen, obwohl Rockingest wahrscheinlich der bessere Name ist.
Ich hätte gerne die Geschichte über die Zeit geteilt, als wir uns beinahe mal aufgelöst haben, weil am nächsten Tag Schule war und Susie so was sagte wie: »Ihr müsst jetzt aufhören. Ich bin es satt, immer der Spielverderber zu sein. Jeff, sag ihnen, dass sie sich ihre Pyjamas anziehen sollen.« Und ich wollte dir alles darüber erzählen, wie sich die Raccoonists einmal tatsächlich aufgelöst haben, weil Spencer uns sagte, »ich gehe ans College«, und Sammy und ich so: »Im Ernst? So geht es zu Ende? Spencer, du auch?« Aber dann erhob sich die Band Tweedy wie ein aufsteigender Phönix aus der Asche, und wir gingen in Japan auf Tour, und Sammy kam mit, und wir überredeten ihn, auf den Shows in Tokyo und Osaka »Thirteen« zu singen, und das war wie eine Mini-Raccoonists-Reunion, nur dass niemand begriff, dass das von Bedeutung war, weil abgesehen von dieser 7-Inch-B-Seite eben niemand wusste, dass die Raccoonists mal eine echte Band waren. Was es natürlich nur noch »Late Great«-ischer machte, auch wenn dieser Song (ich kann es nicht oft genug betonen) überhaupt nicht von den Raccoonists handelt.
Wie auch immer: Darüber hätte ich gerne geschrieben. Aber mein Verlag hat es mir immer wieder rauslektoriert, und ich habe es immer wieder reingemogelt, und dann fingen sie an, Wörter wie »strafbar« zu benutzen, wenn ich darauf bestand, auf Kosten der anderen Bands, in denen ich bin oder war, über die Band mit meinen Kindern zu schreiben.
Fünfzehn Minuten vor der Show im Kings gleicht die Stimmung im Backstage einem Sommer-Picknick. All die Zivilisten und Gäste wurden rausgeschickt, und jetzt sind hier nur noch die Jungs und ich, und wir plaudern, knabbern Snacks und fummeln an unseren Instrumenten herum. Ich denke immer noch an David Bowie und gucke, ob ich es hinkriege, »Space Oddity« zu spielen. Sie stimmen einer nach dem anderen mit ein, schnappen sich ihre Gitarren und rufen einander Akkordwechsel zu, singen Harmonien oder trommeln einfach auf der nächstbesten flachen Oberfläche herum. Was auch immer der Sache dienlich ist. So organisch ist das, so natürlich. Niemand sagt: »Lasst uns ein bisschen Bowie spielen.« Es beginnt mit einem Ton, der in eine erkennbare Melodie stolpert, und dann, Stück für Stück, verwandelt sich das alles in einen Song. Es ist wie die Cafeteria-Szene in Fame. Der David Bowie Hot Lunch passiert irgendwie einfach.
Das sind die besten Momente auf Tour mit Wilco. Was wir auf der Bühne machen, bedeutet uns allen eine Menge, aber wenn da nur die Band ist, allein in einem Raum, ohne Publikum, nur wir sechs, und wir gemeinsam einen Song wiederentdecken aus keinem anderem Grund, als zu gucken, ob wir es können – dann sind wir am dankbarsten dafür, das wir machen dürfen, was wir machen. Diese Momente rufen uns auf die reinste Weise in Erinnerung, was uns damals dazu bewogen hat, Musik machen zu wollen. Musik ist Magie.
Ich bin in einem Ort namens Belleville aufgewachsen, einer Stadt mit etwa 40000 Einwohnern im Süden von Illinois, eine halbe Stunde von St. Louis entfernt. Es ist die »Welthauptstadt des Herds«, zumindest war sie das um die Jahrhundertwende herum. Hat man uns jedenfalls gesagt. Sie ist zudem die Heimatstadt von Jimmy Connors und Buddy Ebsen (Onkel Jed von The Beverly Hillbillies), und als ich ein Kind war, haben sie dort Stag-Bier gebraut. Wie du dir also vorstellen kannst, war meine Kindheit ziemlich zauberhaft.
In Wirklichkeit war sie ziemlich deprimierend. Deprimierend und voll von Depression in all den für die sterbenden Produktionszentren des Mittleren Westens üblichen Ausprägungen: viele alte, leer stehende Gebäude und viele volle Kneipen. Es war nicht einfach, sich für die Dinge zu begeistern, die unsere Stadt einzigartig und besonders machten. Belleville hat (angeblich) die längste Hauptstraße der USA, sie ist 14,8 Kilometer lang und endet irgendwo am östlichen Rand von St. Louis. Ein Straßenabschnitt, so viele Möglichkeiten, sich volllaufen zu lassen, und so gut wie keine Chance, sich zu verfahren. Ich weiß nicht, wie viele Bars es an dieser Hauptstraße gab, aber es müssen eine Menge gewesen sein, denn Belleville rühmte sich außerdem damit, pro Kopf die meisten Kneipen zu haben. Später fand ich heraus, dass das nicht stimmte, was auf eine Art erleichternd war, weil es nie wie etwas gewirkt hatte, mit dem man angeben wollte. Als sei tagsüber zu trinken eine Ware, die wir hätten exportieren und an den Rest der Welt verkaufen können.
