Für meine Mutter
»Immer wenn du meinst, es geht nicht weiter,
geschieht jemand anderem ein Unglück,
und du bist wieder froh.«
DAPHNE DU MAURIER
Er würde ihm die mitgebrachten Plätzchen in die Hand drücken, ein paar Worte über die alten Zeiten verlieren und ihm dann mit aufgesetzter Mündung in den Kopf schießen. Er wusste, wie er den Rückstoß aufzufangen hatte.
Die Übersichtlichkeit seines Planes erfüllte Stefan Krohn mit Zuversicht. Er nahm den Durchgang zu den Eingängen im Hinterhof und wandte sich unauffällig ab, als eine tätowierte Frau einen Kinderwagen an ihm vorbeischob.
Die Augusthitze hing einer Käseglocke gleich über der Hansestadt, sodass seine Sonnenbrille trotz der Abenddämmerung nicht weiter auffiel. Mit etwas mehr Vorlauf hätte er sich zur Tarnung noch einen Vollbart wachsen lassen. Aber der Anruf hatte ihn erst gestern Abend erreicht.
Er blieb vor der Haustür des viergeschossigen Gebäudes im Hinterhof stehen, in dem ein paar Jungs mit einem Plastikball bolzten und von einer Zukunft träumten, die für sie unerreichbar bleiben würde.
Die Fahrstuhlkabine, die er betrat, roch zu seiner Überraschung nach Citrus. Und nach Urin. Er drückte die drei, und die Tür schloss mit einem widerwilligen Scheppern. Bis zum dritten Stock betrachtete er die mit Graffiti übersäten Wände und dachte, dass all ihre nutzlosen Urheber ausgepeitscht gehörten. In der Ecke lag eine halbe Zitrone.
Der Weg aus dem Fahrstuhl zur Wohnung führte über einen Außengang, der Kinder vor dem Absturz aus zehn Metern schützte und ihm einen Blick über Rostock und die Unterwarnow gewährte. Die Medien sprachen von einem Jahrhundertsommer.
Krohn passierte die Wohnungen in einer Geschwindigkeit, die ihm das Lesen der Namensschilder erlaubte. Die vierte Tür war es. Genau so, wie man es ihm beschrieben hatte. A. Beck hatte jemand mit grünem Kugelschreiber auf das mit Tesafilm am Schild fixierte Papier gekritzelt.
Er hob den Finger zur Klingel. Ein Blick hinab auf die feinen Holzsplitter am Boden ließ ihn innehalten. Seine Augen wanderten zum Schloss – denn von dort stammten die Splitter. Und die Tür war bei genauem Hinsehen auch nicht verschlossen. Sondern angelehnt.
Jemand hatte sie aufgebrochen.
Krohn spannte sich unwillkürlich. Vielleicht befand sich noch jemand in der Wohnung, den er nicht eingeplant hatte. Er ließ die Tür mit einem sanften Druck des Ellbogens aufschwingen. Vor ihm eröffnete sich der Flur, von dem die wenigen Zimmer zu beiden Seiten abgingen. Der Gang selbst war bis auf einen hölzernen Schemel leer. Aus einem der Räume hörte er Äischa, den Sommerhit, den die Radiostationen hoch und runter spielten.
Krohn trat leise ein und drückte die Tür mit der Hacke zurück in die Zarge, in die sie nicht mehr einrastete, in die sie sich aber schmiegte. Er hob den Schemel lautlos an und platzierte ihn so, dass die Wohnungstür nicht zufällig aufschwingen konnte und nach außen geschlossen wirkte. Dann stand er reglos im Flur und lauschte.
Nur das Lied.
Stefan Krohn nahm die Beretta aus dem Schulterholster und zog den Schalldämpfer aus der Jacketttasche, den er routiniert auf die Mündung schraubte. Dann entsicherte er die Pistole und zog so leise wie möglich den Schlitten durch, der die erste Kugel in den Lauf lupfte.
Mit geschärften Sinnen schlich er vorwärts und setzte die Füße bewusst behutsam auf dem Linoleum auf. Die Wände des Gangs waren kahl. Nur Lichtschalter, denen ungewaschene Finger über die Jahre einen Trauerflor auf der umliegenden Tapete verpasst hatten. Eine der beiden Glühbirnen im Flur trug keinen Lampenschirm, sondern baumelte nackt an einer Affenschaukel.
Nichts hält länger als ein Provisorium.
Der erste Raum rechts war die Küche, in der sich benutztes Geschirr mit einer Pizzaschachtel den Platz neben der Spüle teilte. Das Fenster hatte keinen Vorhang, man blickte hinüber auf die spärlich bepflanzten Balkone der anderen Plattenbauwohnungen.
Alle Schubladen waren geöffnet worden. Einige lagen neben ihrem ausgekippten Inhalt auf dem Boden, andere standen weit aus den Küchenschränken heraus.
Was war passiert? Ein gewöhnlicher Einbruch? Oder ein Junkie, der seinen nächsten Trip über die Wolken finanzieren musste?
Instinktiv saugte Krohn die Luft über die Nase ein. Ein satter Geruch von Eisen hing in der Wohnung.
Links ging das Bad ab, in das er einen kurzen Blick warf. Toilette, Waschbecken, Badewanne, ein gelber Duschvorhang, der an Plastikringen an einer Deckenschiene hing. Und dort, an der Decke über der Wanne, war ein schwerer Haken eingelassen, dessen Sinn sich Krohn nicht erschloss.
Beck hatte Schulden, das wusste er. War es einem Gläubiger zu bunt geworden, und hatte der das Recht in die eigene Hand genommen?
Der Blick in den nächsten Raum beantwortete ein paar Fragen und ließ Krohn die Beretta anheben. Schussbereit.
Alexander Beck lag rücklings am Boden, alle viere von sich gestreckt, als sei er einfach umgefallen. Die Augen standen weit offen, der Blick war gebrochen. Sein Mörder hatte ihm die Kehle durchtrennt. Die Blutlache unter seinem Oberkörper war geronnen und ging ins Schwarze über.
