Lara Schützsack
Tilda, ich und der geklaute Dracula
Mit Vignetten von Regina Kehn
FISCHER E-Books
Lara Schützsack, geboren 1981 in Hamburg, studierte Germanistik, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften sowie Amerikanische Literatur und Kultur an der Universität Potsdam. Es folgte ein Drehbuchstudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Lara Schützsack lebt und arbeitet als Autorin und Musikberaterin in Berlin. Ihr erster Film ›Draußen ist Sommer‹ lief 2013 in den Kinos.
Regina Kehn studierte Illustration an der Hochschule für Gestaltung in Hamburg. Seit 1990 arbeitet sie als freie Illustratorin für Zeitschriften und Kinder- und Jugendbuchverlage. Für ihre Illustrationen wurde Regina Kehn 1993 und 2014 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und erhielt 1996 die Bronzemedaille in der Sparte Illustration vom Art Directors Club. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in Hamburg.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Atelier Seidel Verlagsgrafik unter Verwendung einer Illustration + Lettering von Regina Kehn
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5167-1
Ich fahre auf meinem Fahrrad durch die Nacht. Ganz großer Auftritt. Ein ziemlich irres Fahrrad, klein und mit einem langen Sattel und hohem Lenker. Auf den Speichen hüpfen bunte Lichter hoch und runter und geben ein sirrendes Geräusch von sich. Neben mir schießen Häuser in die Höhe. Und über mir ein Sternenhimmel, der sich gewaschen hat. Ich trage eine Jacke aus silbernem flatternden Stoff, der sich leicht und kühl auf meiner Haut anfühlt.
Ich rase also auf diesem Fahrrad durch die Dunkelheit und verfolge jemanden. Ich bin ihm dicht auf den Fersen. Mein Atem geht kolibrimäßig schnell. Fünfzig Flügelschläge pro Sekunde. Mindestens. Gleich, denke ich, gleich hebe ich ab. Noch ein bisschen schneller und ich starte mit diesem irren Fahrrad direkt in Richtung Polarstern. Ich lege mich tief in die Kurven in dem sicheren Gefühl, hinter der nächsten Straßenecke fündig zu werden. Aber da ist nichts. Nur eine weitere leere Straße.
Ich bin schon bereit aufzugeben. Fast. Eine Straßenecke noch. Eine einzige. Haarscharf an der schroffen Hauswand vorbei schlittere ich in die Straße. Und da sehe ich ihn. Ich lege eine steile Bremsung hin. Der Reifen raspelt über den Asphalt. Funken und Quietschen und eine Menge Gummi, das wie der erste Schnee durch die Luft wirbelt. Dann Stille. Und er eben. Mitten auf dem Gehweg. Klein, schwarz, struppig. Steht da und blickt mich an. Ich japse. Er guckt. Ich schnappe weiter nach Luft. Beruhige dich, denke ich. Oda, beruhige dich.
Und dann beruhige ich mich. Die Kolibriflügelschläge werden langsamer. Und wir stehen einfach so da. Einander gegenüber. Ich fummle an meiner Gangschaltung herum, weil ich das nervig finde, dieses Starren. Und ehrlich gesagt hatte ich nach diesem Ritt auch etwas Aufregenderes erwartet als ihn hier.
Und gerade als es mir dann wirklich zu blöd wird und ich beschließe, wieder umzudrehen, öffnet er seine haarige Schnauze und sagt meinen Namen. Einfach so.
»Häh?«, sage ich und bereue es gleich, denn es ist natürlich ganz und gar einfallslos, in so einer Situation einfach »Häh?« zu sagen. Ich meine, wann hat schon mal ein struppiger schwarzer Hund auf der Straße mit dir gesprochen? Und außerdem: Woher weiß der, wie ich heiße?
Ich will ihn das gerade fragen, als ein lautes Piepen ihn, den Sternenhimmel, die menschenleere Stadt und mein Fahrrad einfach verschwinden lässt. ZACK! BUMS! WEG!
»Nicht«, zische ich. »Nein! Komm zurück!« Ich drücke meine Nase in mein Kissen und kneife die Augen fest zu. Aber es bringt alles nichts. Das blöde Piepen der Müllabfuhr hat mich aus meinem Traum gerissen.