Ich lebte nur einen halben Block neben der Hauptstraße mit den viel zu vielen Bars, in einer baumgesäumten Straße mit einem Namen wie von einem Norman-Rockwell-Gemälde: Fortieth. Unser kleines Einfamilienhaus aus Holz mit Veranda und Schaukel war das letzte Haus, das meine Eltern je besitzen sollten, nachdem meine Mutter auf einer Auktion im Frühling 1967 spontan 16000 $ dafür bezahlt hatte. Offenbar wusste sie, dass sie mit mir schwanger war, hatte es meinem Vater aber noch nicht gesagt. Ich war das sprichwörtliche Ass in ihrem Ärmel, um seinen aufgrund ihrer finanziellen Verantwortungslosigkeit zu erwartenden Ausraster zu besänftigen. Der Vorbesitzer war in dem Haus gestorben, was mir als Kind unheimlich war, und wie sich herausstellte, sollten auch meine Eltern dort sterben. Also ist jeder, der das Haus besessen hat, in dem ich aufgewachsen bin, auch darin ums Leben gekommen.
Was vermutlich der Hauptgrund dafür war, dass meine Geschwister und ich kein sonderlich großes Interesse hatten, das Haus zu behalten, nachdem wir 2017 meinen Vater beerdigt hatten. Von der ganzen Hintergrundgeschichte mal abgesehen war das Gebäude ziemlich unscheinbar. Wenn ich die Szenerie meiner Kindheit mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich Mauve nehmen. Da war eine Menge Mauve. Mauvefarbene Teppiche, mauvefarbene Tapeten, mauvefarbene Möbel. Alles war mauvefarben. Stell dich mir als kleinen Menschen vor, denke an die Farbe Mauve, und dann hast du quasi das Kondensat meiner Kindheit.
Ich bin mir nicht sicher, ob meine Eltern mich geplant hatten. Ich habe da verschiedene Versionen gehört. Die gängigste ist, dass ich ein Unfall war. Wie auch immer, ich kam spät zum Familienfest. Meine Schwester Debbie ist fünfzehn Jahre älter als ich und wurde geboren, als mein Vater gerade mal achtzehn war. Sie hatten zwei weitere Kinder, Steve und Greg, und als ich meinen Auftritt hatte, war mein Vater Mitte dreißig, also in einem Alter, in dem für die meisten Männer seiner Generation die besten Baby-mach-Jahre längst vorbei waren. Mein Vater hat seine Version der Geschichte mit der Zeit geändert. Einmal erzählte er mir: »Ich weiß noch, wie deine Mutter mich auf der Arbeit anrief und sagte, ›Ich will noch eins‹, und bevor sie den Hörer aufgelegt hatte, war ich zu Hause.« Keine Ahnung, ob das stimmt. Diese Version erzählte er immer, wenn er mindestens ein Sixpack intus hatte, also kann ich dafür nicht die Hand ins Feuer legen. Gut möglich, dass er mich schonen wollte. Wer will schon ein Unfall sein? Das ist eine eher unschöne Art, auf die Welt zu kommen – nur gezeugt, weil die involvierten Parteien nicht aufgepasst haben. Andererseits, sind wir nicht alle Unfälle? Sorry, geht ja schon weiter …
Mein Vater – sein Name war Bob, aber bleiben wir im Dienste dieser Erzählung bei Vater – arbeitete bei der Bahn (und ja, »all the live-long day«). Er schmiss die Highschool, nachdem er meine Mutter geschwängert hatte, da war sie fünfzehn, und er bekam einen Job als Diesel-Mechaniker bei der Alton and Southern Railway. In den frühen Sechzigerjahren erkannte irgendein Vorgesetzter, dass mein Vater sehr viel schlauer war, als sein nicht vorhandenes Highschool-Diplom vermuten ließ, also schickte man ihn nach Arizona, wo er lernte, einen Computer zu bedienen und Lochkarten zu programmieren, und irgendwann wurde er zum Leiter des Rangierbahnhofs befördert. Das ist so gut wie alles, was ich darüber weiß, was mein Vater den ganzen Tag über gemacht hat. Soweit ich mich erinnere, bin ich nur ein Mal runter zur Bahn gegangen, um ihn zu besuchen. Ich habe mich nie sonderlich für seinen Job interessiert. Er wiederum schien sich nicht sonderlich für mich zu interessieren, und Züge waren mir stets eher egal. Was merkwürdig ist, denn welcher Junge mag keine Züge?