Krohn schob den Sturm der Fragen, den dieser Anblick in seinem Kopf auslöste, mit einer Willensanstrengung beiseite – denn vielleicht war Becks Mörder noch hier. Er hob die Pistole und legte den Finger auf den Abzugsbügel. Auf diese Weise drang er vorsichtig in die beiden verbliebenen Räume ein, das Schlafzimmer und eine Rumpelkammer, die ihrem Namen alle Ehre machte. Krohn war unentschieden, ob er erleichtert sein sollte, dem Täter nicht zu begegnen, oder verärgert.
Die Verärgerung überwog.
Beide Zimmer waren ebenso wie alle anderen akribisch durchsucht worden.
Gab es so viel Zufall?
Er schüttelte kaum merklich den Kopf.
Etwas von der Anspannung, die ihn seit Betreten der Wohnung begleitet hatte, fiel von ihm ab. Krohn trennte Schalldämpfer und Pistole wieder voneinander und verstaute beides. Er hob die Schiebermütze von seinem Kopf mit den kurz geschorenen grauen Haaren und wischte sich mit dem Ärmel den Schweißfilm von der Stirn.
Er wusste, was zu tun war. Zuerst streifte er sich Einweghandschuhe über.
Es war, als wäre er lange nicht mehr Fahrrad gefahren oder mit jemandem intim gewesen. Doch seine Unbeholfenheit bei der Durchsuchung der Leiche und der Wohnung nahm von Minute zu Minute ab, bis er wieder ganz in seinem Element war. Wie ein guter alter V8-Motor, der bei Eiseskälte gemächlich warm lief. Dumpf und verlässlich.
Krohn überprüfte nicht nur das, was Becks Mörder bereits getan hatte. Er checkte auch die Schicht zwischen den aufgehängten Bildern und ihren Rahmen, den Wasserkasten der Toilette und natürlich die Wände. Krohn klopfte sie dezent, aber akribisch nach Hohlräumen ab, er öffnete den Röhrenfernseher und schaute unter jede Schuheinlage und hinter jedes Buch im Regal – es waren sieben. Nicht Regale, sondern Bücher.
Jederzeit hätte jemand klingeln können, die Nachbarn, der Schornsteinfeger oder jemand vom Sozialamt. Dann hätte er improvisieren müssen. Natürlich, auch dazu hatte er Kurse durchlaufen, aber die Improvisation war immer ein Ritt ins Ungewisse.
Unter den Filtern der Dunstabzugshaube wurde er ebenso wenig fündig wie hinter den Fußleisten, die er allesamt abschraubte und dann wieder fixierte. Was er suchte, fand er in der ganzen Wohnung nicht.
Immerhin stieß er in der Küche auf das Offensichtliche – Beck hatte Fotos, Eintrittskarten, Flyer und eine stark abgegriffene Speisekarte einer örtlichen Pizzeria an eine Pinnwand geheftet. Ein Foto in Schwarz-Weiß zeigte eine Mannschaft junger Männer in Trainingsanzügen. Es wies grobes Korn auf, ein Analogfoto, das viele Jahre in sich trug. So wie das andere. Es zeigte Beck in jungen Jahren neben einem älteren Mann an einem See. Es war in Farbe. Beide lächelten in die Kamera. Daneben eine Postkarte, die drei Motive zeigte: eine verwitterte Kirche, einen See und die Luftbildaufnahme eines Ortes. Darunter stand Grüße aus Marnow.
Stefan Krohn nahm die beiden Fotos und die Postkarte von der Pinnwand. Auf ihren Rückseiten fanden sich keinerlei Vermerke. Er steckte sie alle drei ein.
Ziemlich genau anderthalb Stunden nach dem Betreten der Wohnung nahm er auf einem Ledersofa Platz, dessen Farbe die Sonne im Lauf der Jahre gründlich abgeschossen hatte.
Die war mittlerweile untergegangen, und Krohn hütete sich, das Licht in einem Raum einzuschalten, dessen Fenster man von außen sehen konnte. Denn spätestens ab morgen früh würden hier die Zeugenbefragungen beginnen.
Im Radio wurde von den 25 Millionen Dollar berichtet, die die USA auf die Ergreifung von Saddam Hussein ausgesetzt hatten. Auf dem Tisch stand eine halb volle Flasche Ouzo samt geleertem Glas. Stefan Krohn goss das Glas randvoll und kippte den Anisschnaps herunter, bevor er auf seinem Nokia-Handy die Kurzwahltaste #1 tippte und das Schnapsglas in seine Tasche gleiten ließ.
»Ja?«
»Er war schon tot. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.«
Der Mann am anderen Ende benötigte keine zwei Augenblicke, um sich zu sammeln.
»Ist Polizei vor Ort?«
»Nein, ich sitze in seiner Wohnung. Die Leiche liegt zu meinen Füßen.«
»Hast du die Liste?«
»Nein. Und sie ist auch nicht in Becks Wohnung.«
»Ist das absolut sicher?«
»Ja.«
Ein langes Ausatmen. Der Mann in der Leitung war früher sein Chef gewesen. Als alles noch einer überschaubaren Ordnung gehorcht hatte. Seit fast 15 Jahren war er es nicht mehr. Aber seinen Anweisungen folgte Krohn nach wie vor. Aus Überzeugung, aus Loyalität und dem Wunsch, einem Leben im Gefängnis zu entgehen.
»Die Liste muss da sein.«
»Sie ist definitiv nicht hier«, widersprach Krohn, »ich habe jeden Quadratzentimeter gesehen.«
Stille.
Der Mann in der Leitung überlegte.
»Dann hat sie jetzt sein Mörder.«
»Ja.«
»Gibt es Hinweise auf Marnow?«
»Ja, aber ich habe sie an mich genommen. Was soll ich tun?«
»Folgendes …«, sagte der Mann, dessen Stimme überlegt klang.
Es war das Geräusch der Seitentür eines Transporters, das ihn weckte. Sie schabte über eine ausgefranste Bodenschiene und klackte satt in den Schließmechanismus. In ganz Rostock gab es nur zwei Firmen, die Pools bauten. Bahr & Wildhagen war eine von ihnen. Und sie war diejenige mit der schleifenden Seitentür.
Frank Elling schlug die Augen auf.
Hätte er den Durchschnitt nicht repräsentiert, der Durchschnitt hätte ihn verschluckt. Er war mittelgroß (1,78 Meter), leichter Bauchansatz, dazu Geheimratsecken mit Potenzial nach hinten und als Brille ein Kassenmodell von Fielmann. Frank Elling war genau der Mann, an den ein Zeuge sich später nur rudimentär erinnerte. Wenn überhaupt. So verwechselbar, dass jene schmale Grenze vom Jemand zum Niemand mitten durch ihn hindurch verlief.
