»Ein grandioses Buch! Eine Reise in die Vergangenheit, in die Kindheit, nach Vietnam,
in die Gewalt und die Liebe.« Sasa Stanisic — Der Debütroman von Ocean Vuong
»Lass mich von vorn anfangen. Ma …« Der Brief eines Sohnes an die vietnamesische Mutter,
die ihn nie lesen wird. Die Tochter eines amerikanischen Soldaten und eines vietnamesischen
Bauernmädchens ist Analphabetin, kann kaum Englisch und arbeitet in einem Nagelstudio.
Sie ist das Produkt eines vergessenen Krieges. Der Sohn, ein schmächtiger Außenseiter,
erzählt — von der Schizophrenie der Großmutter, den geschundenen Händen der prügelnden
Mutter und seiner tragischen ersten Liebe zu einem amerikanischen Jungen. Vuong schreibt
mit alles durchdringender Klarheit von einem Leben, in dem Gewalt und Zartheit aufeinanderprallen.
Das kraftvollste Debüt der letzten Jahre, geschrieben in einer Sprache von grandioser
Schönheit.
Ocean Vuong
Auf Erden sind wir kurz grandios
Roman
Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag
Carl Hanser Verlag
Für meine Mutter
Aber lass mich sehen, ob ich dir — mit dieser kleinen Scholle meiner Worte und meinem Leben als Grundstein — einen Mittelpunkt erschaffen kann.
Qiu Miaojin
Ich möchte Ihnen die Wahrheit sagen, und habe Ihnen doch schon von den breiten Flüssen erzählt.
Joan Didion
Lass mich von vorn anfangen.
Ma,
ich schreibe, um dich zu erreichen — auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist. Ich schreibe, um zu jenem Mal an der Raststätte in Virginia zurückzukehren, als du voller Entsetzen den ausgestopften Hirschkopf angestarrt hast, der über dem Getränkeautomaten bei den Toiletten hing; sein Geweih überschattete dein Gesicht. Im Auto hast du immer noch den Kopf geschüttelt. »Ich verstehe nicht, warum die Leute so was machen. Sehen die denn nicht, dass es ein totes Tier ist? Eine Leiche sollte verschwinden, nicht für immer so feststecken.«
Ich denke jetzt an diesen Hirsch, wie du in seine schwarzen Glasaugen gestarrt und dich selbst, deinen ganzen Körper verzerrt in diesem leblosen Spiegel gesehen hast. Wie es nicht die groteske Zurschaustellung eines geköpften Tieres war, die dich so aufwühlte — sondern dass die Ausstopfung einen Tod verkörperte, der nicht enden würde, einen Tod, der ununterbrochen stirbt, während wir auf dem Weg zur Toilette daran vorbeigehen.
Ich schreibe, weil man mir gesagt hat, niemals einen Satz mit weil anzufangen. Aber ich wollte keinen Satz bilden — ich wollte freikommen. Weil Freiheit, so heißt es, nur der Abstand zwischen dem Raubtier und seiner Beute ist.
Herbst. Irgendwo über Michigan macht sich eine Kolonie Monarchfalter von über fünfzehntausend Schmetterlingen auf ihre jährliche Wanderung nach Süden. Im Laufe von zwei Monaten, zwischen September und November, ziehen sie von Südkanada und den Vereinigten Staaten aus, immer einen Flügelschlag nach dem andern, zur Überwinterung nach Zentralmexiko.
Sie lassen sich zwischen uns nieder, auf Fensterbänken und Maschendrahtzäunen, Leinen, wie weichgezeichnet vom eben noch hängenden Gewicht der Wäsche, auf der Motorhaube eines verblichenen blauen Chevy; ihre Flügel schließen sich langsam, als würden sie fortgeräumt, ehe sie einmal zusammenschnellen, in den Flug hinauf.
Eine einzige Nacht Frost kann eine ganze Generation auslöschen. Leben wird so zu einer Frage der Zeit, des richtigen Zeitpunkts.
Jenes Mal, ich war fünf oder sechs und wollte dir einen Streich spielen, sprang hinter der Tür im Flur hervor und rief: »Bumm!« Du hast aufgeschrien, dein Gesicht verzerrt und verharkt, bist dann in Schluchzen ausgebrochen und hast die Hand in der Brust verkrallt, dich nach Luft schnappend gegen die Tür gelehnt. Ich stand verblüfft da, mein Spielzeughelm auf dem Kopf verrutscht. Ich war ein amerikanischer Junge, der nachäffte, was er im Fernsehen sah. Ich wusste nicht, dass der Krieg immer noch in dir war, dass es überhaupt einen Krieg gegeben hatte, dass er, einmal hineingelangt, nie mehr weggeht — aber doch nur widerhallt, als Geräusch, das das Gesicht deines eigenen Sohnes formt. Bumm.
Jenes Mal, als ich in der dritten Klasse mithilfe von Mrs Callahan, meiner Englischlehrerin im Förderunterricht, das erste Buch las, das ich wirklich mochte, ein Kinderbuch namens Donnerkuchen von Patricia Polacco. In der Geschichte entdecken ein Mädchen und seine Großmutter, wie sich am grünen Horizont ein Sturm zusammenbraut, doch anstatt die Rollladen herunterzulassen oder die Türen mit Brettern zu vernageln, machen sie sich daran, einen Kuchen zu backen. Etwas lichtete sich in mir bei dieser gefährlichen und doch kühnen Missachtung gesunden Menschenverstands. Während Mrs Callahan hinter mir stand, ihr Mund an meinem Ohr, wurde ich tiefer in den Strom der Sprache hineingesogen. Die Geschichte entrollte sich, der Sturm grollte herein, während sie sprach, grollte dann noch einmal, wenn ich die Worte wiederholte. Einen Kuchen backen im Auge des Sturms. Sich mit Zucker nähren am Abgrund der Gefahr.