Mein Vater besaß jedoch eine Platte, die mich faszinierte: Sounds of Steam Locomotives. Eine Sammlung mit Aufnahmen von Dampfloks. Mehr war es nicht, nur das rhythmische Rollgeräusch von Eisenrädern auf Eisenschienen, das schwere Schnaufen von heißem Dampf, der dem Schornstein einer Lokomotive entweicht, das klagende Pfeifen eines Zuges, das für mich stets wie Stimmen klang. Es war eine merkwürdige Platte, umso mehr, da sie meinem Vater gehörte, der den Großteil seines Wachzustands umgeben von Zügen verbrachte. Sollte das nicht das Letzte sein, was er hören wollte, wenn er abends nach Hause kam? Gab es eine Zeit vor meiner Geburt, in der er sich nach der Arbeit mit einem Bier neben die Hi-Fi-Anlage gesetzt und Tracks gehört hat wie »2-8-2 No. 2599, Chicago Northwestern« und »4-8-4 No. 801, Union Pacific« und dabei mit dem Kopf nickte, als wären es Popsongs?
Wenn ich daran zurückdenke, ergibt es irgendwie Sinn, dass ich eine Vorliebe für beinahe jede Art von aufgenommenen Geräuschen entwickelte. Vielleicht habe ich es ja von ihm gelernt, indirekt (mein Vater und ich haben nie darüber gesprochen), in so gut wie allem Musik finden zu können.
Ich war kein Einzelkind, wuchs aber wie eines auf. Weil meine Schwester und mein Bruder so viel älter waren, gab es meistens nur meine Eltern und mich. Mein Vater war vierundzwanzig Stunden am Tag auf Abruf für die Bahn, also war er immer weg oder früh im Bett. Es konnte ziemlich einsam werden im Zuhause meiner Kindheit.
Die meisten Abende verbrachte ich nahe bei meiner Mutter – die als JoAnn Werkmeister geboren wurde –, während sie Fernsehen guckte und auf dem Sofa sitzend Zigaretten rauchte. Sie war so viele Jahre ihres Lebens Mutter gewesen, dass sie, als ich um die Ecke kam, die Kindererziehung quasi aufgegeben hatte. Okay, vielleicht nicht aufgegeben, aber sie war nicht mehr daran interessiert, eine Autoritätsperson zu sein. Mir wurden nicht sonderlich viele Grenzen gesetzt oder Vorschriften gemacht. Für mich gab’s keine Schlafenszeit. Wenn ich es überhaupt ins Bett schaffte, war das für gewöhnlich meine Entscheidung.
Sie war eine Nachteule – und machte im Laufe des Tages hin und wieder ein Nickerchen, wie eine Hauskatze –, also blieb sie immer lange wach und ließ mich mit ihr aufbleiben. Wir guckten Johnny Carson, und danach bei der nächtlichen Bijou Picture Show auf Channel 4 – den Turner Classic Movies der damaligen Zeit – alte Filme, die meine Mutter, wie sie mir stets erzählte, im Kino gesehen hatte, als sie noch brandneu waren. Sie vergötterte Judy Garland, also erinnere ich vor allem daran, mit ihr Filme wie Bühne frei für Lily Mars, Meet Me in St. Louis, For Me and My Gal, Strike Up the Band und Musik ist unsere Welt gesehen zu haben. Manchmal nickte ich weg – es ist nicht so einfach, um drei Uhr nachts wach zu bleiben, wenn du ein kleines Kind bist –, und manchmal schlief sie ein. Mit einer brennenden Zigarette zwischen den Lippen. Ich beobachtete, wie diese langsam bis zum Filter runterbrannte, und hielt gespannt den Atem an, während die zigarettenlange Asche irgendwie auf dem Atem meiner Mutter balancierend minutenlang das Gleichgewicht hielt, bevor sie in den Schoß ihres Morgenrocks fiel. Das klingt jetzt vielleicht nach äußerst verantwortungsloser und gefährlicher Kindererziehung, ich weiß, aber diese Erinnerung löst ausschließlich warme Gefühle in mir aus. Der Geruch nach Zigaretten, das schwarz-weiße Flackern des Fernsehers in der Dunkelheit, Judy Garlands vertraute Stimme – »Psychologisch bin ich sehr verwirrt, aber persönlich fühle ich mich wunderbar« – und neben mir das sanfte Atmen meiner Mutter. Ich habe mich nie geborgener gefühlt.
Beinahe jede Nacht weckten wir meinen Vater, der im Nebenzimmer versuchte zu schlafen. Wir hatten ein kleines Haus, also lag das Schlafzimmer ungünstigerweise gleich neben dem Wohnzimmer. Da war nur eine Wand – und nicht mal eine besonders dicke –, die ihn von dem trennte, was auch immer gerade aus dem Fernseher plärrte.
