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Oscar Levant

»Alles Gute hat sein Ende«, sagte Frances Price.

Sie war eine wohlhabende, bemerkenswerte Frau von fünfundsechzig Jahren, die sich gerade auf der Treppe eines Stadthauses in der Upper East Side von New York ihre Handschuhe aus Kalbsleder überzog. Ihr Sohn Malcolm, zweiunddreißig, stand neben ihr, wie immer mit düsterer Miene und zerzaustem Haar. Der Abend dämmerte an diesem Tag im späten August. Die Fenster des Hauses waren erleuchtet, es war Klaviermusik zu hören – eine gediegene Feier war im Gange. Frances hatte ihren frühzeitigen Aufbruch einer ähnlich reichen, wenn auch weitaus weniger schönen Person kundgetan, der Gastgeberin. Ihr Name spielt keine Rolle. Sie fühlte sich gekränkt.

»Bist du sicher, dass du schon gehen musst? Ist es wirklich so schlimm?«

»Der Tierarzt sagt, es sei nur noch eine Frage der Zeit«, sagte Frances. »Wie schade. Es war so ein schöner Abend.«

»Es war ein wunderschöner Abend. Und ich gehe wirklich nur ungern. Aber es klang, als handele es sich tatsächlich um einen Notfall. Was kann man in solch einer Situation machen?«

Die Gastgeberin sann über eine Antwort nach. »Nichts«, sagte sie schließlich. Stille trat ein. Dann machte sie zu Frances’ Erschrecken einen Schritt auf sie zu und klammerte sich an sie. »Ich habe dich immer so sehr bewundert«, flüsterte sie.

»Malcolm«, sagte Frances.

»Momentan mache ich mir etwas Sorgen um dich. Ist das dumm von mir?«

»Malcolm, Malcolm.«

Die Gastgeberin erwies sich als gefügig, als Malcolm sie von seiner Mutter pellte und anschließend ihre Hand nahm, um sie zu schütteln. Sie betrachtete das Auf und Ab ihrer Hand mit einem Ausdruck der Verwirrung. Sie hatte zu viel getrunken und nichts weiter im Magen als eine zähe Pastete. Sie kehrte in ihr Haus zurück, und Malcolm führte Frances die Treppe hinunter auf den Gehweg. Sie gingen an der wartenden Limousine vorbei und setzten sich auf eine zwanzig Meter vom Haus entfernte Bank, denn es gab keinen Notfall, keinen Tierarzt, und die Katze, dieses alte Kuriosum namens Kleiner Frank, war, soweit ihnen bekannt war, wohlauf.

Malcolm begutachtete ein gerahmtes Foto, das er aus dem Schlafzimmer der Gastgeberin entwendet hatte. »Sie ist bloß betrunken. Hoffentlich kann sie sich morgen an nichts mehr erinnern.«

»Falls doch, wird sie sicher Blumen schicken.« Frances nahm ihm die Fotografie aus der Hand, es war ein Studioporträt der Gastgeberin. Es zeigte sie mit zurückgeworfenem Kopf, aufgerissenem Mund und einem Ausdruck von wilder Freude in den Augen. Frances fuhr mit dem Finger über den Rand des verzierten Rahmens. »Ist das Jade?«

»Ich denke, ja«, sagte Malcolm.

»Er ist außerordentlich schön«, sagte sie und gab ihm das Bild zurück. Malcolm öffnete den Rahmen und holte das Foto heraus. Dann faltete er es viermal und warf es in einen Mülleimer, der neben ihrer Bank stand. Den Rahmen steckte er zurück in seine Jackentasche und fuhr fort, die Feier zu analysieren. Er zeigte auf einen Mann über fünfzig, dessen bemerkenswert runder Bauch von

»Ja, wenn diese Schulterklappen bloß sprechen könnten.«

»Hast du dich mit seiner Frau unterhalten?«

Frances nickte. »Männerzähne in einem Kindermund. Ich musste wegsehen.« Sie schnippte ihre Zigarette auf die Straße.

»Was jetzt«, sagte Malcolm.

