Inhaltsverzeichnis

Endnoten

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

Fragen junger Leute – praktische Antworten, Band 1; Hrsg.: Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e.V., Selters/Taunus, 1989.

Fragen junger Leute – praktische Antworten, Band 1; Hrsg.: Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e.V., Selters/Taunus, 1989.

Das Leben – Wie ist es entstanden? Durch Evolution oder durch Schöpfung?; Hrsg.: Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e.V., Selters/Taunus, 1985.

Das Leben – Wie ist es entstanden? Durch Evolution oder durch Schöpfung?; Hrsg.: Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e.V., Selters/Taunus, 1985.

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

Karel Novosad: Armer Tannenbaum, in: Sieh mal einer guck! – Fünfundfünfzig Bildgeschichten, zwei Daumenkinos und eine Katzenschwanzparade; Hrsg.: Viktor Christen, Stalling, Oldenburg, 1982.

Singt Jehova Loblieder; Hrsg.: Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e.V., Selters/Taunus, 1986.

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben; Hrsg.: Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e.V., Selters/Taunus, 1982.

Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben; Hrsg.: Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e.V., Selters/Taunus, 1982.

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

Jorinde und Joringel. Acht Märchen der Brüder Grimm; Insel Verlag, Berlin, 2013.

Bibelzitat aus: Neue- Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift; Hrsg.: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.; International Bible Students Association Brooklyn, New York, USA, 1970.

 

 

 

 

Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion, sämtliche Charaktere sind Kunstfiguren, die geschilderten Handlungen, Ereignisse und Situationen sind rein fiktiv.

und ständig um die Plätze bangten,

da beschlossen die Verwandten

auszuziehen aus ihren Landen.

 

Nach Sodom kamen sie,

der Nachbarstadt Gomorrhas,

wo damals nur der Böse saß.

 

Ein Engel kam und sprach zu Lot:

»Haut ab aus diesem Land,

Jehova setzt alles in Brand!«

Auch sagte er: »Schaut nicht zurück,

sonst verliert ihr euer Glück.«

Stefanie de Velasco, Dienstwoche, 1990

 

 

 

 

Wir haben alles über Salz gelesen, um besser zu verstehen. Jemand hat die Himmelsrichtungen geändert. Osten und Westen, keiner weiß mehr, wo was liegt. Sie haben an der großen Achse gedreht, die Transformstörung, sie hat die Pertosphäre gebracht, die Pertosphäre hat das Salz gebracht und mit dem Salz die dunkle Zeit. Von früher, von der hellen Zeit, gibt es noch Bilder, Malereien und Fotos, aber das Salz greift alles an. Deswegen malt man sich inzwischen alles auf die Haut, aber einmal, da wird auch alle Haut bemalt sein, da wird die helle Zeit nur noch in unseren Köpfen, in den Geschichten, den Erinnerungen sein. Deshalb muss jemand alles aufschreiben.

Wenn wir am Abend unten in den Hexensteinschächten liegen, klappen wir die alten Karten auf und nehmen uns die letzten

Wir wissen, Kara Gyson ist verloren. Tränen können die helle Zeit nicht zurückbringen. Wir wissen, dass man uns aufgegeben hat und die Welt glauben soll, dass niemand mehr hier lebt. Wir sind nicht niemand. Niemand hat keine Augen, niemand hat kein Herz. Niemand weiß nicht, was ein Herz ist, diese rote Fleischkugel unter der Brust. Niemand weiß nicht, warum es schlägt. Das Herz schlägt, weil es von der Welt gekitzelt wird, das findet das Herz ohne Ende lustig, sagten wir früher. Heute nicht mehr. Das Salz hat alles überzogen, es hat die Sprache kristallisiert, es hat unsere alten Wörter und Wahrheiten versiegelt und seine eigenen Wörter und Wahrheiten mitgebracht.

Das Salz rieselt leise, es hat eine karge Seele und will von Natur aus viel für sich behalten. Wir haben gelernt, dem Salz zuzuhören, diesen winzigen Kristallen. Was man behalten will, vergisst man, und was man vergessen will, behält man, hat uns das Salz zugeflüstert. Deshalb muss jemand alles aufschreiben. Jemand muss alles aufschreiben, und das sind wir.

»Esther!«, ruft Mutter.

Ganz hinten am Horizont steht dicker schwarzer Qualm. Es brennt, es brennt! Es brennt nicht. Es sind nur die Schornsteine. Rauchende, alte Zuckerhüte. Sie kommen demnächst weg.

»Man macht ja doch keine Feuerzangenbowle«, hat Vater gesagt, »und wenn, dann nicht aus denen da.«

Das Schild steht schon am Eingang, ich kann es von meinem Fenster aus sehen, strahlend weiß, als hätten Außerirdische es dort hingestellt: Hier entsteht in Kürze ein Globus-Gartencenter. Hinter dem Schild eine verrußte Backsteinfassade, ein verrostetes Tor. Niemand geht dort ein oder aus, trotzdem zieht sich um das gesamte Gelände ein Zaun.