Oft stürmte er in seiner schlaffen weißen Unterhose aus dem Schlafzimmer und brüllte: »Gottverdammt, JoAnn, mach endlich das Ding aus!«
»Geh wieder ins Bett, Bob!«, brüllte sie dann umgehend zurück.
»Weißt du, wie spät es ist? Es ist zwei Uhr in der gottverdammten Nacht! Ich muss aufstehen, bevor du überhaupt weißt, welcher Tag es ist!«
Er schlug die Tür zu, und meine Mutter zündete sich die nächste Zigarette an. »Mom«, flüsterte ich in dem Versuch, beschwichtigend auf sie einzuwirken, »vielleicht ist der Fernseher doch ein bisschen laut.«
»Lass dir nicht von ihm sagen, was du machen sollst«, sagte sie.
Ich drehte trotzdem die Lautstärke runter, zumindest bis wir aus dem Nebenzimmer ein Schnarchen hörten und wussten, dass er wieder schlief, und sofort ging die Lautstärke wieder hoch. Es war eine nächtliche Willensschlacht, und meine Mutter gewann immer.
Ich versuchte der Schlichter zu sein, die neutrale Stimme der Vernunft, aber sie wussten beide, dass ich auf ihrer Seite war. Meine Mutter ließ mich oft gewähren, erlaubte mir viel, weil sie mehr daran interessiert war, mich als Freund und Verbündeten zu haben, als meine Mutter zu sein. Wir waren eine vereinte Front gegen eine unfaire und unzumutbare Welt (also meinen Vater und seine Forderung nach einem stillen Haus nach Mitternacht). Meine Mutter unternahm einiges, um mich an ihrer Seite zu halten. Wenn ich zum Beispiel sagte, »ich bin einsam«, schlug sie nicht etwas Vernünftiges vor wie: »Warum rufst du nicht den Jungen an, der am Ende der Straße wohnt, und gehst mit ihm spielen?« Stattdessen brachte sie mir bei, wie man Solitär spielt. Das war ihre Lösung für meine Einsamkeit. »Hier, ich hole dir ein paar Karten.« Weil sie mich bei sich haben wollte.
Meine Eltern gaben ihr Bestes, ohne selber viele Vorbilder zu haben in Sachen Grenzen setzen und gesunde Entscheidungen für Kinder treffen. Der Vater meiner Mutter, der Taxifahrer/Zuhälter und Karrierealkoholiker, hinterließ ihr emotionale Narben, die sie nie wieder loswurde. Als sie neun Jahre alt war, bekam sie ein Paar pinkfarbene Cowboy-Stiefel zum Geburtstag. Es war das einzige Geschenk, das sie sich gewünscht hatte, und für ein Mädchen, das nicht daran gewöhnt war zu bekommen, was es wollte, war das eine grandiose Überraschung. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. Aber dann ging sie raus zum Spielen, in ihren Stiefeln, und wurde von einem Auto angefahren. Es war ziemlich grauenvoll. Sie brachten sie ins Krankenhaus, und sie war so schwer verletzt, dass sie ihr die brandneuen pinkfarbenen Cowboy-Stiefel von den Füßen schneiden mussten. Sie lag mehr als einen Monat lang bewegungslos im Streckverband. Ihr Vater kam sie in der ganzen Zeit nur ein Mal besuchen, betrunken und dabei eine derart furchtbare Szene machend, dass er gewaltsam von der Polizei entfernt werden musste.
Es fällt mir schwer, mir meine Mutter in diesem Alter überhaupt nur vorzustellen, als sie das Gefühl hatte, es würde um sie herum die Welt einstürzen. Kaum neun Jahre alt, von einem Auto angefahren, ihre geliebten Cowboy-Stiefel zerstört, und dann kommt ihr Vater sie endlich besuchen, Wochen später, und muss aus ihrem Zimmer gezerrt werden, während er um sich tritt und brüllt: »Ich bin hier, um mein kleines Mädchen zu sehen! Lasst mich los, ihr Schwanzlutscher!« Da ist nur Traurigkeit und Traurigkeit und noch mehr Traurigkeit.
Meine Eltern taten mir leid. Aber damals noch nicht. Damals fühlte ich mich meiner Mutter näher, sie brauchte ich mehr, und ich liebte es, ihr Vertrauter und bester Freund zu sein. Ich war der unangefochtene ödipale Sieger, wie mir ein Psychologe mal gesagt hat. Der Klang dieser Worte gefiel mir gar nicht. Erst später, als ich alt genug war, um über die Beziehung meiner Eltern nachzudenken, erkannte ich, dass mein Vater zu Recht behaupten konnte, unfair behandelt zu werden. Er stand um vier Uhr morgens auf, zuweilen auch früher, um runter zur Bahn zu fahren und eine Zwölf-Stunden-Schicht zu schieben. Und dazu war er noch die ganze Zeit auf Abruf. Jeden Moment, Tag und Nacht, konnte das Telefon klingeln, und man erwartete von ihm, dass er die Interessen der Bahn über alles andere stellte. Es war nicht leicht für ihn, acht Stunden Ruhe zu finden, auch ohne uns, die wir fast schon mutwillig das bisschen Schlaf störten, das er kriegen konnte. Wir hätten genauso gut in der Küche fernsehen oder einfach mal selber ins Bett gehen können. Aber daran war Mom nicht interessiert.