Träume mit Hund sind die Könige unter den Träumen. Als ich klein war, hatten wir einen Hund mit langen Ohren. Er hieß Eduardo. Als ich auf die Welt kam, war er schon ein sehr alter Herr mit weißer Nase, verstaubtem Blick und zwei großen Leidenschaften: warme Betten und kalte Würstchen. Ich bin immer mit einem von seinen Ohren in der Hand eingeschlafen, und Eduardo ist erst wieder aufgestanden, wenn ich sein Ohr im Schlaf losgelassen hatte. Als Eduardo gestorben ist, wollte ich lange Zeit überhaupt gar nicht mehr einschlafen. Deswegen liebe ich alle Hunde und ganz besonders die mit den langen Ohren. Ich weiß, wie viel Glück von diesen langen warmen Lappen abhängt.
Mein Blick fällt auf den Wecker. Sechs Uhr, die perfekte Zeit, um aufzustehen. Ich schleiche ins Schlafzimmer meiner Eltern und lege mich neben Mama – und zwar so, dass ich ihr direkt ins Gesicht sehe und ihren gleichmäßigen Atem höre. War ja klar, dass sie das blöde Piepen von dem Müllwagen vor unserem Fenster nicht aufweckt. So tief wie die schlafen kann. Ich drücke mit dem Zeigefinger auf ihren linken Nasenflügel. Mama schnaubt und dabei wird ihr rechter Nasenflügel knitterig. Dann dreht sie sich auf die andere Seite. Und da ist er wieder, der zufriedene tiefe Atem.
Von hinten sieht Mama aus wie eine Gurke, denke ich. Ich beuge mich direkt über ihr Ohr.
»Von hinten siehst du aus wie eine Gurke, Mama!«, flüstere ich.
»Nicht so laut!« Mama greift mit geschlossenen Augen nach einem Kissen und drückt es sich auf ihr rechtes Ohr.
»Mama, aufstehen. Frühstück machen!«
»Oda!« Mama klingt jetzt richtig wütend. Liegt vielleicht an der Vereinbarung von letzter Woche. Die Vereinbarung besagt, dass ich vor sieben Uhr niemanden hier in der Wohnung wecken darf. Mama und Papa sind sonst nämlich am Abend immer völlig groggy. Groggy sein bedeutet, dass sie auf dem Teppich oder dem Sofa liegen und nur noch an ihr Bett denken können.
Frechheit, denke ich. Absolute Frechheit. Was kann unter diesen Umständen noch aus mir werden? Eltern sollen Vorbilder sein. Weiß doch jeder. Hellwach und aufgeräumt und spätestens bei Sonnenaufgang bereit für die Welt. Es steht außer Frage, dass die Mutter meiner Freundin Tilda um diese Uhrzeit schon am Frühstückstisch sitzt. Sie sortiert ihre Unterlagen und hat leckeres Müsli zubereitet, während Tildas Vater die erste Fuhre Kinder ins Badezimmer treibt. Unsere Wohnung dagegen liegt um sechs Uhr noch schlafwarm und abgedunkelt da. Eine Pandabärenhöhle inmitten dieser rasenden Stadt. Pandabären sind so ziemlich das Langsamste und Faulste, was es auf der Welt gibt. Sie sind sogar zu faul, um Babys zu bekommen. Falls ihr das noch nicht wusstet, wisst ihr es jetzt. Ich sitze also hier in dieser Höhle. In Mamas gleichmäßigen Atem fügt sich Papas leises Schnarchen ein. Ein Bärenduett ohne jede Eile. Und das in einer Stadt, die nie schläft. Und in der zu jeder Zeit die spannendsten Dinge passieren können. In jeder Sekunde. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Berlin. Und ich hellwach mittendrin.
Die Geschichte beginnt dort, wo die meisten Abenteuer beginnen. Direkt vor der Haustür.
Tilda und ich sitzen auf den Stufen vor unserem Haus. Unser Haus liegt genau in der Mitte der Straße. Die Straße liegt in der Mitte unseres Stadtteils, und der liegt genau in der Mitte der Stadt. Berlin ist nicht irgendeine Stadt. Es ist die Stadt der Bären und der Abenteuer.
Tilda und ich sitzen auf den Stufen vor unserer Tür, und es passiert: NICHTS. Alle sind bei dem Wetter raus aus der Stadt. Kein Mensch ist zu sehen, und dort, wo sonst Autos parken, hat der Himmel großzügig warmes Gelb über den Asphalt ausgegossen. Nichts zu hören, nur mein Fuß trommelt im Takt gegen den Boden. Got My Mind Set on You oder so ähnlich. Warum muss Papa seine Lieblingslieder auch immer auf voller Lautstärke hören? Wo er doch weiß, dass die Ohrwürmer bei mir überall reinkriechen.