Er schaute nach links und sah seine Vermutung mit einem Seitenblick bestätigt: Susanne war schon aufgestanden. Wie immer. Er legte die flache Hand auf ihr Laken und spürte noch einen Hauch Körperwärme.
Keine zehn Minuten.
Elling schwang sich aus dem Ehebett, setzte seine Brille auf, ging in Shorts und Unterhemd ans Fenster und lugte durch den Vorhang hinaus in den Garten. Dort gingen die Poolbauer gerade an die Arbeit. Bahr war klein, Wildhagen ein Strich.
Der Pool war nahezu fertig. Alle hatten ihn für verrückt erklärt, das Becken in einer Länge von zwanzig Metern anzulegen. Aber für seine Frau war Elling nichts zu schade.
Sie stand im Bad und föhnte sich vor dem Spiegel die Haare, als Frank Elling den Raum betrat. Eigentlich wollte er direkt in der kleinen Duschkabine verschwinden, aber seine Augen verfingen sich am Bademantel seiner Frau.
Susanne war im Frühjahr 42 geworden. Sie war drei Jahre jünger als er. Ihr Körper zeichnete sich unter dem Stoff ab, der Gürtel war locker. Elling erhaschte einen Blick auf ihre linke Brust. Er ging auf sie zu und presste sich sanft von hinten an seine Frau. Sie hatten seit Wochen nicht mehr miteinander geschlafen. Der Job, der Haushalt, die Tochter, sie hatten viel um die Ohren gehabt.
Susanne erstarrte bei der Berührung. Und während sie über den Spiegel die spielerische Lust in seinen Augen las, spürte sie Ellings aufkeimende Erektion durch den Stoff. Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln und fuhr mit den Händen unter den Mantel und über ihre Brüste. Sanft.
So behutsam und gleichzeitig erregt, dass ihr fast die Tränen gekommen wären. Es fühlte sich immer noch schön an. Geborgen.
Sie schob seine Hände ruhig beiseite und erntete über den Spiegel den zerbrechlichen Blick, mit dem sie gerechnet hatte. »Ich bin spät dran.«
Er drückte ihr seine Nase in den Nacken und saugte die Luft tief ein. »Du riechst so gut.«
Susanne seufzte und drehte sich um. Nahezu nackt, weil ihr Mann ihr den Gürtel gelöst hatte. Elling beugte sich vor, um ihre Brust zu küssen, aber sie bedeckte sich mit dem Bademantel und zog auch unmissverständlich den Gürtel zu.
Elling sah zu ihr auf, irritiert. Ein klein wenig verletzt. In einer hilflosen Geste, vielleicht auch einer Übersprunghandlung, setzte er seine Brille auf, als könne das noch schnell alles zum Guten wenden. Aber dadurch sah er die Abweisung seiner Frau lediglich deutlicher.
»Ich bin wirklich spät dran. Aufgeschoben, hm?«
Elling gab auf. Er genoss es nur, wenn sie auch Lust hatte. Sonst kam er sich schäbig vor.
Das Rattern des Presslufthammers kam ihnen wie ein Geschenk vor. Etwas, dem sie sich zuwenden konnten.
Prompt trat Susanne ans Fenster und warf einen Blick hinab auf den Pool, das Monstrum, das ihr Mann ihr zu Ehren ausbreiten ließ. Viel zu groß für die Grundstücksfläche, zu pompös für die Nachbarschaft. Zu spät in vielerlei Hinsicht.
Der Kleinere von Bahr & Wildhagen trieb mit dem Presslufthammer ein Loch neben den Pool. Elling nahm von der Seite wahr, wie Susanne stutzte.
»Die reißen ja die Wand wieder ein.«
Elling nickte und lächelte entspannt, weil ihm ihre Bemerkung die Brücke von der Zurückweisung zurück zur Selbstachtung baute. »Ja. Bis gestern war dein Swimmingpool nur groß und beheizbar. Und mit Unterwasserbeleuchtung. Aber jetzt kommt noch das Nonplusultra … na?«
Vergeblich schaute sie hinab, um das Nonplusultra zu entdecken. »Ich seh’s nicht.«
Elling holte feierlich Luft: »Er bekommt noch eine Gegenstromanlage.«
Dazu deutete er auf den Punkt, an dem Herr Bahr den Presslufthammer tief in den Grund trieb.
Susannes Verblüffung war echt. Und in ihrer Feststellung schwang auch eine Spur Unmut mit: »Das kostet doch Unsummen.«
»Ach, so teuer ist das gar nicht … also, im Gesamtverhältnis.«
»Du spinnst, Elling.«
Damit gab sie ihm einen Kuss auf den Mund und überließ ihrem Mann das Badezimmer, bevor der wieder auf andere Gedanken kam.
Die Küche der Ellings war ein gemütlicher Raum mit einer Anrichte über Eck und mit einem Esstisch samt Sitzbank. Beengt. Vielleicht rührte daher der Eindruck der Gemütlichkeit. Über eine Tür erreichte man die Terrasse – und den zukünftigen Pool.
Elling war gerade im Begriff, sich die dunkelbraune, schmale Krawatte zu binden, als seine Tochter Mareike ihm einen Becher Kaffee vor die Nase hielt.
Die Jungs drehten sich nicht allzu häufig nach ihr um, das hieß: noch nicht. Aber sicherlich bald. Mit 61 Kilo auf 1,64 Meter Körpergröße hatte Mareike noch ein klein wenig zu viel Babyspeck an Bord. Aber Elling war voller Zuversicht, dass sich das noch rauswachsen würde.
Die Züge ihres Gesichts waren fein, die Augen wach. Mareike würde bald die Erste im weitverzweigten Netz der Ellings sein, die zur Uni gehen würde. Mareike dort zu wissen, machte ihn stolz. Gleichzeitig ahnte er die Reaktion der Familie.
»Für die anstehende Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Rostock liefern sich SPD-Urgestein Nina Klamm und der parteilose Philipp Benedikt ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen«, berichtete der Radiomoderator.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Papa«, flötete Mareike und stellte ihm den Becher neben der Post auf dem Tisch ab.
