[1]
Hier und im Folgenden zitiert aus: Odilon Redon, Selbstgespräch: Tagebücher und Aufzeichnungen 1867–1915. Übersetzt und herausgegeben von Marianne Türoff. Mäander Vlg., München 1986
[2]
Inzwischen leichter zu sehen im Musée d’Orsay. Die Ankunft des Bildes dort wurde von John Updike in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel »Zwei Fotzen in Paris« gefeiert (Americana and Other Poems, 2001)
[3]
Bridget Alsdorf, Fellow Men: Fantin-Latour and the Problem of the Group in 19th-Century French Painting, 2012
[4]
Die Nabis (darüber im Folgenden sehr viel mehr) waren eine Künstlergruppe mit einem denkbar wenig ansprechenden und wenig anschaulichen Namen. Die treffendsten Bezeichnungen stammen oft von feindlichen Kritikern, siehe Impressionismus und Kubismus. Der Name Nabis – deren bedeutendste Anhänger Bonnard, Vuillard, Vallotton, Maurice Denis, Ker-Xavier Roussel und der Bildhauer Maillol waren – geht offiziell auf ein Mitglied dieser Gruppe zurück, den Maler August Cazalis. Nabi bedeutet auf Hebräisch und Arabisch »Prophet«; die Nabis sollten also die Malerei neu beleben, wie die alten hebräischen Propheten die Religion neu belebt hatten. Dabei hatten weder ihre Sujets – das moderne urbane Alltagsleben – noch ihr persönliches Verhalten, das im Allgemeinen bescheiden war, irgendetwas Visionäres. Ein satirischer Beobachter meinte, sie hießen so, weil »die meisten von ihnen Bärte trugen, einige Juden und alle bitterernst waren«.
[5]
Alex Danchev, Cézanne: A Life, 2012
[6]
Anka Muhlstein, Mit Feder und Pinsel. Zola, Balzac, Proust und die Malerei. Deutsch von Ulrich Kunzmann. Insel Verlag, Berlin 2017
[7]
Paul Valéry, Tanz, Zeichnung und Degas. Deutsch von Werner Zemp. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1996
[8]
Alice Michel, Degas and His Model. Englische Übersetzung von Jeff Nagy. David Zwimmer Books, New York 2017
Alice Michel, Degas und sein Modell. Deutsch von Reinhard Tiffert, in: Wilhelm Schmid (Hg.), Wege zu Edgar Degas. Verlag Matthes & Seitz, München 1988
[9]
Odilon Redon, Selbstgespräch: Tagebücher und Aufzeichnungen 1867–1915. Übersetzt und herausgegeben von Marianne Türoff. Mäander Vlg., München 1986
[10]
Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich. Ü: Brigitta Restorff. Hrsg. + Nachwort Ulla Momm. Manholt Vlg., Bremen 1991
[11]
Leo Jansen, Hans Luijten, Nienke Bakker (ed.), Ever Yours: The Essential Letters of Vincent Van Gogh. Yale University Press 2014
Leo Jansen, Hans Luijten, Nienke Bakker (Hrsg.), Vincent van Gogh: »Manch einer hat ein großes Feuer in seiner Seele.« Die Briefe. Übersetzung Marlene Müller-Haas, Susanne Röckel, Andrea Prins. C.H. Beck Vlg. München 2017
Julian Bell, Van Gogh:A Power Seething. New Harvest 2015
[12]
J.-K. Huysmans, Modern Art. Übersetzt von Brendan King. Dedalus, Sawtry 2019
[13]
Françoise Gilot / Carlton Lake, Leben mit Picasso. Ü: Anne-Ruth Strauß. Diogenes, Zürich 1981, S. 226/227
[14]
David Sylvester, Magritte. Ü Maria Paukert, Silvia Porsche-Zimmermann, Günther Kirchberger. Parkland Verlag, Köln 2009
[15]
Und da der Besitzer der Firma zugleich Miteigentümer des Crystal Palace Football Clubs ist, können Fans auf der Tribüne in Selhurst Park beim Blick nach unten Magrittes Weinflaschen sehen, die das Dach der Trainerbänke von Heim- und Gastmannschaft zieren. Eine kleine Verschiebung, die dem Maler wohl gefallen hätte.
[16]
Martin Gayford, Man with a Blue Scarf, 2010. Deutsch: Mann mit blauem Schal: Ich saß für Lucian Freud – Ein Tagebuch. Übersetzung Heike Reissig. Piet Meyer Vlg. Wien 2011
Geordie Greig, Breakfast with Lucian, 2013. Deutsch: Frühstück mit Lucian Freud. Übersetzung Matthias Fienbork. Vlg. Nagel & Kimche AG im Carl Hanser Vlg. München 2014
Gertraude Krueger dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. für die Förderung ihrer Arbeit an der vorliegenden Übersetzung.
Für Pat
Vor einigen Jahren wurde ein befreundeter Journalist, den seine Zeitschrift nach Paris entsandt hatte, in rascher Folge Vater zweier Kinder. Sobald sie richtig gucken konnten, ging er mit ihnen in den Louvre und führte ihrer kindlichen Netzhaut liebevoll einige der großartigsten Gemälde der Welt vor. Ob er ihnen wie manche andere werdenden Eltern auch klassische Musik vorgespielt hatte, während sie noch im Mutterleib waren, weiß ich nicht; aber manchmal frage ich mich, was wohl aus solchen Kindern wird: potenzielle MOMA-Direktoren – oder womöglich Erwachsene mit keinerlei visuellem Gespür und einem Horror vor Kunstgalerien.
Meine eigenen Eltern haben nie versucht, mich in frühen (oder sonstigen) Jahren mit Kultur zu füttern, haben mich aber auch nie davon abbringen wollen. Sie waren beide Lehrer, und darum wurde der Kunst – genauer gesagt dem Konzept der Kunst – bei uns Respekt erwiesen. In den Regalen standen richtige Bücher und im Wohnzimmer gab es sogar ein Klavier, das in meiner Kindheit aber nie wirklich gespielt wurde. Meine Mutter hatte es als junge, begabte und vielversprechende Pianistin von ihrem lieben Vater geschenkt bekommen. Ihr Spiel fand jedoch ein Ende, als sie sich mit Anfang zwanzig an einem schwierigen Stück von Skrjabin versuchte. Nachdem es ihr bei wiederholten Anläufen nicht gelungen war, dieses Stück zu meistern, wurde ihr klar, dass sie ein gewisses Niveau erreicht hatte und darüber nie hinauskommen würde. Sie hörte auf zu spielen, abrupt und endgültig. Das Klavier wurde sie dennoch nicht los; es zog mit ihr um, folgte ihr getreulich in Ehe, Mutterschaft, Alter und Witwenstand. Auf dem regelmäßig abgestaubten Deckel lag ein Stapel Noten, darunter auch das Stück von Skrjabin, das sie vor Jahrzehnten aufgegeben hatte.