Ein Landstreicher kam heran und blieb vor ihnen stehen. Seine Augen glänzten vor Alkohol, und er fragte mit vergnügter Stimme: »Habt ihr vielleicht etwas Kleingeld übrig, Leute?«

Malcolm war bemüht, den Mann zu verscheuchen, doch Frances hielt ihn am Arm. »Möglicherweise haben wir das«, sagte sie. »Aber dürften wir fragen, wofür Sie das Geld brauchen?«

»Ach, wissen Sie.« Der Mann hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Einfach, um über die Runden zu kommen.«

»Könnten Sie bitte etwas genauer werden?«

»Ich schätze, ich hätte gern einen Schluck Wein, wenn Sie es ganz genau wissen wollen.«

Er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, als Frances ihn mit vertrauensvoller Stimme fragte: »Wäre es möglich, dass Sie heute Abend bereits etwas getrunken haben?«

»Und was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass ich bereits etwas getrunken habe, aber jetzt hätte ich gerne noch etwas.«

Frances gefiel die Antwort. »Wie heißen Sie?«

»Dan.«

»Darf ich Sie Daniel nennen?«

»Wenn Sie das gerne möchten.«

»Was ist Ihr Lieblingswein, Daniel?«

»Ich trinke alles, was flüssig ist, gnä’ Frau. Aber am liebsten mag ich den Drei Rosen.«

»Und was kostet so eine Flasche Drei Rosen?«

»Die Flasche kostet fünf Eier. Sieben für ’ne Gallone.« Er zuckte mit den Schultern, wie um zu sagen, dass die Gallone die vorteilhaftere Kaufentscheidung wäre.

»Und was würden Sie kaufen, wenn ich Ihnen zwanzig Dollar gäbe?«

»Zwanzig Dollar«, sagte Dan und stieß einen trockenen Pfiff aus. »Für zwanzig Dollar würde ich mir zwei Gallonen Drei Rosen und ein Wiener Würstchen kaufen.« Er klopfte leicht auf die Brusttasche seines Armeeparkas. »Zigaretten habe ich noch.«

»Mit zwanzig wären Sie also gut ausgestattet?«

»Oh ja, sehr gut.«

»Und wohin würden Sie all das bringen? Zu sich nach Hause?«

Dan blinzelte. Er spielte die Situation im Geiste durch.

»Wo genau im Park?«

»Unter einem Busch.«

»Einem bestimmten Busch?«

»Ein Busch ist ein Busch, meiner Erfassung … Erfahrung nach.«

Frances schenkte Dan ein freundliches Lächeln. »In Ordnung«, sagte sie. »Sie würden also unter einem Busch im Park liegen und dort Ihre Zigaretten rauchen und Ihren Wein trinken.«

»Genau.«

»Die Sterne betrachten.«

»Warum nicht.«

»Würden Sie wirklich beide Gallonen an einem Abend trinken?«, wollte Frances wissen.

»Ja, klar. Ganz sicher würde ich das.«

»Würden Sie sich denn am nächsten Morgen nicht schrecklich fühlen?«

»Dafür sind Morgen gedacht, gnä’ Frau.«

Er sprach ohne komödiantischen Unterton, weshalb Frances davon ausging, dass Dans Morgen unvorstellbar elendig sein mussten. Ausreichend berührt, öffnete sie ihre Clutch und fingerte zwanzig Dollar heraus. Dan nahm den Schein entgegen, wobei ihm ein Schauer vom Kopf bis in die Zehen fuhr, dann zog er auffällig regen

»Der Typ hat Sie zwei doch hoffentlich nicht belästigt?«

»Wer, Daniel?«, fragte Frances. »Ganz und gar nicht. Er ist ein Freund von uns.«

»Es sah aus, als hätte er Sie unter Druck gesetzt.«

Frances’ Blick war eiskalt. »Ich habe ihm Geld zurückgezahlt, etwas, was ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen. Aber Dan ist sehr geduldig mit mir. Ich danke Gott, dass es jemanden wie ihn gibt. Nicht, dass Sie das irgendetwas anginge.« Sie hielt ihr Feuerzeug hoch und drückte es. Klick. Die Flamme, kurz und bläulich, stand zwischen ihnen, als markierte sie eine Grenze. Das Bedürfnis nach Isolation überkam den Mann, und er wanderte weiter, sich selbst klägliche, kleine Fragen stellend. Frances drehte sich zu Malcolm und klatschte in die Hände, wie um das Gefühl zu vermitteln, eine Sache erfolgreich erledigt zu haben. Sie hatten eine Abneigung gegen Polizisten, um genau zu sein, lehnten sie jede Verkörperung von Autorität ab.