Das erste Mal, als du mich geschlagen hast, muss ich vier gewesen sein. Eine Hand, ein Wimpernschlag, eine Strafe. Mein Mund ein Aufflammen von Berührung.
Wie ich versuchte, dir Lesen beizubringen, so wie Mrs Callahan es mir beibrachte, meine Lippen an deinem Ohr, meine Hand auf deiner, die Worte huschten unter unseren Schatten dahin. Doch ein Sohn, der seine Mutter erzieht — das verkehrte unsere Hierarchien und damit unsere Identitäten, die ohnehin fragil und vorgezeichnet waren in diesem Land. Nach dem Stottern und den missglückten Anläufen, die Sätze verkehrt oder verschlossen in deiner Kehle, nach dem peinlichen Scheitern hast du das Buch zugeknallt. »Ich brauche nicht zu lesen«, hast du naserümpfend gesagt und dich vom Tisch abgestoßen. »Ich kann sehen — und bin bis jetzt damit klargekommen, oder etwa nicht?«
Dann jenes Mal mit der Fernbedienung. Ein blutunterlaufener Striemen auf meinem Unterarm, über dessen Herkunft ich meine Lehrer anlog. »Ich bin beim Fangenspielen hingefallen.«
Wie du mit sechsundvierzig auf einmal unbedingt malen wolltest. »Gehen wir zu Walmart«, hast du eines Morgens gesagt. »Ich brauche Malbücher.« Monatelang hast du die Fläche zwischen deinen Armen mit all den Schattierungen versehen, die du nicht aussprechen konntest. Magenta, Zinnober, Kadmium, Schiefer, Tannengrün, Zimt. Jeden Tag hast du dich stundenlang über Farm- und Weidelandschaften gebeugt, über Paris, zwei Pferde auf einer windgepeitschten Ebene, das Gesicht eines Mädchens mit schwarzen Haaren und Haut, die du leer, weiß gelassen hast. Du hast sie überall in der Wohnung aufgehängt, die langsam an ein Grundschulklassenzimmer erinnerte. Als ich dich fragte: »Warum malen, warum jetzt?«, hast du den Saphirstift abgesetzt und wie in Trance auf einen halb ausgemalten Garten geblickt. »Ich tauche einfach ein bisschen darin ein«, hast du gesagt, »aber gleichzeitig kriege ich alles mit. Als ob ich noch ganz hier bin, in diesem Zimmer.«
Wie du mir die Legokiste an den Kopf geworfen hast. Das Parkett blutgesprenkelt.
»Hast du dir jemals einen Ort ausgedacht«, sagtest du — du warst gerade dabei, ein Thomas-Kinkade-Haus auszumalen —, »und dich dann dorthin versetzt? Hast du dich jemals von hinten gesehen, wie du weiter und tiefer in diese Landschaft hineingehst, weg von dir selbst?«
Wie konnte ich dir klarmachen, dass das, was du mir da erzähltest, Schreiben ist? Wie konnte ich sagen, dass wir uns trotz allem so nahe sind, die Schatten unserer Hände auf zwei verschiedenen Seiten ineinanderfließen?
»Es tut mir leid«, sagtest du, als du die Wunde an meiner Stirn verbandest. »Hol deine Jacke. Du kriegst McDonald’s.« Mit pochendem Kopf tunkte ich Chicken Nuggets in Ketchup, während du mir zusahst. »Du musst größer und stärker werden, okay?«
Gestern habe ich Roland Barthes’ Tagebuch der Trauer wieder gelesen, das Buch, an dem er nach dem Tod seiner Mutter ein Jahr lang täglich schrieb. Ich habe, schreibt er, den Körper meiner kranken, dann sterbenden Mutter gekannt. An diesem Punkt habe ich aufgehört. Und beschlossen, dir zu schreiben. Dir, die du noch am Leben bist.
Jene Samstage am Monatsende, an denen wir zur Mall fuhren, wenn nach all den Rechnungen noch Geld übrig war. Manche Menschen machen sich für die Kirche oder Abendeinladungen schick. Wir warfen uns in Schale, wenn wir in ein Einkaufszentrum bei der Interstate 91 gingen. Du warst dann immer früh wach, hast dich eine Stunde lang geschminkt, dein bestes schwarzes Paillettenkleid angezogen, dein eines Paar goldener Creolen, schwarze Laméschuhe. Darauf hast du dich hingekniet, mir eine Handvoll Pomade ins Haar geschmiert, einen Seitenscheitel gezogen.
Hätte ein Fremder uns dort gesehen, er hätte nicht sagen können, dass wir unsere Lebensmittel im Eckladen des Viertels an der Franklin Avenue kauften, wo der Eingang mit Quittungen eingelöster Essensmarken übersät war, Grundnahrungsmittel wie Milch und Eier dreimal so viel kosteten wie in den Vororten und der Pappkarton mit den verschrumpelten und eingedellten Äpfeln am Boden von Schweineblut durchweicht war, das aus einer Kiste längst aufgetauter Koteletts sickerte.
»Komm, holen wir uns die teure Schokolade«, sagtest du meistens und zeigtest auf den Godiva-Chocolatier. Wir nahmen dann eine kleine Papiertüte mit vielleicht fünf oder sechs zufällig ausgewählten Schokoladenrechtecken. Häufig war das alles, was wir in der Mall kauften. Dann zogen wir los, reichten uns die Pralinen einzeln hin und her, bis unsere Finger von tintenschwarzer Süße glänzten. »So genießt man das Leben«, sagtest du, an deinen Fingern saugend, deren rosa Nagellack von einer Woche Fußpflege abblätterte.
