Stephanie Burgis
Katie Wildheart
Zaubern ohne Furcht und Tadel
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
FISCHER E-Books
Stephanie Burgis, geboren 1977, ist in den USA aufgewachsen und stammt aus einer großen, lauten und liebevollen Familie. Deshalb handeln so viele ihrer Bücher von Familien der einen oder anderen Art. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann, zwei Söhnen und einer getigerten Katze in Wales.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Katie Wildheart ist ein ganz normales Mädchen – bis auf die geheimen Zauberkräfte, die sie von ihrer Mutter geerbt hat. Endlich soll Katie zu einer Hüterin ausgebildet werden, die die Menschen vor böser Magie bewahrt. Doch Lord Ravenscroft, der mächtigste Zauberer in England, will das um jeden Preis verhindern. Katie ahnt, dass der Lord Böses im Schilde führt. Als sie sich gegen ihn stellt, gerät sie in große Gefahr ...
Ein bezauberndes Abenteuer um Mut, Magie und ein Mädchen, das alle überrascht!
Erschienen bei FISCHER E-Books
Copyright © 2011 by Stephanie Burgis
Published by Arrangement with Stephanie Burgis Samphire
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Hannover
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5178-7
Für meine Großmutter Sandra Burgis,
die immer verstanden hat, wie wichtig Leihbüchereien sind.
Und für meinen Sohn, der mir jeden Tag zeigt,
was wilder Zauber ist.
Es war leider kein Geheimnis, dass mein Bruder Charles nicht nur ein unverbesserlicher Spieler und unglaublicher Langschläfer, sondern auch als Einziger von uns vier Geschwistern zu faul war, sich an Familienstreitigkeiten zu beteiligen. Da konnten meine Schwestern noch so nervig sein. (Waren sie normalerweise auch.)
Aber für einen älteren Bruder hatte er eine wunderbare Eigenschaft: Man konnte ihn immer wieder leicht zu etwas überreden.
»Dir ist schon klar, Katie, dass Stiefmama dir den Hals umdreht, wenn sie es herausfindet«, flüsterte er mir jetzt zu und gähnte dabei so lauthals, dass Leute, die ihn nicht kannten wie ich, ihn gar nicht verstanden hätten. Er war bereits zum zweiten Mal mit Schimpf und Schande von der Universität Oxford geflogen und wohnte wieder zu Hause. Obwohl er sich vor Familienpflichten mit Vorliebe in den Schlaf flüchtete, folgte er mir heute am frühen Morgen vor sich hingähnend und mäkelnd die knarzenden Holzstufen hinunter ins Erdgeschoss der Pfarrei, unserem Zuhause.
Gemeinhin scheute er die Anstrengung, sich gegen jemanden zu wehren, der sich über sein erstes »Nein« hinwegsetzte. Und ich, sturköpfig, wie alle meine Geschwister bezeugen konnten, ließ mich schon gar nicht mit einem Nein von ihm abspeisen.
Draußen und drinnen war es noch dunkel, und lediglich die Kerze in meiner Hand warf Licht auf die Treppe. Damit auch Charles etwas sehen konnte, hielt ich sie hoch, achtete aber darauf, dass ich nicht auf die Stellen trat, wo das uralte Holz morsch war.
»Stiefmama wird mir den Hals deshalb nicht umdrehen, weil sie gar nichts erfährt«, flüsterte ich. »Außerdem ist sie so sehr mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, dass sie sich – falls sie aufwacht – nicht auch noch darum schert, was wir beide tun oder lassen.«
»Hä?« Wie üblich war er zu träge, mir zu widersprechen. Was mir gerade recht war, denn ich hätte mich ohnehin nicht umstimmen lassen.
In drei Stunden würde meine älteste Schwester Elissa heiraten. In vier Stunden – fünf, wenn das Hochzeitsfrühstück länger dauerte als gedacht –, würde sie weggehen und sich unser aller Leben für immer verändern. Selbst wenn sie zu Besuch kam, würde sie von nun an immer ihren Mann mitbringen, und so sehr ich den gutmütigen Mr Collingwood auch mochte, es würde nie wieder so sein wie früher. Zum Beispiel würden die beiden in einem Zimmer schlafen, und ich konnte nicht mehr zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Elissa hineinschlüpfen, um mir Trost, einen guten Rat oder Hilfe zu holen, wenn ich wieder Streit mit Stiefmama hatte. Oft ließ ich mich auch einfach nur von ihr umsorgen, was sie ja schon tat, solange ich lebte. Meine Mutter war nämlich kurz nach meiner Geburt gestorben, und meine beiden älteren Schwestern hatten sich um mich gekümmert.
Mit den Jahren ging es mir allerdings zunehmend auf die Nerven, wie etepetete und überheblich Elissa war und mir dauernd Vorträge über schickliches Benehmen hielt. Wie oft vergaß sie auch, dass ich mittlerweile zwölf Jahre alt und kein Baby mehr war.
Heute Morgen war ich um vier Uhr aufgewacht, hatte dagelegen und eine volle Stunde in die Dunkelheit meiner Dachkammer gestarrt, bis ich schließlich aufgegeben und Charles im Stockwerk unter mir aus dem Bett geholt hatte. Was mein Bruder und ich vorhatten, hätte Elissa bis ins Innerste ihrer damenhaften Seele empört, aber wenn ich darauf verzichtet hätte, wäre ich explodiert.
Nach der letzten Stufe vor dem Erdgeschoss atmete ich erleichtert auf. Niemand war wach geworden. »Komm«, flüsterte ich. »Mrs Watkins ist noch nicht in der Küche, und keiner hört uns.«
Charles zuckte die Achseln und tappte in Morgenmantel und Schlappen hinter mir her. Sein Haar – es hatte den gleichen hellblonden Farbton wie Elissas und Papas (bevor es grau wurde) – guckte in ungebärdigen Locken unter der Nachtmütze hervor. Er hatte auf dem Gesicht geschlafen, als ich ihn wach gerüttelt hatte. Wie er in dieser Lage überhaupt atmen konnte, war mir stets ein Rätsel. Eigentlich war mir Charles mehr oder weniger ein Rätsel, denn als Stiefmama vor fünf Jahren in unser Leben getreten war, hatte sie ihn sofort aus dem Haus geschickt, damit er in dem Knabeninternat Harrow zum feinen Herrn erzogen wurde.
Dort hatte er sich natürlich verändert – zum Teil sogar zum Guten, wie zum Beispiel, dass er ein paar sehr nützliche Fähigkeiten erworben hatte.