»Hattest du genug?«, fragte Malcolm.

»Hatte ich«, antwortete Frances.

Auf dem Weg zur Limousine nahm sie Malcolms Arm in ihrer speziell-liebevollen Art. »Nach Hause«, sagte sie zum Fahrer.

Die großräumige, mehrstöckige Wohnung lag im

Malcolm fragte: »Was steht morgen an?«

»Mr. Baker besteht auf ein Treffen«, antwortete Frances. Mr. Baker war ihr Finanzberater und der Verwalter des Anwesens seit dem Tod von Frances’ Mann und Malcolms Vater, Franklin Price.

»Was will er?«, fragte Malcolm.

»Wollte er nicht sagen.«

Dies war, genau genommen, keine Lüge – Mr. Baker hatte nicht ausdrücklich erwähnt, wozu das Treffen dienen sollte. Aber Frances wusste nur allzu genau, was er

Sie hatten sich vor fünfzig Jahren kennengelernt, während eines Mädchen-Sommer-Camps in Connecticut. Joan war eine Neureiche, und alle waren entsetzt über ihre unvornehme Art, ihr unverhohlenes Desinteresse an Selbstvervollkommnung. Frances war, wie es der Zufall wollte, das beliebteste Mädchen. Enorme Energien wurden täglich darauf verwendet, sie zur Freundin zu gewinnen. Frances war gelangweilt davon und fixierte sich immer stärker auf Joan, sie bewunderte ihre Schamlosigkeit, ihre aufgeschlagenen Knie, ihren finsteren Blick. Eines Nachmittags in der Cafeteria sahen alle zu, wie Frances sich mit zwei Stücken Schokoladenkuchen in den Händen zu Joan an den Tisch setzte. Misstrauisch beäugte diese den Nachtisch.

»Was ist das?«, sagte sie.

»Eins für dich, eins für mich.«

»Warum?«

»Ich will doch nur höflich sein. Warum entkrampfst du nicht dein Gesicht und nimmst einen Bissen?«

Ihre Freundschaft begann, wie es schien, mit einem Pistolenschuss: Sie liebten einander von Anfang an, und so war es seitdem geblieben. Jetzt, so viele Jahre später, war Joan der einzige Mensch, mit dem Frances sie selbst sein konnte, wobei dies nicht exakt den Punkt trifft, denn es war ja nicht so, als würde Frances’ verborgenes Wesen entfesselt, sobald Joan auftauchte. Sagen wir eher, dass sie in Joans Gesellschaft zu einem Menschen wurde, der sie nur zusammen mit Joan sein konnte – einem Menschen, zu dem sie gerne wurde. Joan hatte viele Freunde, wohingegen Frances – abgesehen von Malcolm – nur Joan hatte.

Sie, Frances, blickte aus dem Fenster über ihrem Frisiertisch, die Nacht war ein schwarzer Würfel. Ein Blatt wanderte wie trunken vorbei. »Früher einmal haben mich die Jahreszeiten mit Vorfreude erfüllt. Heute erscheinen sie mir eher als feindliche Übergriffe.«

»Stimmt, das haben wir.«

Joan blätterte eine Seite weiter. »Weihnachten steht vor der Tür. Ich sage es Jahr für Jahr: Für dich Geschenke zu finden, ist die Hölle.«