»Hast du gut geschlafen?«
»Prima. Nur der Morgen hatte Luft nach oben.«
»Möchtest du ein Ei?«
»Bitte.«
Die Zuvorkommenheit seiner Tochter machte ihn wachsam. Auch wenn sie aus dem Gröbsten raus war. Er konnte ihr in der Öffentlichkeit einen Kuss auf die Wange geben, ohne dass sie ihn mit einer Woche Nichtbeachtung abstrafte. Ja, tatsächlich war es seit etwa zwei Jahren wieder möglich, ein vernünftiges Wort mit ihr zu wechseln.
Die Post bestand aus dem Rostocker Tageblatt, für das Susanne arbeitete, außerdem drei Kuverts. Eines davon stammte von seiner Hausbank. Als Mareike sich zur Anrichte umdrehte, um das Ei anzustechen, faltete Elling das Schreiben der Bank in der Mitte und schob es schnell in die Brusttasche seines Hemds.
Gerade rechtzeitig, denn Mareike wandte sich unvermittelt um und reichte ihm mit einem Lächeln einen Teller mit zwei warmen Toastscheiben.
»Einmal warme Toasts«, kommentierte sie.
Elling nahm es mit einem gelassenen Lächeln: »Wofür brauchst du das Geld?«
Mareike blinzelte nervös vor Überraschung.
»Aber … wie …«
»Ich beobachte seit 18 Jahren jeden deiner Schritte, Mareike, ich bin nämlich dein Vater. Blöderweise bin ich auch noch Kriminalkommissar – also: wofür?«
Frank Elling registrierte, wie seine Tochter die Optionen auf eine Ausflucht strich und sich straffte – ein gutes körpersprachliches Signal für jemanden, der mit der Wahrheit rausrücken wollte.
»Du kennst doch Mette. Mette Vogt. Sie war schon ein paar Mal hier und …«
»Können wir den Mittelteil weglassen?«
Mareike öffnete den Mund für eine Antwort, als der Moldau-Walzer ertönte – aus Susannes Handy. Es lag zum Aufladen direkt neben Ellings Platz – was ihm den Blick aufs Display erleichterte: 0170 / 7 007 007.
Eine Nummer, die er nicht kannte. Aber ihn an James Bond erinnerte.
»Mette hat jetzt auch ihr Abi. Und die hat von ihren Eltern so ’nen kleinen italienischen Flitzer bekommen. Jahreswagen.«
»Vogts sind Ärzte, Mareike«, sagte ihr Vater, »die spielen in ’ner anderen Liga als wir.«
»Ihre Schwestern bekommen auch einen.«
»Da kannst du mal sehen, wie steinreich Ärzte sind – im Ernst, Mareike: Das ist nicht drin.«
Übung darin, seinem Kind etwas abzuschlagen, machte es einem nicht leichter, wie Elling feststellte.
Mareike schluckte schwer und senkte den Blick, sie atmete tief durch.
»Es geht nicht.«
Sie hob den Blick wieder und verbarg ihre Enttäuschung ziemlich überzeugend: »Wenn’s nicht geht, geht’s nicht.«
»Hab ich was verpasst?«, fragte Susanne, die jetzt die Küche betrat und mit ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange tauschte. Routiniert, aber nicht oberflächlich.
»Nein«, antworteten Mareike und Elling gleichzeitig und grinsten sich kurz zu wie zwei Verschworene.
Wieder ertönte die Moldau. Unwillkürlich schaute Frank Elling erneut aufs Display. Dieselbe Nummer. Diejenige, die Susanne wegdrückte und dann seinen fragenden Blick auffing: »Ist unser Praktikant.«
»Du hast einen Praktikanten?«
»Ja. Lehmann. So’n Lütter«, sagte sie und hielt die flache Hand knapp unter ihren Hals, »will mal ein großer Journalist werden. Süß.« Susanne lächelte verständnisvoll und voller Rücksicht für die Flausen des journalistischen Nachwuchses: »Er begleitet mich heute zum Wahlkampf.«
Der Wahlkampf. Ihr großes Thema, seit Wochen begleitete sie den Herausforderer redaktionell.
»Witzig. Wir haben keine Praktikanten.«
»Da denk mal drüber nach.«
Ihr Blick ging an ihm vorbei, hinaus über die Terrassentür in den Garten. Und zum Pool.
Der Anblick versetzte Susanne Elling einen Stich. Sie wusste, woher dieser Stich kam, warum er kam und weswegen er einen Schmerz in ihr hervorrief. Einer Fügung folgend verließ Mareike die Küche, sie waren unter sich.
»Elling, der Pool …«
»Ja?«
»Ist … er ist … wie soll ich das sagen …«
»Suse?«
»Ja?«
Er hatte sich vorgebeugt, sein Gewinnerlächeln stand ihm im Gesicht. »Wer das Leben festhalten will, muss es feiern.«
Sie streckte die Waffen – und in ihrem Lächeln lag eine Spur Verzweiflung. Bevor sie etwas erwidern konnte, klingelte sein Handy.
»Elling?«
Es war ein Anruf aus dem Kommissariat.
»Rainer hier, guten Morgen.«
Sein Abteilungsleiter Rainer Mertens bei der Rostocker Kripo.
»Morgen, Rainer.«
»Du musst gar nicht erst ins Büro kommen. Wir haben einen Leichenfund in Toitenwinkel. Die Staatsanwaltschaft hat schon Dr. Pramann rübergeschickt und die KTU. Ich sage noch Frau Mendt Bescheid.«
Mertens gab ihm noch die Straße durch und die Hausnummer, bevor er das Gespräch beendete. Ellings Vorgesetzter war letzten Monat sechzig geworden. Was andere in Sinnkrisen stürzte, löste bei ihm Begeisterung aus – nur noch fünf Jahre!
Elling glaubte im Gegensatz zu Mertens nicht an jenes sorgenlose Paradies am Ende des Berufslebens.
Die Mertens’ sparten an allem. Beim Essen (nur Angebote beim Discounter), beim Reisen (nur alle drei Jahre und dann an die Müritz – mit dem Fahrrad), beim Leben an sich. Bei der Weihnachtsfeier hatte er Frau Mertens vor ein paar Jahren mal die Hand geschüttelt. Sie hatte nicht so ausgesehen, als habe sie viel gelacht in ihrem Leben. Um ihren Mund hatte sich ein bitterer Zug eingenistet.