Ein schmaler Fluss quetscht sich an der Fabrik vorbei, am Ufer sammelt sich cremefarbener Schlackeschaum, dick und steif wie Schlagsahne, allein vom Anblick wird einem schlecht. Am Fluss stehen Häuser, die Fassaden nicht grau, nicht braun. Ich muss noch einen Namen für diese Farbe finden. Grauen. Die Dächer sind fast alle zerstört, die Fensterscheiben zertrümmert, aus Wut, oder die Zeit hat sie totgeschlagen. Auch auf der Straße muss man aufpassen. Immer wieder fallen

Ich habe lange überlegt, woran mich diese Steine erinnern. Ich bin in die Hocke gegangen, habe sie in die Hand genommen, sie gewogen und sie zwischen den Fingern zerrieben, dann ist es mir wieder eingefallen. Wenn Hunde zu viel Knochen fressen, hinterlassen sie so etwas. Früher haben Sulamith und ich solche Brocken manchmal auf den Feldwegen neben unseren Himbeeren gefunden und mit Kreide verwechselt. Wir haben den Platz vor der Garageneinfahrt damit bemalt. Ich habe versucht, meinen Namen damit zu schreiben, das S in der Mitte falsch herum, weil ich es noch nicht besser wusste, weil ich noch gar nicht richtig schreiben konnte. Sulamith malte unser Haus, vor der Tür mich, in den Fenstern Mutter und Vater, ihre Köpfe Dreiecke mit spitzen Kinnen und ihre Nasen Striche und Kreise, riesige Nasenlöcher, richtig entstellt sahen sie aus mit diesen Nasen, bis Sulamith die Kreide plötzlich fallen ließ.

»Das ist Hundescheiße«, flüsterte sie.

Scheiße, ich kannte dieses Wort, aber ich hatte es noch nie jemanden laut sagen hören. Es zischte in meinen Ohren, als würde jemand Snickers braten.

Anders als Sulamith war ich nie eine gute Malerin. Aber wenn ich das da draußen alles malen müsste, den grauen Himmel, vom Rauch durchzogen, die Fabrik, den Fluss, ich würde alles mit diesen Steinen malen, ich würde mir die Steine aus den Hinterhöfen nehmen und würde malen, so lange, bis es keine Steine mehr gäbe, keine Häuser mehr, bis nichts von hier mehr übrig wäre.

»Esther!«, ruft Mutter wieder.

Draußen flattern Sulamiths Kleider. Ich habe sie vor mein

»Du bist ja gar kein Kind mehr«, hat sie gesagt und mir in die kurzen Haare gegriffen, als wäre das ein Wunder, das Wachsen und Älterwerden.

»Wie deine Großmutter siehst du aus, nur die langen Zöpfe fehlen.«

Anton Wolf stand gleich hinter ihr.

»Die Luise«, sagte er und kam ganz nah an mich heran, »was hatte die für eine schöne Singstimme. Kannst du auch so schön singen?«

Sein Atem roch nach Plaque, in seinen uralten Augen brach sich das Deckenlicht, es sah aus wie ein römisches Mosaik.

Wir sind nur eine Handvoll Verkündiger hier. Bruder und Schwester Wolf, Familie Lehmann mit ihrer Kinderschar, Bruder und Schwester Radkau mit ihrem Sohn Gabriel, Vater, Mutter und ich. Wir studieren immer noch Der größte Mensch, der je lebte. Die Bücher aufgeschlagen, saß die ganze Versammlung auf den mitgebrachten Stühlen. Es roch nach Farbe, die Neonröhren an der Decke knackten wie alte, gebrechliche Knochen. Gabriel stand neben Vater auf der Bühne und las vor. Er ist so alt wie ich und hat sich auf dem letzten

Als Vater die erste Frage in die Runde stellte, meldete sich Mutter. Ihre schlanke Hand ging nach oben, die anderen betrachteten die manikürten Finger, sie starrten auf den bordeauxfarbenen Nagellack, auf die weiße Bluse mit dem schmalen Spitzenkragen und der dunkelblauen Borte, sie starrten auf den Bleistiftrock, der sich an Mutters Beine schmiegte, auf die feinen Lackschuhe und dann zu mir, so als wäre ich auch so etwas wie ein Spitzenkragen oder ein feiner Lackschuh, eins von Mutters Accessoires. Nur Schwester Lehmann ließ Mutters Aufzug kalt. Was wollt ihr eigentlich hier? Es stand ihr ins Gesicht geschrieben, diese Frage, sie schien sich nicht vorstellen zu können, dass jemand seine Heimat verlässt, um ausgerechnet an diesem Fleck Erde noch einmal ganz neu anzufangen, dabei ist das hier doch so etwas wie Heimat, wenn

»Genau aus diesem Grund sind wir hierher gesandt worden, um die letzten Menschen zu fischen, bevor die große Drangsal kommt, denn das ist unser Auftrag, egal ob Sonderpionier, Pionier, Hilfspionier, getaufter Verkündiger oder ungetaufter Verkündiger«, hat Mutter gesagt, als Vater sie schließlich drangenommen hat. »Hier! Hier liegt das rote Meer. Das rote Meer ist voller Fische. Jehova hat es geteilt, und dann hat er es wieder vereint. Jetzt kommen wir und fischen, so lange, bis kein Menschenfisch mehr übrig ist.«

Oben an der Decke flog eine winzige Motte gegen die Neonröhren, sie raste ins Licht, immer und immer wieder, prallte ab und fiel irgendwann tot auf uns herab.