»Ich bin einfach: Ich will nichts.« Frances sah das Schenken als eine höfliche Form der Hexerei an. Ein weiteres Blatt wippte an ihrem Fenster vorbei, und ein Schauer befiel sie. Sie kämpfte mit dem Gedanken, ob sie Joan von ihrem Problem erzählen sollte oder nicht. Sie hatte entschieden, es zu tun, sobald ein unerklärliches Ereignis eintreten würde, was der Fall war, als plötzlich eine schwarze Eidechse – von der Nasen- bis zur Schwanzspitze gut fünfundzwanzig Zentimeter lang – hinter der Toilette hervorschoss und über Frances’ nackte Zehen flitzte, bevor sie ihren Weg ins Schlafzimmer fortsetzte. Frances legte auf, durchquerte das Badezimmer, schlug die Tür zu und schloss sich ein. Dann ging sie zurück zum Telefon und rief Malcolm an, der in seinem Bett am anderen Ende des Flurs lag, auf sein Telefon starrte und sich fragte, warum Susan ihn nicht anrief, aber auch, warum er nicht sie anrief. Er sprang auf, als es klingelte.

»Malcolm«, flüsterte Frances.

»Oh, hallo. Hast du mich vermisst oder was?«

»Eine Eidechse? Wie ist das denn passiert?«

»Ich verstehe die Frage nicht. Sie ist von ganz alleine hier rein. Kommst du jetzt? Ja oder nein?«

»Willst du das denn?«

»Ja, das will ich. Und ich will, dass du es auch willst.«

»Na, dann komme ich wohl besser mal rüber«, sagte Malcolm.

Kurz darauf betrat er Frances’ Schlafzimmer. Sie sprach zu ihm hinter der Badezimmertür.

»Siehst du sie?«

»Nein.«

»Stampfe etwas herum.«

Malcolm stampfte durch das Zimmer, doch nirgendwo gab es Anzeichen für eine Eidechse. Er wusste, dass seine Mutter nichts weniger akzeptieren würde als einen unanfechtbaren Beweis für den Tod oder zumindest das Verschwinden des Reptils, also ersann er einen Plan, wie er sie beruhigen konnte. Er öffnete das Fenster und wartete eine Weile. »Du kannst jetzt rauskommen«, sagte er. »Sie ist weg.«

Frances’ Gesicht erschien im Flur. »Wohin ist sie gegangen?«

»Wo immer Eidechsen hingehen – es liegt nicht an uns, dies zu wissen.«

»Sie ist rausgesprintet.«

»Du bist sehr gut«, sagte sie und drückte seinen Arm.

»Nicht der Rede wert.«

»Du bist sehr gut und sehr schlau.«

In dem Moment kam die Eidechse unter Frances’ Bett hervor und schoss in einer Zickzacklinie auf sie zu, bis sie vor ihren Füßen zum Stehen kam und etwas vollführte, was wie Liegestütze aussah. Frances war sofort zurück im Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. »Pack mir bitte meine Tasche«, sagte sie. »Und deine auch, in fünfzehn Minuten treffe ich dich unten.«

Er tat, wie ihm geheißen, und traf sie bald darauf im Foyer an, sie setzte gerade den Portier über die Eidechse in Kenntnis. Ihr Haar war zurechtgemacht, die Wangen matt mit Rouge bedeckt. Sie trug einen langen, schwarz-rot karierten Wollmantel, um ihr Nachthemd zu kaschieren, und Ballettschuhe. Sie griff nach ihrer Tasche und verließ das Haus, gefolgt von Malcolm. Während sie ging, schwang sie ihre Tasche vor und zurück. Sie buchten sich im Vier Jahreszeiten ein und zogen sich auf ihre Zimmer zurück.

Frances bestellte beim Zimmerservice zwei Martinis. Als sie eintrafen, stellte sie sie auf den Nachttisch, erfreute sich eine Zeitlang an ihrer Zwillingshaftigkeit

Zurück an ihrem Haus begrüßte der Portier Frances und Malcolm mit einem Guten Morgen und präsentierte ihnen einen per Kurier zugestellten Brief sowie ein Blumenbukett. Frances roch an den Blüten und fragte: »Wer ist gestorben? Haben sie ihren Zweck erfüllt? Ihre Potenziale im Leben ausgeschöpft?« Der Portier wagte

»Irgendwelche Neuigkeiten in Sachen Eidechse?«, fragte sie.