Neben mir zieht Tilda laut hörbar Schnodder die Nase hoch: Sie hat Schnupfen. Tilda hat ihre Augen geschlossen und hält das Gesicht in die Sonne. Sie kann stundenlang so sitzen, ohne sich zu bewegen oder zu sprechen. Und das, obwohl sie kein Reptil ist. Und keine Pflanze. Ich kann meine Augen keinen Moment zumachen. Außer natürlich, wenn ich schlafe.
Die Langeweile kriecht aus allen Hausritzen so trocken und staubig, dass ich mich ständig räuspern muss. Um mich zu beschäftigen, suche ich jeden Winkel der Straße nach Abenteuern ab. Meine Augen sind hellwach und überall. Ich versuche jedes Geraschel und jeden Schatten zu entziffern. Ruhe kann auch ein Trick sein. Auch wenn es ruhig ist, gilt: Die Abenteuer warten überall! Also Augen auf. Ohren in Windrichtung. Nase direkt am Boden. Heute jedoch scheint die Ruhe nicht mehr zu sein als einfach nur Ruhe.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, ziehe eine Packung Kekse aus der Tasche und knistere mit der Verpackung so lange neben Tildas Ohr herum, bis sie die Augen öffnet. Endlich.
»Kekse?«
Tilda blinzelt kurz durch ihre Brille, schüttelt den Kopf und schließt die Augen wieder. Von der Seite sehen ihre blonden Locken wie ungekochte Fusilli-Nudeln aus, die in alle Richtungen von ihrem Kopf abstehen. Ich glaube, das sind Tildas Antennen. Mit ihnen nimmt sie Informationen auf. Klar dauert das, bis die Informationen durch diese vielen Locken bis zu Tildas Kopf vorgedrungen sind. Wenn sie dann aber dort angekommen sind, sitzen sie ganz fest.
In meinem Kopf dagegen sind oft eine Menge Gedanken auf einmal. Manchmal sind es so viele, dass gar nicht alle Platz haben und die Hälfte schon wieder oben rausgeflogen ist, bevor ich sie irgendwie ordnen konnte. Ich finde, Tilda und ich sind wie zwei Legosteine: Wir passen perfekt zusammen. Ich schnell. Sie langsam. Sie mit Elefantengedächtnis. Ich mit Gedanken, die einschlagen wie Blitze. Ich unordentlich, sie ordentlich. Mutig und schlau sind wir natürlich beide. Zusammen sind wir das beste Team, das ihr euch vorstellen könnt.
Gerade, als ich mich damit abfinden will, dass heute wahrscheinlich der langweiligste Tag des Jahres ist, passiert plötzlich etwas: Hinter uns fliegt die Haustür auf. Jemand rauscht im Sturzflug über uns drüber. Es ist das Mädchen, das vor zwei Monaten mit seiner Mutter neu ins Haus eingezogen ist. Tilda und ich nennen sie heimlich Borsti, weil ihre kurzen Haare aussehen wie die kratzigen Borsten einer Bürste. Eigentlich heißt sie Jorinde. Obwohl Jorinde nur ein Jahr älter als Tilda und ich ist, guckt sie uns im Treppenhaus kaum an. Außerdem scheint sie überhaupt keine Freunde zu haben. Ich habe sie noch nie mit einem anderen Kind gesehen. Stattdessen bolzt sie oft zwei Stunden am Stück mit einem Fußball auf das Denkmal vor unserem Haus. Bolzborsti. Der Einzige, der immer bei ihr ist, ist ihr kleiner Hund. Der Hund ist schwarz und struppig. Seine untere Zahnreihe ragt komisch aus dem Maul heraus. Das nennt man Unterbiss, und wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Jorinde ihn Dracula genannt hat. Tilda findet, dass Dracula aussieht wie eine Kanalratte mit Zahnprothese, und Papa, der eine sehr empfindliche Nase hat, findet, dass der ganze Hausflur noch Stunden, nachdem Dracula da durchgelaufen ist, nach ihm stinkt. Ich finde, er sieht ganz niedlich aus mit seinen Vampirzähnen. Ich hätte lieber so einen Hund als gar keinen. Außerdem kann er ziemlich gute Tricks. Zum Beispiel kann er auf Kommando durch Jorindes Arme springen wie durch einen brennenden Reifen, und wenn Jorinde mit ausgestrecktem Arm auf ihn zeigt und »Peng!« ruft, wirft er sich auf den Boden, rollt zur Seite und bleibt dann so liegen, als hätte sie ihn tatsächlich erschossen.