Jenes Mal mit deinen Fäusten, als du auf dem Parkplatz geschrien hast, dein Haar rot in die untergehende Sonne gestochen. Meine Arme schützend vor meinem Kopf, als deine Knöchel ringsum aufprallten.
Diese Samstage damals bummelten wir durch die Gänge, bis die Geschäfte eins nach dem andern ihre Rollgitter herunterließen. Dann gingen wir zur Bushaltestelle am Ende der Straße, unser Atem schwebte über uns, und das Make-up trocknete auf deinem Gesicht. Unsere Hände leer bis auf unsere Hände.
Heute Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, stand ein Hirsch vor meinem Fenster, in einem Nebel, der so dicht und hell war, dass der zweite Hirsch, nicht weit entfernt, aussah wie der unvollendete Schatten des ersten.
Du kannst ihn ausmalen. Du kannst ihn »Die Geschichte der Erinnerung« nennen.
Migration kann ausgelöst werden durch den Stand des Sonnenlichts, der einen Jahreszeitenwechsel ankündigt, durch Temperatur, Pflanzenleben und Nahrungsangebot. Monarchweibchen legen entlang der Strecke Eier. Jede Geschichte hat mehr als einen Faden, und jeder Faden ist eine Geschichte der Teilung. Die Reise geht über 7770 Kilometer, weiter, als sich dieses Land ausdehnt. Die Monarchen, die in den Süden fliegen, werden nicht nach Norden zurückkehren. Jeder Aufbruch wird so zu etwas Endgültigem. Nur ihre Nachkommen kehren heim; nur die Zukunft besucht die Vergangenheit wieder.
Was ist ein Land anderes als ein Satz ohne Grenzen, ein Leben?
Jenes Mal beim chinesischen Fleischer, als du auf das geröstete Spanferkel an seinem Haken gezeigt hast. »Die Rippen sind genau wie bei einem Menschen, der verbrannt wurde.« Du bist in ein abgehacktes Kichern ausgebrochen, dann verstummt, hast mit verkniffenem Gesicht dein Portemonnaie herausgeholt und unser Geld nachgezählt.
Was ist ein Land anderes als ein Urteil: lebenslänglich?
Jenes Mal mit der Milchflasche. Das Zerbersten des Krugs auf meinem Schulterknochen, dann ein weißes Rieseln auf die Küchenfliesen.
Wie du damals im Six Flags Park die Superman-Achterbahn mit mir gefahren bist, weil ich mich nicht allein getraut habe. Wie du dich danach, dein Kopf in die Mülltonne getaucht, übergeben hast. Wie ich vor lauter Entzücken vergaß, Danke zu sagen.
Wie wir einmal zu Goodwill gingen und Waren mit einem gelben Sticker in den Einkaufswagen stapelten, weil man an dem Tag zusätzlich fünfzig Prozent Rabatt darauf bekam. Ich schob den Wagen und sprang hinten auf, fühlte mich im Dahingleiten reich mit unserer Beute ramschiger Schätze. Es war dein Geburtstag. Wir prassten. »Sehe ich aus wie eine echte Amerikanerin?«, fragtest du und drücktest ein weißes Kleid an dich. Es war ein wenig zu förmlich, als dass du es bei irgendeiner Gelegenheit hättest anziehen können, aber doch leger genug, dass immerhin die Möglichkeit dafür bestand. Eine Chance. Ich nickte grinsend. Der Wagen war inzwischen so voll, dass ich nicht länger sehen konnte, was vor mir lag.
Jenes Mal mit dem Küchenmesser — das du genommen, dann hingelegt hast, bebend, leise sagtest: »Raus. Raus mit dir.« Und ich rannte aus dem Haus, die schwarzen Sommerstraßen hinunter. Ich rannte, bis ich vergaß, dass ich zehn war, bis mein Herzschlag alles war, was ich von mir selbst hören konnte.
Jenes Mal in New York, eine Woche nachdem Cousin Phuong bei dem Autounfall ums Leben gekommen war, als ich in die Linie 2 Richtung Uptown stieg und beim Öffnen der Türen sein Gesicht klar und rund vor mir sah, wie es mich unverwandt anblickte, lebendig. Ich japste — und wusste doch, dass es nur jemand war, der ihm ähnlich sah. Zu sehen, was ich doch eigentlich nie wiedersehen sollte, machte mich trotzdem fertig — die Gesichtszüge so getreu, der massive Kiefer, die hohe Stirn. Sein Name machte in meinem Mund einen Satz nach vorn, bevor ich ihn unterdrücken konnte. Oben auf der Straße hockte ich mich auf einen Hydranten und rief dich an. »Ma, ich hab ihn gesehen«, hauchte ich. »Ma, ich hab ihn gesehen, ich schwör’s. Ich weiß, es ist dumm, aber ich habe Phuong in der Subway gesehen.« Ich hatte eine Panikattacke. Und du wusstest es. Für eine Weile bist du stumm geblieben, dann hast du angefangen, die Melodie von »Happy Birthday« zu summen. Es war nicht mein Geburtstag, aber das war das einzige englische Lied, das du kanntest, und du fuhrst fort. Und ich lauschte, das Telefon so fest an mein Ohr gepresst, dass noch Stunden später ein rosa Rechteck in meine Wange geprägt war.
Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, 165 cm groß, 50 Kilo schwer. Ich sehe von genau drei Seiten gut aus und ätzend von überall sonst. Ich schreibe dir aus einem Körper heraus, der einmal dir gehörte. Das heißt, ich schreibe als ein Sohn.
Wenn wir Glück haben, ist das Ende eines Satzes der Punkt, an dem wir vielleicht anfangen können. Wenn wir Glück haben, wird etwas weitergereicht, ein weiteres Alphabet unserem Blut eingeschrieben, den Sehnen und Nervenzellen; Ahnen, die ihrer Nachkommenschaft den stillen Drang aufbürden, nach Süden zu fliegen, auf jenen Ort in der Erzählung zuzuhalten, den niemand überdauern sollte.