An Kunstwerken gab es drei Ölgemälde im Haus. Zwei zeigten ländliche Szenen im Finistère, gemalt von einem der französischen assistants meines Vaters. In gewissem Sinn waren sie ebenso trügerisch wie das Klavier, da »Onkel Paul«, wie er bei uns hieß, sie genau genommen nicht en plein air geschaffen hatte; nein, er hatte sie von Ansichtskarten abgemalt und ein wenig ausgeschmückt. Die Originale, nach denen er gearbeitet hatte (eins davon mit echter Farbe verschmiert), habe ich noch vor mir auf dem Schreibtisch. Das dritte Bild, das bei uns im Flur hing, war etwas authentischer. Dieser goldgerahmte weibliche Akt in Öl war womöglich eine im neunzehnten Jahrhundert entstandene mittelmäßige Kopie eines ebenso mittelmäßigen Originals. Meine Eltern hatten das Bild auf einer Auktion in dem Londoner Vorort erstanden, in dem wir wohnten. Es ist mir vor allem deshalb in Erinnerung geblieben, weil ich es völlig unerotisch fand. Das kam mir sehr merkwürdig vor, denn andere Darstellungen unbekleideter Frauen hatten meist eine nach meinem Empfinden gesunde Wirkung auf mich. Vielleicht war das bei Kunst eben so: Mit ihrer Erhabenheit nahm sie dem Leben alles, was es aufregend machte.
Es gab weitere Anhaltspunkte dafür, dass darin Sinn und Zweck der Kunst liegen könnten: die langweiligen Laientheateraufführungen, zu denen meine Eltern meinen Bruder und mich einmal im Jahr mitnahmen, und die drögen Diskussionen über Kunst, die sie sich im Radio anhörten. Mit zwölf, dreizehn Jahren war ich ein gesunder kleiner Kulturbanause, wie sie in Großbritannien so gut gedeihen, der sich nur für Sport und Comics interessierte. Ich konnte nicht singen, lernte kein Instrument, hatte in der Schule nie Kunstunterricht und hatte nach meinem kurzen (und stummen) Auftritt als dritter Weiser aus dem Morgenland mit etwa sieben Jahren nie wieder als Schauspieler auf der Bühne gestanden. Obwohl ich im schulischen Rahmen an Literatur herangeführt wurde und allmählich begriff, dass es da eine Verbindung zum wirklichen Leben geben könnte, war das für mich eher ein Fach, in dem ich Prüfungen bestehen musste.
Einmal gingen meine Eltern mit mir in die Londoner Wallace Collection: noch mehr Goldrahmen und unerotische Akte. Wir standen eine Weile vor einem der berühmtesten Bilder des Museums: De lachende cavalier [Der lachende Kavalier] von Frans Hals. Ich konnte beim besten Willen nicht erkennen, was den Mann mit dem albernen Schnurrbart so zum Grinsen brachte oder warum das ein interessantes Bild sein sollte. Vielleicht hat man mich auch in die National Gallery geführt, aber daran habe ich keine Erinnerung. Erst im Sommer 1964, als ich zwischen Schule und Universität einige Wochen in Paris verbrachte, habe ich mir aus freiem Willen Bilder angesehen. Und obwohl ich bestimmt auch im Louvre war, hat mich ein großes, dunkles, überhaupt nicht modernes Museum am meisten beeindruckt – vielleicht, weil da sonst niemand war und ich mich deshalb nicht unter Druck gesetzt fühlte, eine bestimmte Reaktion zu zeigen. Das Musée Gustave Moreau an der Gare Saint-Lazare war 1898 nach dem Tod des Malers an den französischen Staat gefallen und wurde seither – seiner Düsterkeit und Schmuddeligkeit nach zu urteilen – recht widerwillig erhalten. Im oberen Stock lag Moreaus riesiges, hohes, scheunenartiges Atelier, unzulänglich beheizt von einem klobigen schwarzen Ofen, der wahrscheinlich schon seit den Lebzeiten des Künstlers brannte. Die Wände waren von oben bis unten mit schlecht beleuchteten Bildern behängt, und große Holztruhen bargen flache Schubladen, die man herausziehen und worin man Hunderte von Vorskizzen betrachten konnte. Ich hatte meines Wissens nie zuvor ein Bild von Moreau gesehen und wusste nichts über ihn (schon gar nicht, dass er der einzige zeitgenössische Maler war, den Flaubert von ganzem Herzen bewunderte). Ich war mir nicht sicher, was ich von diesen Werken halten sollte: exotisch, juwelenübersät und dunkel glitzernd, mit einer seltsamen Mischung von privatem und öffentlichem Symbolismus, der mir fast gänzlich verschlossen blieb. Vielleicht fühlte ich mich gerade von diesem Rätselhaften angezogen, und vielleicht bewunderte ich Moreau umso mehr, als mich keiner dazu anhielt. Auf jeden Fall aber sagt mir meine Erinnerung, dass ich hier zum ersten Mal ganz bewusst Bilder anschaute, statt nur brav und passiv davor herumzustehen.
Mir gefiel auch, dass Moreau so absonderlich war. In diesem frühen Stadium als Betrachter hatte Kunst dann einen Reiz für mich, wenn sie so transformativ wie möglich war: Ja, ich dachte, das sei das eigentliche Wesen der Kunst. Man nahm das Leben und verwandelte es in einem charismatischen geheimen Prozess in etwas anderes: etwas mit dem Leben Verbundenes, das aber stärker, intensiver und im besten Fall verrückter war. Von den Malern aus früheren Zeiten hatten es mir solche wie El Greco und Tintoretto angetan wegen der fließenden, gedehnten Formen auf ihren Bildern, Bosch und Brueghel wegen ihrer fantastischen Einfälle, Arcimboldo wegen seiner witzigen emblematischen Konstruktionen. Und von den Malern des zwanzigsten Jahrhunderts – jedenfalls denen der Moderne – konnten mich so ziemlich alle begeistern, solange sie die öde Wirklichkeit in Kuben und Scheiben, wallende Wirbel, grelle Kleckse, intellektuelle Lineaturen und enigmatische Konstruktionen verwandelten. Hätte ich Apollinaire nicht nur als (modernen und darum bewundernswerten) Dichter gekannt, hätte ich mich seinem Lob des Kubismus als einer »noblen« und »notwendigen« Reaktion auf »die Frivolität dieser Zeit« angeschlossen. Was die umfassendere, längere Geschichte der Malerei betrifft, konnte ich natürlich sehen, dass Dürer, Memling und Mantegna brillant waren, aber eigentlich war der Realismus für mich nicht mehr als die Basis, von der alle Kunst ausgeht.
