Nr. 10

 

Die Höllenfahrt der SOL

 

Sie befreien das Raumschiff ihrer Ahnen – doch das Chaos greift nach ihnen

 

Olaf Brill

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. 21. Oktober 1552

2.

3.

4.

5.

6. 22. Oktober 1552 NGZ – Tag 2

7. 23. Oktober 1552 NGZ – Tag 3

8.

9.

10. 24. Oktober 1552 NGZ – Tag 4

11.

12.

13. 26. Oktober 1552 NGZ – Tag 6

14. 27. Oktober 1552 NGZ – Tag 7

15.

16. 29. Oktober 1552 NGZ – Tag 9

17. 30. Oktober 1552 NGZ – Tag 10

18.

19.

20.

21. 31. Oktober 1552 NGZ – Tag 11

22.

23.

24.

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Auf der Erde schreibt man das Jahr 1552 Neuer Galaktischer Zeitrechnung: Seit über 3000 Jahren reisen die Menschen zu den Sternen. Sie haben unzählige Planeten besiedelt und sind faszinierenden Fremdvölkern begegnet. Terranische Raumschiffe erforschen das Universum, manche werden zu Legenden – insbesondere die gigantische, hantelförmige SOL.

Perry Rhodan hat die Menschheit von Beginn an bei ihren Vorstößen ins All geleitet. Als er in der Milchstraße eine kosmische Katastrophe abwenden will, wird er unfreiwillig in die ferne Galaxis Tare-Scharm versetzt.

Dort stößt er auf Nachkommen der SOL-Besatzung, lernt mehr über die riesige Welt Evolux und macht sich auf die Suche nach dem Mittelteil des Raumschiffs. Rhodan entdeckt, dass die Mannschaft in einer Proto-Chaotischen Zelle gefangen ist.

Perry Rhodan kann zum SOL-Mittelteil vordringen. Doch die Besatzung wird von fremden Bewusstseinssplittern übernommen. Nur die selbstlose Tat eines Menschen verheißt Rettung und wird zum Auftakt einer neuen Odyssee – es beginnt DIE HÖLLENFAHRT DER SOL ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner jagt Gespenster.

Mahlia Meyun – Die Heilerin findet ihre Bestimmung.

Roi Danton – Rhodans Sohn wechselt in eine andere Realität.

Fee Kellind – Die Kommandantin führt die SOL durch die Hölle.

Höllenfahrt, die – Altterranischer Mythos: Der Heiland steigt nach seinem Tod in die Unterwelt hinab und befreit die Seelen der Verdammten.

Enzyklopaedia Terrania

 

 

1.

21. Oktober 1552

Neue Galaktische Zeitrechnung

Tag 1

 

Der Schrei gellte durch die Hauptzentrale der SOL. Kreischend schraubte er sich in die Höhe, sodass einige der jungen Solaner sich die Ohren zuhielten.

Der Kommandostand des Raumschiffs war nur notdürftig besetzt. Viele aus der Besatzung waren wegen des Vibra-Psi ausgefallen, das auf ihre Bewusstseine drückte, seit sie in die Proto-Chaotische Zelle vorgestoßen waren. Andere hielten sich mühsam mit Medikamenten bei Verstand.

Das Schlimmste aber war: Der da schrie, war Roi Danton, Perry Rhodans Sohn.

Danton war auf den Emotionautensessel geschnallt, seine Finger krampften sich in die Armlehnen. Sein Kopf war vollständig von der SERT-Haube bedeckt, aus der zahlreiche Kabel hinausliefen, die Dantons Gehirn direkt mit dem Raumschiff verbanden.

»Er hat Kontakt zu dem Fragment!«, rief der Yakonto Colwin Heltamar.

»Es wird ihn umbringen!«, brüllte Rhodan.

Heltamar hatte die SERT-Haube so modifiziert, dass sämtliche vorgeschriebenen Grenzwerte überschritten wurden. Er wollte damit ein besonderes Parafragment anlocken, ein mächtiges Wesen, das in der Proto-Chaotischen Zelle hauste. Sobald das Fremdbewusstsein auf den Mann unter der Haube übergegangen war, so die Theorie, würde es die anderen Parafragmente verjagen – Bewusstseinssplitter, die von der Besatzung der SOL Besitz ergriffen hatten.

