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Nr. 1

 

Das Raumschiffgrab

 

Nach einem Sturz ins Unbekannte – ein Terraner stößt auf die Spuren einer Legende

 

Kai Hirdt

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: 28. August 1552 NGZ

1. Sechs Tage früher, 22. August 1552 NGZ

2. 22. August 1552 NGZ

3. Vielleicht der 22. August 1552 NGZ

4. 23. August 1552 NGZ

5. 26. August 1552 NGZ

6. 26. August 1552 NGZ

7. 27. August 1552 NGZ

8. 27. August 1552 NGZ

9. 27. August 1552 NGZ

10. 27. August 1552 NGZ

11. 27. August 1552 NGZ

12. 28. August 1552 NGZ

13. 28. August 1552 NGZ

14. 28. August 1552 NGZ

15. 28. August 1552 NGZ

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Das Jahr 1552 Neuer Galaktischer Zeitrechnung: Seit über 3000 Jahren reisen die Menschen zu den Sternen. Sie haben unzählige Planeten besiedelt und sind faszinierenden Fremdvölkern begegnet. Terranische Raumschiffe erforschen das Universum, manche davon werden zu berühmten Legenden.

Perry Rhodan hat die Menschheit von Beginn an ins All geleitet. Als er in der Milchstraße eine kosmische Katastrophe abwenden will, wird er durch ein unerklärliches Phänomen an einen fernen Ort versetzt. Millionen Lichtjahre von der Heimat entfernt, findet er sich in einer unbekannten Umgebung wieder, deren Regeln und Gefahren er nicht kennt.

Rasch wird er in dramatische Ereignisse verwickelt, die weitreichende Folgen haben können – nicht zuletzt für die Bewohner des Tals der Gestrandeten. Denn dort entdeckt Perry Rhodan DAS RAUMSCHIFFGRAB ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner zettelt eine Revolution an.

Mahlia Meyun – Die Heilerin kämpft für ihre Patienten.

Pravo Ylapp – Der Bescheidene Diener Senns erweitert seinen Horizont.

Der Kuum – Der geheimnisvolle Mönch kennt kein Erbarmen.

Prolog

28. August 1552 NGZ

Neue Galaktische Zeitrechnung

 

Eilig schritt Hokan Tassat durch das Tal der Gestrandeten. Seinen Sohn Temm zog er hinter sich her. Er ignorierte die Klagen des Jungen über Müdigkeit und schmerzende Füße, reagierte nicht auf dessen Fragen nach Mutter und Schwester. Er zerrte das Kind nur immer weiter fort, weg von dem Wasserfall, von den einfachen Steinhütten der Gestrandeten – und ganz besonders vom Tempel der Bescheidenen Diener Senns.

Die beiden passierten die letzten Häuser im westlichen Teil des Dorfs und damit die Stelle, an der noch vor wenigen Tagen ihre eigene Hütte gestanden hatte. Damals, bevor seine Frau verrückt geworden war.

Temm wollte sich losreißen, doch Tassat packte ihn fester am Arm.

»Au!«, rief das Kind. »Das tut weh!«

»Wir müssen weiter.«

»Ich will nach Hause!«

»Wir haben kein Zuhause mehr. Jetzt komm!«

Seinen eigenen Worten zum Trotz blieb Tassat stehen und wandte sich um. Er blickte das schmale, lang gestreckte Tal entlang, vorbei an dem Wasserfall bis zur Kuppel des Tempels in weiter Ferne. Darin war seine Frau verschwunden. Wahrscheinlich würde sie niemals wiederkehren.

Und daran war allein der Fremde schuld. Dieser dreifach verdammte Perry Rhodan.

 

*

 

Der Tempel der Bescheidenen Diener, das war selbst auf diese Distanz zu sehen, lag ruhig im Halbdämmer der kurzen Nacht: eine gewaltige, düstere Kuppel. Eigentlich ein Berg, anderthalb Kilometer hoch. Aber er war völlig ebenmäßig geformt und somit offensichtlich künstlich geschaffen.