»Mach den Scheiß leiser!«, brüllte er hinter der Schlafzimmerwand.
»Pack dir ein Kissen auf den Kopf«, rief meine Mutter zurück, und wir kicherten wie Vorschulfieslinge.
Ich glaube, dass mein Vater meine Mutter aufrichtig geliebt hat. Und sie ihn, aber vielleicht nicht ganz so sehr. Als Kind war ich davon überzeugt, dass sie auf emotionaler Ebene nicht das von ihm bekam, was sie brauchte. Im Rückblick war es aber vermutlich genau andersrum. Es war mein Vater, der nie eine Chance hatte. Meine Mutter würde ihr Glück niemals an einen Mann knüpfen. Nicht nachdem ihr Vater ihr so überdeutlich klargemacht hatte, was passieren konnte, wenn man einem Mann vertraute. Mir vertraute sie, aber ich war ihr ewiges Baby, aufgezogen als ihr Glücksbeschaffer. Was jedoch ihren Mann anging, waren sie bestenfalls Mitbewohner. Sie würde ihn nicht verlassen, ihn aber auch nicht zu nahe an sich ranlassen.
Mich hat man nie für die Bahn getrimmt, doch meine Brüder landeten beide im »Familien-Business«. Greg war bei der Schieneninstandhaltung, und Steve war Bremser. Ich hatte außerdem mehrere Onkel und Cousins, die bei der Bahn arbeiteten. Wenn ich allerdings nur die geringste Offenheit für die Idee bekundete, irgendwann mal was mit Zügen zu machen, sagte meine Mutter entschieden: »Du wirst niemals bei der gottverdammten Bahn arbeiten.« Sie war wild entschlossen dagegen. Ich weiß nicht, ob sie etwas Besseres für mich wollte oder sich einfach nur Sorgen machte, dass es zu gefährlich sein könnte. Warum es für meine Brüder okay war und für mich nicht, habe ich nie ganz begriffen. Vielleicht war es das auch für meine Brüder nicht, und sie wusste einfach nur, dass sie diese Kämpfe bereits verloren hatte, und konzentrierte sich nun nicht mehr auf deren Zukunft, sondern nur noch auf meine.
Vermutlich war das auch der Grund dafür, dass meine Mutter nicht mal meines Vaters Freunde von der Bahn bei uns im Haus duldete. Wenn sie vorbeikamen, saßen sie immer hinterm Haus, tranken, rauchten Pfeife und erzählten einander fürchterliche Geschichten. Sie hatten großartige Namen wie Skip Pratt und Lee Goldschmidt und Jack Stufflebeam. Ich habe sie als unfassbar schmutzig und vulgär in Erinnerung. Und jede Geschichte war die dreckigste Story, die du in deinem Leben je gehört hast. Skip Pratt hatte den geringsten ZPK (Zähne pro Kopf)-Quotienten der Bande, war ein Abschnittsgruppenführer – also für die Arbeiter verantwortlich, die sich um die Instandhaltung eines bestimmten Schienenabschnitts kümmerten –, und von dem was er sagte, verstand ich kein Wort, wusste jedoch, dass er nicht über die Arbeit sprach. Er war der Boss meines Bruders Greg. Alles, was ich Greg jemals über ihn sagen hörte, war, dass er auf die mitgebrachten Mittagessen der Leute pisste, wenn sie die unbeaufsichtigt ließen. Das war’s. Wenn du dir ein Sandwich mit zur Arbeit brachtest, hast du es besser vor Skip versteckt, sonst pinkelte er dir dadrauf. Jack S. hingegen wirkte wie der nette Typ von nebenan, allerdings hatte seine Frau Sharon die Angewohnheit, bei geselligen Zusammenkünften übermäßig viel zu trinken und sich an Fremde ranzuschmeißen. Ich habe sie öfter mit heraushängenden Brüsten gesehen als komplett bekleidet. Auf Hochzeiten war es merkwürdig, nicht ihre Brüste zu sehen, was für ein Kind verwirrend ist. Ich freute mich, wenn ich nicht ihre unaufgefordert dargebotenen Titten zu Gesicht bekam, aber trotzdem … Ging es ihr gut?