Rhodan spürte in diesem Moment, dass das Experiment scheiterte. Danton schrie wie ein Wahnsinniger, der jegliche Kontrolle verloren hatte. Schweiß lief seinen Hals hinab.

Urplötzlich erinnerte die SERT-Liege Rhodan an einen elektrischen Stuhl. Sein Heimatland hatte diese archaischen Geräte noch zu seiner Zeit als Risikopilot eingesetzt, um damit Verbrecher zu exekutieren. Er hatte damals voller Abscheu Berichte von misslungenen Hinrichtungen gelesen, bei denen der Kopf des Delinquenten Feuer gefangen hatte.

Aber nun war es sein Sohn, der auf einem solchen Stuhl saß. Der Schweiß an Dantons Hals färbte sich rot.

»Aufhören!«, schrie Rhodan. Er spürte, wie auch ihm der Stirnschweiß ausbrach. Rinnsale liefen seitlich am Gesicht hinab und tropften vom Kinn. Das allgegenwärtige Vibra-Psi machte ihm zu schaffen, trotz Zellaktivator und Medikamenten.

Vor allem aber war es die Sorge um seinen Sohn, die ihm die Sinne raubte. Wie oft hatte er ihn schon verloren? Wie standen die Chancen, dass Roi Danton diesmal nicht zurückkehrte?

»Sofort aufhören! Schaltet die Haube ab!«, rief Perry Rhodan.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Kontrollleuchten an dem Gerät erloschen. Das Visier klappte mit einem Klick hoch, die Haube fuhr nach oben.

Dantons Kopf und Oberkörper sackten nach vorn, wurden nur von den Gurten aufgehalten. Die Haare klebten in seinem Gesicht. Blut lief aus den Nasenlöchern.

Rhodan keuchte. Er sprang zu seinem Sohn, packte ihn an den Schultern und drückte ihn sanft zurück in den Sessel.

Danton stöhnte. Er lebte!

Mahlia Meyun war herangetreten, tupfte Blut und Schweiß von Dantons Gesicht und unterzog ihn einem medizinischen Scan.

Auf ihrer Stirn hatte sich ebenfalls ein feiner Schweißfilm gebildet. Alle in der Zentrale standen am Rande ihrer Leistungsfähigkeit.

Danton stammelte. Zunächst nur sinnloses Gebrabbel, formte es sich mit schwerer Zunge schließlich zu Worten. »Ich habe seinen Geist gesehen ... Er weiß so viel! Er ist ... so ... groß! Ach, Perry!«

Der Kopf sank wieder auf die Brust, in gnädige Bewusstlosigkeit.

Meyun drückte Dantons Kopf zurück auf die Kopfstütze, öffnete seine Lider und untersuchte auch seine Augen mit einem medizinischen Gerät. Sie nickte Rhodan beruhigend zu. Die Lage war ernst, doch Danton lebte.

Das Parafragment, das sie hatten einfangen wollen ... Es war Danton offenbar tatsächlich gelungen, es anzulocken. Er hatte Kontakt zu dem Chaoswesen bekommen. Als Rhodan den Befehl zum Abschalten gegeben hatte, war diese Verbindung jedoch abgerissen.

Pravo Ylapp machte durch ein Räuspern auf sich aufmerksam. Sein Gesicht war bleich. »Es kommen Meldungen aus verschiedenen Sektionen des Mittelteils rein, Perry. Einige der Mannschaftsmitglieder sind aus ihrem apathischen Zustand erwacht. Sie wirken desorientiert, fragen, was los ist.«

»Wir schicken Medoroboter hin!«, entschied Meyun mit fester Stimme. Die Heilerin der Solaner-Nachfahren hatte medizinische Notfälle fest im Griff. In anderer Hinsicht ... Nun ja, die Beziehung zwischen Rhodan und ihr war kompliziert. Er würde bald mit ihr darüber reden müssen.

Meyun löste sanft die Gurte des elektrischen Stuhls und half mit, Danton auf eine Antigravliege zu heben, die Momente später geräuschlos davonschwebte.

Die Heilerin trat an Rhodan heran. »Das war knapp.« Sie zeigte ihm ihren Medoscanner. »Dein Sohn hat eine Hirnblutung erlitten, die wir sofort behandeln müssen.«

Der Blick auf das Diagnosegerät brachte Rhodan wieder zu Sinnen. »Das ist die Hirnregion, die für die Mentalstabilisierung operiert wurde«, stellte er fest.