Von Hokan Tassats Standort aus, mehr als acht Kilometer entfernt, wirkte er sogar überschaubar. Dennoch: Nichts würde einen Berg bewegen können. Niemals. Das war Phantasterei. Die Kuppel mochte klein aussehen, aber das lag nur an der Entfernung und daran, dass die Wände des Tals dahinter noch erheblich weiter in die Höhe stiegen.

Erneut zog Temm an seinem Arm. »Ich bin müde! Lass uns zu Poldast gehen. Wir können bestimmt bei ihm schlafen!«

Tassat schüttelte heftig den Kopf, wobei sein heller Bart kurz zur Seite wehte. »Wir gehen weiter.«

»Aber ich bin ...«

Er packte seinen Sohn bei den Oberarmen und gab ihm einen Ruck. »Ich weiß«, sagte Tassat grimmig. »Aber erst gehen wir zum Verbotenen Tempel und ernten die Pflanzen deiner Mutter.«

»Wieso das denn?«

»Um Poldast zu bezahlen. Wir werden niemanden um einen Gefallen bitten. Wenn jemand etwas von uns will, zahlt er. Wenn wir etwas wollen, zahlen wir. Wenn sich alle daran gehalten hätten, besäßen wir unsere Hütte und du dein Bett noch.«

»Du willst die Kräuter weggeben?« Der Junge riss die Augen so weit auf, dass das Weiße wie zwei kleine Lichter den Dämmer der Nachtstunde störte. »Aber Mama braucht ...«

»Sei still!« Ein weiteres Mal schüttelte Tassat seinen Sohn. Temms Mutter würde die Kräuter nicht mehr brauchen. Niemals mehr.

Er strauchelte, wie von seiner eigenen Bewegung aus dem Gleichgewicht gebracht. Was war passiert? Hatte sich der Junge gewehrt?

Nein. Das hätte Temm weder gewagt, noch hatte er die Kraft dazu. Etwas anderes musste geschehen sein. Ein kurzer Moment der Schwäche.

»Weiter!«, befahl Tassat. Er ging los und zog seinen Sohn mit sich, fort vom Tempel der Bescheidenen Diener, der zweiten Kuppel entgegen, die spiegelbildlich auf der anderen Seite des langen Tals lag.

»Warum rennen wir so?«, fragte der Junge.

»Wir müssen möglichst weit weg sein, wenn es geschieht«, sagte sein Vater.

»Wenn was geschieht?«

»Wenn ich das wüsste«, murmelte Tassat zornig. »Was auch immer dieser Rhodan ihr eingeredet hat. Der Kuum muss sehen, dass wir nichts damit zu tun haben. Dass wir nicht mal in der Nähe waren. So weit weg wie nur möglich.«

 

*

 

Eine Weile gingen sie schweigend. Dann strauchelte Hokan Tassat erneut, und diesmal war er sicher, dass der Boden unter seinen Füßen geschwankt hatte. Der Junge hatte es ebenfalls bemerkt. Er schrie vor Schreck, klammerte sich am Arm seines Vaters fest.

»Ruhig«, sagte Tassat und strich dem Kind übers Haar. »Das ist nur ...«

Ein weiterer Erdstoß. Kräftiger diesmal.

»Was ist das?«, rief nun Tassat selbst.

Er schaute abwärts in die unmittelbare Umgebung, suchte nach einer Ursache für die Erschütterungen.

»Papa!«, rief sein Sohn und zog Tassat am groben Stoff seines Ärmels. »Papa!«

»Was?« Tassat sah zur Seite, wandte den Kopf dann in die Richtung, in die Temm zeigte. Nicht abwärts, sondern in die Höhe. Auf den Verbotenen Tempel.

Tassat schloss den Mund nicht wieder. Sein Unterkiefer zitterte, seine Lippen bewegten sich leicht, aber er brachte kein Wort hervor.

Er starrte auf die gewaltige Kuppel, die keine achthundert Meter mehr vor ihnen emporragte. Ein Riss zog sich durch das dunkelgraue Material, und er leuchtete von innen, als schlüge Feuer aus dem Berg.