Da das Feuer im Küchenkamin nur glimmte und der große Raum eiskalt war, fachte ich die Glut an und entzündete zwei weitere Talgkerzen, weil es draußen und folglich auch hier drin immer noch nicht heller geworden war. Dann bat ich Charles, mir zu helfen, den schweren Holztisch zur Seite zu schieben.
»So. Prima.« Ich trat auf die freie Stelle, die wir geschaffen hatten, und hob die Fäuste, wie er es mir vor mehr als einem Jahr beigebracht hatte, als er die Universität zum ersten Mal wegen schlechten Betragens verlassen musste. Über mir baumelten Kräuterbündel und Fleisch von der Decke. Ebenso wie die abgedeckten Speisen auf dem Küchentisch waren sie für das opulente Hochzeitsfrühstück später am Morgen vorgesehen. Aber daran wollte ich gar nicht denken, schon gar nicht daran, was danach sein würde.
Elissa … Ich kriegte einen Kloß im Hals und räusperte ihn weg. Dann zog ich meine Hausschuhe aus und tänzelte auf dem kalten Fußboden wie ein Boxer. »Los, komm!«
»Gut, wenn es denn sein muss.« Charles reckte die Schultern und brachte seine Fäuste in Stellung. Dann ließ er sie sinken. »Ach, weißt du, für Faustkämpfe ist es eigentlich noch viel zu früh. Wenn außerdem auch nur einer von uns beim Hochzeitsgottesdienst mit blauen Flecken erscheint, gerät Stiefmama mal wieder außer sich vor Wut.«
»Charles …« Ich bedachte ihn mit meinem gebieterischsten Blick. Den hatte ich von Angeline gelernt, unserer anderen Schwester, die ihn aus dem Effeff beherrschte. »Du hast mir dein Ehrenwort gegeben.«
»Ich will auch gar nicht kneifen. Wenn du unbedingt jetzt boxen willst, gut, dann bin ich dir zu Diensten. Trotzdem frage ich dich, wie’s zur Abwechslung mal mit Ringen wäre?«
»Mit Ringen?« Ich ließ die Fäuste sinken und überlegte. Im letzten Jahr hatte Charles mir Boxen und Fechten beigebracht und vor zwei Wochen Frederick Carlyle das Billardspielen. (Nach außen war Frederick seit neuestem Papas Student der alten Sprachen, in Wirklichkeit aber der einzige Mann in England, der Angeline gewachsen war und sich mit ihr messen konnte.) Aus irgendeinem Grund hatte ich allerdings nie erwogen, dass ich zu den genannten, mir als Mädchen verbotenen, aber nützlichen Fähigkeiten auch die Kunst des Ringens erlernen könnte.
»Wenn wir ringen, ersparen wir uns vielleicht die blauen Flecken und die Schimpftiraden«, sagte Charles.
»Gut, zeig’s mir.« Ich ließ die Arme hängen.
»Besser du fängst an und nicht ich«, erwiderte er stirnrunzelnd. »Wenn was passiert … ähm. Pass auf, ich sage dir, was du tun musst. Komm so auf mich zu, pack mich hier und da« – er legte meine Hände auf die Stellen –, »und dann dreh dich in der Hüfte. Nein, warte, ich meine …« Er wurde knallrot. »Verflixt. Wenn Stiefmama gehört hätte, wie ich ›Hüfte‹ gesagt habe –«
»Charles, ich weiß, dass ich Hüften habe.« Ich verdrehte die Augen. »Nur weil Damen dieses Wort nicht in den Mund nehmen sollen, müssen wir –«
»Damen sollen das Wort nicht mal verstehen«, murmelte Charles. »Nicht, dass dich das interessieren würde. Natürlich nicht …«
»Natürlich nicht. Ich drehe mich also so –«
»Nein, nein, so ist es falsch. So!« Wir stellten uns anders hin, und er zeigte es mir ganz langsam. »Mit genügend Kraft kannst du deinen Gegner über die Hüfte werfen. Siehst du, zuerst bringst du ihn aus dem Gleichgewicht und dann –«
»Was um alles in der Welt treibt ihr denn hier?« Angeline stand in der Tür. Ich rutschte aus, als ich mich in Charles’ Armen drehte, während Charles, auf frischer Tat bei seiner Lehrstunde ertappt, die Panik kriegte und selbst einen Hüftschwung hinlegte. Prompt schoss ich durch die Luft.
»Verflixt und zugenäht!«
Manchmal vergaß ich, wie stark mein Bruder, dieser Unglücksrabe, wirklich war. Ich flog durch die Küche auf den großen Holztisch zu. Biss auf die Zähne, um mich auf den Aufprall vorzubereiten …
… und erstarrte mitten in der Luft! Angeline hatte leise etwas geflüstert, und der Duft von frischem Flieder zog durch den Raum. Einen knappen Meter über dem Boden und etwas mehr als zwanzig Zentimeter vom Küchentisch entfernt hing ich waagerecht und reglos in der Luft.
Manchmal war es eben nützlich, eine praktizierende Hexe in der Familie zu haben.
»Toll«, sagte Angeline. »Einfach toll, ihr beiden. Genau das hat sich Elissa zu ihrem Hochzeitstag bestimmt gewünscht.«
Manchmal war eine praktizierende Hexenschwester nur nervend.
»Ach, hör doch auf.« Ich streckte ihr die Zunge heraus. »Elissa hätte gar nichts davon mitbekommen.«
»Nicht mal, wenn Charles dich in die Teigmassen für Mrs Watkins’ Pasteten geschleudert hätte?« Mit dem Kopf deutete sie auf die zugedeckten Schüsseln auf dem Tisch.
Charles verdrückte sich natürlich schon in Richtung Tür, wobei er es peinlichst vermied, uns anzuschauen.