Nichts an dieser Welt wirkte anziehend auf mich, also blieb ich auf Distanz. Ich begrüßte jedoch den Umstand, dass die Bahn dafür sorgte, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten und Essen im Kühlschrank. Wegen der Bahn habe ich auch meinen ersten Plattenspieler bekommen. Aber nicht etwa, weil mein Vater sein Gehalt dafür benutzt hätte, mir einen zu kaufen. Er kam nur mit einem nach Hause. Es war ein kleiner Fisher-Plattenspieler mit ein paar Dellen und Kratzern im Kunstholz-Gehäuse, weil er »vom Zug gefallen« war. Das war die Sprachregelung meines Vaters für »das ist gestohlene Ware«. Wenn er für unsere Familie irgendwas von der Arbeit mit nach Hause brachte, war es »vom Zug gefallen«. Wir hatten mal ein ganzes Jahr lang Cheez-It-Cracker als Beilage zum Abendessen, weil eine Palette Cheez-Its »vom Zug gefallen« war.
Bevor ich meine eigenen Platten und meinen eigenen Plattenspieler bekam, hörte ich, was auch immer meine Eltern in dem Schränkchen unter ihrer Hi-Fi-Anlage horteten. Da waren nicht nur Lokomotiven-Sounds. Ich kann mich noch sehr genau an die Plattensammlung meiner Eltern erinnern, und nicht immer wegen der Musik. Es gab da zum Beispiel ein Marty-Robbins-Plattencover mit der Seitenansicht einer weiblichen Brust. Das war ziemlich großartig. Man kam für die rustikalen Balladen und blieb wegen des zwinkernden Cowgirls, das zwei Pistolen zog und von der Hüfte aufwärts nackt war. Wenn du zehn Jahre alt bist und dieses Bild siehst, brennt es sich in dein Unterbewusstsein.
Mein Vater hatte eine monogame Beziehung zu Musik. Damit meine ich, dass er immer nur einen Song konsumierte. Das war genug für ihn. Es gab mal eine sechs- oder siebenmonatige Phase, in der er nichts anderes hörte als Mac Davis’ »It’s Hard to Be Humble«. Das ist eine lange Zeit für einen Song. Vielleicht lag es ja daran, dass er während der Großen Depression geboren war, auf jeden Fall war alles, was über einen Song hinausging, zu viel für ihn. Warum sollte man denn mehr brauchen? Das war doch einfach nur gierig.
Keine Ahnung, wo mein Vater diese Songs gefunden hat, denn es waren nicht gerade die angesagten Hits der damaligen Zeit. Es ist mir immer noch ein Rätsel. Da gab es diesen Sommer, als Leo Sayers »Long Tall Glasses (I Can Dance)« auf den Plattenteller genagelt war. Ich muss es mehrere Hundert Mal gehört haben. Und im nächsten Sommer war es dann Glen Campbells »Southern Nights«. Jeden Abend und an den Wochenenden den ganzen Tag über gab es »Free as a breeze / Not to mention the trees / Whistling tunes that you know and love so«. Ich habe den Großteil meiner ersten Lebenshälfte gedacht, dass ich »Southern Nights« hassen würde, weil es mir aufgezwungen worden war. Ich hatte es nicht ausgesucht, es war für mich ausgesucht worden, und es war unerbittlich. Allein der Gedanke daran ließ mich schon erschaudern. Irgendwann fand ich heraus, dass Allen Toussaint den Song geschrieben hatte, und den vergöttere ich, also schossen nur durch dieses Wissen die Aktien des Stücks sofort in die Höhe. Toussaints Version ist düster und geheimnisvoll, wahrlich großartig, aber irgendwie Demo-artig. Erst als ich sie hörte, wusste ich das pedantische Pop-Handwerk von Glen Campbells Version wirklich zu würdigen, aber mir wird immer noch ein bisschen mulmig, wenn ich über den Song stolpere.
Als mein Vater gestorben war, stellten wir eine Playlist mit »seinen« Liedern zusammen, um sie vor und nach der Beerdigungszeremonie im Bestattungsinstitut zu spielen. Meine Söhne Spencer und Sammy verliebten sich vor allem in »Southern Nights«, also ließen wir nach der Trauerfeier auf der Fahrt zurück nach Chicago im Auto Glen Campbell laufen. Es war wundervoll, diesen Song mit ihren Ohren zu hören und zu spüren, wie er sich von seiner Vergangenheit befreit in etwas verwandelte, das für jeden von uns eine starke Bedeutung hatte. Wir fuhren die Scheiben runter und ließen den Song dröhnen. Und dann kamen wir zu Hause an und erfuhren, dass Glen Campbell gestorben war. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir Glen Campbell ermordet haben.