Jenes Mal, als ich im Nagelstudio mitbekam, wie du eine Kundin über einen kürzlichen Verlust trösten wolltest. Während du ihre Nägel lackiertest, sprach sie unter Tränen. »Ich habe mein Baby verloren, mein Kleines, Julie. Ich kann es nicht glauben, sie war meine Stärkste, meine Älteste.« Du hast genickt, die Augen nüchtern über der Maske. »Ist gut, ist gut«, hast du auf Englisch gesagt, »nicht weinen. Deine Julie«, fragtest du dann, »wie ist gestorben?«
»Krebs«, sagte die Frau. »Und auch noch im Garten! Sie ist gleich da auf der verdammten Wiese hinterm Haus gestorben.«
Du hast ihre Hand hingelegt, deinen Mundschutz abgenommen. Krebs. Du hast dich vorgebeugt. »Meine Mama auch, sie von Krebs gestorben.« Im Raum wurde es still. Deine Kollegen rutschten auf ihren Stühlen hin und her. »Aber was passiert in Garten, warum sie da gestorben?«
Die Frau wischte ihre Augen. »Da hat sie gelebt. Julie war mein Pferd.«
Du hast genickt, deinen Mundschutz wieder übergestreift und ihre Nägel weiterlackiert. Als die Frau gegangen war, hast du die Maske quer durch den Raum geschleudert. »Ein Scheißpferd?«, hast du auf Vietnamesisch gesagt. »Verdammt noch mal, ich wollte schon Blumen am Grab der Tochter ablegen!« Für den Rest des Tages, während du an der einen oder anderen Hand arbeitetest, hast du immer wieder aufgesehen und gerufen: »Es war nur ein dummes Pferd!«, und wir haben gelacht.
Jenes Mal mit dreizehn, als ich endlich Stopp sagte. Deine Hand in der Luft, mein Wangenknochen brennend vom ersten Schlag. »Schluss, Ma. Hör auf. Bitte.« Ich sah dich hart an, so wie ich inzwischen gelernt hatte, in die Augen derer zu starren, die mich schikanierten. Du hast dich abgewandt, bist wortlos in deinen braunen Wollmantel geschlüpft und zum Laden gegangen. »Ich hole Eier«, sagtest du über die Schulter, als ob nichts gewesen wäre.
Doch wir wussten beide, du würdest mich nie wieder schlagen.
Monarchfalter, die die Wanderung überleben, reichen diese Botschaft an ihre Nachkommen weiter. Die Erinnerung an Familienmitglieder, die der einsetzende Winter gefordert hat, ist in ihre Gene verwoben.
Wann endet ein Krieg? Wann kann ich deinen Namen sagen und nur deinen Namen meinen und nicht das, was du hinter dir gelassen hast?
Jenes Mal, als ich zu tintenblauer Stunde aufwachte, mein Kopf — nein, das Haus von leiser Musik erfüllt. Ich ging zu deinem Zimmer, das Parkett kühl unter meinen Füßen. Dein Bett war leer. »Ma«, sagte ich, still wie eine Schnittblume über der Musik. Es war Chopin, und es kam aus dem Schrank. Die Umrisse der Tür in rötliches Licht geschnitten, wie der Eingang zu einem Ort, der in Flammen steht. Ich setzte mich davor, lauschte dem Nocturne und, darunter, deinem gleichmäßigen Atem. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß. Aber irgendwann ging ich zurück ins Bett und zog mir die Decke zum Kinn hoch, bis es aufhörte; nicht die Musik, sondern mein Zittern. »Ma«, sagte ich noch einmal, zu niemandem. »Komm wieder. Komm wieder raus.«
Du hast mir einmal gesagt, dass das menschliche Auge Gottes einsamste Schöpfung ist. Wie so viel von der Welt durch die Pupille zieht und diese doch nichts davon bewahrt. Das Auge, allein in seiner Höhle, weiß nicht einmal, dass es ein anderes gibt, genau wie es selbst, nur Zentimeter entfernt, ebenso hungrig, ebenso leer. Du hast die Haustür zum ersten Schneefall meines Lebens hin geöffnet und geflüstert: »Schau.«
Jenes Mal, du warst gerade dabei, einen Korb grüner Bohnen über der Spüle zu schneiden, als du unvermittelt sagtest: »Ich bin kein Monster. Ich bin eine Mutter.«
Was meinen wir, wenn wir von einem Überlebenden sprechen? Vielleicht ist ein Überlebender der letzte Heimkehrer, der letzte Monarchfalter, der sich auf einem Zweig niederlässt, der sich bereits biegt unter Geistern.
Der Morgen schloss sich um uns.
Ich legte das Buch weg. Die Spitzen der Bohnen schnappten weiter. Sie prallten dumpf wie Finger in die Stahlspüle. »Du bist kein Monster«, sagte ich.
Aber ich habe gelogen.
Was ich wirklich sagen wollte, war, dass es nicht so schlimm ist, ein Monster zu sein. Vom lateinischen monstrum, ein göttlicher Bote der Katastrophe, dann im Altfranzösischen abgewandelt, um ein Tier myriadenfachen Ursprungs zu bezeichnen: Zentaur, Greif, Satyr. Ein Monster zu sein bedeutet, ein Mischsignal zu sein, ein Leuchtturm: Zuflucht und Warnung zugleich.
Ich habe gelesen, dass Eltern, die an posttraumatischer Belastungsstörung leiden, eher dazu neigen, ihre Kinder zu schlagen. Vielleicht gibt es am Ende doch einen monströsen Ursprung. Vielleicht bedeutet Hand an dein Kind zu legen, es auf den Krieg vorzubereiten. Ihm beizubringen, dass einen Herzschlag zu besitzen nie so einfach ist wie die Aufgabe des Herzens, ja ja ja zum Körper zu sagen.