»Jawohl, Mrs. Price. Sie ist Geschichte.«

»Haben Sie sie getötet?«

»Ja.«

»Sie persönlich?«

»Ich habe sie persönlich getötet.«

»Auf welche Weise haben Sie sie getötet?«

»Fußweise, Mrs. Price. Ich habe sie in einer Schachtel, falls Sie sich vergewissern wollen.«

»Ich lehne ab, mit Dank und Bedauern. Trägst du bitte die Blumen, Malcolm?«

Der Brief stammte von Mr. Baker. Frances las ihn still, während sie und Malcolm auf den Fahrstuhl warteten. ›Frances, es reicht endgültig. Die Zeit ist abgelaufen und du weißt, dass sie abgelaufen ist. Wir können nichts mehr an dem größeren Problem ändern, aber wir können Maßnahmen ergreifen, um den Übergang einfacher zu gestalten.‹ Frances schnappte innerlich nach Luft; die letzte Bemerkung war ein taktloser Angriff gegen sie.

Das Bukett verdeckte Malcolms Kopf und Schultern. Seine Stimme kam von hinter den Blumen: »Was steht drin?«, fragte er.

»Nichts«, sagte Frances.

»Niemand, nichts.«

Der Fahrstuhl kam, und Frances drückte den Knopf zum Penthouse. Als er anfuhr, zog sie die Karte aus dem Bukett. Die Gastgeberin vom Abend zuvor hatte es geschickt. Frances las laut: »Es war wunderbar, dich unter meinen Gästen zu wissen, dich zu sehen mit deinem Sohn und deiner Zigarette. Ich bin reich an Freunden, aber nicht so sehr, dass ich nicht eine Perle unter Kieselsteinen erkennen würde. In liebevoller Bewunderung.«

Frances wusste nicht, wie sie auf diese Worte reagieren oder was sie sagen sollte, und so erlöste sie, als sie das Apartment betraten, Malcolm von dem Bukett, trug es in die Küche und stopfte es in den schwarzen Schlund des Müllschluckers. Zwischen der grausamen Ehrlichkeit des Kurierbriefs und der jämmerlichen Dummheit des Buketts fand sie keinen Trost.

Sie wusste, dass die Welt sich manchmal von selbst wieder in die richtige Bahn lenkte, das hatte sie in ihrer Vergangenheit oft genug erlebt. Und doch sagte ihr Gefühl ihr, dass es diesmal nicht so sein würde.

Sie frühstückte zur Mittagszeit in der Bibliothek. Franklin Price, vor nahezu zwanzig Jahren gestorben, hatte eine beträchtliche Sammlung von ledergebundenen Erstausgaben angehäuft – die Hommage an eine jugendliche Affäre mit der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Er hatte kaum eine Seite gelesen, wie auch Frances, aber sie mochte den Raum wegen seines Dufts und der Undurchdringlichkeit, welche die Bücherwand für sie ausstrahlte.

Malcolm betrat den Raum. Er trug immer noch denselben Anzug, und seine blutunterlaufenen Augen verbargen sich hinter einer Sonnenbrille. Das Dienstmädchen brachte sein Frühstück, und er aß es auf. Frances schob ihr Tablett zu ihm hinüber, und er machte sich über ihre Reste her. Sie beobachtete ihren Sohn mit einer Mischung aus Melancholie und Zärtlichkeit.

»Hast du dich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken?«

»Nein.«

Er schüttelte den Kopf.

Sie legte eine versöhnliche Hand auf die seine. »Hatte sie ihre Tage?«

Er kniff die Augen zusammen, was sie mit einer Geste der Keuschheit beantwortete. Sie wusste, was mit Malcolm nicht stimmte. »Wie läuft es denn mit Susan?«, fragte sie.