»Das wäre gar nicht passiert, wenn du ihn nicht erschreckt hättest«, erwiderte ich. »Aber Elissa – die wäre mindestens genauso schockiert, wenn ihr zu Ohren käme, dass du zauberst. Vergiss nicht, dass du ihr und Stiefmama versprochen hast, davon abzulassen, damit niemand erfährt, dass du Hexenkräfte hast. Hexen ist viel ungehöriger als ein bisschen Ringen.«
»Ach, wirklich?« Angeline verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue. »Gut. Dann zaubere ich nicht mehr. Nie und nimmer mehr.« Wollte sie mich etwa in meiner misslichen Lage hängen lassen? »Zartbesaitet, wie du bist, möchte ich dich schließlich vor allzu großen Erschütterungen bewahren.«
»Hör mal, Angeline«, sagte Charles, der ziemlich verzweifelt vor der Tür stand, die sie blockierte. »Du weißt, ich interessiere mich nicht die Bohne für diesen ganzen Zauberquatsch, aber es wäre schön, wenn einem braven Burschen wie mir zur Abwechslung in diesem Tollhaus mal ein bisschen Schlaf vergönnt würde …«
Angeline trat beiseite, würdigte ihn aber keines Blickes. »Also, Katie?«
Ich seufzte. »Na gut, lass mich hängen. Ich brauche deine Hilfe sowieso nicht.«
Angeline hatte die alten Zauberbücher samt Zauberformeln unserer Mutter gefunden, die damit für hässliche Skandale in der guten Gesellschaft gesorgt hatte. Die Begabung zum Zaubern und Hexen kann auf alle Kinder einer Hexe vererbt werden, doch die sittsame Elissa dachte nicht im Traum daran, davon Gebrauch zu machen, während Charles vermutlich nicht einmal ahnte, dass er sie hatte. Mir wiederum würde Angeline niemals Zugang zu Mamas Zauberbüchern gewähren, damit auch ich zaubern lernte. Aber eine Hexe ohne Zaubersprüche ist leider genauso machtlos wie eine normale Frau, und obwohl ich eine Hexe war, kannte ich keinen einzigen Spruch, der mir jetzt geholfen hätte.
Mama war freilich nicht nur eine Hexe, sondern insgeheim noch etwas viel Selteneres gewesen, etwas, von dem die meisten Menschen nie gehört haben: eine Hüterin, die von Natur aus die Macht, aber auch die Verantwortung besitzt, die Gesellschaft vor bösen Zauberern zu beschützen. Und diese Macht erbt nur ein einziges Kind einer Hüterin oder eines Hüters.
Hüter brauchen keine Formeln und Sprüche zum Zaubern.
Ich schloss also die Augen und beschwor die vertraute prickelnde Kraft herauf. Sie stieg mir in Brust und Kopf und drückte, bis ich nichts anderes mehr spürte und Elektrizität mir in den Ohren knisterte. Mit geschlossenen Augen suchte ich Angelines Zauberspruch und fand ihn.
»NEIN!«, zischte ich mit meiner ganzen Hüterinnenkraft.
Schon war der Zauber gebrochen.
Und ich plumpste fast einen Meter zu Boden, nicht ohne mich dabei zu drehen und unsanft auf dem Rücken zu landen.
»Au, autsch, autsch, autsch …« Ich setzte mich und rieb mir die schmerzenden Stellen. »Also, das muss man doch besser hinkriegen.«
»Du wirst es schon noch lernen, davon bin ich überzeugt.« Bissig wie immer kam Angeline zu mir, kniete sich aber seufzend neben mich und rieb mir sogar genau dort den Rücken, wo ich es brauchte. »Hast du denn immer noch nicht mit dem Unterricht in deinem komischen Orden angefangen?«
»Nein. Aber Mr Gregson sagt, es sollte bald alles geklärt sein.« Ich lehnte mich in ihre warmen Hände zurück und schwelgte in dem köstlichen Gefühl, wie ihre starken Finger die Schmerzen wegmassierten. »Ich muss vorher eingeführt werden. Aus irgendeinem Grund dauert es länger als erwartet.«
Na, den Grund kannte ich ziemlich genau. Nur hatte ich Angeline die ganze Geschichte nie erzählt.
Klar, Mama war eine Hüterin gewesen. Doch als sie Papa kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte, war sie so verzweifelt gewesen, dass sie gehext hatte, um ihn für sich zu gewinnen. Wenn es aber irgendjemanden gab, der Hexerei mehr als die wohlanständige gute Gesellschaft ablehnte, dann war es der Orden der Hüter. Dort war man der Meinung, dass die Hexen schuld daran waren, dass die Menschen allgemein alles Zaubern und alle Zauberer hassten. Weil Mama Hexerei betrieben hatte, war sie aus dem Orden ausgeschlossen worden, und das hatte ihr fast das Herz gebrochen.
Ich aber war nun fest entschlossen, ihren guten Ruf wiederherzustellen und den Ordensmitgliedern ihre dummen Vorurteile auszutreiben, sobald ich ein vollwertiges Mitglied war. Aber ich musste, wie gesagt, erst eingeführt werden, und das gestaltete sich schwieriger, als ich gedacht hatte. Mama war jung gestorben – ihre Feinde im Orden lebten alle noch.
»Na gut.« Angeline klopfte mir ein letztes Mal fest auf den Rücken und richtete sich auf. »Komm mit, Katie. Jetzt wo du einmal wach bist, kannst du mir auch helfen, die Kirche zu schmücken.«
Als sie mich an die Hochzeit erinnerte, fielen mir alle meine Befürchtungen, die ich zu verdrängen versucht hatte, wieder wie eine schwere Last auf die Schultern. »Unbedingt jetzt?« Ich schaute mich in der Küche um und suchte irgendetwas, egal, was, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. »Können wir uns nicht zuerst ein bisschen Toast machen? Oder –«
»Dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte Angeline und strich sich den Rock ihres rosafarbenen Musselinhauskleides glatt. Sie war so kühl und gelassen, als sei heute ein ganz normaler Tag und nicht einer der wichtigsten im Leben unserer Schwester. »Was glaubst du, warum ich so früh aufgestanden bin? Du willst doch auch, dass Elissas Hochzeitstag perfekt wird, oder etwa nicht?«
»Natürlich.« Mit einem Seufzer erhob ich mich vom Boden. »Aber wenn du meinst, wir müssten stundenlang Bänder und feine Spitze aufhängen … halt, warte.« Stirnrunzelnd betrachtete ich die Küchenfenster. »Draußen ist es noch stockduster, und du hasst es, früh aufzustehen. Stiefmama schläft auch noch. Wir müssen doch noch gar nicht mit den Hochzeitsvorbereitungen anfangen.«
»Doch, doch, genau deshalb bin ich so früh auf«, sagte Angeline, mopste zwei Äpfel aus der Schale auf einer der Anrichten und warf mir einen zu. »Da du die Regeln von Anstand und Sitte immer so sklavisch befolgst, willst du doch nicht etwa, dass ich zaubere, wenn die Leute es sehen, oder?«
»Also, wenn du es so ausdrückst …« Ich biss in meinen Apfel und grinste meine ältere Schwester an. »Dann komme ich wohl besser mit dir und behalte dich gut im Auge. Bloß damit alles verläuft, wie es sich gehört.«
Vor Elissas Hochzeitstag war ich bestimmt zehntausendmal in unserer kleinen alten Steinkirche gewesen. Hier waren wir vier Geschwister getauft worden, und ich hatte, so lange ich mich erinnern konnte, jeden Sonntagmorgen zwischen meinen beiden Schwestern auf den harten Holzbänken in der ersten Reihe gesessen und Papas Predigten gelauscht, während sein Dienstherr, Squire Briggs, auf der für ihn vorgesehenen Kirchenbank tosend geschnarcht hatte.