Leider mag Dracula es gar nicht gerne, alleine in der Wohnung zu sein. Wenn er alleine ist, bellt er das ganze Haus zusammen und jault und heult und kratzt an der Tür. Deswegen ist er bei uns im Haus nicht sehr beliebt.
Jorinde fliegt also über uns drüber und schlittert dann auf Knien und Händen vor uns über den Asphalt. Nicht schlecht, denke ich. Ziemliche Leistung! Ich will ihr gerade zu diesem phänomenalen Stunt gratulieren und ihr beim Aufstehen helfen, als sie sich blitzschnell aufrappelt, die Knie abgeklopft und vor uns aufbaut. Sie steht da und starrt uns an und es stört sie überhaupt nicht, dass ihre Hose an den Knien komplett aufgerissen ist.
»Du blutest da.« Tilda zeigt auf den Fleck, der sich an ihrem Knie zu bilden beginnt. Jorinde sieht nicht mal hin. Stattdessen fängt sie an zu motzen: irgendwas von »verrückt« und »voll bescheuert« und »ob wir noch alle Tassen im Schrank« und so weiter. Fünf Minuten später motzt Jorinde immer noch.
Unerhört! In meinem Kopf hat ein Sturm eingesetzt. Einer mit feuerroten Wolken und Blitzen. Einer von denen, die Mama eine Naturgewalt nennt. Das passiert bei mir öfter. Papa hat mir beigebracht, wie man so einen Sturm in eine andere Richtung lenkt. Ich muss auf meinen Atem hören und mindestens bis zehn zählen. Manchmal klappt das auch. Manchmal. Heute jedoch komme ich nicht mal bis zwei. Bei eineinhalb öffnet sich mein Mund ganz von alleine und was dann herauskommt, ist mehr als Geschrei. Es ist ein Donnern, ein markerschütterndes Brüllen, bei dem einem die Ohren wegfliegen und der Boden unter den Füßen zu wackeln beginnt. Ein Getöse, das alles verschluckt, was sich ihm in den Weg stellt. Es verschluckt Jorindes »verrückt!« und das »voll bescheuert« und das »noch alle Tassen im Schrank?!« und so weiter.
Bis am Ende nur noch das Getöse selbst da ist. Es hört erst auf, als Jorinde den Mund endlich geschlossen hat.
Danach ist es erst mal still.
Jorinde starrt mich an. Sie starrt mich auf so eine Art an, dass mir hinten im Nacken ganz kalt wird und sich die kleinen Haare dort aufstellen. Dann tippt sie sich mit dem Finger an die Stirn, dreht sich um und geht. Geht die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen. Erst jetzt fällt mir auf, dass Jorinde Dracula gar nicht dabei hat. Komisch, ich habe sie noch nie ohne ihn gesehen.
Tilda ist blass geworden. Vor Schreck hat sogar ihr Schnupfen sich verkrochen. Kein Schniefen. Kein Husten. Obwohl wir uns schon kennen, seitdem wir ein Jahr alt sind, kann mein Wutgebrüll Tilda immer noch in einen Schreckzustand versetzen. Und das, obwohl sie drei Geschwister hat und bei ihr zu Hause eigentlich ständig jemand schreit.
Ich muss mich um Tilda kümmern. Muss ihr den Sturzflugschreck aus den Augen streichen und mein Getöse wieder aus ihren Ohren locken.
»Tilda. War nur Getöse. Ist alles vorbei jetzt!«
Wenn Tilda im Schreckzustand ist, ist sie wie eine Schnecke in ihrem Haus: ziemlich schwer zu erreichen. Immerhin schnieft sie jetzt schon wieder. Schniefen ist gut. Schniefen heißt, dass zumindest der Schnupfen sich wieder heraustraut.
»Die spinnt doch!«, flüstert Tilda jetzt. »Erst fliegt sie mit voll Karacho auf uns drauf und dann entschuldigt sie sich nicht mal!«
Motzen ist noch besser als Schniefen. Motzen ist eine von Tildas Leidenschaften. Motzen heißt, dass Tilda schon fast wieder draußen ist aus dem Schneckenhaus.
»Die spinnt wirklich. Die ist doch die größte Pupskanone hier im Block«, stimme ich ein.