So weit wollte Elling es in seiner Ehe nicht kommen lassen. Er streifte sich das hellbraune Jackett über, an dem Susanne missfiel, dass es an den Ellenbogen bereits abgescheuert wirkte. Genau wie die Spitzen seiner ausgetretenen Lieblingsschuhe. Er gab ihr einen Kuss auf den Mund, bevor er das Haus verließ.
Nach einigen Metern drehte er sich um und begutachtete ihr Zuhause. Gut, es war übersichtlich. Aber wenn Mareike früher oder später auszog, was sollten sie dann mit mehr Platz? Etwas in die Jahre gekommen war es auch. Er verdächtigte seine Frau manchmal, sie schäme sich deswegen, was sie mit einer Vehemenz von sich wies, die seinen Verdacht erhärtete. Ja, es hatte etwas Patina und schien sich angesichts der modernen Neubauten im Ringelrankenweg gegenüber ein wenig zu ducken, aber es gehörte ihnen. Fast. Bis auf das, was noch abzuzahlen war.
Bevor er in seinen altersschwachen schwarzen Volvo V90 steigen konnte, trat Wildhagen an ihn heran.
»Die Gegenstromanlage, Herr Elling, wenn ich die bestelle, müssen wir Vorkasse zahlen, und da wollte ich fragen, ob Sie da mit ’ner Anzahlung behilflich sein könnten.«
»Na klar. Wie viel brauchen Sie denn?«
»So ein Drittel, das wären über ’n Daumen 1000 Euro.«
Frank Elling überspielte seinen Schluckreflex mit einem Husten. Tausend Euro. Das waren immerhin 2000 Mark – seit der Einführung der neuen Währung vor anderthalb Jahren rechnete er im Geist immer noch um. Elling bemühte sich allerdings, seine Umrechnung in D-Mark nicht in Worte zu fassen – Susanne empfand das als engstirnig.
»Kein Problem, kriegen Sie. Ich muss nur zur Bank.«
Wildhagen nickte verständnisvoll.
Da kam auch Susanne aus dem Haus und schwang sich aufs Rad – die Redaktion des Rostocker Tageblatts lag keine zwei Kilometer vom Ringelrankenweg entfernt am Alten Markt.
Elling nahm mit seinem Volvo, dem die Radkästen zu rosten begannen, die Autobahn A 19, die Rostock nach Osten umging, und fuhr in Rostock-Nord ab. Von der Autobahn waren die Plattenbauten in Toitenwinkel schon zu sehen. Kein Supermarkt hatte sich dorthin verirrt, keine Bar, kein Restaurant. Ein Relikt der DDR, um das das Leben beharrlich einen Bogen schlug.
An der ersten Ampel links musste er stoppen. Das Thermometer war um acht am Morgen bereits auf 19 Grad gestiegen. Er schaute zur Seite – und es war Liebe auf den ersten Blick.
Ein VW Polo. Silber. Schick. Acht Jahre alt – nur 4999 Euro. Auf einem kargen Platz für Gebrauchtwagen. Unterlegt mit verdichtetem Schotter, umgeben mit einem mannshohen Maschendrahtzaun.
Elling verzog sein Gesicht zu einer Grimasse bei dem Gedanken daran, was sein Kundenberater bei der Bank zu diesem Einfall sagen würde. Hätte seine Tochter vorhin rebelliert, ihn beschimpft oder beleidigt die Tür geknallt, er wäre nicht weich geworden. Das heißt: vermutlich nicht. Zumindest für einen Tag nicht.
Aber wie sie sich gefügt hatte, das hatte ihm das Herz gebrochen. Er wählte Susannes Nummer in der Redaktion, weil sie das Handy tagsüber abstellte, wenn sie sich auf einer Reportage befand.
»Stiller, Rostocker Tageblatt?«
»Frau Stiller, Elling hier. Ich wollte kurz meine Frau sprechen – sie ist nicht da?«
»Äh, nein.«
»Und ihr Praktikant? Lemmel … Lamann?«
»Lehmann?«
»Den mein’ ich. Vielleicht erreich ich sie über den? Wenn der ein Handy hat?«
»Hat er. Aber der ist krank.«
»Oh.«
»Ja, schon seit einer Woche.«
Frank Elling schluckte.
Er war krank. Er hatte von zu Hause aus angerufen. Aus dem Bett. Und Susanne hatte vergessen zu erwähnen, dass ihr Praktikant gar nicht in der Redaktion erscheinen konnte.
Hinter ihm hupte es mehrfach. Elling blickte auf – die Ampel war auf Grün umgesprungen.
Die Blicke waren ihr wohlbekannt. Sie fuhren tastend über ihren Körper, wach und neugierig, und sie endeten stets in ihren Augen, dann fühlten sie sich ertappt wie pubertierende Jungs und senkten den Blick.
Lona Mendt hatte ihre Triumph Bonneville direkt vor dem Plattenbau neben dem fahrenden Labor der KTU abgestellt, den Helm vom Kopf gezogen und die blonden, knapp schulterlangen Haare geschüttelt. Sie trug schwere schwarze Boots, falls sie mit dem Retro-Motorrad stürzte. Dazu enge Jeans und eine Lederjacke. Kein Ring, keine Kette, keinen Ohrring. Nur dezent geschminkt.
Vor der fraglichen Wohnung überwachten zwei Streifenbeamte den Tatort hinter einem Absperrband, ein junger Kollege, keine fünfundzwanzig, und ein korpulenter mit weinroter Nase, Ende fünfzig oder drüber.
Der Ältere stellte sich ihr auf behutsame Art in den Weg. »Tut mir leid, Fräulein, kein Durchgang hier.«
Lona Mendt nickte und öffnete die Lederjacke, um ihren Dienstausweis zu zücken. Dabei sah der Streifenbeamte die Walther P99 mit dem Handgriff für Linkshänder, die die Frau seitenverkehrt rechts trug. Den Knauf nach vorne gerichtet. Griffbereit. Sie hielt ihm ihren Dienstausweis hin.