Na, zumindest versuchte ich immer zu lauschen. Leider verlor Papa aber in der Mitte der Predigt regelmäßig den Faden. Viel zu häufig fing er gut an, debattierte jedoch dann eine halbe Stunde lang mit sich selbst die verschiedenen möglichen Auslegungen griechischer und lateinischer Texte, von denen nie jemand gehört hatte. Für Leute, die die eine oder andere der beiden Sprachen beherrschten, war das sicher nicht uninteressant, doch meine Schwestern und ich hatten bloß Französisch gelernt, und nur Angeline hatte echte Begabung dafür gezeigt. Zum Glück für Elissa und mich führte England jetzt schon so viele Jahre Krieg mit Frankreich, dass Französisch sprechen eher aus der Mode gekommen war.
In der Kirche hatte ich jedenfalls immer brav gesessen und Papa zuliebe eine aufmerksame Miene aufgesetzt. Diese Mühe gab sich sonst kaum jemand. Und während die Bauern und sonstigen Dorfbewohner hinter mir flüsterten oder dösten, merkte ich mir jeden einzelnen Farbwirbel in dem winzigen Buntglasfenster in der Wand und zählte die uralten, dunkelgrauen Steinplatten im Boden unter unseren Füßen. Nach all den Jahren glaubte ich nicht, dass unsere Kirche mal neu für mich aussehen würde.
Aber ich irrte mich.
Hoch oben in den Balken des Deckengewölbes hingen jetzt weiße Rosenbüsche, weiße Rosen rankten sich um die Ränder der hölzernen Kirchenbänke und erfüllten den gesamten Raum mit ihrem Duft. Sie hatten nicht die Farbe der verzauberten Rosen, die Mama in unserem Garten hatte wachsen lassen, waren aber ebenso traumhaft schön. Während ich Angeline dabei zusah, wie sie die letzten Zauberformeln aussprach, damit die Blumen fest an Ort und Stelle blieben, erinnerte ich mich daran, wie Elissa immer mit mir in den Garten zu Mamas Rosen gegangen war, die Stiefmama dann abgeschnitten hatte. Nun musste ich gegen den Drang ankämpfen zu weinen. Schrecklich war das, demütigend.
»Und, Katie?« Angeline drehte sich endlich zu mir um und wischte sich die Hände ab. »Bist du bereit für deinen Teil der Arbeit?«
»Natürlich«, erwiderte ich und schluckte, damit jetzt bloß keine Tränen flossen. Es war doch perfekt. Seit Wochen schon bedrängte ich Angeline, sie sollte mir endlich einen neuen Zauberspruch beibringen. Wenn ich erst mal offiziell als Hüterin eingeführt worden war, musste ich das Zaubern mit Zaubersprüchen sowieso aufgeben. Meine Fähigkeiten zum Hexen wollte ich benutzen, solange es ging. »Was soll ich tun?« Ich schaute mich in der bereits prächtig und bunt hergerichteten Kirche um – genau richtig für Elissas Hochzeit. »Ich sehe gar nichts, das fehlt.«
»Keine Bange. Ich habe genau die passende Aufgabe für dich.«
Das Lächeln kannte ich. Etwas Gutes bedeutete es nie.
Zehn Minuten später haderte ich mal wieder mit meinem Schicksal, als jüngste Schwester geboren zu sein. Ich hatte die schwere Leiter aus dem Schuppen hinter dem Pfarrhaus den grünen Hügel hinauf zur Kirche geschleppt und schob sie, angestrengt ächzend, an die Außenwand. Dann schaute ich Angeline böse an, die es sich auf der breiten flachen Steintreppe vor der Kirchentür bequem gemacht hatte und endlich ihren Apfel aß. Auf dem nahen Bauernhof krähten die Hähne, und die Sonne ging langsam über der langen Hügelkette in der Ferne auf.
»Das wirst du noch bereuen«, sagte ich zu meiner Schwester.
Sie schenkte mir einen Blick vollkommener Unschuld aus ihren großen dunklen Augen. »Aber Katie, du hast mich doch gewarnt, wie gefährlich es für uns alle wäre, wenn jemand das mit der Zauberei herausfände. Willst du etwa, dass unsere Gäste Verdacht schöpfen? Wenn Mrs Briggs merkt, wie hoch manche Rosen hängen, und sie sich nicht erklären kann, wie sie dahin gekommen sind – du weißt ja, dass sie uns wegen Mama allesamt mit Argwohn betrachtet …«
Ich versuchte, Angeline genauso bedrohlich anzuschauen wie sie mich immer, und kniff die Augen zusammen. »Wart’s nur ab, bis Elissas Hochzeit vorbei ist …«
Der Zeitpunkt kam schneller, als mir lieb war. Als wir wieder ins Pfarrhaus kamen, duftete es nach dem Essen, das in der Küche zubereitet wurde: Auch Mrs Watkins war früh aufgestanden und schon eifrig zugange.
Und sie war nicht die Einzige. Aus dem Wohnzimmer hörte man Stiefmamas schrille nervöse Stimme. »Und wenn ihr – Gott bewahre – jemals seht, dass Mrs Briggs’ Teller fast leer ist, dann vergesst nicht – uns allen zuliebe, aber vor allem, weil ihr sonst keinen Lohn bekommt …«
»Die Aushilfsküchenmädchen«, flüsterte Angeline und schloss leise die Haustür hinter sich.
Ich warf einen Blick durch die offene Wohnzimmertür. Stiefmama hatte die Mädchen aus dem Dorf für den heutigen Tag angeheuert. Nach der Trauung sollte nämlich ein opulentes Hochzeitsfrühstück stattfinden. Als sie nun vor den beiden auf- und abmarschierte, waren sie vor Angst schier gelähmt. Ich wand mich vor Mitgefühl, denn ihre Angst war berechtigt.
Seit Elissa sich mit einem Herrn namens Mr Collingwood verlobt hatte – der so reich war, dass er, ohne mit der Wimper zu zucken, Charles’ teuflisch hohe Spielschulden bezahlt hatte –, war Stiefmama so aufgezogen wie eine neue Uhr und wartete nur darauf, dass etwas schiefging. Und obwohl Mr Collingwood total vernarrt in Elissa war, beruhigten sich ihre überreizten Nerven nicht. Wider alle Vernunft war sie offenbar davon überzeugt, dass eine unerklärliche Katastrophe über uns hereinbrechen, Mr Collingwood es sich anders überlegen und das beispiellose Glück unserer Familie zerstört würde, wenn sie auch nur die kleinste Kleinigkeit dem Zufall überließe. Weil sie sich in diesen Wahn von Tag zu Tag mehr hineinsteigerte, gestaltete sich das Zusammenleben mit ihr noch schwieriger als sonst – und das wollte bei Stiefmama was heißen.