Ich weiß es nicht.
Was ich weiß, ist, dass du mir damals bei Goodwill das weiße Kleid hingehalten hast, deine Augen weit aufgerissen und glasig. »Kannst du das lesen«, hast du gefragt, »und mir sagen, ob es feuerfest ist?« Ich suchte den Saum ab, musterte den Aufdruck auf dem Schildchen und sagte, selbst noch nicht imstande zu lesen: »Ja.« Sagte es trotzdem. »Ja«, log ich und hielt das Kleid an dein Kinn. »Es ist feuerfest.«
Tage später, du warst bei der Arbeit, würde ein Junge aus der Nachbarschaft an unserem Vorgarten vorbeiradeln und mich in diesem Kleid sehen — ich war hineingeschlüpft in dem Glauben, ich würde dir darin ähnlicher sehen. Am nächsten Tag in der Pause nannten mich die anderen Kinder Missgeburt, Homo, Tunte. Viel später würde ich lernen, dass diese Worte ebenfalls Wiederholungen von Monster waren.
Manchmal stelle ich mir vor, dass die Monarchfalter nicht vor dem Winter fliehen, sondern vor den Napalmwolken deiner Kindheit in Vietnam. Ich stelle mir vor, wie sie unversehrt aus den sengenden Druckwellen hervorschweben, ihre winzigen schwarzroten Flügel wie Ascheflocken, die weiter durch den Himmel gewirbelt werden, für Tausende Kilometer, sodass man beim Aufschauen nicht länger die Explosionen erahnen kann, aus denen sie kommen, nur eine Familie von Schmetterlingen, die in sauberer, kühler Luft dahinschwebt, ihre Flügel endlich, nach so vielen Brandstürmen, feuerfest.
»Das ist so gut zu wissen, Schatz.« Du hast über meine Schulter hinweg ins Leere gestarrt, das Kleid mit steinerner Miene immer noch an dich gepresst. »So gut.«
Du bist eine Mutter, Ma. Und du bist ein Monster. Aber das bin ich auch — weshalb ich mich nicht von dir abwenden kann. Weshalb ich Gottes einsamste Schöpfung genommen und dich hineingesetzt habe.
Schau.
In einem früheren Entwurf dieses Briefes, den ich später gestrichen habe, hatte ich dir noch erzählt, wie es dazu kam, dass ich Schriftsteller wurde. Wie ich als Erster in der Familie studieren ging und das College auf einen Abschluss in Englisch vergeudete. Wie ich meiner miesen Highschool den Rücken kehrte und meine Zeit in New York damit verbrachte, in Bibliotheksmagazinen über den schwer verständlichen Texten toter Menschen zu brüten, von denen die meisten sich nie hätten träumen lassen, dass ein Gesicht wie meines einmal über ihren Sätzen schweben würde — und am allerwenigsten, dass diese Sätze mich einmal retten würden.
Aber nichts davon ist jetzt wichtig. Wichtig ist nur, dass mich all das, auch wenn ich es damals noch nicht wusste, hierhergeführt hat, auf diese Seite, und ich dir erzählen kann, was du nie wissen wirst.
Und was geschah, war, dass ich einmal ein kleiner Junge war und unversehrt. Ich war acht, als ich in der Einzimmerwohnung in Hartford stand und Grandma Lans schlafendes Gesicht anstarrte. Obwohl sie deine Mutter ist, sieht sie ganz anders aus als du; ihre Haut ist drei Nuancen dunkler, die Farbe von Erde nach einem Gewitterregen, und spannt sich über ein eingefallenes Gesicht, in dem die Augen funkeln wie gesplittertes Glas.
Ich weiß nicht, weshalb ich von dem grünen Haufen Spielzeugsoldaten aufstand und dorthin ging, wo sie mit vor der Brust verschränkten Armen unter einer Decke auf dem Parkett lag. Im Schlaf bewegten sich ihre Augen hinter den Lidern. Ihre Stirn mit den tief eingegrabenen Falten verriet ihre sechsundfünfzig Jahre. Eine Fliege landete neben ihrem Mund, glitt dann zum Rand der leicht violetten Lippen. Ihre linke Wange zuckte ein paar Sekunden lang, und die Haut war voller großer, schwarzer Poren, die im Sonnenlicht flirrten. Ich hatte noch nie so viel Bewegung im Schlaf gesehen — außer bei Hunden, die in Träumen rennen, die niemand je kennen wird.
Doch es war Stille, wie mir jetzt klar wird, wonach ich suchte — nicht die Stille ihres Körpers, der im Schlaf weitertickte, sondern ihres Geistes. Erst in diesem zuckenden Ruhezustand kühlte sich die nervöse Hochspannung in ihrem Kopf zu etwas wie Frieden ab. Ich sehe eine Fremde an, dachte ich, eine Fremde, deren Lippen sich zu einer Miene der Zufriedenheit verknitterten, die ich an Lan, wenn sie wach war, überhaupt nicht kannte — Lan, deren Sätze endlos und unzusammenhängend aus ihr hervorsprudelten, seit dem Krieg war ihre Schizophrenie nur noch schlimmer geworden. Anders als völlig überdreht hatte ich sie jedoch nie gekannt. Seit ich mich erinnern kann, hatte sie zwischen lichten Augenblicken vor mir geflackert. Und darum war es, wie ich sie so betrachtete, still und friedlich im Nachmittagslicht, als blickte ich in die Vergangenheit zurück.