Was meine Musik anging, verhielt sich mein Vater nicht anders. Er hörte sich alles an, was ich mit Uncle Tupelo und Wilco gemacht hatte, mochte bestimmte Songs aber einfach lieber als andere, wie seinen Lieblingssong »Casino Queen«, den vielleicht aber auch nur, weil ich ihn für meinen Vater geschrieben hatte. Ich hatte ihn mit in eines dieser Mississippi-Dampfer-Casinos genommen, und er sagte: »Da solltest du mal einen Song drüber schreiben.« Also tat ich das. Und ich bin heilfroh, dass ich nicht mehr zu Hause lebte, als er »Casino Queen« in Grund und Boden spielte. Ich glaube nicht, dass ich mich jemals davon erholt hätte.
»Hummingbird« mochte er auch. Und zwar so sehr, dass er mich jahrelang fragte: »Warum schreibst du nicht mehr Songs wie Hummingbird?« Woraufhin ich ihm sagte: »Keine Ahnung. Ich kann nicht. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich Hummingbird geschrieben habe.« Aber ich glaube, er wollte da auf etwas hinaus. Vermutlich wäre ich erfolgreicher gewesen, wenn ich mir eine Art eigene Nische geschaffen hätte. Früher haben die Leute das gemacht. Wie Chubby Checker, der in den Sechzigern mit »The Twist« einen Hit hatte, und dann kam er mit »Let’s Twist Again« an und dann mit »Slow Twistin’« und danach mit »Twist It Up«. Und das waren alles riesige Hits. So haben es damals viele erfolgreiche Musiker gemacht – finde eine Formel, die funktioniert, und reite sie dann auf dem Weg zur Bank zu Tode. Nach »Hummingbird« hätte ich dieses Motiv also einfach wiederholen sollen: »Mottled Duck«, »I’m The Man Who Loves Coots«, »Impossible Warblers (Unlikely Bananaquits)«.
Mein Vater war clever, lag aber in Sachen Karriere-Ratschlägen oft daneben. Was »Hummingbird« anging, könnte er jedoch recht gehabt haben.
Die ersten Platten, die ich mir mit meinem eigenen Geld kaufte, waren 7-Zoll-Singles. Es war so um 1974 herum, ich muss also etwa acht Jahre alt gewesen sein. Meine Schwester Debbie war gerade vom College zu Besuch und nahm mich mit in eine Record Bar. Ich kaufte »Dream On« von Aerosmith und »Magic« von Pilot, weil ich beide Songs im Radio gehört und meinen Ohren nicht getraut hatte. Das Radio war damals meine einzige Bezugsquelle für neue Musik, und ich versuchte noch zu begreifen, was genau ich da eigentlich hörte. Peter Frampton wurde so oft gespielt, dass ich dachte, er sei der DJ. Ich glaubte wirklich, dass dies der Name eines DJs war. Ich hatte keine Ahnung, dass er Musik machte.
Debbie und meine Tante Gail waren bis zur Highschool zusammen zur Schule gegangen, und meine Schwester war die Ältere der beiden. (Meine Mutter und meine Großmutter mütterlicherseits waren zur gleichen Zeit schwanger gewesen mit ihrem ersten beziehungsweise letzten Kind. Alles klar? So machen wir das hier im Süden von Illinois. Meine Tante Gail fungiert in unserer Familie also als eine Art Zusatz-Verwandte: Sie ist Extraschwester, Bonusmutter und natürlich Totaltante, alles in einem Paket.) Debbie und Gail gaben mir eine Kiste mit den 7-Zoll-Singles, die sie als Teenager gesammelt hatten. Sie besaßen Singles von den Beatles, Herman’s Hermits, den Monkees, Sonny and Cher und eine Menge Motown-Zeug. Es war eine für ihre damalige Zeit sehr poplastige Plattensammlung, nur war es nicht meine Zeit. Ich war ungefähr zehn Jahre zu spät dran. Aber als die zwei in die Highschool gegangen waren, also Mitte der Sechzigerjahre, war das alles sehr aktuell gewesen.
Da ich in Bezug auf Platten noch ziemlich ahnungslos war, kannte ich nicht den Unterschied zwischen einer A- und einer B-Seite auf einer Single und verliebte mich manchmal in den falschen Song. Meine Schwester hatte eine Single von den Monkees, »Daydream Believer«, aber ich legte immer zuerst die Rückseite auf, »(I’m Not Your) Steppin’ Stone«, und so wurde das der Song, den ich in einem fort spielte. Es ist kein schlechter Song, aber ich brauchte Monate, bis ich endlich »Daydream Believer« hörte, was vermutlich das Beste ist, was die Monkees je aufgenommen haben.