Für eines konnten wir allerdings dankbar sein: Obwohl sie ständig prahlte, was für großartige Beziehungen sie in der guten Gesellschaft habe, hatte sich fast keiner ihrer reichen Freundinnen und Freunde zu einer Antwort auf die Hochzeitseinladungen herabgelassen und schon gar nicht genügend Interesse aufgebracht, um zur Hochzeit hier nach Yorkshire zu reisen. Da blieb uns wenigstens erspart, dass Stiefmama völlig durchdrehte und versuchte, auch diese Leute noch zu beeindrucken. Es trieb sie ja schon in den Wahnsinn, Eindruck bei den wenigen vornehmen Leuten im Dorf zu schinden.
Jetzt wurde ihr Ton nicht nur immer lauter und zunehmend panisch, sondern hatte einen drohenden Unterton. »Wenn ich sehe, dass auch nur ein Tropfen Wein und dann noch womöglich auf einen unserer Gäste vergossen wird …«
Angeline und ich zuckten zusammen und schauten uns an. Dann wollten wir beide was sagen.
Ich war schneller. »Du musst ihr von den Rosen erzählen. Ich hab die Leiter gehalten.«
»Gut«, sagte Angeline. »Aber du musst mir versprechen, wenn Frederick und ich hei – ich meine –« Sie fing sich gerade noch und blinzelte nervös mit den Augen. »Wenn Frederick Carlyle und ich jemals heiraten – wir sind natürlich noch nicht einmal verlobt, geschweige denn, dass er mir einen Antrag gemacht hat, ich rechne also gewiss nicht –«
»Aber es ist doch alles klar«, erwiderte ich und verdrehte die Augen. Dass Angeline sich wegen Frederick Carlyles Absichten solche Sorgen machte, war genauso albern wie Stiefmamas Befürchtung, dass jetzt noch jemand Elissas Heirat verhindern konnte. Selbst der Umstand, dass Frederick zwei Monate mit Charles in einem Zimmer wohnen musste, hatte ihn nicht vergrault. Im Gegenteil, er hatte sich allein beigebracht, wie man Löcher im Dach repariert – wahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben mit den Händen gearbeitet –, und war in einen unbenutzten Raum gezogen, um tagein, tagaus ganz in Angelines Nähe zu sein. Dort oben konnten sie sich necken, lange glühende Blicke zuwerfen und miteinander flirten, wenn sie meinten, niemand sehe sie.
»Er liebt dich heiß und innig, falls dir das noch nicht aufgefallen ist«, sagte ich. »Er wartet nur, bis er einundzwanzig wird, damit er sich nach Recht und Gesetz verloben kann. Das hat er mir alles beim Billardunterricht erklärt.«
Angelines Wangen röteten sich. Zur Abwechslung geriet meine selbstbewusste ältere Schwester mal ein wenig aus der Fassung. Wie eigentlich immer, wenn von Frederick Carlyle die Rede war. Deswegen konnte ich ihn ja auch so gut leiden.
»Einerlei«, sagte Angeline. »Wenn wir je heiraten, musst du mir versprechen, Stiefmama in einen Schrank zu sperren und sie erst wieder rauszulassen, wenn die Trauung vollzogen ist. Verstanden?«
»Ja. Und versprochen«, sagte ich und verdrückte mich in mein Zimmer.
Doch dort konnte ich nicht ewig bleiben. Nur allzubald schalt Stiefmama mich, weil ich noch nicht ordentlich angezogen war, und ich musste mich in das schreckliche Kleid zwängen, das sie für mich ausgesucht hatte. Rüschen und bräunlich dunkelroter Musselin – das war der Preis, den ich dafür zahlen musste, dass ich auf die Einkaufstour verzichtet hatte.
Und dann ging auf fast magische Weise alles rasend schnell und gleichzeitig schneckenlangsam.
Zuerst stand ich in dem Zimmer meiner beiden Schwestern – mein ganzes Leben lang hatten sie es geteilt. Bis heute. Angeline befestigte den bodenlangen Brautschleier an Elissas Haube. Die beiden plapperten wie in weiter, weiter Ferne, und ich verstand kein Wort davon. Ich war zu sehr in den Anblick meiner wunderschönen ältesten Schwester vertieft, deren blaue Augen vor lauter Glück und Aufregung strahlten. Mehr denn je ähnelte sie einem Engel. Ihre blonden Locken kringelten sich um ihre Wangen, und ihr weißer Schleier hüllte sie ein wie eine Wolke. Sie sah aus, als könne sie einfach durch die Luft von mir wegschweben, und ich grub die Fingernägel in meine Handflächen, um ihr Gesicht nie wieder zu vergessen.
Dann kam Stiefmama hereingewuselt, um uns abzuholen, und wir eilten den grünen Hügel hinauf, den ich schon früher am Morgen hinauf- und hinuntergelaufen war. Auf der langen Straße aus dem Dorf rollten Kutschen und Bauernwagen heran. Die kühle Septemberbrise bauschte den Schleier um Elissa auf. Als er sich in ihren Beinen verfing, schlugen Elissa und Angeline ihn lachend wieder nach unten, und Stiefmama regte sich unnötig auf. Einen Moment lang fühlte sich alles wie ein Traum an.
Aber dann war Stiefmama nicht mehr da, sondern saß bei all den anderen und wartete auf den Beginn der Trauungszeremonie. Nur wir drei Schwestern standen vor dem geschlossenen Kirchenportal. Drinnen erklang Orgelmusik, und plötzlich fühlte sich alles sehr wirklich an.
»Elissa«, sagte ich, doch meine Stimme, ein dünnes, brüchiges Flüstern, wurde von einer Brise erfasst und verweht.
Elissa und Angeline hörten mich trotzdem und legten gleichzeitig einen Arm um mich. Elissa sah aus, als könne sie jetzt entweder lachen oder weinen, und Angelines Gesicht verströmte endlich einmal nur warme Anteilnahme und keinerlei Spottlust. Einen perfekten Augenblick lang, der sich ewig anfühlte, hielten wir uns an den Händen.
Die Tür schwang auf.
Meine Schwestern ließen mich los.