»Wir sind im Abwartemodus, als ob du das nicht wüsstest.«

»Ach, noch einmal jung und verliebt sein.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Wann wirst du sie wiedersehen?«

»Wir werden heute zusammen zu Mittag essen, wenn du es genau wissen willst.« Das war gelogen, aber er wollte sich gegen ihre Sticheleien wehren. Frances versuchte, ihre Enttäuschung so gut es ging zu verbergen. Mit verkniffener Stimme sagte sie: »Ich dachte, ihr wärt auf dem absteigenden Ast. Wo werdet ihr essen?«

»Ich weiß es noch nicht.«

Selbst wenn sein Plan mit dem Mittagessen wahr gewesen wäre, hätte er genau dasselbe geantwortet, denn nicht selten störte Frances seine Treffen mit Susan. »Gibt es hier noch einen Platz für mich?«, pflegte sie dann etwa zu sagen, während der Kellner schon neben ihr katzbuckelte – Frances war eine Virtuosin, wenn

»Nun, ich könnte euch ohnehin nicht Gesellschaft leisten«, sagte sie Malcolm. »Ich kann Mr. Baker keine Minute länger hinhalten.«

»Worüber regt er sich denn so auf? Wieder mal ein Plädoyer für mehr Sparsamkeit?«

»Abwarten«, entgegnete Frances, rückte etwas von ihm weg und saß dann schweigend und mit schief gelegtem Kopf so da.

Malcolm verließ die Bibliothek und ging auf sein Zimmer. Er saß auf dem Bett und beobachtete das Telefon. Es klingelte, und er ging ran. Susan sprach mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme.

»Läuft dein Kühlschrank?«

»Hi Sudsy. Du bist also wieder im Lande?«

»Okay«, sagte er. »Warte, tut mir leid, ich habe gerade gegessen.«

Susan schwieg.

»Ich werde zusehen, wie du isst«, bot Malcolm an.

»Der Traum einer jeden Frau«, sagte sie.

Sie trafen sich in einem Bistro in der Innenstadt. Malcolm war zu spät dran, Susan zu früh. Sie saß allein in einer Tischnische und starrte aus dem Fenster. Sie hatte weder geschlafen noch etwas gegessen und sah jämmerlich aus oder wie auch immer sie ihren Zustand beschreiben mochte. Es fühlte sich sehr dramatisch an, so auf das Objekt ihrer Begierde, die Quelle ihres Schmerzes zu warten. Ein Regenschauer entlud sich, und die New Yorker Bürger stoben in alle Richtungen, um dem Schlimmsten zu entgehen. Aus der Menschenmenge heraus kam Malcolm, eine langsam gehende, einsame Gestalt. Er trug immer noch dieselben Kleider, er hatte sich nicht rasiert, hielt keinen Regenschirm in der Hand und schien unbeeindruckt davon, dass er bis auf die Haut durchnässt war. Seine Anzugjacke war aufgeknöpft, und sein fülliger Bauch presste sich gegen das durchscheinende Hemd. Susan kam es vor, als ob Malcolm jedes Mal, wenn sie sich trafen, zwei Kilo zugenommen hätte. Er betrat das Restaurant und setzte sich Susan gegenüber. Regenwasser tropfte von seiner Nase und seinen Haaren. Sie nahm

»Du siehst schrecklich aus.«

Er hielt einen Löffel hoch und begutachtete sein Spiegelbild. »Hat was, oder?« Der Kellner kam an den Tisch, und Malcolm, noch immer in sein Antlitz vertieft, sagte: »Kaffee und einen kleinen Scotch.«

»Darf ich Ihnen etwas zu essen bringen, mein Herr?«

»Ich esse den Scotch.«

Der Kellner entfernte sich. Malcolm senkte den Löffel, Susan streckte ihre Hand aus und kniff ihm in die Wange.

»Du weißt, dass sie dich mit Absicht mästet, oder?«

»Ich weiß.«

»Meinst du, sie macht das, um speziell mich abzutörnen, oder richtet sich das gegen Frauen im Allgemeinen?«

»Speziell gegen dich. Frauen im Allgemeinen haben sich nie für mich interessiert.« Malcolm umfasste seinen Bauch mit den Händen und gab sich mit ernster Miene einen Klaps. »Funktioniert es denn?«

»Ich mochte dich vorher lieber. Aber nein, nicht wirklich.«

Susans Augen waren honigbraun, es schmerzte Malcolm, sie anzusehen, also sah er weg. Sie sah zu, wie er in seinem Sitz verschwand, und wollte ihn schlagen, ihn küssen.