Die Mentalstabilisierung war ein chirurgisches Verfahren, dem sich Danton ebenso wie Rhodan unterzogen hatte. Dabei wurden bestimmte Nervenbahnen im Gehirn durchtrennt und neu verknüpft, sodass der Patient gegen psionische Angriffe geschützt war.

»Dort wäre das fremde Bewusstsein eingedrungen ...« Rhodan wandte sich ruckartig Heltamar zu, dem grünhäutigen Yakonto mit den katzenhaften Augen. »Stimmt das? Konnte dein Chaoswesen nicht zu meinem Sohn vordringen, weil sein Gehirn nicht dazu geeignet ist?«

Als ginge ihn das alles nichts an, zog Heltamar am Mundstück seiner Glaspfeife und blies weißen Rauch aus. Heltamar, der führende Vertreter der Eoracten. Heltamar, der Verbrecher. Die Eoracten betrogen seit Jahrmillionen den Regierenden Rat von Evolux, indem sie eine Proto-Chaotische Zelle im Innern des Riesenplaneten stabilisierten und erforschten. Heltamars Machenschaften hatten dazu geführt, dass der Mittelteil der SOL in dieser Chaoszone gefangen wurde. Er war es aber auch gewesen, der Rhodan und seinen Begleitern den einzigen Weg gewiesen hatte, die SOL aus diesem Gefängnis zu befreien.

»Ich weiß nichts über das Gehirn deines Sohns, ehrenwerter Perry Rhodan!« Der Yakonto paffte noch eine Rauchwolke in den Raum. »Wenn du gestattest?«

Mit einer Handbewegung aktivierte er eine rotierende Holosphäre in der Größe eines Fußballs, die vor seiner Brust aufleuchtete und unheimliche Schatten auf seine Stirn warf.

Rhodan nickte kurz. Das hyperinpotronische Zentralgehirn SENECA nahm es als Zeichen, den Yakonto gewähren zu lassen.

Mit filigranen Fingern griff Heltamar in das Holo, bewegte es mal in die eine, dann die andere Richtung und las dadurch selektiv Informationen über die SOL aus den Rechnersystemen des Raumschiffs aus.

»Wie ich sehe«, sagte er bedächtig, »sind etwa zwei Dutzend Besatzungsmitglieder von den Parafragmenten befreit.« Er verzog sein smaragdgrünes Gesicht zu einer bedauernden Fratze. »Sie sind verwirrt. Es geht ihnen schlecht. Viele sind in einen tiefen Erholungsschlaf gefallen. Aber soweit ich dies den elektroenzephalografischen Daten entnehmen kann, sind sie nicht mehr besessen. Das Verfahren hat also funktioniert. Obwohl dein Sohn ... nicht der richtige Mittler war.«

Rhodan schwankte, ob er den ehemaligen Wissenschaftsrat von Beliosa erwürgen oder umarmen sollte. Das Experiment mit der SERT-Haube hätte Danton den Tod bringen können. Aber es war auch ein halber Erfolg geworden. Nun mussten sie nur noch die anderen rund neuntausendachthundert Solaner befreien.

Die Zeit drängte. Höchstens vier Stunden, hatte Heltamar gewarnt, durften sie in der Proto-Chaotischen Zelle verweilen, bevor sie für immer im Chaos verloren gingen. Diese Frist war beinahe abgelaufen.

»Ich werde unter die SERT-Haube gehen!«, beschloss Rhodan.

»Aber du bist gewiss ebenfalls mentalstabilisiert, nicht wahr? Also kommst du nicht infrage!«

»Dieses Verfahren würde jedem anderen den Tod bringen«, beharrte Rhodan grimmig. »Das war der einzige Grund, warum Roi als Zellaktivatorträger es probiert hat. Ich muss es versuchen, trotz Mentalstabilisierung. Wir haben keine andere Wahl!«

»Ich glaube doch!«, meldete sich eine zitternde Stimme. Dann fester: »Ich werde es tun!«

Perry Rhodan fuhr herum.

Es war Pravo Ylapp.