Angeline nickte mir entschlossen zu. Ich holte tief Luft und nickte ihr auch zu. Zusammen gingen wir mit unseren Blumenbouquets los.
Die Kirche war voller Menschen – Papas Gemeinde, Stiefmamas Freundinnen und natürlich Squire Briggs auf seiner Kirchenbank. Er schaute zufrieden und gewichtig drein, während seine Gattin mit ihrem verschrumpelten Gesicht an eine Trockenpflaume erinnerte. Aber der Anblick ihrer argwöhnischen, missbilligenden Miene half mir dieses Mal sogar. Ich wurde so ruhig und mutig, dass ich hocherhobenen Hauptes und mit herausgereckter Brust kühl und gelassen wie Angeline durch das Kirchenschiff schritt.
Das war Elissas Hochzeitstag, und den verdarb ihr keiner!
Die Kirche war wunderbar geschmückt. Angelines Rosen blühten um uns herum und trugen mit ihrem Duft zu meiner gehobenen Stimmung noch bei. Papa stand mit Mr Collingwood am Altar und wirkte so groß und vornehm, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, dass er im Alltagsleben oft unpraktisch und hilflos war. Als Mr Collingwood an Angeline und mir vorbei zu Elissa schaute, sah er aus, als werde er gleich ohnmächtig.
Neben dem Bräutigam stand …
Frederick Carlyle. Er war sein Trauzeuge, doch seine gesamte Aufmerksamkeit galt Angeline. Er lächelte sie so zärtlich und in geheimem Einverständnis an, dass ich wegschauen musste. Zum ersten Mal, seit wir die Kirche betreten hatten, verlor Angeline ihre Gelassenheit. Als sie seinem Blick begegnete, errötete sie heftiger, als ich es je bei ihr gesehen hatte. Ich spürte fast, wie die Luft zwischen ihnen knisterte.
Es war absolut peinlich.
»Pass auf!«, flüsterte ich. »Du willst doch nicht direkt vor ihm über deinen Rocksaum stolpern.«
»Pssst!«, zischte Angeline, achtete aber jetzt auf ihre Schritte. Ich grinste.
Wir stellten uns zu beiden Seiten des Altars auf. Elissa gab Angeline ihren Brautstrauß. Sie hielt den Blick züchtig gesenkt, atmete aber rasch. Mr Collingwood bekam förmlich Stielaugen, als er sie weiter anstarrte. Papa räusperte sich.
»Mein innigst geliebtes …«, begann er mit seiner volltönenden Stimme.
Da wurde die große Holztür aufgerissen und knallte gegen die Kirchenwand. Ich wirbelte herum und verlor beinahe den Blumenstrauß aus den Händen.
Eine kleine puterrote Gestalt stand, umgeben von Dienern, in der offenen Tür. Sie schwang einen Sonnenschirm wie eine Waffe.
»Wo ist er?«, brüllte sie. »Wo ist mein Sohn? Und was hat dieses Flittchen mit ihm gemacht?«
Getuschel brach in der Kirche aus. Ich merkte gar nicht, dass ich mein Bouquet zerdrückte, während ich die Frau in der Tür anstierte. Ich hatte sie noch nie im Leben gesehen.
Ihre Pelisse, der lange Seidenmantel, ihr turmhoher Kopfschmuck mit dem dichten Büschel hoch emporragender Straußenfedern – alles war grell purpurrot. Selbst wenn sie nicht eindeutig wahnsinnig gewesen wäre, hätte ich es schwer gefunden, den Blick von ihr abzuwenden. Aber sie musste wahnsinnig sein, das war die einzig mögliche Erklärung dafür, dass sie hier in die Hochzeit von Fremden hineinplatzte. Bis man sie weggeführt hatte, musste die arme Elissa allerdings auf den Fortgang der Trauung warten. Na, darüber würden sich die Leute wochenlang das Maul zerreißen.
Doch dann erkannte ich zwei der Bediensteten, die sich hinter ihr hereindrängten. Es waren unsere Aushilfsküchenmädchen. Erst als ich sah, wie sie, den Tränen nahe, die Hände rangen, machte sich wirklich Angst in mir breit. In dem runden Gesicht der Frau sah ich nichts als wilde Entschlossenheit und Wut. Wenn sie, falls ein schrecklicher Zufall es wollte, nicht verrückt war …
Da sprach Frederick Carlyle, und alle meine Zweifel verflüchtigten sich.
»Mama?«, sagte er und trat von seinem Platz am Altar weg. »Was machen Sie denn hier?«
»Frederick?« Ihr klappte der Mund so weit auf, dass sie wie ein Fisch auf dem Trockenen aussah. »Sag mir bitte, um Himmels willen, dass ich nicht zu spät gekommen bin!«
»Zu spät wofür?«, sagte er. »Mama, ich weiß nicht, was Sie denken, aber –«
»Sei still!« Sie zog den Kopf ein und raste mit voller Geschwindigkeit auf uns zu. Mit ihrem Sonnenschirm schlug sie die Rosen von den Kirchenbänken ab. »Sagen Sie mir«, kreischte sie Papa an. »Sind sie verheiratet?«
»Aah …!« Papa sah so verblüfft aus, wie ich war. »Meine werte Dame –«
»Sind – sie – verheiratet?«, wiederholte sie und hämmerte, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, nun mit dem Sonnenschirm auf Squire Briggs’ Kirchenbank ein.
Mrs Briggs erstarrte vor Empörung, und Squire Briggs’ Gesicht lief hochrot an, aber auch die beiden wagten es nicht zu protestieren.
»Also«, sagte Papa, »Wir haben gerade erst begonnen, genau genommen sind sie –«
»Scher dich weg von dem Altar!«, kreischte Mrs Carlyle Frederick an. Zu ihrer vollen Größe aufgerichtet – aber auch dann war sie nicht mal so groß wie ich –, legte sie eine kleine behandschuhte Hand auf ihr Herz. »Diese Trauung darf nicht vollzogen werden! Der Bräutigam ist noch nicht volljährig, und ich gebe meine Zustimmung zu der Ehe nicht.«
»Mama«, sagte Frederick.
»Also bitte, meine Dame«, sagte Papa.
Stiefmama begann wortlos zu kreischen.
Da trat Mr Collingwood hocherhobenen Hauptes vor und schaute Mrs Carlyle direkt in die Augen. Ich sah zum ersten Mal, dass er ohne seine Wegelagerermaske so viel Mut zeigte. »Ich bitte um Entschuldigung, Madam«, sagte er, »aber ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und brauche von niemandem die Erlaubnis zu heiraten.«
»Wer redet von Ihnen, Sie Narr? Frederick –«
»Er heiratet, Mama«, sagte Frederick Carlyle. »Nicht ich.« Das erste Mal sah ich den selbstbewussten Mr Carlyle vor Verlegenheit erröten.