Das Auge öffnete sich. Milchig trüb vom Schlaf, weitete es sich, um meinen Anblick aufzunehmen. Ich stellte mich mir selbst, gebannt von dem Lichtschacht, der durchs Fenster fiel. Dann öffnete sich das zweite Auge, dieses leicht rosa, aber klarer. »Hunger, Little Dog?«, fragte sie mit ausdruckslosem Gesicht, so als schliefe sie noch.
Ich nickte.
»Was sollen wir in einer Zeit wie dieser essen?« Mit einer Handbewegung schloss sie das Zimmer ein.
Eine rhetorische Frage, dachte ich und biss mir auf die Lippen.
Aber ich irrte mich. »Ich sagte: Was können wir essen?« Sie setzte sich auf, ihr schulterlanges Haar stand von ihrem Hinterkopf ab wie bei einer Zeichentrickfigur, die gerade mit TNT in die Luft gejagt worden war. Sie robbte über den Boden und hockte sich vor die Spielzeugsoldaten, pickte einen vom Haufen, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und musterte ihn. Ihre Fingernägel, die du mit gewohnter Sorgfalt manikürt und lackiert hattest, waren das einzig Makellose an ihr. Vornehm und glänzend rubinrot hoben sie sich von ihren schwieligen, rissigen Knöcheln ab, als sie den Soldaten, einen Funker, hochhielt und wie ein frisch ausgegrabenes Artefakt beäugte.
Der Soldat hatte ein Funkgerät auf den Rücken geschnallt und brüllte, auf einem Knie kauernd, für alle Zeiten in den Hörer. Seine Montur ließ vermuten, dass er im Zweiten Weltkrieg kämpft. »Werrr du bist, Messieur?«, fragte sie das Plastikmännchen in gebrochenem Englisch und Französisch. Ruckartig presste sie sein Funkgerät an ihr Ohr und lauschte aufmerksam, während sie mich weiterhin fixierte. »Weißt du, was die mir sagen, Little Dog?«, flüsterte sie auf Vietnamesisch. »Sie sagen —« Sie legte den Kopf auf die Seite und beugte sich zu mir vor, ihr Atem eine Mischung aus Ricola-Hustenbonbons und dem kräftigen Geruch des Schlafes, der Kopf des grünen Männchens von ihrem Ohr verschluckt. »Sie sagen, dass gute Soldaten nur gewinnen, wenn Großmutter sie füttert.« Sie gackerte kurz auf — und hielt inne, ihre Miene plötzlich ausdruckslos. Sie legte den Funker in meine Hand und schloss sie zu einer Faust. Damit stand sie auf und schlurfte mit klappernden Sandalen in Richtung Küche davon. Ich umschloss diese Botschaft so fest, dass mir die Plastikantenne in die Hand stach, während durch die Wand einer Nachbarwohnung gedämpfte Reggaemusik ins Zimmer sickerte.
Ich habe und hatte viele Namen. Little Dog, so nannte mich Lan. Was brachte eine Frau, die sich selbst und ihrer Tochter Blumennamen gegeben hatte, dazu, ihren Enkel einen Hund zu nennen? Eine Frau, die auf ihre Familie aufpasst, ganz genau. Du weißt ja, dass in dem Dorf, wo Lan aufgewachsen ist, ein Kind, meist das kleinste oder schwächste der ganzen Schar wie ich damals, nach den schändlichsten Dingen benannt wird: Teufel, Geisterkind, Schweineschnauze, Affenspross, Büffelkopf, Bastard — kleiner Hund noch einer der liebevolleren Namen darunter. Weil böse Geister, die das Land auf der Jagd nach gesunden, schönen Kindern durchstreiften, einen Bogen um das Haus machten, wenn sie hörten, wie etwas ganz Scheußliches zum Abendessen hereingerufen wurde, und damit das Kind verschonten. Etwas zu lieben heißt so, ihm einen derart schäbigen Namen zu geben, dass es vielleicht unberührt bleibt — und am Leben. Ein Name, dünn wie Luft, kann auch ein Schild sein. Ein Kleiner-Hund-Schild.
Ich saß auf den Küchenfliesen und sah zu, wie Lan zwei dampfende Reishügel in eine mit indigoblauen Ranken bemalte Porzellanschüssel schöpfte. Sie griff nach einer Teekanne und goss gerade so viel Jasmintee über den Reis, dass ein paar Körner in der hell bernsteinfarbenen Flüssigkeit trieben. Wir saßen auf dem Boden und reichten uns abwechselnd die duftende, dampfende Schüssel. Es schmeckte so, wie man sich den Geschmack zerstampfter Blumen vorstellen mag: bitter und trocken, mit einem frischen und süßen Nachgeschmack. »Richtiges Bauernessen.« Lan grinste. »Das ist unser Fast Food, Little Dog. Das ist unser McDonald’s!« Sie lehnte sich zur Seite und ließ einen lauten Furz. Ich folgte ihrem Beispiel und pupste zurück, was uns beide mit geschlossenen Augen losprusten ließ. Dann brach sie ab. »Iss auf.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Schüssel. »Jedes Reiskorn, das du übrig lässt, ist eine Made, die du in der Hölle isst.« Sie streifte das Gummiband von ihrem Handgelenk und schlang ihre Haare zu einem Dutt zusammen.
Es heißt, dass traumatische Erfahrungen nicht nur das Gehirn beeinträchtigen, sondern auch den Körper, seine Muskulatur, Gelenke und Haltung. Lans Rücken war ewig gebeugt, so tief, dass ich kaum ihren Kopf sehen konnte, wenn sie an der Spüle stand. Nur der Knoten ihrer zurückgebundenen Haare war sichtbar, der auf und ab tanzte, während sie schrubbte.