Der Spalt wurde länger und verästelte sich. Ein feines, leuchtendes Muster verbreitete sich über die Fläche. Wo die Feuerlinien eine dunkle Platte komplett umschlossen hatten, geriet diese ins Rutschen. Auf ihrem Weg in die Tiefe riss sie weiteres Gestein mit sich. Einzelne kleine Teile setzten eine Lawine in Bewegung.

Der nächste große Brocken, sicher einige Dutzend Meter im Durchmesser, stürzte herab. Erneut vibrierte der Grund.

»Weg hier!«, brüllte Tassat, und statt seinen Sohn mit sich zu ziehen, nahm er ihn auf den Arm und presste ihn an seine Brust. Er rannte, so schnell ihn die müden Beine trugen.

Der Boden bebte nun unentwegt, und die Stille der Nacht war einem Lärm gewichen, wie das Tal ihn abseits des Wasserfalls noch nie erlebt hatte.

Die Steine, die kilometertief zu Boden stürzten, zerbrachen, und die Brocken stoben davon. Im Westen hielt die Tempelkuppel sie auf, im Süden und Norden prallten sie gegen die nahen Wände des Tals. Doch im Osten, wohin Tassat floh, befand sich nichts, was die Splitter hätte bremsen können. Kiesel-, faust- und kopfgroße Trümmer flogen um sie herum. Ein kleines Stück traf Tassats Hals, und er stürzte. Mit dem Körper schützte er sein Kind, während er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

Mit Temm in den Armen rannte er weiter, bis sie aus dem Steinstaub heraus waren und nur noch kleine, ungefährliche Kieselchen an ihnen vorbeischossen.

»Aufwachen!«, brüllte er, als die ersten Hütten in Sicht kamen. »Aufwachen! Weg hier! Der Tempel explodiert!«

Seine Rufe waren überflüssig: Die anderen Gestrandeten waren bereits hellwach. Sie hatten sich an der Grenze des Dorfs versammelt und starrten in die Richtung, aus der ihnen Tassat und Temm entgegenstolperten. Sie hatten den Kopf in den Nacken gelegt und stierten in den Himmel, ihre Gesichter waren Masken der Fassungslosigkeit.

Hokan Tassat machte halt und ließ seinen Sohn zu Boden. Mit letzter Kraft hielt er sich auf den Beinen. Langsam drehte er sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren und in die nun alle anderen blickten.

Nichts würde einen Berg bewegen können. Das war Phantasterei. Was er sah, konnte gar nicht sein!

Der Verbotene Tempel war zerstört, die Kuppel geborsten. Wo er sich befunden hatte, stieg mehr ahn- als sichtbar hinter dichten Staubschleiern eine Kugel aus Metall in die Lüfte. Sie war gigantisch, noch gewaltiger, als ihre Schale oder ihr Gefängnis es gewesen war. Zum Teil musste sie unter der Erde gelegen haben. Ihre ganze Größe konnte sie erst zeigen, nachdem sie sich befreit hatte – oder befreit worden war.

Ein Ringwulst umgab ihre Mitte. Feuersäulen spien daraus hervor, schoben die Kugel immer weiter in die Höhe: hinaus aus dem Schatten der Felswände, bis ins Licht der Sonnen über dem Tal. Ihre Oberfläche gleißte in strahlendem Gold.

Drei große, weiße Lettern, jeder einzelne viele Dutzend Meter hoch, hoben sich im Widerschein der Flammen unter dem Mittelring ab: die Schlange. Der Kreis. Der Winkel.

SOL.

1.

Sechs Tage früher

22. August 1552 NGZ

 

Mahlia Meyun folgte der Gestalt in der dunklen Kutte. Der Bescheidene Diener Senns hatte seinen Namen nicht genannt, als er sie und Rytanaia abholte, und er hatte nur geflüstert, sodass sie seine Stimme nicht erkannt hatte. Das war nichts Ungewöhnliches – die meisten Novizen des Ordens hielten es so.

Dennoch: Diese finsteren Führer waren unheimlich, insbesondere wenn man diesen Weg zum ersten Mal ging, wie Rytanaia gerade. Mahlia betrachtete die Kranke neben ihr besorgt. Rytanaias Hände zitterten heftig, viel stärker als bei Mahlias ersten Behandlungsversuchen. Entweder hatte die Krankheit sich plötzlich verstärkt, oder sie war eine unheilvolle Verbindung mit der Angst eingegangen.