 

*

 

»Das wirst du nicht!«, lehnte Rhodan ab. »Es wird dich umbringen! Du hast gesehen, was mit Roi geschehen ist, und er trägt einen Zellaktivator! Du würdest wahnsinnig werden oder sterben.«

Pravo Ylapps Unterkiefer zitterte. Seit Perry Rhodan den ehemaligen Bescheidenen Diener kennengelernt hatte, war aus ihm ein mutiger und wissbegieriger junger Mann geworden, mit rötlich-dunkelbraunem Haar und einem freundlichen Gesicht, das an Bord der SOL-Zelle 2 durch rekonstruktive Fazialstimulation wiederhergestellt worden war. Ylapp hatte sogar zu lächeln gelernt, auch wenn es noch nicht immer richtig echt aussah. Als das Orakel von Takess ihm ermöglicht hatte, die Hypnoschulung zu empfangen, die er zuvor nicht vertragen hatte, war er für eine kurze Zeit aufgeblüht. Und nun wollte er sich freiwillig einem Verfahren aussetzen, das mit großer Sicherheit zu seinem Tod führen würde?

»Das Orakel hat mein Gehirn auf unbekannte Weise geheilt«, argumentierte Ylapp. »Niemand weiß, was da genau mit mir passiert ist. Kosmische Kräfte waren beteiligt! Wenn es jemanden an Bord gibt, der es schaffen kann, bin ich es! Ich habe die größte Überlebenschance. Und wenn ich es nicht schaffe ...« Er senkte die Stimme. »... ist es mir egal.«

Eine Hand legte sich auf Rhodans Arm.

Er fuhr herum. War es das Vibra-Psi, das ihn so schreckhaft machte, oder all die tragischen Ereignisse, die sie in diese verzweifelte Situation geführt hatten? So etwas konnte auch an einem Unsterblichen nicht spurlos vorübergehen.

Die Hand gehörte Mahlia Meyun.

Verblüfft blickte Rhodan sie an. Die Äderchen in ihren Augen sahen aus wie kleine, rote Blitze.

»Lass ihn!«, sagte sie mit rauer Stimme. »Er hat eine bessere Chance als du. Er weiß, was er tut.«

»Ich habe nichts zu verlieren.« Ylapps Blick war starr. »Meine Eltern ... Nach Jahrzehnten finde ich Familie, aber sie verstehen nichts von dem, was wichtig ist. Diese Leute sind mir so fremd, dass ich ...« Er brach mitten im Satz ab, nur um sich dem nächsten bitteren Thema zuzuwenden. »Mein Streben nach höherem Wissen ... vergebens, da Varantir mich als Lehrling verschmäht. Du weißt, ich kann die SOL retten. Dann hat mein Leben wenigstens einen Sinn. Dann habe ich endlich etwas für alle getan. Wenn ich es nicht tue, sind wir sowieso alle tot.«

Rhodan schluckte. Konnte er das Opfer dieses jungen Manns annehmen?

Mahlia Meyun drückte seinen Arm fester.

Perry Rhodan schluckte. Er zögerte. Merkte, dass er nichts zu sagen hatte.

Schließlich nickte er. »Dann los!«

 

*

 

Pravo Ylapps Lippen bebten, als sich die SERT-Haube über seinen Kopf senkte. Aber er sagte kein Wort mehr.

Auch Perry Rhodan schwieg. Er wusste, dass sie nur noch Minuten hatten, um die Solaner von den Parafragmenten zu befreien. Dann mussten sie die Chaoszone verlassen, um nicht für immer in ihr verloren zu gehen. Die SZ-1 war tief ins Innere der Proto-Chaotischen Zelle vorgedrungen, wo Rhodan und seine Begleiter tatsächlich den seit anderthalb Jahrhunderten gefangenen Mittelteil der SOL gefunden hatten. Nun drifteten die zwei aneinandergekoppelten Raumschiffteile entlang des Ariadnefadens auf die äußere Randzone zu, wo sie hoffentlich von den Chaos-Tauchern empfangen und hinausgeleitet wurden.

Dann wären sie der Hölle entkommen. Aber hätten sie auch die Seelen der Verdammten gerettet?

Colwin Heltamar justierte die SERT-Haube auf den neuen Probanden.

Ylapp saß still und tapfer. Er zitterte am ganzen Körper.

Im selben Moment, da die Haube mit einem Summen ihre unheimliche Aktivität entfaltete, begann Ylapp leise zu wimmern. Dann wurde er lauter, bis er schrie wie ein Tier.