Das war eine normale und normal romantische Einstellung. Ich musste noch viele Bilder sehen, bevor ich begriff, dass der Realismus nicht etwa das Basislager für Höhenkammabenteuer anderer abgibt, sondern ebenso wahrhaftig und sogar ebenso sonderbar sein kann – dass auch der Realismus Entscheidungen, Organisation und Fantasie verlangt und darum auf seine Art ebenso transformativ sein kann. Ich fand auch langsam heraus, dass man über einige Maler (wie die Präraffaeliten) hinauswächst, in andere hineinwächst (Chardin), wieder anderen gegenüber ein Leben lang seufzend gleichgültig bleibt (Greuze); dass man manche Maler jahrelang übersieht und dann auf einmal wahrnimmt (Liotard, Hammershoi, Cassatt, Vallotton); dass es Maler gibt, die mit Sicherheit groß sind, aber man hat sich trotzdem nie richtig um sie gekümmert (Rubens), und Maler, die man in jedem Lebensalter beharrlich und unbeirrbar groß findet (Piero, Rembrandt, Degas). Und dann kam der vielleicht langsamste Entwicklungsschritt überhaupt: Ich erlaubte mir zu glauben oder vielmehr zu sehen, dass nicht alles an der Moderne ganz und gar wunderbar war. Dass einiges davon besser war als anderes; dass Picasso sich manchmal vielleicht zu wichtig machte, Miró und Klee ins Putzige abglitten, Léger sich ständig wiederholte und so weiter. Irgendwann musste ich erkennen, dass die Moderne ihre Stärken und Schwächen und ein eingebautes Verfallsdatum hatte wie alle anderen künstlerischen Bewegungen auch. Was sie natürlich nur noch interessanter machte.
Dennoch, 1964 wusste ich, dass das »meine« Bewegung war. Und ich empfand es als Glück, dass einige der großen Modernisten noch am Leben waren. Braque war im Vorjahr gestorben, aber Picasso, sein großer Konkurrent (im Leben wie in der Kunst), war noch da, ebenso wie das charmante Schlitzohr Salvador Dalí und Magritte und Miró (und Giacometti, Calder und Kokoschka). Solange die Moderne noch aktiv praktiziert wurde, konnte sie nicht den Museen und der Wissenschaft überlassen werden. Das galt auch für die anderen Künste: 1964 lebten T.S. Eliot und Ezra Pound noch, ebenso Strawinsky, den ich in der Londoner Royal Festival Hall einmal ein halbes Konzert dirigieren sah. Dass sich mein Leben (gerade noch) mit dem ihren überschnitt, war auf eine Art wichtig, die mir damals gar nicht ganz klar war, weil ich noch keine Ahnung hatte, dass ich einmal Schriftsteller werden würde. Aber wer sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts anschickte, irgendeine Kunst auszuüben, musste sich mit der Moderne auseinandersetzen: musste sie verstehen, verarbeiten, musste sich zurechtlegen, warum und wie sie alles verändert hatte, und sich überlegen, was das für ihn selbst als potenziellen Künstler nach der Moderne bedeutete. Man konnte (und sollte) seinen eigenen Weg gehen, aber die Bewegung einfach zu ignorieren und so zu tun, als hätte es sie nie gegeben, war ausgeschlossen. Im Übrigen war in den Sechzigerjahren schon die nächste und übernächste Generation am Werk – es gab die Postmoderne und später dann die Post-Postmoderne und so immer weiter, bis schließlich die Etiketten ausgingen. Ein Literaturkritiker in New York hat mich später einmal als einen »Prä-Postmodernisten« bezeichnet, ein Etikett, das ich noch nicht ganz verstanden habe.
Obwohl mir das damals nicht bewusst war, sehe ich jetzt, dass die Moderne sich mir eher in der Malerei als in der Literatur erschlossen, mich erfreut und begeistert hat. Offenbar ließ sich der Weg aus dem Realismus in bildhafter Form leichter verfolgen als in gedruckter. Man ging im Museum von Saal zu Saal und las ein scheinbar klares Narrativ: von Courbet über Manet, Monet und Degas zu Cézanne, dann zu Braque und Picasso – und schon war man da! In der Belletristik sah das alles komplizierter aus und folgte eher verschlungenen Pfaden als einer geraden Linie. Wenn Don Quijote der erste große europäische Roman war, dann ließ er sich mit seinen seltsamen Begebenheiten, seiner Raffinesse und seiner narrativen Selbstreflexion ebenso der Moderne, der Postmoderne und dem magischen Realismus zuordnen – alles auf einmal. Ähnliches gilt für den Ulysses: Wenn das der erste große moderne Roman war, warum sind dann seine besten Teile die realistischsten, diejenigen, die das gewöhnliche Leben am wahrhaftigsten wiedergeben? Ich wusste nicht – konnte noch nicht erkennen –, dass in allen Künsten meist zweierlei gleichzeitig passiert: ein Streben nach Erneuerung und ein fortwährender Dialog mit der Vergangenheit. Alle großen Erneuerer stützen sich auf frühere Erneuerer, auf die, die ihnen die Erlaubnis gaben, es einfach anders zu machen, und bildhafte Hommagen an Vorläufer sind in der Kunst gang und gäbe.
Gleichzeitig gibt es sehr wohl Fortschritt – oft unbequem, immer notwendig. Im Jahr 2000 organisierte die Royal Academy eine Ausstellung unter dem Titel »1900 – Kunst am Scheideweg«. Dort war, ohne dass die Hängung etwas besonders herausstellte oder ein Kurator eine bestimmte Sichtweise nahelegte, ein Querschnitt dessen zu sehen, was um die vorige Jahrhundertwende bewundert und gekauft wurde, ohne Rücksicht auf Schulen, Zugehörigkeiten und spätere kritische Beurteilung. Bouguereau und Lord Leighton hingen neben Degas und Munch, starrer Akademismus und langweilige Geschichtenerzählerei neben den luftigen Freiheiten des Impressionismus, gewissenhafter und didaktischer Realismus neben glühendem Expressionismus, gepflegter Porno und laienhaft naive erotische Grübeleien neben den neuesten mit dickem Pinsel aufgetragenen Versuchen einer wahrheitsgetreuen Körperdarstellung. Wäre eine solche Ausstellung im Jahre 1900 selbst organisiert worden, kann man sich leicht vorstellen, wie ratlos und brüskiert die Besucher vor dieser riesigen ästhetischen Kabbelei gestanden hätten. Das war die kakofonische Realität mit ihren Überschneidungen und Unvereinbarkeiten, die später zu Kunstgeschichte zerredet und verflacht werden würde, mit einer Zuschreibung von Tugend und Laster, einer Berechnung von Sieg und Niederlage und Rügen für schlechten Geschmack. Diese Ausstellung wollte bewusst nicht belehren und lehrte doch eines ganz klar: die »noble Notwendigkeit« der Moderne.