»Ach so.«
»Ja.«
Sie hob das Band an, schlüpfte darunter hindurch und betrat die Wohnung. Sah das Klingelschild. Handgekritzelt. Das gesplitterte Holz des Türrahmens. In der Wohnung summte es wie in einem Bienenstock. Die Mitarbeiter der KTU liefen in weißen Anzügen wie Astronauten durch die Wohnung. Mit Kapuzen und Mundschutz, nur ihre Augen machten sie unterscheidbar.
Sie sprühten und pinselten an Türklinken, Zargen, Büchern, Möbeln, sie vermaßen den Tatort mit Lasergeräten, unablässig gleißten Blitzlichter auf, wenn die Beamten etwas auf Fotos festhielten. Es roch nach Chemikalien und Eisen.
Ihr Kollege Frank Elling saß auf einem Hocker im Flur und rauchte, er war ziemlich blass. Er hatte eine abgegriffene Kladde auf seinen Oberschenkeln abgelegt und machte sich Notizen.
»Morgen, Elling.«
»Morgen.«
Das Surren schwoll mit jedem Meter an, den Lona Mendt in die Wohnung hineinging – und das aus dem Badezimmer zu stammen schien.
Sie deutete mit dem Kopf in den dunklen Raum und sah Elling dabei fragend an. Der nickte.
»A. Beck ist wer?«, fragte sie, während sie sich die Einweghandschuhe überstreifte.
»Alexander Beck«, meldete sich eine Stimme hinter ihr, zu der Lona sich umwandte: Lisa Schneider, mit nur 35 Jahren leitete sie die KTU. Im Gegensatz zu Elling verfügte sie über einen robusten Magen. Sie hatte den Mundschutz unters Kinn geklemmt, um Lona die Informationen zu geben.
»Alexander Beck. Alleinstehend. Arbeitslos. 47 Jahre alt. Ehemaliger ostdeutscher Staatsbürger. Kinderlos«, las sie wie aus einem Telegramm vor.
Lona betätigte den Lichtschalter und trat ins Bad. Von dem entblößten, kopfüber von der Decke hängenden Toten stoben eine Unzahl an Fliegen surrend auseinander.
Lona fächelte sie instinktiv mit einer Hand beiseite.
»War Dr. Pramann schon da?«
»Ja«, hörte sie Elling im Flur, der ihr und Lisa Schneider nicht gefolgt war, »er sagt, das Opfer ist mit ziemlicher Sicherheit an dem Kehlenschnitt gestorben. Der Täter ist vermutlich ein Linkshänder.«
Der Schnitt war nicht zu übersehen, aber die Tiefe wegen des geronnenen Blutes nur schwer zu erahnen. Schädel und Oberkörper des Mannes waren von Stich- und Schnittwunden übersät. Unten, in der Badewanne, hatte sich eine Lache gebildet, die ins Schwärzliche überging.
»Er hat eine schwarze Socke im Rachen«, fuhr Elling von draußen aus fort, »vermutlich verschluckt. Pramann will ihn heute noch obduzieren, Ergebnisse gibt es morgen.«
Lona nickte unbewusst, obwohl Elling sie nicht sehen konnte. Sie beugte sich vor und betrachtete intensiv das Gesicht des Toten, das nahezu komplett mit Blut bedeckt war. Der geöffnete Mund, die weit aufgerissenen Augen, in denen Lona Mendt noch Entsetzen zu erkennen glaubte. Am dicksten wölbte sich die Schicht des geronnenen Blutes an der Stirn. Dann widmete sie sich den vielen, kleinen Verletzungen.
»Ist er mal erkennungsdienstlich behandelt worden?«
»Nein«, antwortete Lisa Schneider, »nicht vorbestraft. Sozialhilfeempfänger. Gebürtiger Leipziger. Seit 1994 hier in Rostock gemeldet.«
Die Leiterin der Spurensicherung schlug unvermittelt zu und erwischte eine der Fliegen, die sie aufhob und musterte.
»Dann hängt er schon eine Weile hier«, vermutete Lona Mendt mit einem Seitenblick auf das Insekt.
Schneider wiegte den Kopf leicht hin und her: »Die blaue Schmeißfliege … eine Calliphoridae, aber das wird der Entomologe sich genauer ansehen. Das heißt, ein schwangeres Schmeißfliegenweibchen kann einen Toten auf mehr als hundert Meter riechen. Und wenn sie ihre Eier in der Leiche abgelegt haben, schlüpfen die ersten Larven schon nach 15 Minuten, besonders wenn’s warm ist. So wie jetzt.«
»Er hatte einige Fenster auf Kippe«, bestätigte Frank Elling. »Der Gerinnungsstatus des Blutes spricht auch dafür, dass es noch nicht lange her ist. Ist jedenfalls Pramanns Einschätzung.«
»Das Badezimmer ist aber nicht der Tatort, richtig?«
»Das stimmt«, sagte Lisa Schneider, »wie es aussieht, ist Herr Beck im Wohnzimmer ermordet und dann hier aufgehängt worden.«
Das ließ sie stutzen.
»Das ist bemerkenswert«, sagte Lona Mendt dann.
»Weil?«, wollte Schneider wissen.
»Weil die Tür zwar angelehnt, aber aufgebrochen war, und der Täter trotzdem Zeit darauf verwandt hat, die Leiche hierherzuschaffen und sie an der Decke zu befestigen«, kam Elling ihr zuvor. »Obwohl er dabei jederzeit hätte entdeckt werden können.«
Lona nickte der KTU-Frau zu. Elling hatte ihren Gedanken fast beängstigend exakt wiedergegeben. Er erschien dafür jetzt sogar in der Tür und atmete durch den Mund, um den Geruch für sich auf ein Minimum zu reduzieren.
Manchmal las sie in seinem Gesicht dieselbe Überraschung, die sie empfand, wenn sich zwischen ihnen diese stumme Übereinstimmung einstellte. Ein rätselhafter Gleichklang, dem sie beide nicht ganz über den Weg trauten.
Denn es gab so gut wie nichts, in dem sie ansonsten übereinstimmten. Frank Elling lebte mit seiner Tochter und seiner Frau in seinem Haus in Rostock-Brinckmannsdorf. Fest verwoben in ein Netzwerk aus Kollegen, Nachbarn, Freunden, mit denen er auf dem großen Fernseher im Wohnzimmer Fußball schaute oder auf der Terrasse grillte. In der Nachbarschaft half man sich gegenseitig mit ein paar Eiern oder Dosentomaten aus, eben das, was an einem Sonntag so fehlte, wenn die Supermärkte geschlossen hatten. Und im Winter schippte man auch die Ausfahrt des Nachbarn mit frei.