»So müssen Luzifer und seine Dämonen ausgesehen haben, als sie aus dem Himmel geworfen worden sind«, hätte Sulamith gesagt.

Manchmal hat sie sich solche gottlosen Sätze ausgedacht, nicht aus Respektlosigkeit, einfach nur, um alles ein bisschen besser ertragen zu können. Ich habe eine Gänsehaut bekommen, ich weiß nicht, ob wegen der Kälte oder weil es mir Angst gemacht hat, dass ich Sulamith so oft mit mir reden höre, dass sie so gut wie immer bei mir ist, neben mir auf einem dieser harten Klappstühle, die noch von Großmutter sein müssen. Sulamith kratzt sich am Hals, ribbelt sich ein

Ich habe ihre langen Haare auf meinem Unterarm gespürt, diese blonde undurchdringliche Matte, wie sie vor Lachen bebt, doch dann habe ich gesehen, dass da gar keine lange Matte ist, sondern nur Mutters Bluse, die meinen Arm berührt, Mutter mit ihrer Lady-Di-Frisur, und dann ist mir alles wieder eingefallen, es hat sich angefühlt, als hätte ich gerade eben erst davon erfahren. Sulamith ist nicht mehr da. Mitten in der Nacht haben sie mich geweckt und ins Auto gepackt. Ich habe geschrien, aber es hat nichts geholfen.

»Es ist doch nur zu deinem Besten«, hat Mutter gesagt, als wir am nächsten Morgen hier angekommen sind, »einmal wirst du uns dankbar dafür sein.«

Mutter, ich muss mich noch daran gewöhnen. Seit der Sache mit Sulamith kann ich nicht mehr Mama zu ihr sagen. Ich habe Mutter immer Mama genannt. Jetzt nenne ich sie gar nichts mehr. Situationen, in denen ich sie ansprechen müsste, gehe ich aus dem Weg. Mit Vater ist es ähnlich, aber einfacher. Es gibt nicht viele Gelegenheiten, Vater anzusprechen. Vater ist ständig unterwegs. Sobald der Saal hier fertig ist, wird Vater wieder für den treuen und verständigen Sklaven unterwegs sein, unsere leitende Körperschaft, denn auch wenn es hier in Peterswalde seit kurzer Zeit anders ist, gibt es noch immer genügend Orte auf der Welt, an denen wir entweder noch nicht bekannt oder schon verboten sind.

Im ganzen Haus riecht es nach Linsensuppe. Allein vom Geruch wird mir übel. Vater sitzt am Esstisch im Wohnzimmer, die Ellbogen auf die Tischdecke gestützt, weiß mit blauer Borte. Es ist der gleiche Stoff, aus dem Mutter Sulamith und mir dieses Jahr die Kleider für den 14. Nisan genäht hat. Vater schaut sich um, als wäre er ein Gast in einem fremden Haus, dabei muss er genau an diesem Tisch unzählige Male gesessen und gegessen haben. Dieser Esstisch stand schon immer hier. Ansonsten erinnert nur noch wenig an Großmutter oder daran, dass Vater hier groß geworden ist. Vater. Groß geworden. Ich kann ihn mir beim besten Willen nicht als Kind vorstellen, aber die vielen Striche an der Wand gleich neben meinem Bett, kunterbunt übereinander gezogene Linien, der größte Abstand zwischen Gedächtnismahl 1956 und Tag der Befreiung 1957, sind der Beweis. Vater ist gewachsen, hier in diesem Haus, in meinem Zimmer ist er groß geworden, und von ihm müssen auch die selbst gezeichneten Landkarten stammen, die ich gefunden habe. Sie steckten unter den Einlegeböden vom Kleiderschrank, ich habe sie nur zufällig entdeckt.

Ich setze mich Vater gegenüber, er nestelt an seiner Serviette herum, weiß mit blauer Borte. Mutter und ich konnten früher nur selten nach Peterswalde kommen, zu groß war die Gefahr, an der Grenze mit Literatur erwischt zu werden, zu hoch das Risiko, die anderen Brüder und Schwestern durch unsere Anwesenheit zu verraten. Wann Vater Großmutter wohl das letzte Mal gesehen hat? Nicht einmal zu ihrer Bestattung durfte er uns begleiten, sie hätten ihn noch an der Grenze festgenommen. Jetzt sitzt er hier, schaut sich verstohlen um, so als könnte ihn jeden Moment jemand von hinten überfallen. Kurz überlege ich, ob ich ihn auf die Karten ansprechen soll, auf dieses Land in Herzform, das darauf zu

Lächelnd schöpft sie Eintopf auf unsere Teller.