Flaubert glaubte, es sei nicht möglich, eine Kunst durch eine andere zu erklären, und ein großartiges Gemälde bedürfe keiner erklärenden Worte. Für Braque war der Idealzustand dann erreicht, wenn wir vor einem Bild stehen und gar nichts sagen. Von diesem Zustand sind wir jedoch sehr weit entfernt. Wir bleiben unverbesserliche verbale Wesen, die am liebsten alles erklären, sich Meinungen bilden, argumentieren wollen. Kaum stehen wir vor einem Bild, fangen wir an zu plappern, jeder auf seine Weise. Wenn Proust in einer Kunstgalerie herumging, äußerte er sich gern darüber, an wen ihn die Menschen auf den Bildern im wirklichen Leben erinnerten, was womöglich eine geschickte Methode war, der direkten ästhetischen Konfrontation auszuweichen. Aber es kommt selten vor, dass ein Bild so überwältigend oder überzeugend wirkt, dass es uns zum Schweigen bringt. Und wenn das doch einmal passiert, dauert es nicht lange und wir wollen dieses Schweigen, in das wir gestürzt wurden, erklären und verstehen.
2014 war ich nach einem halben Jahrhundert zum ersten Mal wieder im Musée Gustave Moreau. Es sah noch ganz so aus, wie die Erinnerung es mir weiterhin ausgemalt hatte: höhlenartig, düster und dicht behängt. Der alte gusseiserne Ofen war in den Ruhestand versetzt worden und hatte nur noch dekorative Funktion; und ich hatte vergessen, dass Moreau sich bei der Planung seines Hauses nicht nur ein gigantisches Atelier gegönnt hatte, sondern gleich zwei, eins über dem anderen, durch eine gusseiserne Wendeltreppe verbunden. Als Pariser Touristenattraktion bleibt das Musée so nachrangig wie eh und je. Und ich hatte inzwischen entdeckt, was Degas davon hielt. Er hatte sich selbst ein posthumes Museum einrichten wollen, aber ein Besuch in der Rue de la Rochefoucauld brachte ihn von seinem Vorhaben ab. Beim Hinausgehen bemerkte er: »Wie überaus trübselig … das könnte eine Familiengruft sein … Diese gedrängte Anhäufung von Bildern sieht für mich wie ein Thesaurus oder ein Gradus ad Parnassum aus.«
Dieses Mal war etwas in mir von meinem jüngeren Ich beeindruckt – dass es nicht kehrtgemacht und die Flucht ergriffen hatte. Ich klammerte mich an die Hoffnung, die fünfzig Jahre weiteren Bildersehens erlaubten mir jetzt, Moreau besser zu würdigen als beim ersten Mal. Aber ich sah wieder dieselben Cinemascope-Dimensionen und matten Technicolorfarben, dieselbe Verstiegenheit, immer wiederkehrende Thematik und erhabene Zurichtung von Sexualität. (Moreau sagte einmal zu Degas: »Gedenken Sie wirklich, die Malerei durch den Tanz zu beleben?« Degas erwiderte: »Und Sie – gedenken Sie, die Malerei mit Juwelen aufzumöbeln?«) Ich konnte zwar einiges an der Technik bewundern – vor allem Moreaus Innovation, Konturen und Verzierungen mit schwarzer Tusche über die bemalten Flächen zu legen –, aber meine Hoffnung musste ich nach einigen Stunden aufgeben. Der Flaubert, der Gustave Moreau bewundert hatte, war der Flaubert des Salammbô, nicht der Schöpfer der Madame Bovary. Das war und blieb gestelzte Kunst: Sie war aus akademischen Studien hervorgegangen und ist jetzt selbst zu einem lohnenden Objekt akademischer Studien geworden, ohne dass sie je eine mittlere Periode gehabt hätte, in der sie mit Leben, Feuer und Spannung erfüllt war. Und während ich sie zuvor auf interessante Weise absonderlich gefunden hatte, fand ich sie jetzt nicht absonderlich genug.
Ich begann über Malerei zu schreiben, als ich 1989 ein Kapitel in meinem Roman Eine Geschichte der Welt in 10½ Kapiteln Géricaults Le Radeau de La Méduse [Das Floß der Medusa] widmete. Seitdem bin ich nie einem bestimmten Plan gefolgt. Aber beim Zusammenstellen dieser Artikel habe ich gemerkt, dass ich unabsichtlich die Geschichte nachgezeichnet habe, die ich damals in den 1960er-Jahren zaghaft zu lesen begann: die Geschichte davon, wie die Malerei (vor allem die französische Malerei) ihren Weg von der Romantik zum Realismus und in die Moderne ging. Der mittlere Teil dieser Periode – etwa von 1850 bis 1920 – fasziniert mich noch immer als eine Zeit großer Wahrhaftigkeit, die mit einer fundamentalen Überprüfung künstlerischer Ausdrucksformen einherging. Ich glaube, wir können von dieser Zeit immer noch viel lernen. Und wenn ich als Kind auch das Stumpfsinnige jenes Aktbilds bei uns zu Hause richtig erkannte, so waren meine Schlüsse über die Erhabenheit der Kunst doch falsch. Die Kunst erfasst und vermittelt nicht nur, was das Aufregende, den prickelnden Reiz des Lebens, ausmacht. Manchmal macht sie selbst diesen Reiz aus.
Es fing mit einem bösen Vorzeichen an.
Sie hatten Kap Finisterre umrundet und segelten vor einem frischen Wind südwärts, da umkreiste ein Schwarm Tümmler die Fregatte. Die Menschen an Bord drängten sich an Heck und Brustwehr und staunten über die Fähigkeit dieser Tiere, um ein Schiff herumzuschwimmen, das mit neun oder zehn Knoten bereits gute Fahrt machte. Doch während sie dem munteren Treiben der Tümmler zusahen, erhob sich ein Schrei. Ein Kabinenjunge war backbord aus einer der vorderen Luken gefallen. Ein Signalschuss wurde abgegeben, ein Rettungsfloß ausgeworfen, und das Schiff drehte bei. Aber diese Manöver wurden ungeschickt ausgeführt, und als man endlich die sechsrudrige Barkasse herunterließ, geschah dies vergebens. Sie konnten das Floß nicht finden, geschweige denn den Jungen. Er war erst fünfzehn Jahre alt, und die ihn kannten, waren der Meinung, er sei ein guter Schwimmer; sie vermuteten, aller Wahrscheinlichkeit nach habe er das Floß erreicht. In dem Fall ist er zweifellos darauf zugrunde gegangen, nachdem er die grausamsten Leiden durchgemacht hatte.