Gemeinsam nicht viel Aufhebens machen.
So war das Leben im Ringelrankenweg.
Lona Mendt dagegen blieb nie lange an einer Stelle. Im Augenblick parkte das Wohnmobil, in dem sie wohnte, auf dem Campingplatz in Markgrafenheide, keine dreihundert Meter von der Ostsee entfernt und fünf Kilometer von Rostock-Toitenwinkel. Sie hatte es mit jedem Monat des Gebrauchs immer weiter an ihre Bedürfnisse angepasst. Etwa, dass die Bonneville hinten in den Laderaum passte. Gesägt, gebohrt, Leitungen verlegt, Ventile eingestellt.
Morgen, in ein paar Tagen oder vielleicht erst in einem halben Jahr würde sie die Anschlüsse für Wasser und Strom abschrauben und woanders hinfahren. Vielleicht an die Unterwarnow. Vielleicht zu einem Bauernhof. Oder einfach auf einen Feldweg.
Und wenn jemand anklopfte und erklärte, sie dürfe dort nicht stehen, hatte sie bisher immer einen Kaffee angeboten und mit spielerischer Beiläufigkeit ihren Dienstausweis präsentiert. Zumindest eines der beiden wirkte Wunder und zusammen bildeten sie ein unschlagbares Doppel.
Es gab nichts, was sie lange hielt. Sie war erst vor knapp 15 Monaten von Hannover auf eigenen Wunsch nach Rostock versetzt worden. In der Rostocker Kripo galt sie auch wegen ihrer Lebensumstände als eine Exotin.
Seit dem Mauerfall vor vierzehn Jahren war man hier eine Menge gewöhnt. Die erste Begeisterung war gewichen, als die Wessis eingefallen waren und sie seitdem wie Menschen zweiter Klasse behandelten. Mit ihrem Hang zur Rechthaberei. Sie trimmten Abläufe auf Effizienz, sie korrigierten die falsche Verwendung des Genitivs, sie kanzelten einen vor versammelter Mannschaft ab – und sie waren echte Denunzianten. Immerhin war man wenigstens Letzteres gewohnt.
Aber Lona Mendt war nichts von alledem, sie verbesserte oder korrigierte niemanden. Sie verhielt sich auch nie abschätzig, sondern kooperativ. Gleichzeitig übertraf sie all ihre Vorgänger in puncto Unnahbarkeit. Sie gab nichts über sich preis, blieb dabei aber freundlich. Und eine Kommissarin, die in einem Wohnmobil lebte, das kannte man nur aus amerikanischen Filmen.
Mareike fand die Kollegin selbstredend cool. Elling hatte Mendt nach vier Monaten zu sich eingeladen, zum Grillen, versteht sich. Susanne versteckte ihre Neugier hinter der Aussage, dass der gute Ton das gebiete.
Sie und Lona tauschten ein paar höfliche Allgemeinplätze, sie bemühten sich, einander interessant zu finden, aber sie tickten unterschiedlich.
Mareike klebte Lona Mendt dafür umso mehr an den Lippen. Sie überlegte, ob sie auch ihren Motorradführerschein machen sollte, aber Lona riet ihr ab – zu gefährlich. Susanne dankte ihr dafür. Und gähnte nach dem Dessert mehr oder minder offensichtlich hinter vorgehaltener Hand. Lona hatte sich recht bald verabschiedet.
Im Gegensatz zu Elling schob Lona Mendt auch Überstunden, wenn es sein musste. Und sie hatte eine gute Intuition. Wenn es überhaupt so etwas wie eine Schnittmenge zwischen ihnen gab, dann verlief sie hier – ihr Bauchgefühl trog sie beide höchst selten.
»Hast du mal in Hannover nachgehorcht, was mit der nicht stimmt?«, hatte Mertens ihn bei Königsberger Klopsen in der Kantine gefragt.
»Nein.«
»Nein?«
»Nein. Was soll denn mit ihr nicht stimmen? Sie lebt in einem Wohnmobil – und?«
»Und findest du das nicht merkwürdig?«
»Sie ist eine gute Polizistin.«
Mertens schob sich einen Haufen Rote Bete in den Rachen, der statisch unmöglich war.
»Du hast mir nicht geantwortet«, sagte Mertens mit vollem Mund.
»Doch, aber du hast es nicht verstanden.«
»Vorsicht, Elling, ich bin dein Vorgesetzter.«
»Aber nur noch fünf Jahre.«
Mertens nickte und strahlte.
Lona Mendt war komplett autark. Sie brauchte niemanden. Das schloss sie alle auf gewisse Weise aus. Und zog sie alle auf die eine oder andere Weise an, und sei es nur, dass man sich Gedanken über die Neue aus Hannover machte.
Lona Mendt wandte sich ab, um das Badezimmer zu verlassen, als sie die Kontur entdeckte. Eine leichte Wölbung im verkrusteten Blut auf der Stirn des Opfers.
Eine Gerade.
Sie machte kehrt und beugte sich vor.
»Was ist?«
»Da ist unnatürlich viel Blut auf der Stirn«, antwortete sie ihrem Kollegen, »und da ist eine Gerade. Und …«
Sie benetzte ihren linken Einweghandschuh mit etwas Wasser.
»Und die Natur zieht keine Geraden«, kleidete Elling ihre Gedanken in Worte.
»Ja«, bestätigte sie, »es gibt keine absolute Gerade, an der kein Mensch beteiligt ist.«
Sie fuhr mit ihren feuchten Fingerspitzen an jener Stelle, an der sie die Gerade entdeckt hatte, sanft über die Stirn des Mordopfers. Das verkrustete Blut löste sich Schicht um Schicht, lief zögerlich von der Mitte des Schädels hinab, bis es schließlich in der Lache in der Wanne aufschlug.
Es erschien ein länglicher Schnitt, der die Ursache der Geraden darstellte. Aber von dem Schnitt gingen an dessen Enden jeweils zwei in einem spitzen Winkel ab. Der untere nach oben und der obere nach unten, sodass sie sich kreuzten. Lona Mendt und Elling hätten das für eine versehentliche Schnittkombination halten können – wenn die paar Wassertropfen nicht noch mehr Blut verdünnt hätten und jetzt rechts davon ein »E« freilegten.