Der Sternentempel, wie die Bescheidenen Diener das Zentrum ihrer Macht nannten, lag nur noch drei Dutzend Schritte vor ihnen. Sie hatten ihn exakt zur Mittagszeit erreicht. Der Schatten der oberen Talkante teilte den Tempeleingang genau in der Mitte: Die Nordhälfte lag im Dunkeln, die südliche im strahlenden Sonnenschein. Die Trennlinie setzte sich oberhalb des Tors auf der Kuppel fort. Im Süden war der Moosbewuchs stärker als dort, wo das Licht selten oder nie hinkam.

Ein weiterer Diener trat aus dem Tunnel ins Licht. Auch sein Haupt war von einer dunklen Kapuze verborgen. Dennoch war Mahlia recht sicher, wen sie vor sich hatte. Dieser Mann war kleiner und deutlich dicker als ihr Führer. Einen solchen Leibesumfang sah man nicht oft im Tal der Gestrandeten.

»Mahlia«, sagte der Mönch fröhlich, und die Stimme beseitigte den letzten Zweifel: Das war Ukor Mathall. »So schnell hätte ich nicht wieder mit dir gerechnet.«

»Ich hatte Sehnsucht nach dir«, behauptete sie lässig. »Aber tatsächlich richtet sich mein Zeitplan nach meinen Patienten. Rytanaia geht es seit zwei Tagen wieder schlechter.«

Die junge Frau neben Mahlia nickte beklommen. Ihr Haar war genauso tiefschwarz wie das von Mahlia, aber ihre Haut war nicht sonnengebräunt und windgegerbt, sondern hell. Beinahe weiß sogar. Der starke Kontrast ließ Rytanaia noch bleicher aussehen, als sie ohnehin schon war.

Mathall blickte auf Rytanaias zitternde Hände. »Erzfieber?«, fragte er.

»Das fürchten wir.« Mahlia war froh, dass sich Rytanaia an ihre Anweisungen hielt: möglichst wenig sprechen. Anscheinend hatte die Krankheit sie Demut gelehrt. Das war wichtig, denn oft genug hatten die Bescheidenen Diener Kranke vom Sternentempel abgewiesen, die es am nötigen Respekt mangeln ließen.

»Du weißt«, sagte Mathall, »dass der Große Medost das Erzfieber nicht immer heilt?«

»Ich weiß«, bestätigte Mahlia. »Nur in den frühen Phasen, und auch dann nicht immer. Aber versuchen müssen wir es. Meine Kunst ist ohne seine Hilfe am Ende. Die Kräuter haben nicht gewirkt.«

Die Kapuze wackelte vor und zurück. Der Mönch darunter nickte. Dann wandte er sich an die Kranke. »Du kennst den Preis?«

Weil sie direkt angesprochen wurde, musste Rytanaia antworten. »Ja«, sagte sie leise. »Acht Kiepen Glimmerz.«

Wieder nickte Mathall. »Und du weißt, dass dieser Preis auf jeden Fall bezahlt werden muss, auch wenn der Große Medost dir nicht hilft?«

Rytanaia bejahte.

»Hast du acht Kiepen Glimmerz?«, fragte Ukor Mathall mit einer plötzlichen Schärfe in der Stimme.

»Ja«, sagte Rytanaia.

Aber Mathall hatte das winzige Zögern genauso bemerkt wie Mahlia. Sie kannte die Lage der jungen Frau: Sie hatte unter Tage beim Steinabbau gearbeitet und nicht schlecht verdient, bis ihre Hände zu zittern begonnen hatten. Wenn sie nach der Behandlung wieder zupacken konnte, würde sie die Schuld in wenigen Monaten abarbeiten. Wenn nicht ...

»Bürgst du für sie?«, fragte der Mönch Mahlia.

Mahlia fluchte in Gedanken. Laut sagte sie: »Ich glaube nicht, dass das nötig ist.«

Mathall beharrte auf seiner Frage. »Bürgst du für sie?«

»Ja«, sagte Mahlia hörbar gereizt. Sie zuckte zusammen, als sie den scharfen Klang ihrer eigenen Stimme bemerkte.