Die Expedition nach Senegal bestand aus vier Schiffen: einer Fregatte, einer Korvette, einer Flüte und einer Brigg. Sie waren am 17. Juni 1816 mit 365 Menschen an Bord von der Insel Aix in See gestochen. Jetzt fuhren sie mit ihrer um eine Person reduzierten Besatzung weiter nach Süden. Auf Teneriffa nahmen sie Proviant auf – edle Weine, Orangen, Zitronen, Banyanfeigen und Gemüse aller Art. Hier fiel ihnen die Verderbtheit der einheimischen Bevölkerung auf: Die Frauen von Saint Croix standen in ihren Türen und drängten die Franzosen hereinzukommen, in der Gewissheit, dass Eifersuchtsanfälle ihrer Ehemänner durch die Mönche der Inquisition kuriert würden, die den Ehewahn stets missbilligend als Blendwerk des Satans bezeichneten. Nachdenkliche Passagiere führten solches Verhalten auf die südliche Sonne zurück, deren Kraft, wie man weiß, die Bande der Natur wie auch der Moral lockert.
Von Teneriffa aus segelten sie Richtung Süd-Südwest. Frische Winde und navigatorisches Ungeschick zerstreuten die Flottille. Allein passierte die Fregatte den Wendekreis und umrundete Kap Barbas. Sie fuhr dicht an der Küste entlang, bisweilen nur einen halben Kanonenschuss entfernt. Die See war mit Felsen durchsetzt, eine Brigantine konnte diese Gewässer bei Niedrigwasser nicht aufsuchen. Sie hatten Kap Blanco umrundet, oder meinten es jedenfalls, als sie in eine Untiefe gerieten; jede halbe Stunde wurde das Lot geworfen. Bei Tagesanbruch nahm M. Maudet, der wachhabende Leutnant, auf einem Hühnerkäfig die Gissung vor und befand, sie seien am Rande des Arguinriffs. Sein Rat blieb unberücksichtigt. Doch auch wer in Meeresdingen nicht bewandert war, konnte beobachten, dass das Wasser eine andere Färbung angenommen hatte; an der Schiffswand war Tang zu erkennen, und Fische wurden in Mengen gefangen. Bei ruhiger See und klarem Wetter liefen sie auf Grund. Das Lot zeigte achtzehn Faden an, kurz darauf dann sechs Faden. Die Fregatte luvte an und krängte beinahe augenblicklich; ein zweites und drittes Mal, dann stand sie still. Die Lotleine zeigte eine Tiefe von fünf Metern und sechzig Zentimetern.
Das Unglück wollte es, dass sie bei Hochwasser auf das Riff aufgelaufen waren, und bei der heftig werdenden See schlugen alle Versuche, das Schiff freizubekommen, fehl. Die Fregatte war mit Sicherheit verloren. Da die Boote, die sie mit sich führte, nicht Raum genug hatten, die gesamte Besatzung aufzunehmen, wurde beschlossen, ein Floß zu bauen und darauf jene einzuschiffen, die nicht auf den Booten untergebracht werden konnten. Das Floß sollte dann an Land geschleppt werden und alle wären gerettet. Dieser Plan war durchaus wohlersonnen, doch wie zwei der Beteiligten später erklären sollten, stand er in losem Sand geschrieben, der vom Hauch der Selbstsucht verweht wurde.
Das Floß wurde gebaut, und gut gebaut dazu, es wurden Plätze in den Booten zugeteilt, Proviant wurde bereitgestellt. Bei Tagesanbruch, als das Wasser zwei Meter und siebzig Zentimeter hoch im Laderaum stand und die Pumpen versagten, wurde der Befehl gegeben, das Schiff zu verlassen. Doch rasch durchdrang Unordnung den wohlersonnenen Plan. Die Platzverteilung wurde missachtet und der Proviant wurde unachtsam gehandhabt, vergessen oder in den Fluten verloren. 150 Personen waren für das Floß vorgesehen, 120 Soldaten einschließlich Offizieren, 29 Matrosen und männliche Passagiere, eine Frau. Doch kaum waren fünfzig Mann an Bord dieses Gefährts – das eine Länge von zwanzig Metern und eine Breite von sieben Metern hatte –, als es mindestens siebzig Zentimeter tief unter Wasser sank. Sie warfen die Fässer mit Mehl ab, die sie geladen hatten, worauf sich das Niveau des Floßes hob; die übrigen Menschen stiegen auf, und es sank erneut. Als das Gefährt voll beladen war, schwamm es einen Meter unter dem Wasserspiegel und die Menschen an Bord waren so zusammengedrängt, dass sie nicht einen Schritt tun konnten; vorne wie hinten standen sie bis zum Gürtel im Wasser. Lose Mehlfässer wurden von den Wellen gegen sie geschleudert; man warf einen Fünfundzwanzigpfundsack mit Schiffszwieback zu ihnen hinunter, den das Wasser sofort in Brei verwandelte.
Es war vorgesehen gewesen, dass einer der Marineoffiziere das Kommando über das Floß übernehmen sollte, doch lehnte dieser Offizier es ab, an Bord zu gehen. Um sieben Uhr früh wurde das Signal zur Abfahrt gegeben und die kleine Flottille entfernte sich von der aufgegebenen Fregatte. Siebzehn Personen hatten sich geweigert, das Schiff zu verlassen, oder hielten sich versteckt und blieben so an Bord, ihr Schicksal zu erfahren.
Das Floß wurde von vier Booten achtern ins Schlepp genommen, denen eine Pinasse vorausfuhr und die Wassertiefe auslotete. Als die Boote in Position gingen, erhoben sich Vive-le-roi!-Rufe bei den Männern auf dem Floß, und an der Spitze einer Muskete wurde eine kleine weiße Flagge aufgezogen. Doch gerade in diesem Augenblick höchster Hoffnung und Erwartung für die Menschen auf dem Floß gesellte sich der Pesthauch der Selbstsucht zu den üblichen Winden des Meers. Eine Leine nach der anderen wurde losgeworfen, sei es aus Eigennutz, Inkompetenz, infolge eines Unglücks oder aus scheinbarer Notwendigkeit.