»Nächste Woche werden im Saal die Bäder und die Heizung montiert«, sagt Vater.

»Danach wirst du hoffentlich wieder öfter zu Hause sein«, sagt Mutter und setzt sich.

Zu Hause, wie das klingt. Als ob das hier jemals unser Zuhause werden könnte, als ob Vater jemals länger als zwei Monate am Stück hier wäre. Er senkt den Kopf und faltet die Hände.

»Herr Jehova, der du thronst in den Himmeln, dein Name werde geheiligt. Wir danken dir für die Speise, die du heute auf unseren Tisch gebracht hast, und dass wir hier als Familie in Frieden zusammen essen können. Wir wollen dir danken dafür, dass wir an diesem Ort, der die Wahrheit und die gute Botschaft so lange nicht zu hören bekommen hat, eine Anbetungsstätte für dich errichten durften. Lass uns hier ankommen und gemeinsam mit unseren neuen Brüdern und Schwestern, die so lange standhaft waren, deine gute Botschaft verkünden. Amen.«

»Amen«, sagt Mutter.

»Amen«, murmele ich.

Ich tauche meinen Löffel in den braunen Linsensee. Mutter schiebt mir den Brotkorb hin und zeigt auf die Graubrotscheiben.

»Nein, danke«, sage ich.

»Nein, danke«, sage ich.

Vater schlägt das Heft mit den Tagestexten auf, es liegt neben seinem Teller, er blättert, bis er das heutige Datum gefunden hat.

»Darum harrt auf mich auf den Tag, an dem ich aufstehe zur Beute, denn meine richterliche Entscheidung ist, Nationen zu sammeln, dass ich Königreiche zusammenbringe, um meine Strafankündigung über sie auszugießen, die ganze Glut meines Zorns.«[1]

Ich würge einen Löffel Linsen herunter.

»Denn dann werde ich die Sprache der Völker in eine reine Sprache umwandeln, damit sie alle den Namen Jehovas anrufen, um ihm Schulter an Schulter zu dienen.«[2]

Reine Sprache, das war auch das Motto unseres letzten großen Kongresses im Sommer. Kaum zwei Monate ist das her, und ich weiß nichts mehr davon, all die Stunden, die ich dort gesessen habe, wie übermalt mit schwarzer Farbe. Es war Sulamiths letzter Kongress.

»Kongo«, hat sie immer gesagt, und so hat sie die Kongresstage auch immer in ihrem Schülerkalender markiert, mit diesem einen Wort. Kongo, Kongo, Kongo, Kongo, so als müsste sie Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag in ein unbekanntes, gefährliches Land reisen.

»Esther?«

Mutter legt ihren Löffel beiseite.

»Ich habe dich etwas gefragt.«

»Entschuldige.«

Vater steht auf, kommt mit einer Kanne Tee zurück, gießt ein. Kongo, Kongo, Kongo, Kongo. Sulamith trug ein schwarzes Kleid, als ginge sie zu ihrer eigenen Beerdigung. Ihr verheultes Gesicht, wie Lidia sie in Vaters Auto zerrt, ihre Schreie, wie sie

Mein Teller will einfach nicht leer werden. Auch Vater isst, als wäre es eine Pflicht. Manchmal liegt er abends auf der Couch und tut so, als ruhte er sich aus, aber in Wirklichkeit hat er Schmerzen, ich erkenne es an der Art, wie er die Hand auf den Bauch drückt, doch wenn Mutter ihn darauf anspricht, schüttelt er immer nur heftig den Kopf, als wäre es Verrat, hier in seiner alten Heimat Bauchweh zu bekommen. Ich tauche den Löffel in die Linsen und denke an jemanden aus der Bibel, den ich gerne aufessen würde. Den Apostel Paulus, Johannes den Täufer, die kleinen Propheten, König Salomo und König David, Hiob. Mutter isst wie immer mit großem Appetit. Sie taucht die Suppenkelle in die Schüssel und schöpft nach. Vater löffelt bedächtig. Mein Teller ist noch lange nicht leer, also nehme ich noch je einen Löffel für die zwölf Söhne Jakobs: Ruben, Simeon, Levi, Juda, Dan, Naphtali, Gad, Ascher, Issachar, Sebulon. Noch vor Joseph und Benjamin ist der Teller endlich leer.

»Darf ich aufstehen?«

»Willst du denn keinen Nachtisch?«, fragt Mutter.

»Nein.«

»Wird Zeit, dass du wieder in die Schule gehst«, sagt Vater.

Mutter nickt.