Der Schrei hörte nicht mehr auf, wie schon zuvor bei Roi Danton. Ein schreckliches Geräusch, das jeden in der Zentrale bis ins Mark erschütterte.

Rhodan biss die Zähne zusammen.

Er durfte diesmal nicht abbrechen. Ylapp saß bereits länger unter der Haube als Danton. Man würde Rhodan vorwerfen, dass er seinen Sohn gerettet hatte, aber den ehemaligen Bescheidenen Diener nicht. Doch Ylapp war ihre letzte, ihre einzige Chance.

Inmitten des Kreischens ertönte eine sonore, männliche Stimme, die Wärme ausstrahlte und einen leicht ironischen Tonfall hatte. »Ich bitte um Verzeihung wegen meiner Unpässlichkeit.«

»SENECA!«, rief Rhodan. Die Hyperinpotronik, das Bordgehirn der SOL, war in der Proto-Chaotischen Zelle immer wieder unkontrolliert ausgefallen.

»Ich habe das Gefühl, ich bin wieder ganz ich selbst«, sagte SENECA. »Die fremde Macht hat mein Bewusstsein verlassen. Es fühlt sich gut an, wieder die eigenen Gedanken zu denken.«

Der Bewusstseinskern der Hyperinpotronik bestand aus organischem Zellplasma. Es war offenbar ebenso wie die Menschen auf der SOL von den Parafragmenten befallen gewesen. Wenn diese von SENECA abgelassen hatten – bedeutete das, dass Heltamars wahnwitziger Plan funktionierte?

»Ich erkenne die modifizierte SERT-Schaltung«, meldete SENECA in aller Ruhe, »und registriere Fluchtaktivitäten der Parafragmente. Achtundneunzig Prozent der Besatzung weisen wieder ihre ursprüngliche Individualsignatur auf.«

Rhodan schöpfte Hoffnung. In derselben Sekunde, in der alle Solaner gerettet waren, musste SENECA die SOL aus dem Gefahrengebiet hinausführen. »Wenn wir nicht schon zu lange in der Chaoszone hängen!«, murmelte er.

»Das wüsste ich aber!«, entgegnete SENECA.

Perry Rhodan fing einen irritierten Blick von Mahlia Meyun auf. Er selbst aber jubilierte. Die Hyperinpotronik, die manche schon bei ihrem Einbau für ein wenig meschugge gehalten hatten, war wieder ganz die Alte!

 

*

 

Mahlia Meyun starrte auf die wild tanzenden Anzeigen von Pravo Ylapps Vitalwerten. Nicht mehr lange, dann würde der ehemalige Mönch kollabieren. Noch hielt er durch.

Perry Rhodan dagegen, der geheimnisvolle Terraner, den sie einst im Tal der Gestrandeten gefunden hatte, war ganz in seinem Element. Eben noch der Vater, der um den Sohn bangte, war er nun der entschlossene Kommandant, der die SOL aus dem Chaos navigierte.

Das Raumschiff, genauer gesagt der Verbund aus der kugelförmigen SOL-Zelle 1 und dem zylindrischen SOL-Mittelteil, hatte die Tiefen der Proto-Chaotischen Zelle verlassen und glitt auf die Randzone zu. Irgendwo dort mussten die Chaos-Taucher auf sie warten.

Das Hauptholo zeigte eine Außenansicht der SOL, wie sie von Sonden geliefert wurde, die das Raumschiff umschwirrten. Schwarze Flecken krochen wie Tintenkleckse über den Mittelteil und verflüchtigten sich langsam. Immer wieder fiel das Bild aus und wurde durch die Ansicht einer anderen Sonde ersetzt. Die SOL schwebte in abgrundtiefer Schwärze, die nur an einzelnen Stellen aufriss. Dort bildeten sich fraktale Strudel, die das Schiff in den Abgrund zurückzureißen drohten.

»Kontakt zu den Chaos-Tauchern!«, meldete SENECA.

Die Raumfahrzeuge der Eoracten schufen um sich herum Hybridzonen, in denen die Gesetze des Einsteinraums galten. Dass SENECA Kontakt zu ihnen hatte, bedeutete, dass die SOL mittlerweile weniger als dreihundert Kilometer vom äußeren Rand der Proto-Chaotischen Zelle entfernt sein musste.