Sie warf einen Blick in den Vorratsschrank, der bis auf ein einsames, halb aufgegessenes Glas Erdnussbutter leer war. »Ich muss mehr Brot kaufen.«
Eines Nachts, ein oder zwei Tage vor dem Unabhängigkeitstag, schossen die Nachbarn Feuerwerk von einem Hausdach weiter unten an der Straße. Phosphoreszierende Streifen wühlten die violette Lichtglocke des Himmels auf und rissen mit schwerem Krachen entzwei, das durch unsere Wohnung widerhallte. Ich schlief eingezwängt zwischen dir und Lan auf dem Wohnzimmerboden, als ich spürte, wie die Wärme ihres Körpers, die sich die ganze Nacht über an meinen Rücken geschmiegt hatte, wich. Als ich mich umdrehte, war sie auf den Knien, scharrte wild in den Laken. Bevor ich fragen konnte, was los war, griff ihre Hand kalt und nass nach meinem Mund. Sie legte den Finger auf die Lippen.
»Schhh. Wenn du schreist«, hörte ich sie sagen, »wissen die Minenwerfer, wo wir sind.«
Das Straßenlicht in ihren Augen; ein gelblicher Widerschein auf ihrem dunklen Gesicht. Sie packte mein Handgelenk und schleppte mich zum Fenster, wo wir uns unter dem Sims niederkauerten und lauschten, wie das Donnern über uns erdröhnte. Behutsam zog sie mich in ihren Schoß, und wir warteten.
Im Flüsterton ereiferte sie sich weiter über die Mörser, wobei sich hin und wieder ihre Hand über meine untere Gesichtshälfte schob — das Aroma von Knoblauch und Tigerbalsam scharf in meiner Nase. So saßen wir bestimmt zwei Stunden da, ihr Herzschlag regelmäßig an meinem Rücken, als es im Zimmer allmählich graute und sich dann, in der Indigodämmerung, zwei schlafende Gestalten abzeichneten, die in Decken gewickelt auf dem Boden vor uns lagen: du und deine Schwester, Mai. Ein Anblick wie von sanften Bergketten über einer verschneiten Tundra. Meine Familie, dachte ich, ist diese stille Polarlandschaft, in die nach einer Nacht unter Artilleriebeschuss endlich Frieden eingekehrt ist. Als Lans Kinn auf meiner Schulter schwer wurde, ihr Atem an meinem Ohr gleichmäßig, wusste ich, dass sie sich schließlich zu ihren Töchtern im Schlaf gesellt hatte, und der Schnee im Juli — glatt, vollkommen und namenlos — war alles, was ich sehen konnte.
Bevor ich Little Dog war, hatte ich einen anderen Namen — den Namen, mit dem ich geboren wurde. Eines Oktobernachmittags in einer Hütte mit einem Dach aus Bananenblättern außerhalb von Saigon, im selben Reisfeld, auf dem du aufgewachsen bist, wurde ich dein Sohn. Wie Lan erzählte, hockten draußen vor der Hütte der Dorfschamane und seine zwei Gehilfen und warteten auf die ersten Schreie. Nachdem Lan und die Hebammen die Nabelschnur durchtrennt hatten, stürzten der Schamane und seine Helfer herein, hüllten mich, noch klebrig von der Geburt, in ein weißes Tuch und eilten zum nahe gelegenen Fluss, wo ich unter Weihrauch- und Salbeischwaden gebadet wurde.
Schreiend, mit aschebeschmierter Stirn wurde ich in die Arme meines Vaters gelegt, und der Schamane flüsterte den Namen, den er mir gegeben hatte. Patriotischer Führer des Vaterlands, erklärte er seine Bedeutung. Mein Vater hatte ihn engagiert, und als der Schamane das barsche Wesen meines alten Herrn bemerkte — wie er beim Gehen die Brust aufplusterte, um seine ein Meter sechzig große Gestalt zu strecken, und mit angriffslustig wirkenden Gesten sprach —, wählte der Schamane wohl einen Namen, der den Mann, der ihn bezahlte, zufriedenstellen würde. Und er behielt recht. Mein Vater strahlte, sagte Lan, als er mich auf der Türschwelle der Hütte hoch über seinen Kopf hob. »Mein Sohn wird eines Tages der Führer von Vietnam«, rief er. Doch zwei Jahre später wurden die Verhältnisse in Vietnam — dreizehn Jahre nach dem Krieg, und immer noch herrschte Chaos — so entsetzlich, dass wir von demselben Grund und Boden flohen, auf dem er nun stand; dem Boden, wo ein paar Meter weiter dein Blut einen dunkelroten Kreis zwischen deinen Beinen gebildet, die Erde in frischen Schlamm verwandelt hatte — und ich am Leben war.
Dann wieder reagierte Lan ganz anders auf Krach. Erinnerst du dich an jenen Abend, als wir uns um Lan versammelt hatten, sie wollte uns nach dem Abendessen noch eine Geschichte erzählen, und auf der anderen Straßenseite gingen die Schüsse los? Auch wenn Schüsse in Hartford nicht selten vorkamen, war ich doch nie auf das Geräusch vorbereitet — schneidend, aber irgendwie banaler als erwartet, wie Homeruns im Kinderbaseball, die einer nach dem andern vom abendlichen Park her knackten. Wir kreischten alle — du, Tante Mai und ich — und drückten Wangen und Nasen gegen den Boden. »Licht aus«, hast du geschrien.