»Freust du dich schon?«

»Nein.«

Oben vor meinem Fenster flattern noch immer Sulamiths Kleider im Wind. Eine Jeanshose, Socken, Unterwäsche, ein blauer Pulli und ein T-Shirt. Fruit of the Loom steht auf dem Pulli, darunter ist ein Obstkorb abgebildet. Das T-Shirt ist mit

Bevor am Abend der Kohlenstaub kommt, hole ich die Kleider rein. Sie werden dann nicht mehr nach Mutters teurem Shampoo riechen, aber das wäre auch nicht anders, wenn ich sie hier im Haus getrocknet hätte. Der Gestank von draußen dringt durch jede Ritze. Desinfektionsmittel, Benzin, Kohle – all das vermischt sich mit dem Geruch von wilden Tieren. An irgendetwas erinnert er mich, vielleicht an einen Zoo. Jedenfalls riecht es manchmal so, als würden nicht weit von hier entfernt Tiger und Kamele leben. Unten schimpft Mutter vor sich hin, wie so oft bekommt sie den Ofen in der Küche nicht an. Die Kohlenschaufel knallt auf die Küchenfliesen.

Mutter kommt die Treppe herauf und stößt die Tür zu meinem Zimmer auf.

»Von Sulamith«, sage ich.

Mutters Augen weiten sich.

»Was machen die hier?«

»Sie waren in einer der Umzugskisten.«

»Häng sie ab. Wir schicken sie zurück. Lidia will sie sicher haben.«

»Lidia hat Sulamiths Sachen alle weggegeben.«

»Weggegeben?«

»Ja.«

»Bring die Kleider ins Haus«, sagt Mutter, »und danach packst du endlich deine Umzugskisten aus.«

Ich laufe in den Garten, zupfe Sulamiths Kleider von der Leine und lege sie oben auf den Ofen. Meine Umzugskisten stapeln sich nun schon seit vier Wochen hier, ich habe sie kaum angerührt. Nur Sulamiths Sachen habe ich rausgeholt. Ich packe nicht aus. Es wäre, als würde ich mich ergeben, wenn ich anfinge, auszupacken. Vater und Mutter hätten dann gewonnen. Später, wenn die Kleider trocken sind, werde ich eine Kerze anzünden und Patschuli auf die Kleider tröpfeln, auf die kleinen Wassermelonen, dann werden sie nicht mehr nach Peterswalde riechen, sondern nach Sulamith, so wie früher. Früher. Es ist gar nicht lange her, es ist gar nicht her, jedenfalls nicht für mich. An manchen Tagen wache ich morgens auf und vergesse für kurze Zeit, wo ich bin. Ich höre Sulamith neben mir atmen. Ich mache die Augen auf, aber da ist niemand, und nirgendwo im Bett sind Sulamiths Haare, die mich früher immer so genervt haben, vor allem in der Dusche.

Ich stehe auf, ich laufe zum Fenster, aber da ist kein weicher Teppichboden, nur diese kalten Dielen, auf denen man sich

Ich habe irgendwo einmal gelesen, dass es Unglück bringe, eine Geschichte mit dem Wetter zu beginnen, aber erstens darf ich an so was wie Glück und Unglück nicht glauben, zweitens ist ein Erdbeben genau genommen gar kein Wetter und drittens bin ich mir nicht einmal sicher, ob alles wirklich mit dem Erdbeben angefangen hat. Die vom Hochwasser immergrünen Wiesen, die sich vom Himbeerhang bis zum Fluss erstreckten, das Ufer der Sieg, an dem wir nach der Schule spielten, wenn wir nicht in den Dienst gingen, der Grund des Flusses, auf dem Glasscherben lagen, die wie Schätze aussahen, weil sie das Licht der Sonne reflektierten, überall dort unten, unerreichbar, könnte der Anfang liegen.

Schon letztes Jahr hat Sulamith die frischen Himbeeren anders gegessen als zuvor. Sie kuschelte die Himbeeren nicht mehr wie Stofftiere an ihre Lippen, sondern küsste sie und flüsterte jeder einzelnen etwas zu, das niemand hören sollte, nicht einmal ich. Vielleicht hat sie den Himbeeren Worte mitgegeben, die sie selbst gerne von jemandem gehört hätte, wie das Versprechen einer liebevollen Mutter, die ihren Kindern etwas Zuversicht mit auf einen ungewissen Weg gibt.

Ich kann mich kaum an einen Tag in meinem Leben

Nach dem großen Sommerkongress nahm Papa sich die Sommerferien meistens frei, um mit uns und den anderen Brüdern nach Soulac-sur-Mer zu fahren. Der Bus von Silas Reisen holte uns vom Kongressgelände ab, er gehörte Mischas Eltern, Bruder und Schwester Reinhardt. Mit Silas Reisen fuhren nur Glaubensbrüder in den Urlaub. So hatten wir Kinder auch in den Ferien immer jemanden zum Spielen. Oft saßen wir nach den Zusammenkünften, die wir in dem Reisebus abhielten, gemeinsam auf dem Campingplatz um das Lagerfeuer, sangen Königreichslieder und Bruder Reinhardt begleitete uns auf dem Akkordeon.