Seine Mutter starrte ihn an. Sie bewegte heftig den Mund, aber nur ein Wort kam heraus. »Nicht –?«
»Sie scheinen einem schrecklichen Missverständnis erlegen zu sein, Madam«, sagte Papa. »Sie stören die Eheschließung meiner ältesten Tochter mit Mr Collingwood, diesem Herrn hier. Mr Carlyle ist lediglich sein Trauzeuge.«
»Trau–«
»Trauzeuge«, sagte Frederick Carlyle mit fester Stimme. »Was haben Sie denn gedacht, Mama?«
»Aber …« Ihr Sonnenschirm zuckte erneut bedrohlich. Mr Collingwood sprang zurück. Sie aber zielte direkt auf Elissa damit. »Wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten meinen Sohn nicht mit Ihren bösen, widernatürlichen Listen eingefangen?«
Stiefmamas Gekreisch wurde zu einem langen leisen Stöhnen der Verzweiflung. Auf der Bank neben ihr schlug Charles die Hände vors Gesicht und sank tief auf seinem Sitz zusammen.
»Wie bitte?«, sagte Elissa. Nun richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf, und sie war mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Mrs Carlyle.
»Meine Schwester wendet keine Listen an, weder widernatürliche noch sonst welche«, sagte Angeline mit einer Stimme wie geschliffener Stahl. Frederick Carlyle zuckte zusammen und hob die Hand, um sie am Weiterreden zu hindern. Aber es war zu spät. »Sie denken wahrscheinlich an mich, Madam«, fuhr Angeline fort.
»Ha!« Mrs Carlyle drehte sich um. Ihr Sonnenschirm zitterte in der Luft, als sie damit direkt in Angelines Mitte zielte wie mit einem Schwert. Würde sie gleich zustoßen? »Ich wusste es.«
»Mama«, begann Mr Carlyle, »Sie irren sich gewaltig. Niemand hat mich mit Listen eingefangen. Keiner versucht, mich durch Tricks zu irgendwas zu zwingen. Keiner –«
»Keiner hat dich durch Tricks zu was gezwungen?« Sie lachte höhnisch auf. »Wer’s glaubt, wird selig! Immerhin hast du mitten im Semester dein Studium in Oxford abgebrochen –«
»Ich habe alte Sprachen bei Mr Wildheart studiert –«
»– sowie jeglichen Kontakt zu deiner Familie und deinen Freunden. Mir hast du Briefe geschrieben, die höchstens zwei Seiten lang waren, und nur einmal in der Woche, und außerdem hast du nicht einmal angekündigt, dass du zu Besuch kommen würdest, obwohl du ganz genau wusstest, wie krank ich war –«
»Ich wollte Sie nach der Hochzeit, nächste Woche, besuchen –«
»Ich wusste, dass da was faul war. Das weiß eine Mutter immer!«
»Offenbar besitzen Sie eine bemerkenswert scharfe Wahrnehmung, Madam«, sagte Angeline. Ich wünschte, ich hätte hinüberlangen und sie kneifen können, damit sie nicht alles noch schlimmer machte. Aber sie war weiß vor Wut und schaute gar nicht zu mir hin. »Von bloß zweiseitigen Briefen einmal in der Woche auf böse widernatürliche Listen zu schließen beweist eine wahrhaft erstaunliche Phantasie!«
Mrs Carlyle schoss einen so giftigen Blick auf sie ab, dass die Luft zwischen ihnen davon hätte zischeln müssen. »Ich brauchte keine erstaunliche Phantasie und auch keine scharfe Wahrnehmung, um zu wissen, was hier vor sich geht. Es interessiert Sie vielleicht zu erfahren, junge Dame, dass ich über die Vorfälle in Grantham Abbey bestens im Bilde bin.«
Mr Collingwood erbleichte. »Also bitte, wenn es mit dem Wegelagerer zu tun hat –«
Elissa brachte ihn durch einen Blick zum Schweigen. »Mrs Carlyle«, begann sie liebenswürdig, ganz die Vernünftige, »Was auch immer Ihnen zu Ohren gekommen ist …«
»Du«, sagte Mrs Carlyle zu ihrem Sohn, »bist wie ein Verrückter hinter der Familie hergerannt, nur weil du in Miss Angelines Nähe sein wolltest!« Sie sprach den Namen meiner Schwester mit solcher Abscheu aus, als rede sie von einer Giftspinne. »Vielleicht interessiert es dich, dass das mehr als einer Person aufgefallen ist. Und eine der hervorragendsten Persönlichkeiten dort hat alles durchschaut.«
»Mama –!«
»Vielleicht können wir dieses höchst aufschlussreiche Gespräch später fortführen«, schlug Angeline vor. »Wenn meine Schwester erst einmal verheiratet ist. Und vielleicht …« Mit einem Blick aus ihren dunklen Augen überflog sie die wie gebannt dasitzende Zuhörerschaft in den Kirchenbänken. Squire Briggs sah aus, als treffe ihn gleich der Schlag, Mrs Briggs lauschte mit hämischem Entsetzen. »… unter Ausschluss der Öffentlichkeit?«
»Ha! Das glaube ich gern, dass Ihnen das lieber ist«, höhnte Mrs Carlyle.
»So ist es, und zwar wegen meiner Schwester«, erwiderte Angeline. »Sie finden es womöglich nicht der Rede wert, die Trauung eines unschuldigen Paares zu stören, aber –«
»Was wissen Sie denn von Unschuld?«, kreischte Mrs Carlyle.
Da war selbst Angeline baff. »Wie können Sie sich unterstehen, so etwas zu sagen?«, brachte sie nur noch heraus.
»Madam«, sagte Papa entschiedener, als ich ihn je erlebt hatte. »Ich darf Sie um Mäßigung bitten!«
»Mama, das reicht!« Wütend riss Frederick Carlyle seiner Mutter den Sonnenschirm aus der Hand. »Dein Benehmen ist empörend. So von einer jungen Dame zu sprechen, einerlei, wer –«
»Ha!«, rief Mrs Carlyle und holte einen Brief aus ihrem Pompadour, dem kleinen Beutel, der ihr als Handtasche diente. »Miss Angeline Wildheart ist keine Dame. Miss Angeline ist –« Jetzt wedelte sie mit dem Schreiben. »– eine Hexe!«
Papa taumelte zurück, als habe ihn jemand geschubst. Um nicht umzufallen, musste er sich am Altar festhalten, sein Gesicht war kreidebleich. Stiefmama entfuhr ein Jammerlaut, dann sank sie ohnmächtig auf ihrer Bank zusammen. Neben ihr betrachtete Charles die Balken in der Höhe, als suchte er einen Fluchtweg.