Doch Ukor Mathall sah darin keine Respektlosigkeit. Zumindest keine, deretwegen er sie zurückgeschickt hätte. »In Ordnung«, sagte der alte Mönch. »Pravo bringt euch hinein.«

Damit hatte ihr bislang unbekannter Führer einen Namen. Pravo ging voraus durch den breiten Gang, der das graue, künstliche Gestein durchschnitt und nach etwa fünfzehn Metern am Metalltor endete.

Eine kurze Strecke, für Mahlia aber lang genug, um finsteren Gedanken nachzuhängen: Sie betete still, dass Rytanaia geheilt wurde und selbst zahlen konnte. Andernfalls würde Mahlia betteln gehen müssen, um genug Erz zu erhalten – oder ihr Mann würde von der Bürgschaft erfahren. Dann war ein erbitterter Streit unvermeidbar.

Am Metalltor griff Pravo unter seine Kutte und zog drei kleine Talglampen hervor. Zwei drückte er Mahlia und Rytanaia in die Hände. Es waren erstaunliche Apparaturen mit einem Knopf am Tragehenkel. Mahlia Meyun drückte darauf. Ein kleiner, blauer Funke entstand und entzündete den Docht.

Rytanaia tat es ihr gleich, Pravo ebenso. Als alle drei Flammen brannten, bewegte sich das schwere Metalltor mit der Schlange, dem Kreis und dem Winkel darauf wie von Zauberhand und gewährte ihnen Einlass.

 

*

 

Das Tempelinnere präsentierte sich ihnen als eine völlig andere Welt. Dort waren weder Stein noch Erde zu sehen, sondern nur Metall und Kunststoff. Was draußen zu den wertvollsten Materialien überhaupt zählte, gab es ringsum im Überfluss. Wände, Türen, Beschriftungen glänzten im Schein der drei kleinen Lichter, als sie daran vorbeigingen.

Mahlia Meyun war sicher, den Weg mittlerweile mit verbundenen Augen gehen zu können, so oft hatte sie ihn bereits zurückgelegt. Rytanaia hingegen blieb immer wieder stehen und sah sich mit offenem Mund um.

Mahlia hatte ihr zwar vorab gesagt, was sie erwarten würde. Aber es war etwas anderes, den unglaublichen Reichtum mit eigenen Augen zu sehen. Und dies war nur eine einzige Etage des Tempels.

Mahlia vermutete, dass es darüber in der Kuppel noch weitere gab, und möglicherweise auch unter ihnen im Boden. Genau wusste sie es nicht. Als Heilerin indes musste sie nie weiter als bis zum Altar von Medost, und der lag auf derselben Ebene wie der Eingang.

Genau genommen, befanden sich sogar sechs Altäre in dem hell getäfelten Schrein. Seit Mahlia die Heilerin der Gestrandeten war, hatte sie nie mehr als einen gleichzeitig benötigt. Sie hoffte im Stillen, dass das auch nie der Fall sein würde. Schon für einen Patienten erforderte das Ritual allerhöchste Konzentration, und sie war sich nicht sicher, ob sie es mehrmals hintereinander würde fehlerfrei zelebrieren können.

Sie zeigte Rytanaia, wie sie sich auf den Altar zu betten hatte, wohin der Kopf und die Füße kamen. Die Arme lagen entspannt neben ihrem Körper. Selbst dabei zitterten und zuckten ihre Finger.

Pravo hielt sich im Hintergrund des Raums. Er hatte die Kapuze inzwischen in den Nacken geschoben, sodass er besser sehen konnte. Der junge Bescheidene Diener war also von der neugierigen Sorte. Mahlia sah nur kurz auf das entstellte Gesicht, das aussah wie geschmolzen, in eine Form gepresst und wieder erstarrt.

Mahlia war froh, dass Rytanaia es nicht bemerkt hatte. Der Anblick der Diener mit ihren glatt gezogenen, jeder Individualität beraubten Mienen konnte manchem Kranken einen zusätzlichen und völlig überflüssigen Schreck einjagen.