Alle Kinder aus unserer Versammlung liebten das Meer, nur Sulamith und ich nicht. Während Rebekka, Tabea und die anderen am Wasser mit ihren Förmchen spielten, machten uns die wilden Wellen Angst. Wir glaubten, dass sie uns mit ihren lauten, gurgelnden Stimmen ins Meer locken wollten. Mama und Lidia wunderten sich, und wenn Sulamith und ich Hand

Als ich älter wurde, fürchtete ich mich nur noch, wenn am Strand die rote Fahne wehte und die starke Strömung an meinen Fersen zog, doch Sulamith verlor die Angst vor dem Atlantik nie. Zusammen mit Mischa, der seit jeher in sie verliebt war, baute Sulamith jeden Sommer meterhohe Sandburgen. Tobias zog Mischa damit auf, aber Mischa war das egal. Er wusste, irgendwann würde er Sulamith und ihn in Ruhe lassen, um Rebekka, Tabea und seine kleine Schwester Damaris weiter über den Strand zu jagen. Schweigend errichtete Sulamith neben den Klippen hohe Mauern aus Sand, die uns alle beschützen sollten, falls die Flut einmal unerwartet käme. Nicht einmal den Gezeiten traute sie.

Zu Hause, wenn die Tage im Winter kürzer wurden und wir schon früh im Bett lagen, las Mama uns vor dem Schlafengehen aus Mein Buch mit biblischen Geschichten vor. Vor allem die frühen Geschichten beeindruckten uns. Brüder schlugen sich tot, Engel wurden zu Dämonen und verbrüderten sich mit Satan, bis Jehova sie allesamt aus dem Himmel verbannte und auf die Erde schleuderte. Auf der Erde nahmen die Dämonen dann Menschengestalt an und legten sich zu den sterblichen Frauen, die Riesen gebaren. Die Riesen wurden Nephillim genannt, sie knechteten die Menschen, bis Jehova die Sintflut schickte und die Nephillim vernichtete. Die Dämonen waren damit jedoch nicht aus der Welt. Dämonen waren wie Unkraut, unvergänglich. Wenn wir abends im Bett lagen und das Licht der vorbeifahrenden Autos durch die schmalen Spalten der Rollläden drang, glaubten wir, dass dieses scharfe Licht, das anscheinend genau wusste, wohin es wollte, die Spur war, die die Dämonen hinterließen, wenn sie nachts herauskamen.

Wir trauten uns nicht, Mama oder Lidia von dem Licht zu erzählen. Mama sagte oft, dass unser Haus, bevor wir dort eingezogen waren, voll von Dingen gewesen sei, die Dämonen anzogen. Mama und Papa hatten alles verbrannt, aber wer weiß, vielleicht ließen Dämonen sich gar nicht vertreiben, nur weil die Sachen, die sie mochten, nicht mehr da waren. Also lagen wir starr im Bett und trauten uns nicht aufzustehen, nicht mal auf die Toilette trauten wir uns, die Dämonen hätten uns auf dem Weg dahin fangen können. Oft schliefen wir erst ein, wenn auch die Dämonen schlafen gegangen waren. Die Angst vor den Lichtern verloren wir mit der Zeit. Sie fiel uns aus, genau wie unsere Milchzähne. Die Angst vor den Dämonen blieb, sie wuchs und wuchs, egal wie sehr wir uns bemühten, gegen sie anzukommen. Mit den Jahren wurde sie sogar größer, bis sie uns wie ein Kokon umgab, ganzjährig, ein Kokon ohne Saison, durch den wir die Welt wie hinter einem Schleier sahen.

Auf den grauen Garagenplätzen zwischen dem Himbeerhang und der Blumensiedlung brachte Papa uns das Fahrradfahren bei, ein Jahr später wurden wir eingeschult. Sulamith und ich lernten nebeneinander lesen, schreiben und rechnen. Nach der Schule machten wir zusammen Hausaufgaben, entweder bei uns oder bei Lidia, und dreimal die Woche sahen wir uns abends im Königreichssaal bei den Zusammenkünften. Meistens kam Sulamith an den Freitagen nach der Theokratischen Predigtdienstschule mit zu uns und blieb auch über Nacht. An manchen Samstagen, vor allem, wenn Lidia mal

In der Schule sahen Sulamith und ich einmal Ronja Räubertochter. Die ersten beiden Stunden fielen aus und wir wurden zu einer anderen Klasse in die Aula gesetzt. Verteilt auf Sofasäcken hockten wir zwischen den Weltkindern. Hätte Mama das gewusst, sie hätte es niemals erlaubt. Mama erkundigte sich regelmäßig bei den Lehrern nach dem Lehrplan, nach Klassenausflügen oder Projektwochen. Wenn es nur irgend ging, ließ sie uns davon befreien. Stumm starrten wir auf die Leinwand. Da lief ein Mädchen durchs Gebirge und ärgerte sich über Rumpelwichte, ging nackt mit einem Jungen

»Menschenkinder, Menschenkinder!«

Sulamith krallte sich an mir fest.

»Busenvögel«, flüsterte sie.

Es war das erste Mal, dass wir nackte Brüste sahen, auch wenn es nur die von Fantasievögeln waren.