»Also gut. Wie war es in Indonesien?«

»Ich war nicht in Indonesien.«

»Wo warst du dann?«

»Ich war auf Haiti.«

»Wie war es auf Haiti?« Aber Malcolm schaute sie nicht an, sah über ihre Schulter hinweg; er interessierte sich nicht für die Antwort. Susan griff seinen Zeigefinger und bog ihn zu einem unnatürlichen Winkel.

»Autsch, scheiße, was soll das?«, sagte er.

»Ich war nicht auf Haiti, ich war in Liberia. Und ich will, dass du mir auf der Stelle sagst, warum.«

Er hielt sich die Hand an die Brust und tätschelte sie. »Du bist wegen deiner Arbeit in Liberia gewesen.«

»Und was ist meine Arbeit?«

Malcolm war nicht hundertprozentig sicher, was Susans Arbeit beinhaltete. Er wusste, dass sie mit häufigen Reisen in verelendete Armutsregionen verbunden war, und glaubte, dass es etwas mit Wasser zu tun hatte – Wasserfilterung, um es trinkbarer zu machen vielleicht. Oder ging es ihr darum, die Folgen von Flutkatastrophen zu mildern?

»Wasserangelegenheiten«, sagte er leise.

»Was genau für Angelegenheiten?«

»Wasser, Kinder«, sagte er. »Lebensqualität.«

Der Kellner, Malcolms Retter, kam und brachte den Kaffee, den Scotch und ein Handtuch, damit Malcolm

»Ich habe entschieden, dass ich mit dir einen neuen Kurs einschlagen will«, sagte Susan. »Möchtest du hören, wie er aussieht?«

»Mit der Aussicht auf eine schöne Zeit machst du mir keine Angst«, antwortete Malcolm und legte sich das Handtuch um den Nacken.

»Also, normalerweise stelle ich eine Reihe von vagen Fragen, ich nähere mich dem Subjekt – das wärst du – von unterschiedlichen, vermeintlich zusammenhanglosen Positionen aus an. Zusammengenommen bilden die Antworten ein Porträt von dem, was in dem Mausoleum stattfindet, welches du ein Leben nennst.«

»Richtig.«

»Ich werde das nicht mehr tun.«

»Wirst du nicht?«

»Ich werde dir direkte Fragen stellen.«

»Ich bin startklar«, sagte er und goss Sahne in seinen Kaffee.

Susan faltete die Hände. »Hat sich in deinem Verhältnis zu deiner Mutter irgendetwas geändert?«

»Nein.«

»Hast du Grund zu der Annahme, dass sich im Laufe eines Jahres irgendetwas daran ändern wird?«

»Nein.«

»Hast du ihr von unserer Verlobung erzählt?«

»Wirst du ihr davon erzählen?«

»Ich wäre überrascht, wenn ich’s täte.«

»Hast du noch einmal darüber nachgedacht auszuziehen?«

»Ich habe darüber nachgedacht.«

»Aber wirst du es auch tun?«

»Das bezweifle ich.«

Sie ließ einen Moment verstreichen. »Die Frage, die ich mir nicht beantworten kann, ist: Erwartest du oder willst du überhaupt, dass ich auf dich warte?«

»Natürlich will ich das.« Malcolm schlürfte seinen Kaffee. »Aber es wäre nicht sehr ritterlich, dich das zu fragen, oder?«

»Ritterlichkeit – ist das für dich von Interesse?«

Er legte das Handtuch so, dass es seinen Kopf bedeckte. »Ich habe viele Interessen.«

»Würdest du dich als einen Feigling beschreiben?«

»Ich glaube, diese Frage steht für mich nicht an erster Stelle.«

Sie zog Malcolm das Handtuch vom Kopf und betrachtete sein olivgrünes faltenfreies Gesicht. Wie war sie nur jemals auf die Idee gekommen, sich um dieses schwermütige Baby von einem Mann zu kümmern? Die Liebe erschien ihr manchmal wie ein böses Spiel und die menschliche Natur, das Bedürfnis, etwas Unerreichbares zu erreichen, so banal. Susan faltete das