Das Floß war kaum zwei Meilen von der Fregatte entfernt, als es abgehängt wurde. Die Menschen an Bord hatten Wein, etwas Brandy, ein wenig Wasser und eine kleine Ration aufgeweichten Schiffszwiebacks. Man hatte ihnen weder Kompass noch Seekarte gegeben. Ohne Ruder und Steuer war es unmöglich, das Floß unter Kontrolle zu halten, und so gut wie unmöglich, die Menschen darauf unter Kontrolle zu halten, die beständig gegeneinandergeworfen wurden, während die Fluten über sie hinwegrollten. In der ersten Nacht kam ein Sturm auf und warf das Gefährt mit großer Heftigkeit herum; die Schreie der Menschen an Bord mischten sich mit dem Tosen der Wellen. Manche banden Seile an die Planken des Floßes und hielten sich daran fest; alle wurden gnadenlos hin und her geworfen. Im Morgengrauen war die Luft von kläglichen Schreien erfüllt, Gelübde, die nie würden erfüllt werden können, wurden gen Himmel getan, und alle bereiteten sich auf ihren nahen Tod vor. Jede Vorstellung, die man sich von dieser ersten Nacht gemacht hätte, wäre hinter der Wahrheit zurückgeblieben.
Am nächsten Tag war die See ruhig, und bei vielen flackerte wieder Hoffnung auf. Dessen ungeachtet nahmen zwei junge Burschen und ein Bäcker, überzeugt, dass es vor dem Tod kein Entrinnen gebe, Abschied von ihren Kameraden und gaben sich willig dem Meer hin. Im Laufe dieses Tages begannen die Menschen auf dem Floß die ersten Trugbilder zu sehen. Einige wähnten, sie sähen Land, andere erspähten Schiffe, die zu ihrer Rettung gekommen schienen, und als diese trügerischen Hoffnungen an den Felsen zerschellten, wurde die Mutlosigkeit dadurch umso größer.
Die zweite Nacht war schrecklicher noch als die erste. Die Fluten türmten sich berghoch und das Floß war fortwährend dem Umschlagen nahe; die Offiziere, die sich um den kurzen Mast drängten, beorderten die Soldaten von einer Seite des Gefährts zur anderen als Gegengewicht zu der Kraft der Wogen. In der Gewissheit, sie seien verloren, brach eine Gruppe von Männern ein Weinfass auf und beschloss, sich die letzten Augenblicke zu versüßen, indem sie die Kraft der Vernunft fahren ließen; das gelang ihnen auch, bis durch das von ihnen gemachte Loch Meerwasser in das Fass drang und den Wein verdarb. Solcherart doppelt rasend gemacht, entschieden diese umnachteten Männer, alle dem gemeinsamen Verderben entgegenzuführen, und fielen zu diesem Zweck über die Taue her, die das Floß zusammenhielten. Da die Meuterer auf Widerstand trafen, kam es inmitten der Wogen und der Finsternis der Nacht zur offenen Schlacht. Die Ordnung wurde wiederhergestellt, und eine Stunde herrschten Ruhe und Frieden auf jenem unheilvollen Gefährt. Doch um Mitternacht erhob sich die Soldateska erneut und griff ihre Oberen mit Messern und Säbeln an; die keine Waffen hatten, waren geistig so zerrüttet, dass sie versuchten, die Offiziere mit den Zähnen zu attackieren, und es wurden viele Bisse erlitten. Männer wurden in die See geworfen, niedergeknüppelt, erstochen; zwei Fässer Wein wurden über Bord geworfen und das letzte Wasser auch. Als man die Schurken endlich gebändigt hatte, war das Floß mit Leichen übersät.
Während des ersten Aufstandes wurde ein Arbeiter namens Dominique, der sich den Meuterern angeschlossen hatte, in das Meer geworfen. Als der Ingenieur, der die Arbeiter befehligte, das erbärmliche Geschrei dieses treulosen Wichts hörte, stürzte er sich in das Wasser, und indem er den Schurken beim Schopf packte, gelang es ihm, ihn wieder an Bord zu ziehen. Dominiques Kopf war von einem Säbel gespalten. In der Dunkelheit wurde die Wunde verbunden und der elende Teufel ins Leben zurückgerufen. Doch kaum war er solcherart wiederhergestellt, als Undankbarkeit von ihm Besitz ergriff; er schloss sich von Neuem den Meuterern an und erhob sich wieder mit ihnen. Diesmal fand er weniger Glück und weniger Gnade; er kam in derselben Nacht um.
Den unglücklichen Überlebenden drohte jetzt das Delirium. Einige warfen sich in das Meer, einige verfielen in Stumpfsinn, einige unglückselige Teufel stürzten sich mit gezogenem Säbel auf ihre Kameraden und verlangten, dass man ihnen den Flügel eines Hühnchens gebe. Der Ingenieur, der mit seiner Tapferkeit den Arbeiter Dominique gerettet hatte, wähnte sich auf einer Reise durch das liebliche Tiefland Italiens, wo ein Offizier zu ihm sagte: »Ich erinnere mich, dass die Boote uns im Stich ließen, doch fürchten Sie nichts; ich habe soeben an den Gouverneur geschrieben, und in wenigen Stunden werden wir gerettet.« Der Ingenieur, noch im Delirium gefasst, erwiderte darauf: »Haben Sie eine Taube, die Ihre Befehle derart geschwind überbringen kann?«
Den sechzig Personen, die noch auf dem Floß waren, blieb lediglich ein Fass Wein. Sie sammelten bei den Soldaten Kennmarken ein und formten daraus Angelhaken; sie nahmen ein Bajonett und bogen es so zurecht, dass man einen Hai damit fangen konnte. Woraufhin ein Hai erschien, das Bajonett schnappte und mit einem wütenden Rucken des Mauls wieder ganz gerade bog; dann schwamm er davon.
Ein äußerstes Mittel war vonnöten, um ihr elendes Dasein zu verlängern. Einige Überlebende der nächtlichen Meuterei fielen über die Leichen her und hackten Stücke davon ab, worauf sie das Fleisch augenblicklich verschlangen. Die meisten Offiziere wiesen dieses Fleisch zurück, doch einer schlug vor, es solle zunächst getrocknet werden, um es genießbarer zu machen. Einige versuchten, Koppelriemen und Kartuschenhülsen sowie die Lederbänder ihrer Helme zu kauen, ohne viel Gewinn. Ein Matrose ging daran, die eigenen Exkremente zu essen, doch gelang es ihm nicht.