Bei Wetten dass ..? gab es keine Wilddruden und Rumpelwichte. Überhaupt war Frank Elstner in den Augen von Mama und Papa ein anständiger Mann, auch wenn er nicht in der Wahrheit wandelte. Mama und Papa wiesen uns immer darauf hin, dass niemand wissen könne, wen Jehova in der Schlacht von Harmagedon vernichten würde und wen nicht. Ich glaube, heimlich hofften sie, dass Frank Elstner es schaffen und seine Show im Paradies mit Jehovas Segen fortsetzen würde.

Einmal traten zwei Frauen auf, die wetteten, sich nur mit ihren Augen verständigen zu können. Frank Elstner schrieb kurze Sätze auf Papier, die er einer der beiden hinhielt. Abwechselnd rollten und verdrehten die beiden Frauen die Augen. Sie sahen aus wie Lidia, wenn sie einen Anfall bekam, aber den Frauen fehlte nichts, sie redeten tatsächlich miteinander. Ich sehe die beiden noch heute dort stehen, ihre Blusen in einer Farbe, als hätte man sie durch schwarzen Tee gezogen, ihre ernsten Gesichter, so als ginge es nicht um Unterhaltung, sondern um Leben und Tod, darunter die grelle Nummer, die man anrufen konnte, um sie zu Wettköniginnen zu machen, und daneben der fröhliche Frank Elstner mit seinen Karteikarten in der Hand.

Eine ganze Weile versuchten Sulamith und ich, es diesen Frauen nachzutun. Wir wollten auch miteinander reden, ohne dass man uns verstand, doch wir bekamen Kopfschmerzen

»Was haben sich zwei Mädchen, die den ganzen Tag zusammen sind, denn noch zu schreiben?«, fragte Papa manchmal, wenn er eine von uns mit dem Heft sah, doch über die Jahre füllten wir unzählige Daycahiers, bis sie am Ende alle in dem kleinen Raum vom Königreichssaal landeten, der sonst für die Theokratische Predigtdienstschule genutzt wurde, aufgestapelt vor Papa und Bruder Schuster bei Sulamiths Rechtskomitee. An jenem Abend betrat Sulamith den Saal zum letzten Mal. Lidia schluchzte so laut, dass ich es bis zur Auffahrt hören konnte, wo ich heimlich auf Sulamith wartete. Als ich Lidia weinen hörte, wusste ich, dass es vorbei war. Ich erinnere mich an das fiebrige Gefühl, an die Schwüle und an den Moment, in dem Sulamith mit den Daycahiers im Arm um die Ecke bog. Die Luft war feucht und erfüllt vom Duft der Hagebuttensträucher neben der Auffahrt, er mischte sich mit dem Duft nach Patschuli, den Sulamith verströmte, und hinten in meinem Rachen hing der schwere Geschmack überreifer Himbeeren fest.

Sulamith war fünf, als Lidia mit ihr nach Deutschland floh. Hunderte von Kilometern liefen sie vom Banat in Rumänien aus in Richtung Westen. Lidia hatte sich mit Vaseline eingecremt und schwamm in einem viel zu dünnen Kleid mit Sulamith auf dem Rücken durch die Donau. Tagelang versteckten sie sich im Dickicht neben der Straße, die nach Westen führte, bis jemand sie mitnahm. Über die Details ihrer Flucht sprach Lidia nicht, nur eines sagte sie immer wieder:

»Niemand kann eine Flucht ohne die Hilfe Gottes

Als Lidia und Sulamith die deutsche Grenze erreicht hatten, wurden sie in eine der Notunterkünfte gebracht, die damals für die Flüchtlinge aus den Ostblockstaaten bereitstanden. Dutzende Menschen warteten vor den niedrigen Baracken, müde und gleichzeitig erleichtert, dazwischen die Brüder in ihren sauberen Anzügen und die Schwestern in knielangen Röcken, sie boten unsere Zeitschriften an und redeten mit den Neuankömmlingen über die Verheißungen der Bibel. Auch Mama fuhr regelmäßig dorthin und nahm mich immer mit. Ich weiß noch, wie Mama auf Lidia zuging, ich erinnere mich daran, wie ich Lidia zum ersten Mal etwas sagen hörte, an den seltsamen Singsang ihres Akzents, wie von einer Märchenkassette. Statt Mütze sagte Lidia Mitze, statt Vögel sagte sie Veegel. Mama zeigte auf das Kreuz an Lidias Hals, sie holte ihre schöne Bibel mit dem Goldschnitt heraus und las daraus vor. Lidia lächelte dankbar. Mama packte die Bibel wieder weg, holte eine Zeitschrift aus ihrer Diensttasche und hielt sie Lidia hin. Erwachet!, Lidia schaute Mama an, als wäre sie tatsächlich gerade aufgewacht. Sulamith stand die ganze Zeit neben Lidia. Sie klammerte sich an den Saum ihrer Jacke und starrte mich neugierig an. Mama ging in die Hocke, sie holte eine Tüte Haribo Colorado heraus und füllte unsere kleinen

»Danke, liebe Dame. Danke.«

Als Lidia einige Wochen später zum ersten Mal in die Versammlung kam, trug Sulamith Spitzensöckchen und Ballerinas. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, und um den Hals trug sie eine silberne Kette mit einem Mariensymbol. Mama umarmte Lidia und hockte sich wieder neben Sulamith, doch diesmal gab es keine Süßigkeiten.