»D-E«, sagte Elling und vergaß für einen Moment das Surren der Fliegen, das ihm auf den Magen schlug. Lona nickte. Leichte Aufregung hatte von ihr Besitz ergriffen.
Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Jacke, ließ Wasser darüber laufen und wischte mit sanftem Druck über die Stirn des Ermordeten. Im Bad war es mucksmäuschenstill. Die Leiterin der Spurensicherung, die so schnell nichts beeindrucken konnte, hielt die Luft an. Weitere drei Buchstaben erschienen.
»D-E-R-F-I«, verband Elling diejenigen Buchstaben, die die Kollegin freigelegt hatte.
Mendt fuhr Beck links und rechts über die Stirn.
»Kinderficker«, sagte Schneider leise. Für einen Augenblick rührte sich keiner von ihnen, zu sehr waren sie bemüht, zumindest einen der vielen auseinanderstiebenden Gedanken zu erfassen, die diese Nachricht des Täters an sie auslöste.
»Das Tatmotiv würde zu den vielen Verletzungen passen«, stellte Lona Mendt ruhig fest.
»Inwieweit?«, fragte Schneider.
»Der Täter stand zu seinem Opfer in einem persönlichen Verhältnis. Es waren eindeutig starke Emotionen im Spiel. Wenn ich einen Menschen töten will, steche ich einmal zu, vielleicht zweimal und dreimal, aber das hier«, sie deutete mit dem Kopf auf den von der Decke baumelnden Leichnam, »da war jemand in purer Raserei unterwegs. Anders sind die Unmengen an Stichverletzungen psychologisch nur schwer einzuordnen.«
Lisa Schneider verstand.
»Und er hat sich für seine Tat nicht geschämt, sonst hätte er die Leiche abgedeckt. Ganz im Gegenteil, der Mörder hat sie ausgestellt. Über Kopf ausbluten lassen – da drängt sich doch sofort eine Assoziation auf.«
»Wie ein Schwein«, sagte die KTU-Leiterin sofort. Mendt nickte.
»Das passt vielleicht auch zu dem Mädchen«, fügte Elling hinzu.
»Mädchen?«
»Können wir das im Flur besprechen?« Er wartete Mendts Reaktion gar nicht erst ab, sondern zog sich aus dem Bad zurück.
»Ich will sowieso noch ins Wohnzimmer«, antwortete sie und folgte Elling. Im Vorbeigehen registrierte sie die aufgerissenen und durchwühlten Schubladen.
»Und gesucht hat er auch was.«
Der mutmaßliche Tatort.
»Was für ein Mädchen?«, hakte Lona nach.
»Das Nachbarskind hat ihn gefunden, eine Anna Molitor, zehn Jahre alt. Sie wollte Herrn Beck um ein paar Süßigkeiten bitten, er hat hin und wieder welche an Kinder verteilt.«
Lona hob aufmerksam den Blick und begegnete Ellings.
»Süßigkeiten an Kinder«, stellte sie fest. In ihrer Stimme schwang etwas mit. Anbahnung an das Opfer.
»Ja.«
»Hat die Kleine die Leiche gesehen?«
Frank Elling schüttelte den Kopf: »Sie hat nur einen Umriss gesehen, die Fliegen gehört. Und natürlich gesehen, dass hier alles verwüstet worden ist. Sie ist zu ihrer Mutter, die hat nachgesehen und den Notruf abgesetzt. Die sind gerade beim Psycho. Wir können sie später sprechen.«
»Hat er einen Computer?«
»Das Ding da«, sagte Elling und deutete auf eine Kommode, auf der ein klobiger PC samt Röhrenmonitor mit bernsteinfarbener Schrift mit dem Laptop der KTU verkabelt war. Lona trat an sie heran.
»Frau Schneider hat dafür gesorgt, dass die Festplatte gespiegelt wird. Browserverlauf ist schon ausgelesen.«
»Und sonst überprüft?«
»Nein.«
»Dann bin ich jetzt auf dem Stand?«
Elling nickte und zündete sich eine Zigarette an, während Lona sich durch die Verzeichnisse des Toten klickte, nachdem die Festplatte sich mit einem Knarzen in Bewegung gesetzt hatte und der Lüfter seinen Dienst verrichtete.
»Die KTU nimmt alle Messer mit ins Labor, falls der Täter eines aus dem Haushalt benutzt hat. Ach ja, und an einer Pinnwand in der Küche haben drei Bilder oder Postkarten oder was auch immer gefehlt. Die haben da so lange gehangen, dass die Sonne drum herum alles abgeschossen hat. Man sieht die Ränder. Aber könnte er natürlich auch selbst gewesen sein.«
Damit gab er ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, in die gegenüberliegende Küche zu wechseln, was Mendt mit einem Nicken quittierte.
»Ich hab was«, sagte Lona Mendt, bevor er den Flur überquert hatte. Also kehrte er um und las in ihrem Blick, der auf den Monitor des Computers gerichtet war, die seltene Kombination von Ekel, Wut und Mitleid.
Elling trat neben sie. Kinder. Mädchen und Jungs. Leicht bekleidet oder nackt. Auf Fotos und – Mendt klickte eines der Symbole an – auch auf Video. Sie fuhr mit dem vertikalen Balken durch das Verzeichnis hinab. Eine Flut an kinderpornografischem Material stürzte auf sie ein, eine, die kaum enden wollte.
Lona Mendt nahm die Hand von der Maus. »Ich werd so was nie verstehen.«
Elling nickte: »Hier hat sich jemand gerächt. An seinem Peiniger. Oder dem Peiniger eines Familienangehörigen. Entweder hat Herr Beck verkauft oder gekauft. Oder beides. Ich forder bei Mertens Konteneinsicht an.«
»Gut«, antwortete Lona, »kriechen wir in ihn rein.«
So nannten sie es hier bei der Rostocker Kripo, wenn sie die Identität eines Toten anhand vieler Details Stück um Stück ertasteten. Am Ende, wenn sie viele Kleinigkeiten zusammengetragen hatten, entstand eine Art Mosaik des Opfers. So etwas wie ein Profil.