»Neunundneunzig Komma neun Prozent!«

Das war der aktuelle Genesungsstand der Solaner. Die Bewusstseinssplitter, die von ihnen Besitz ergriffen hatten, verschwanden zurück in das Chaos, aus dem sie gekommen waren.

Ylapp stöhnte. Seine Stimme hatte sich verändert, klang unendlich erschöpft. Er war es, der das Parafragment des mächtigsten Chaoswesens auf sich zog und dadurch die anderen Geistsplitter vertrieb. Ylapp röchelte. Er war am Ende.

In der Schwärze um die SOL tauchten hellblaue Tropfen auf. Leuchtflecke, die Rettung versprachen.

Trotz des Vibra-Psi, das den Menschen in der Zentrale die Kraft raubte, erklang ein kollektiver Jubelschrei.

Denn die hellblauen Tropfen waren Energiefelder, mit denen die Chaos-Taucher ihre Hybridzonen erschufen. Im Innern dieser Felder schwebten die ebenfalls tropfenförmigen Forschungsfahrzeuge der Eoracten. Mehrere Dutzend Einheiten näherten sich der SOL. Einige entfernten sich sprunghaft wieder. Aber es blieben genug übrig, um das Generationenschiff wie eine Wolke zu umschließen.

Mahlia atmete erleichtert auf, als die blauen Felder miteinander verschmolzen und die SOL schließlich vollständig umschlossen. Den Chaos-Tauchern war es gelungen, ihre antichaotischen Feldprojektoren zu einem Verbund zusammenzuschalten und die SOL in ihre Hybridzone einzuschließen.

Sie nahmen die SOL in ihre Mitte. Als SENECA verkündete »Hundert Prozent!«, schleuderten die Retter das Hantelschiff aus der Proto-Chaotischen Zelle.

Plötzlich war der Himmel voller Gebäude. Die Stadt der Eoracten im Innern der Hohlsphäre von Evolux, eine scheinbar endlose Technik-Innenkruste, reckte sich der SOL entgegen. So bizarr und fremdartig dieser Ort aussah, er war für die Solaner der Beweis, dass sie in ihr Heimatuniversum zurückgekehrt waren.

Ein letzter Faden des Chaos heftete sich an die SOL und umtanzte sie wie ein Öltropfen in wirbelndem Wasser. Dabei war die Proto-Chaotische Zelle gar kein Objekt des physikalischen Raums, das Fäden hätte werfen können, sondern schlicht entarteter Raum. Dennoch wirkte es im Außenbeobachtungsholo, als versuche die Hand des Chaos erneut nach dem Raumschiff zu greifen.

Von einem Moment auf den anderen indes war der Spuk vorbei.

Sie waren der Proto-Chaotischen Zelle entkommen. Nun mussten sie nur noch ein einziges Besatzungsmitglied retten. Den Mann, der bereit gewesen war, sich für die SOL zu opfern: Pravo Ylapp.

 

*

 

Im selben Augenblick, in dem die SOL die Gefahrenzone verließ, schaltete SENECA die SERT-Haube ab. Pravo Ylapp sackte zusammen. Blut rann ihm aus Augen und Nase.

Mahlia Meyun stürzte zu ihm. Sie war immer noch ausgelaugt vom Vibra-Psi, spürte aber, dass dessen Wirkung nachgelassen hatte. Sie fühlte sich wie eine Patientin, die tagelang nichts gegessen hatte, aber geheilt aus dem Schlaf erwachte.

Ylapps Kopf war auf die Brust gesunken. Strähnen seines rotbraunen Haars hingen ihm ins Gesicht, Schweiß tropfte daran hinunter.

Mahlia fühlte seinen Puls. Nichts. »Herzstillstand!«, schrie sie, trommelte mit den Händen auf seine Brust.

Ein Atemschlauch fiel herab und führte sich automatisch in Ylapps Hals ein. Gleichzeitig kam ein Medoroboter heran, der die Herzdruckmassage übernahm. Mahlia zog sich zurück und beobachtete, wie die Maschinen ihre Arbeit taten. Aus einem Medogerät erklang ein lang gezogener, schrecklicher Ton.

»Lebe!«, rief Mahlia. »Lebe!«

Wie aus einer anderen Welt hörte sie die eiskalte Stimme des Yakonto. »Niemand hat diese Prozedur jemals lebend überstanden.«