»Von Jehova machen wir uns kein Bildnis«, sagte Mama und zeigte auf Sulamiths Kette.

»Das ist die Mutter Gottes«, sagte Sulamith.

»Jehova hat keine Mutter«, sagte Mama.

»Jeder hat eine Mutter«, sagte Sulamith.

»Jehova nicht«, sagte Mama, »er ist der Schöpfer der Welt. Er hat uns zehn Gebote gegeben, und eins davon verbietet uns, so etwas zu tragen.«

Sulamith schaute Mama mit großen Augen an.

»Aber die ist von meinem Vati«, flüsterte sie.

»Es ist egal, von wem sie ist«, sagte Mama, »Jehova will es nicht.«

Zur nächsten Zusammenkunft trug Sulamith keine Kette mehr. Von da an gingen sie jeden Sonntag in den Königreichssaal, und es dauerte nicht lange, da kamen Lidia und Sulamith auch freitags zur Theokratischen Predigtdienstschule. Oft besuchten wir die beiden im Flüchtlingsheim. Das Zimmer war winzig und die Heizung funktionierte nicht. Sulamith saß auf dem Boden und spielte. Sie hatte zwei ausgespülte Joghurtbecher an einen Kleiderbügel gebunden, der ihr als Waage für ihren Kaufmannsladen diente. Die Kerne von Oliven, Pflaumen und Aprikosen gab es dort zu kaufen. Lidia lag meist im

Nur wenig später bekam ich zum ersten Mal mit, wie Lidia einen Anfall erlitt. Es war an einem Sonntag nach dem Wachtturmstudium. Lidia und Mama standen im Saal neben unseren Plätzen. Ich hörte Lidia noch lachen, ich blickte zu ihr, ich wollte wissen, was so lustig war, doch mitten im Gelächter begann Lidia zu zittern, als würde jemand Strom durch ihren Körper jagen. Ihre Augen verdrehten sich, ihre Lippen zuckten wie bei einer Qualle, die vor einem Jäger flieht. Schaum lief ihr aus dem Mund, dann fiel sie zwischen den Stühlen auf den Boden. Noch heute kann ich die Stille spüren, die plötzlich herrschte, gefolgt von einem aufgeregten Durcheinander. Ich schrie und konnte nicht mehr aufhören. Nichts passte besser in mein Bild von Lidia als dieser gurgelnde, zuckende Körper vor mir auf dem Teppichboden. Dieser ängstliche Abstand, den ich bisher zu Lidia gehalten hatte, wenn sie sich nach dem Essen hinter ihrer Serviette versteckte und Kuckuck mit uns spielen wollte, der kleine Plastikbeutel mit Innereien, den Mama aus dem Brathähnchen gezogen hatte, als Lidia einmal in der Gemeinschaftsküche des Flüchtlingsheims für uns gekocht hatte, einmal und nie wieder, und ihre hohe Stimme, die immer gepresst klang, als müsste sie ständig gegen einen bösen Geist ankämpfen – all das ergab plötzlich Sinn.

Mama hatte keine Angst vor Lidia. Sie legte ihren Blazer zusammen und stopfte ihn unter Lidias Kopf. Sie hielt ihr den Kiefer auseinander, damit sie sich nicht auf die Zunge biss. Papa nahm die weinende Sulamith auf den Arm. Jemand rief einen Krankenwagen. Es war das erste Mal, dass ich Sanitäter aus der Nähe sah. Breitschultrige Männer in greller

Lidia musste für viele Wochen in die Klinik. Ihre Anfälle waren nicht heilbar, nur für längere Phasen in den Griff zu bekommen. Mama tröstete Lidia mit dem Paradies. Dort würde es keine Krankheiten und Leiden mehr geben. In dieser Welt jedoch geschah es immer wieder nach dem gleichen Muster: Ohne Vorwarnung zuckte Lidias Gesicht, ihr ganzer Körper, sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Der Krankenwagen kam, die Männer packten sie auf eine Trage. Sulamiths Tränen, die Schweigsamkeit, die folgte, bis sie dann langsam wieder fröhlicher wurde und am Ende sogar fast traurig war, wenn Lidia aus der Klinik entlassen wurde und sie wieder nach Hause musste.

Solange Lidia in der Klinik war, blieb Sulamith bei uns, denn einen Vater hatte sie nicht. Das stimmte natürlich nicht, Sulamith hatte einen Vater, er war nur nicht da. Über ihn wurde nicht geredet. Ich wusste bloß, dass er Lidia sitzen gelassen hatte, nachdem sie schwanger geworden war, und dass er in Rumänien mit einer neuen Frau lebte. Als Kind wunderten mich solche Geschichten nicht. Bei den Weltfamilien gab es Scheidungen, Betrug und Gewalt. In unseren Familien nicht, wir hielten uns an die Gebote Gottes. In unserer Versammlung gab es nur wenige geteilte Familien. Rebekkas und Tabeas