Mein Favorit war »Turn! Turn! Turn!« von The Byrds. Ich empfand aufrichtige Liebe für dieses Lied. Das war vielleicht das erste Mal, dass ich für ein Musikstück Liebesgefühle entwickelte. Es schien in seinem eigenen klanglichen Universum zu existieren und war anders als alles, was ich je zuvor gehört hatte. Es war eines der ersten Stücke, die mich dazu brachten, über die Form eines Songs nachzudenken. Selbst für meine ungeschulten Ohren klang es, als würde es seinen eigenen Regeln folgen, als hätte es eine ganz eigene innere Logik. Die meisten Popsongs in meiner geerbten Sammlung hatten eine leicht erkennbare Strophe/Refrain-Struktur, aber dieses Stück war anders. Vermutlich verfügt »Turn! Turn! Turn!« rein technisch gesehen durchaus über Strophen und Refrain, aber auf mich wirkte es im Vergleich mit den für Hit-Singles typischen, robust gefertigten Repetitionen stets wie ein lebendiger Organismus. Eher wie ein Baum als ein Tisch.
Meine erste LP habe ich mit meinem eigenen Geld gekauft – Geld, das ich mit Zeitungsaustragen und dank Beigaben aus Geburtstagskarten zusammengekratzt hatte. Meine Mutter steckte uns in ein Flugzeug nach Tucson, Arizona, um Debbie zu besuchen, die damals dort lebte. Wir machten einen Tagesausflug nach Mexiko, und meine Mutter kaufte ein paar Flaschen Kahlúa und ein Schachspiel aus Onyx, und ich kaufte eine spanische Pressung von Blondies Parallel Lines. Ich hatte »Heart of Glas« im Radio gehört und sie in Wolfman Jacks The Midnight Special gesehen. Die Songs waren auf Englisch, aber die Plattenhülle war Spanisch beschriftet, und es war eine sehr, sehr billige Pressung. Wie labberiges 50-Gramm-Vinyl. Man konnte fast schon durchgucken. Das Ding hatte dieselbe Qualität wie diese Flexi-Discs, die früher den Magazinen beilagen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheint es mir möglich, dass es sich bei diesem Tonträger um eine nicht vollkommen legale Veröffentlichung gehandelt hat.
Aber der Hauptteil meiner frühen Musikbildung, und die Alben und Songs, die meine Sicht auf Musik verändert und geprägt haben, kam von meinem Bruder Steve. Einmal, als er vom College zu Besuch war und ich noch sehr jung, wahrscheinlich um die acht oder neun, kam er in die Küche, wo ich gerade einen Columbia-House-Plattenclub-Bestellzettel ausfüllte. Ich suchte meine Platten damals noch beinahe wahllos aus, ging nach Namen, die ich aus dem Radio kannte, oder nach Covern, die cool aussahen. Kansas, Foreigner, Billy Joel … Mein Bruder saß da und beobachtete mich unter Qualen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und riss mir den Zettel aus der Hand.
»Was machst du denn da?«, fragte er mich. »Ich kann das nicht zulassen.«
»Wieso?«, sagte ich. »Die geben einem hier zwölf Platten für einen Penny. Einen Penny!«
»Das ist Verarsche«, teilte er mir mit.
»Das weißt du nicht«, sagte ich insistierend.
Natürlich hatte er recht. Das Kleingedruckte machte die Sache zu einem Faustischen Schnäppchen, von dem sich so manche Leute in meinem Alter wahrscheinlich immer noch zu befreien versuchen. Man verschrieb im Grunde sein Leben einer Plattenfirma, und das nur für die Illusion, ein Kiss-Album für einen Bruchteil seines Preises zu kriegen. Doch ich war zu knapp bei Kasse, als dass man mich hätte zur Vernunft bringen können. »Wo sonst kriege ich zwölf Platten für so wenig Geld?«, fragte ich meinen Bruder. »Zwölf Platten.«
»Du willst Platten?«, sagte er. »Du kannst meine haben.«
Er stand zu seinem Wort. Er gab mir alles. Und er hatte keine gewöhnliche Sammlung. Das waren nicht die Sixties-Bubblegum-Pop-Hits-Singles meiner Tante und meiner Schwester. Mein Bruder hatte den musikalischen Geschmack und die Ambitionen eines leicht prätentiösen, aber ernsthaften College-Pseudointellektuellen aus den Siebzigern. Seine Platten bespielten das ganze Spektrum von Harry Chapin über Kraftwerk zu Frank Zappa und Amon Düül. Und ich, der ich bis gerade eben nicht mal so recht verstanden hatte, was denn nun eigentlich der Unterschied zwischen den Beatles und den Monkees war, verbrachte plötzlich ganze Wochenenden damit, die elektronische Space-Musik von Isao Tomita zu hören, und verlor zu den Klängen von Edgar Froese, Atomic Rooster und Hawkind den Bezug zur Wirklichkeit. Ich blieb die ganze Nacht auf und hörte Aphrodide’s Childs 666 (The Apocalypse of John, 13/18), ein Konzept-Album über die Offenbarung des Johannes, das mich in Angst und Schrecken versetzte. Mein Bruder hatte auch das Manfred-Mann’s-Earth-Band-Album The Good Earth,