Mahlia stellte sich ans Fußende von Rytanaias Bett und rezitierte die alte Beschwörungsformel: »Medoscan aktivieren!«

Der Raum erwachte zum Leben. Lichter tauchten aus dem Nichts auf, weiße, grüne und rote. Sie formten kleine Zeichen, die Mahlias Ahnen der Sage zufolge einst mit Sinn hatten füllen können. Dieses Wissen war jedoch schon vor Generationen verloren gegangen. Nur die Bescheidenen Diener verfügten noch darüber. So erzählte man sich zumindest.

Die Lichter begannen zu tanzen, sortierten sich in immer neuen Kombinationen. Ab und an lösten sie sich auf und zeigten Bilder. Licht aus unsichtbarer Quelle fiel auf Rytanaias Brust, und vor Mahlia bildeten sich die leuchtenden Formen von Rippen und Wirbelsäule in der Luft, mit dem dazwischen schlagenden Herzen.

Das war der Moment, auf den es ankam. Das Bild verblasste, stattdessen zeigten sich die Runen wieder. Sie schrieben viele Zeilen mit grünen und roten Leuchtpunkten daneben. Mahlia berührte die roten Punkte, so schnell sie konnte.

Ab dem ersten Kontakt, das wusste sie, blieben ihr nur drei Sekunden, bis dieses Bild verschwand. Die roten Punkte bedeuteten Krankheiten, und jeder Gestrandete trug einige davon im Leib. Die Erkrankungen, die Mahlia auswählen konnte, versuchte der Große Medost zu heilen. Waren es zu viele oder war sie als Heilerin zu langsam, blieb der Patient unbehandelt. Und zuweilen sogar, wenn sie alles richtig gemacht hatte.

Je nachdem, welche Lichter sie in der Luft angetippt hatte, erschienen nun andere Zeichen, und sie musste die richtigen Stellen darunter berühren. Das konnte schnell gehen, manchmal jedoch auch fast eine halbe Stunde dauern. Sie hatte Jahre gebraucht, um an der Seite ihrer Mutter alle möglichen Kombinationen und die richtigen Reaktionen darauf auswendig zu lernen. Und bald würde sie anfangen müssen, ihre Tochter Annri auf dieselbe Weise auszubilden.

Die Bilder verharrten stets nur kurz in der Luft, und manche waren einander sehr ähnlich, sodass eine Fehlwahl nie ausgeschlossen war. Das war die Prüfung des Medost, und wie jedes Mal musste Mahlia in Demut auf sein gnädiges Zeichen warten.

Es kam. Medost beseelte den metallenen Körper, der in einer schattigen Ecke des Schreins die Jahre und Jahrhunderte überdauerte.

»Erschrick nicht«, flüsterte sie Rytanaia zu. »Es hat funktioniert. Was auch immer er tut, beweg dich nicht!«

Die Gestalt, auf ähnliche Weise gesichtslos wie die Bescheidenen Diener, trat an den Altar. Langsam hob sie eine Hand und führte sie zu Rytanaias Kehle.

Die Patientin quiekte vor Angst.

»Ruhig!«, mahnte Mahlia.

Medost berührte die Hilfesuchende am Hals, auf Höhe der Schlagader. Ein leises Zischen ertönte.

Rytanaias Körper versteifte sich.

Medost ließ den Arm sinken, kehrte in seine Ecke zurück, und alles Leben wich aus dem metallenen Leib.

»Es ist geschafft!«, rief Mahlia außer sich vor Freude. »Du wirst gesund!«

Rytanaia zitterte, diesmal am ganzen Körper und eindeutig vor Angst. »Was hat er getan?«

»Er hat dich geheilt!«, antwortete Mahlia fröhlich. »Komm, wir kehren ins Dorf zurück!«

Während Rytanaia umständlich von der Liege herunterkletterte, deutete Mahlia Meyun dem Bescheidenen Diener gegenüber eine kleine Verbeugung an. »Vielen Dank für deine Führung und Anleitung, Pravo. Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen.«

»Ylapp«, flüsterte der Mönch kühl. »Mein Name ist Pravo Ylapp.«

2.

22. August 1552 NGZ