Der dritte Tag war windstill und schön. Sie fanden Ruhe, aber grausame Träume vermehrten die Schrecken, die Hunger und Durst ihnen bereits zugefügt hatten. Das Floß, das nun weniger als die Hälfte seiner ursprünglichen Besatzung trug, hatte sich im Wasser gehoben, ein unvorhergesehener Nutzen der nächtlichen Meutereien. Dennoch blieben die Menschen an Bord bis an die Knie im Wasser und konnten nur aufrecht stehend, zu einer kompakten Masse aneinandergedrängt, ruhen. Am vierten Morgen wurden sie gewahr, dass ein Dutzend ihrer Gefährten des Nachts gestorben waren; die Leichen wurden dem Meer übergeben bis auf eine, die gegen den Hunger zurückbehalten wurde. Um vier Uhr nachmittags zog ein Schwarm fliegender Fische über das Floß hinweg und viele verfingen sich in den Aufbauten des Gefährts. Am Abend bereiteten sie den Fisch zu, doch war ihr Hunger so groß und jede Portion so dürftig, dass viele von ihnen den Fisch mit Menschenfleisch vermischten, und das so zubereitete Fleisch wurde als weniger abstoßend empfunden. Selbst die Offiziere aßen nun davon, da es in dieser Form dargeboten wurde.
Von diesem Tag an lernten alle, Menschenfleisch zu verzehren. Die nächste Nacht sollte frischen Nachschub bringen. Einige Spanier, Italiener und Neger, die während der ersten Meuterei neutral geblieben waren, verschworen sich miteinander und fassten den Plan, ihre Oberen über Bord zu werfen und mit den Wertgegenständen und Besitztümern, die in einer Tasche verstaut und am Mast aufgehängt worden waren, an die Küste zu entkommen, die sie nahe glaubten. Wiederum entbrannte eine furchtbare Schlacht, und auf dem Unglücksfloß strömte das Blut. Nachdem diese dritte Meuterei endlich niedergeworfen war, verblieben nicht mehr als dreißig Menschen an Bord, und das Floß hatte sich erneut im Wasser gehoben. Kaum ein Mann lag ohne Wunden da, in die unaufhörlich Salzwasser floss, und durchdringende Schreie waren zu hören.
Am siebten Tag verbargen sich zwei Soldaten hinter dem letzten Fass Wein. Sie schlugen ein Loch hinein und tranken den Wein durch einen Strohhalm. Als man die beiden Verräter entdeckte, wurden sie dem inzwischen verkündeten Gesetz gemäß unverzüglich in das Wasser geworfen.
Und nun musste die entsetzlichste Entscheidung getroffen werden. Beim Durchzählen ergab sich, dass sie siebenundzwanzig waren. Fünfzehn davon würden wohl noch einige Tage leben; die übrigen, die schwere Verletzungen erlitten hatten und von denen viele delirierten, hatten äußerst geringe Überlebenschancen. In der Zeit, die bis zu ihrem Tode vergehen mochte, würden sie jedoch mit Sicherheit den beschränkten Proviant weiter verringern. Man rechnete, dass sie zusammen gut und gerne dreißig oder vierzig Flaschen Wein trinken könnten. Die Kranken auf halbe Ration zu setzen, würde nur bedeuten, dass man sie nach und nach umbrächte. Und so kamen die fünfzehn Gesunden nach einer von furchtbarster Verzweiflung beherrschten Debatte überein, ihre kranken Kameraden müssten zum gemeinen Wohle derer, die noch überleben könnten, in das Meer geworfen werden. Drei Matrosen und ein Soldat, deren Herzen durch den ständigen Anblick des Todes bereits verhärtet waren, nahmen diese abscheulichen und doch notwendigen Exekutionen vor. Die Gesunden wurden von den Ungesunden geschieden wie die Reinen von den Unreinen.
Nach diesem grausamen Opfer warfen die letzten fünfzehn Überlebenden alle ihre Waffen ins Wasser und behielten nur einen Säbel zurück für den Fall, dass Stricke oder Holz zu schneiden wären. Sie hatten noch Nahrungsmittel für sechs Tage, während sie auf den Tod warteten.
Dann trat ein kleines Ereignis ein, das jeder nach seinem eigenen Naturell interpretierte. Ein weißer Schmetterling von einer in Frankreich weitverbreiteten Art tauchte flatternd über ihren Köpfen auf und ließ sich auf dem Segel nieder. Einigen schien in ihrem Hungerwahn, selbst das könnte noch ein Häppchen zu essen abgeben. Für andere wirkte die Leichtigkeit, mit der ihr Besucher sich bewegte, wie der reinste Hohn auf diejenigen, die erschöpft und nahezu bewegungslos unter ihm lagen. Wieder andere hielten diesen einfachen Schmetterling für ein Zeichen, einen Boten des Himmels, so weiß wie Noahs Taube. Selbst jene Skeptiker, die darin kein Werkzeug Gottes sehen wollten, wussten, dass Schmetterlinge sich nur in geringe Entfernung vom trockenen Land begeben, und schöpften zaghaft Hoffnung.
Doch zeigte sich kein trockenes Land. Unter der sengenden Sonne wurden sie von rasendem Durst verzehrt, bis sie begannen, sich die Lippen mit dem eigenen Urin zu netzen.
Sie tranken ihn aus kleinen Blechtassen, die sie erst in Wasser tauchten, um ihre inneren Säfte schneller zu kühlen. Es geschah, dass einem Mann die Tasse gestohlen und später zurückgegeben wurde, jedoch ohne den Urin, den sie vordem enthalten hatte. Da war ein Mann, der sich nicht überwinden konnte, den Urin zu schlucken, wie durstig er auch sein mochte. Ein Arzt unter ihnen merkte an, der Urin mancher Männer sei angenehmer zu schlucken als der von anderen. Er merkte weiter an, der einzige unmittelbare Effekt des Urintrinkens sei eine Neigung zu erneuter Urinproduktion.
Ein Offizier der Armee entdeckte eine Zitrone, die er für sich allein zu behalten gedachte; heftiges Flehen überzeugte ihn von den Unbilden der Selbstsüchtigkeit. Desgleichen wurden dreißig Knoblauchzehen gefunden, die Anlass zu weiterem Disput gaben; wären nicht alle Waffen bis auf den einen Säbel fortgetan worden, so hätte es wohl wieder Blutvergießen gegeben. Es waren zwei Phiolen mit einem alkoholischen Mittel zur Reinigung der Zähne da; ein, zwei Tropfen dieses Mittels, die der Besitzer widerstrebend abgab, riefen auf der Zunge eine köstliche Empfindung hervor, die für einige Sekunden den Durst vertrieb. Ein paar Zinnstückchen bewirkten, wenn man sie in den Mund nahm, eine Art Kühle. Eine leere Phiole, die einmal Rosenessenz enthalten hatte, wurde unter den Überlebenden herumgereicht; sie inhalierten, und die Parfümreste hatten eine wohltuende Wirkung.