Immer lauter werdendes Geflüster und Geraune schwappte durch die Kirche. Mrs Briggs’ Miene war abwechselnd entzückt und arrogant. Ärgerlich, aber sprachlos schnappte Squire Briggs in einem fort nach Luft. Selbst Angeline und Mr Carlyle wirkten wie gelähmt vor Entsetzen.
Ganz offensichtlich wusste niemand, was zu tun war. Es wurde Zeit, dass ich die Sache in die Hand nahm.
»Etwas derart Lächerliches«, sagte ich so laut, dass man es hoffentlich in der gesamten Kirche hörte, »habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört!«
»Lächerlich ist es? Lächerlich?« Mrs Carlyle stieß mir den Brief so dicht vor die Nase, dass ich ihn wegpusten und dann schielen musste, um etwas zu lesen, bevor sie ihn wieder wegriss. »Ich weiß alles über die jämmerliche Intrige.«
»Jemand hat Ihnen Lügen erzählt«, sagte ich.
»Lügen? Lügen?« Ihr Gesicht wurde immer roter, bis es so purpurrot war wie ihr Kleid. »Was erdreistest du dich? Du dämliches kleines Gör verleumdest eine der ehrenwertesten Frauen in ganz England!«
Ich beäugte sie skeptisch. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber jetzt gerade sehen Sie nicht sehr ehrenwert aus.«
»Herrjeee!« Vor Wut knüllte sie den Brief zusammen. »Ich rede nicht von mir, du dummes Ding. Ich rede von der liebenswürdigen Freundin, die mir diese Nachrichten hat zukommen lassen, von Lady Fotherington persönlich!«
»Was?« Unwillkürlich trat ich zurück. Ich war nun so schockiert, dass ich mich zwingen musste weiterzureden. »Wer, sagten Sie? Nicht –«
»Doch, Lady Fotherington, die berühmte Gastgeberin der guten Gesellschaft. Lady Fotherington, eine der maßgeblichen und bewunderten Persönlichkeiten der gehobenen Londoner Kreise und enge Freundin von Prinz George höchstselbst. Offenbar hast sogar du von ihr gehört. Ihre Ehrlichkeit kannst du wohl kaum in Zweifel ziehen.«
O doch, dachte ich, das kann ich sehr wohl. Aber die Worte blieben mir im Halse stecken.
Lady Fotherington war nicht nur eine Persönlichkeit der gehobenen Londoner Kreise, sondern auch eine Hüterin – und zwar die Hüterin, die Mamas heimliche Experimente mit Hexerei entdeckt hatte. Sie hatte dafür gesorgt, dass Mama aus dem Orden ausgeschlossen wurde; voller Schadenfreude und Gehässigkeit, weil sie sie endgültig besiegt hatte. Und mehr noch: Sie hatte obendrein alles darangesetzt, den Orden davon zu überzeugen, dass Mama »befriedet« werden musste – was hieß, dass man ihr ihre Zauberkräfte weggenommen und womöglich schweren geistigen Schaden zugefügt hätte.
Vor drei Monaten hatte Lady Fotherington versucht, mich zu ihrer Zaubersklavin zu machen, und wenn ich meine Kräfte als Hüterin nicht angenommen hätte, wäre ihr das gelungen. Danach, dachte ich, hätte sie den Kampf gegen unsere Familie aufgegeben, denn nun besaß ich die Kraft, mich ihr zu widersetzen.
Aber sie hatte den Kampf nicht aufgegeben.
»Ich habe Lady Fotherington in Grantham Abbey lediglich flüchtig kennengelernt.« Stählern klang Angelines Stimme nicht mehr, sondern spröde, als werde sie jeden Moment brechen. »Sie ist erst am Tag nach der Ankunft Fredericks – Mr Carlyles – eingetroffen. Warum sollte sie so etwas über mich sagen?«
»Über uns«, korrigierte Mr Carlyle sie. Er trat zu ihr und bot ihr den Arm. Als Angeline sich bei ihm einhakte, wandte er sich fest entschlossen an seine Mutter. »Ganz egal, was für Gerüchte Lady Fotherington oder sonst jemand Ihnen erzählt hat, Mama, sie haben unrecht. Ich stehe nicht unter einem Zauberbann.«
»Aber wie sonst ist dein Verhalten zu erklären? Du bist durch halb England in dieses gottverlassene Dorf mitten im Nichts gelaufen! Du hast den Kontakt zu allen, die du kanntest, abgebrochen! Natürlich warst du verhext.«
Mr Carlyle und Angeline wechselten einen vielsagenden Blick. »Ich schwöre Ihnen, Mama, ich bin nicht verhext«, sagte Mr Carlyle mit fester Stimme. Bewundernswert, wie er der Frage ausgewichen war, was ihn überhaupt zu uns gebracht hatte.
Er hatte Angeline schon lange verziehen, dass sie einen Zauberspruch ausgesprochen hatte, der ihre wahre Liebe zu ihr bringen sollte. Dass seine Mutter genauso verständnisvoll war, konnte ich mir weniger vorstellen.
Fast zu aufgebracht, um zu sprechen, verhaspelte sie sich dauernd. »Ich weiß – Bescheid über diese – diese schreckliche Familie! Über die Mutter – deine zukünftige Schwiegermutter!«
Ein entsetztes Wimmern erklang aus den Bänken hinter mir. Die Stimme kannte ich.
»Stiefmama ist vollkommen unbescholten«, sagte ich.
»Ich rede nicht von ihr, sondern von deiner echten Mutter, die eine Schande für sich und andere war! Alle wissen, welche Ungeheuerlichkeiten sie sich hat zuschulden kommen lassen. Alle wissen, wie sehr sie deinem Vater beruflich geschadet hat – kurzum, alle wissen, dass sie eine Hexe war!«
Ich schaute zu Papa hinüber, aber er starrte nur mit hängenden Schultern auf den Altar. Ich hätte eher von diesem Altar Hilfe erhoffen können, als zu erwarten, dass Papa jemandem die Stirn bot, besonders wenn es um das Problem mit unserer Mutter ging.
Ich holte tief Luft und probierte es noch einmal. »Nur weil Mama eine Hexe war, heißt das noch lange nicht, dass sie uns das Hexen beigebracht hat. Wie denn auch? Sie ist bei meiner Geburt gestorben. Da war Angeline fünf Jahre alt.«