»So eine Knalltasse!«, schimpft Tilda.
Pipiprinzessin. Popelotter. Schrumpfnelke. Pissmarie. Pupsgesicht.
Wir haben uns gerade so richtig eingeschimpft, als die Tür hinter uns schon wieder auffliegt. Blitzschnell schlinge ich meinen Arm um Tilda und reiße unsere Köpfe herunter. Doch diesmal fliegt keine Nachbarin aus dem Haus. Stattdessen schwappt schlechteste Laune über unsere Köpfe.
»Was ist das denn hier? Könnt ihr euren Kaffeeklatsch auch woanders abhalten? Ich wäre fast über euch gefallen!«
Vorsichtig löse ich meinen Arm von Tilda. Hinter uns steht Jorindes Mutter. Sie hat einen Stapel Zettel und eine Rolle Klebeband in der Hand und macht ein Gesicht, als hätte ihr gerade jemand eine Sahnetorte ins Gesicht gedrückt.
»Könnt ihr mal?« Sie wedelt mit der Hand zwischen unseren Köpfen herum, was wohl heißen soll, dass wir ihr Platz machen sollen. Ich würde gerne gucken, was passiert, wenn wir das nicht machen, aber Tilda ist schon aufgesprungen.
»Bitte schön!«
Jorindes Mutter gibt als Antwort ein kurzes Knurren von sich. Dann läuft sie in schnellen Schritten zwischen uns durch und, ohne nach links oder rechts zu gucken, über die Straße.
»Danke schön!«, schreie ich hinter ihr her, aber das hört sie gar nicht. Sie läuft zum Italiener gegenüber, der erst vor ein paar Wochen eröffnet hat.
Vor dem Eingang bleibt sie stehen, reißt ein Stück vom Klebeband ab und befestigt einen der Zettel mitten auf der Eingangstür. Sie wirft noch einen kurzen Blick drauf, dann läuft sie weiter. Beim Vietnamesen zwei Häuser weiter hängt sie einen weiteren Zettel auf. Beim Kleiderladen direkt daneben den nächsten. Und so geht es die ganze Straße hinunter. Am Ende der Straße verschwindet sie im Supermarkt.
Endlich.
»Los!« Ich hechte über die Straße. Tilda ziehe ich einfach hinter mir her, bis wir vor dem Zettel an der Pizzeria stehen.
WER HAT DRACULA GESEHEN?
Heute morgen ist unser kleiner schwarzer Mischling verschwunden. Er war vor dem Supermarkt angebunden, und als wir rauskamen, war er weg. Der Hund ist sehr zutraulich und hört auf den Namen Dracula. Wer ihn gesehen hat, melde sich bitte bei uns. Wir sind für alle Hinweise dankbar. Es gibt einen Finderlohn von 250 Euro!
Bitte melden unter: werhatdraculagesehen@web.de
»Tilda!«, meine Stimme überschlägt sich fast vor Aufregung. »Das ist ein ganz großer Fall. Waschechte Hundeentführung! Wir werden endlich gebraucht!«
»Aua!«, motzt Tilda, »nimm deinen Ellenbogen aus meiner Seite!«
Wenn ich aufgeregt bin, kommt es vor, dass meine Arme und Beine in alle Richtungen ausschlagen. Und jetzt bin ich sehr aufgeregt. Das kann ja kein Zufall sein, dass ich heute Nacht von diesem Hund geträumt habe. Dass das unser Fall ist, ist ja wohl ganz klar. Und mal ganz ehrlich: Was kann einem an so einem Nachmittag, der sich anfühlt wie ein zu lang durchgekautes Kaugummi, Besseres passieren als ein Abenteuer? Und hier ist es, BUMS-ZACK!, einfach vor unsere Füße gefallen. Das kann man dort nicht einfach liegen lassen!
Tilda hat die Augenbrauen zusammengezogen und guckt missmutig auf den Zettel.
»Mir doch egal, wenn der Hund von Borsti weg ist! Die spinnt doch eh«, muffelt sie.
»Tilda!« Ich halte Tildas Hand ungefähr so fest, als wollte ich ihr gleich einen Heiratsantrag machen. »Tilda, dieser Fall macht uns berühmt! Denk mal an die Zeitungsüberschriften: Mädchen decken Hundeentführung auf! Die grandiosen Spürnasen aus Berlin! Spektakuläre Hunderetterinnen Oda G. und Tilda T. geben alles! Wir werden stadtbekannt!«
Doch Tildas Augenbrauen bewegen sich keinen Millimeter voneinander weg.