Am zehnten Tag fassten mehrere Männer nach Empfang ihrer Weinzuteilung den Plan, sich trunken zu machen und dann umzubringen; dieses Vorhaben wurde ihnen mit Mühe ausgeredet. Nun kreisten Haie um das Floß, und ein paar Soldaten badeten in ihrem Wahn unverhohlen in Sichtweite der großen Fische. Acht Männer konstruierten im Glauben, das Land könne nicht weit sein, ein zweites Floß, um darauf zu entfliehen. Sie bauten ein schmales Gefährt mit einem niedrigen Mast und einem Stück Hängematte als Segel, doch als sie es einem Versuch unterzogen, erwies sich ihnen an der Zerbrechlichkeit des Gefährts das Tollkühne ihres Unterfangens, und so gaben sie es auf.
Am dreizehnten Tag ihres Martyriums ging die Sonne vollkommen ohne Wolken auf. Die fünfzehn armen Teufel hatten ihre Gebete an den Allmächtigen verrichtet und ihre Portion Wein untereinander verteilt, als ein Infanteriehauptmann beim Blick zum Horizont ein Schiff erspähte und das mit einem Aufschrei kundtat. Alle dankten dem Herrgott und gaben sich dem Überschwang der Freude hin. Sie bogen Fassreifen gerade und banden Taschentücher daran; einer von ihnen kletterte auf die Mastspitze und schwenkte die kleinen Flaggen. Alle beobachteten das Schiff am Horizont und stellten Mutmaßungen über seine Weiterfahrt an. Einige schätzten, es komme mit jeder Minute näher; andere behaupteten, sein Kurs liege in entgegengesetzter Richtung. Eine halbe Stunde lang lagen sie schwankend zwischen Furcht und Hoffnung. Dann verschwand das Schiff vom Meer.
Aus ihrer Freude wurden sie in Verzweiflung und Schmerz gestürzt; sie beneideten jene, die vor ihnen gestorben waren, um ihr Schicksal. Dann, um sich mit Schlaf etwas über ihre Hoffnungslosigkeit hinwegzutrösten, spannten sie ein Stück Stoff als Sonnenschutz auf und legten sich darunter. Sie nahmen sich vor, einen Bericht über ihre Abenteuer zu schreiben, den sie alle unterzeichnen würden, und ihn an die Mastspitze zu nageln in der Hoffnung, dass er auf irgendeine Weise zu ihren Familien und zur Regierung gelangen möge.
Sie hatten zwei Stunden unter den grausamsten Überlegungen verbracht, als der Oberkanonier, der zum vorderen Teil des Floßes wollte, aus dem Zelt ging und eine halbe Meile entfernt die Argus sah, die, unter vollen Segeln, rasch auf sie zusteuerte. Er konnte kaum Atem schöpfen. Seine Hände streckten sich der See entgegen. »Gerettet!«, rief er. »Seht die Brigg ganz in unserer Nähe!« Alles frohlockte; selbst die Verwundeten wollten zum hinteren Teil des Gefährts kriechen, um besser zu sehen, wie ihre Retter nahten. Sie umarmten einander, und es war für sie doppelte Wonne, als sie sahen, dass es Franzosen waren, denen sie ihre Erlösung zu verdanken hatten. Sie schwenkten Taschentücher und dankten der Vorsehung.
Die Argus strich die Segel und kam auf steuerbord längsseits, einen halben Pistolenschuss entfernt. Die fünfzehn Überlebenden, deren stärkste die nächsten achtundvierzig Stunden nicht überdauert hätten, wurden an Bord genommen; der Kommandant und die Offiziere der Brigg fachten mit ihrer unablässigen Pflege die Lebenslichter wieder in ihnen an. Zwei, die später einen Bericht über ihr Martyrium schrieben, meinten abschließend, die Art ihrer Rettung sei wahrhaft wunderbar gewesen und die Hand des Himmels habe bei dem Geschehen deutlich mitgewirkt.
Die Fahrt der Fregatte hatte mit einem bösen Vorzeichen angefangen und endete mit einem Echo. Als das Unglücksfloß im Schlepptau seiner Begleitschiffe in See ging, waren siebzehn Personen auf der Medusa zurückgeblieben. Derart auf eigenen Wunsch allein gelassen, durchsuchten sie das Schiff unverzüglich nach allem, was die Abfahrenden nicht mitgenommen hatten und das nicht von Seewasser durchdrungen war. Sie fanden Zwieback, Wein, Brandy und Speck, genug, sie eine Weile am Leben zu halten. Zuerst herrschte Gelassenheit, da ihre Kameraden versprochen hatten, zu ihrer Rettung zurückzukehren. Doch als zweiundvierzig Tage vergangen waren, ohne dass Hilfe kam, beschlossen zwölf von den siebzehn, an Land zu gelangen. Zu diesem Zweck bauten sie ein zweites Floß, indem sie einige Planken der Fregatte mit starken Seilen zusammenbanden, und schifften sich darauf ein. Wie ihre Vorgänger hatten sie weder Ruder noch Navigationsausrüstung und besaßen nicht mehr als ein rudimentäres Segel. Sie nahmen einen kleinen Vorrat an Proviant mit und was an Hoffnung noch geblieben war. Viele Tage später entdeckten jedoch Mauren, die an der Saharaküste leben und Untertanen des Königs Said sind, die Überreste dieses Gefährts und brachten davon Nachricht nach Andar. Alle glaubten, die Männer auf diesem zweiten Floß seien gewiss den Seeungeheuern zum Opfer gefallen, die an den Küsten Afrikas in großer Zahl zu finden sind.
Und zuletzt kam, wie zum Hohn, das Echo eines Echos. Fünf Männer blieben auf der Fregatte zurück. Einige Tage nach dem Aufbruch des zweiten Floßes versuchte ein Matrose, der sich geweigert hatte, auf dieses zweite Floß zu gehen, gleichfalls die Küste zu erreichen. Da er kein drittes Floß für sich bauen konnte, stach er mit einem Hühnerkäfig in See. Vielleicht war es derselbe Käfig, auf dem M. Maudet an jenem Morgen, als sie auf das Riff liefen, den Unglückskurs der Fregatte bestimmt hatte. Doch der Hühnerkäfig sank und der Matrose kam um, als er nicht weiter als die halbe Länge eines Ankertaus von der Medusa entfernt war.