Malcolms Kinnlade klappte langsam herunter, und er setzte seine Sonnenbrille wieder auf. Sein Schweigen war Ausdruck von Schmerz. Susan stellte zufrieden fest, dass ihre Worte Wirkung zeigten. Dennoch wusste sie, dass sie nichts erreicht hatte und der Sieg unverändert in weiter Ferne lag. Sie hatte sich oft gefragt, was Frances an ihrer Stelle getan hätte; jetzt fragte sie es Malcolm, der kurz innehielt und antwortete, als hätte er sich bereits lange Zeit mit dieser Frage beschäftigt: »Sie wäre gar nicht erst in deine Lage geraten.«

So war es immer. Egal, was sie sagte, um ihn zu verletzen, die bloßen Tatsachen verletzten sie noch mehr. Susan wusste, dass Frances Malcolm erst loslassen würde, wenn der Tod sie schied. Aber wann würde das sein? Wie oft hatte sie sich schon ihren Tod ausgemalt? Sie hasste Frances auf eine reine, allumfassende Weise. Sie bat Malcolm, sie in Ruhe zu lassen, und er erhob sich, um zu gehen. »Ich werde dir einen Kuss auf die Stirn geben«, warnte er sie vor, dann tat er es und verließ das Restaurant, wobei er vergaß, seinen Kaffee und Scotch zu bezahlen.

Susan setzte ihr trauervolles Aus-dem-Fenster-Starren fort. Es hatte aufgehört zu regnen, die Sonne strahlte am Himmel. Erst nach ein paar Minuten bemerkte sie,

Mr. Baker war ein Maus-Mann, was nicht hieß, dass er sich wie eine solche verhielt, sondern dass er einer Maus tatsächlich sehr ähnlich sah. Manchmal sah er aus wie eine wütende Maus, manchmal wie eine weise. Als er an diesem Tag auf Frances wartete, erinnerte er an eine Maus, die sich wünschte, eine andere Maus zu sein. Er hegte eine leidenschaftliche Begeisterung für Franklin Price. Unter ihm hatte er sich hochgedient, und er hatte den großen Anwalt mehrmals vor Gericht miterlebt. Den ersten Fall hatte er noch gut im Gedächtnis – eine unbedeutende Angelegenheit, die feindliche Übernahme irgendeiner Telekommunikationsgesellschaft aus dem mittleren Westen – bis dahin war Mr. Baker niemals Zeuge von Prices Fähigkeit zu kontrollierter Brutalität und reiner Selbstdarstellung geworden. An jenem Tag begriff Mr. Baker das schwer zu Fassende: Das Gericht war der Ort einer Vorstellung, eines Bühnenstücks, in dem die Schauspieler ihren Text aus dem Stegreif konzipierten und der Hauptgewinn an den besten

Price verkörperte alles, was Mr. Baker für wichtig hielt. Natürlich sah er auch entsprechend aus: Er hatte Schneid, war selbstsicher und kleidete sich stilvoll. Allerdings stand alldem ein Verlangen nach Gefahr entgegen, ein fühlbarer Impuls von psychischer Gewalt. Es war nicht leicht, mit Price eine Unterhaltung zu führen, denn wenn man ihn langweilte, dann sagte er einem dies geradeheraus; und wenn man sein Missfallen erregte, dann erzeugten seine Haltung und seine Sprache eine Feindseligkeit, welche durchaus die Assoziation eines Blutbades wecken konnte. Tatsächliche Körperverletzung war Price nie zu unterstellen, aber seine Zurückweisungen waren genauso wirksam wie Schläge ins Gesicht.

Das oberste Ziel aller, die in diesen Gefilden unterwegs waren, war das Streben nach Gewinn. Auch für Price war dies essenziell, und während der ersten Hälfte seiner Karriere sammelte er ein beachtliches kleines Vermögen an. Doch gab es andere, die mehr hatten, was ihm einen Stich versetzt haben musste, denn in seiner zweiten Karrierephase setzte er alles daran, dies zu ändern, was ihn schließlich zu dem machte, der er war.