»Und dann der Finderlohn! Zweihundertfünfzig Euro! Das sind zweihundertfünfzig große Tüten bei Roswitha. Fünfhundert kleine! Das reicht fürs ganze nächste Jahr!«
Roswitha ist der Kiosk um die Ecke. Dort werden neben Zeitungen die besten Süßigkeiten der Stadt verkauft. Man kann sich für fünfzig Cent kleine Tüten zusammenstellen – oder große für einen Euro. Mit der Aussicht auf Süßes kann man Tilda zu fast allem überreden. Sie liebt Süßigkeiten. Besonders die bunten. Je mehr Farben, desto besser. Jetzt aber scheint sie ihre Süßigkeitenleidenschaft vergessen zu haben. Ihre Augenbrauen kleben aneinander wie Beton.
»Es reicht sogar für Süßigkeiten und für ein neues Terrarium!«, locke ich.
Tildas Augenbrauen zucken. Es gibt nichts, was Tilda sich mehr wünscht, als ein großes Terrarium. Da drin könnte sie ihre Achatschnecken optimal beobachten. Tilda will nämlich eine weltberühmte Schneckenforscherin werden. Und das Terrarium, das sie jetzt hat, ist viel zu klein.
»Ein richtig riesiges Teil!«, sage ich und beschreibe mit den Armen einen großen Kreis.
Tildas Augenbrauen sind wieder in ihre normale Position zurückgerutscht. Trotzdem schüttelt sie den Kopf.
»Dracula ist einfach nur weggelaufen. So eine Kanalratte klaut niemand.«
»Nein, Tilda, er war angebunden. Steht hier doch.« Ich zeige auf den Zettel. »Dracula ist einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen.« Ich lasse meine Stimme dramatisch zittern, so wie ich das aus Filmen kenne.
»Außerdem hatte ich heute Nacht einen Traum!«
»Aha. Was denn für einen?«, fragt Tilda und klingt dabei nicht sonderlich interessiert.
Vorsichtig nehme ich den Zettel von der Tür ab. Dann ziehe ich Tilda über die Straße zurück auf die Stufen vor unserem Haus und erzähle ihr von meinem Traum. Von dem Hund, der dunklen Stadt und dem Gefühl, dass ich einer ziemlich großen Sache auf der Spur bin.
Das Gute an Tilda ist, dass sie mich immer versteht. Sie hört mir zu und nickt und versteht.
»Weißt du«, sage ich, »Ohne dich würde ich den Fall auch lösen, nur dauert es dann eben viel länger. Und das wäre doof, weil du dann das ganze langweilige verlängerte Wochenende alleine wärst! Und außerdem macht ohne dich alles nur halb so viel Spaß.«
»Okay.« Tilda macht eine Pause. So eine Pause, in der man es für den anderen noch spannender macht. Man nennt das Kunstpause. Papa macht das auch gerne, bevor er mir ausnahmsweise etwas wirklich Verbotenes erlaubt. Zum Beispiel an richtig heißen Tagen eine Wasserbombe aus dem Fenster zu werfen, wenn unten jemand vorbeiläuft.
»Meinetwegen.«
»Mann, Tilda! Danke!« Ich drücke Tilda einen Kuss auf die Wange. Nicht so einen ekligen Liebeskuss, sondern einen Beste-Freundinnen-Kuss, einen kleinen, der ploppt und zischt und auf der Haut zerplatzt.
»Aua! Iieh!« Tilda wischt sich mit dem Handrücken über die Backe, dabei war der Kuss ganz trocken.
Inzwischen verschwindet die Sonne langsam hinter den Dächern. Hinter den Häusern läuten die Kirchenglocken. Drüben beim Italiener fängt der Besitzer an, die Tische für den Abend einzudecken. Tilda scheint schon wieder Hunger zu haben, auf jeden Fall guckt sie ihm ganz verträumt dabei zu. Die Suchanzeige in meiner Hand fühlt sich an wie ein Erste-Klasse-Ticket ins Abenteuer.
Ich fühle mich irgendwie glitzernd, glücklich und aufgeregt. Fast so, als wäre mein Körper zu klein für ganz viel Glück, als würde das Glück gleich aus mir überschwappen. Ich will gerade tief und weltenglücklich seufzen, da bemerke ich etwas höchst Verdächtiges.
»Tilda!«
»Was?«, fragt Tilda.
»Die Zettel sind weg.«