Nachdem das Zimmer einen Moment lang im Dunkeln gelegen hatte, sagte Lan: »Was denn? Sind doch nur drei Schüsse.« Ihre Stimme kam haargenau von dort, wo sie gesessen hatte. Sie war nicht einmal zusammengezuckt. »Oder nicht? Seid ihr tot oder atmet ihr noch?«
Ihre Kleider raschelten an ihrer Haut, als sie uns zu sich winkte. »Im Krieg sind ganze Dörfer hochgegangen, bevor du auch nur mit der Wimper zucken konntest.« Sie schnäuzte sich. »Jetzt mach das Licht wieder an, oder ich vergesse, wo ich war.«
Eine Sache, bei der ich Lan half, war, mit einer Pinzette die grauen Haare einzeln von ihrem Kopf zu zupfen. »Der Schnee in meinem Haar«, erklärte sie, »mein Kopf juckt davon. Bist du so gut und zupfst mir die juckenden Haare aus, Little Dog? Der Schnee schlägt Wurzeln in mir.« Sie schob eine Pinzette zwischen meine Finger. »Mach Großmama heute jung, ja?«, sagte sie ganz ruhig, ein Grinsen im Gesicht.
Für diese Arbeit wurde ich in Geschichten bezahlt. Nachdem ich ihren Kopf unter das Licht des Fensters gerückt hatte, kniete ich mich mit der Pinzette in der Hand auf ein Kissen hinter sie. Sie begann zu sprechen, ihre Stimme, um eine Oktave abfallend, mäanderte tief in eine Erzählung hinein. Meist schweifte sie ins Uferlose ab, wie es ihre Art war, während die Geschichten sich in bestimmten Abständen wiederholten. Sie wanden sich spiralförmig aus ihrem Inneren, nur um in der Woche darauf mit den gleichen einleitenden Worten wiederzukehren: »Also bei dieser Geschichte, Little Dog, bei dieser Geschichte wirst du wirklich mit den Ohren schlackern. Bereit? Interessiert es dich überhaupt, was ich sage? Gut. Ich lüge nämlich nie.« Es folgte eine bekannte Geschichte, in die sie an spannenden Stellen oder entscheidenden Wendepunkten die gleichen dramatischen Pausen und Betonungen einbaute. Ich sprach die Sätze lautlos mit, als sähe ich zum hundertsten Mal denselben Film — einen Film, der durch Lans Worte erschaffen und durch meine Fantasie zum Leben erweckt wurde. Das war unsere Art der Zusammenarbeit.
Während ich zupfte, füllten sich die leeren Wände um uns nicht so sehr mit fantastischen Landschaften, sondern öffneten sich auf sie hin, als ob der Gips sich aufgelöst und die Vergangenheit dahinter enthüllt hätte. Szenen aus dem Krieg, Legenden von menschenähnlichen Affen, von Geisterfängern aus den Hügeln von Da Lat in grauer Vorzeit, die in Krügen voll Reiswein bezahlt wurden und auf der Jagd nach Dämonen mit Meuten wilder Hunde und auf Palmblätter geschriebenen Zaubersprüchen durch die Dörfer zogen.
Es gab auch persönliche Geschichten. Wie jenes Mal, als sie davon erzählte, wie du geboren wurdest, von dem weißen amerikanischen Soldaten, der auf einem Navy-Zerstörer in Cam Ranh Bay stationiert war. Wie Lan ihm in ihrem violetten Áo dài begegnet war, dessen geschlitzter Rock sich unter den Lichtern der Bar beim Gehen hinter ihr bauschte. Wie sie da schon ihren ersten Mann aus arrangierter Ehe verlassen hatte. Wie es — als junge Frau, die in Kriegszeiten zum ersten Mal allein in einer Stadt lebte — ihr Körper war, ihr violettes Kleid, das sie am Leben hielt. Während sie sprach, erlahmte meine Hand, hielt inne. Ich war völlig gefesselt von dem Film, der auf den Wänden der Wohnung ablief. Ich hatte mich in ihrer Geschichte verloren, mich ganz bewusst verirrt, bis sie nach hinten langte und mir auf den Schenkel klapste. »Dass du mir jetzt nicht einschläfst!« Aber ich schlief nicht. Ich stand neben ihr, als sich ihr violettes Kleid in der verrauchten Bar wiegte, die Gläser in der von Motoröl und Zigarrenqualm geschwängerten Luft klirrten, vom Geruch nach Wodka und Geschützrauch aus den Uniformen der Soldaten.
»Hilf mir, Little Dog.« Sie drückte meine Hände an ihre Brust. »Hilf mir, jung zu bleiben, schaff diesen Schnee aus meinem Leben — schaff das alles aus meinem Leben.« An diesen Nachmittagen lernte ich, dass Wahnsinn manchmal zu Erkenntnis führt; dass der Verstand, brüchig und kurzgeschlossen, nicht völlig irrt. Das Zimmer füllte sich abermals mit unseren Stimmen, als der Schnee von ihrem Kopf fiel und die Holzdielen um meine Knie weiß wurden, während sich ringsum die Vergangenheit entfaltete.
Und dann gab es den Schulbus. An diesem Morgen, wie jeden Morgen, setzte sich niemand neben mich. Ich drückte mich gegen das Fenster und füllte meinen Blick mit der Außenwelt, malvenfarben mit frühmorgendlicher Dunkelheit: das Motel 6, Kline’s Waschsalon, der noch nicht geöffnet hatte, ein beiger Toyota ohne Motorhaube, gestrandet in einem Vorgarten mit einer halb im Schmutz schleifenden Reifenschaukel. Als der Bus beschleunigte, wirbelten Fetzen der Stadt vorbei wie in der Trommel einer Waschmaschine. Um mich herum rangelten die Jungen. Ich fühlte den Zug ihrer rasch zuckenden Glieder an meinem Nacken, wie ihre vorschnellenden Arme und Fäuste die Luft verdrängten. Weil ich wusste, wie fremd mein Gesicht auf die Menschen in dieser Gegend wirkte, presste ich meinen Kopf noch entschlossener gegen das Fenster, um ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen. In diesem Moment sah ich auf einem Parkplatz draußen etwas aufblitzen. Erst als ich ihre Stimmen hinter mir hörte, begriff ich, dass der Funken aus meinem eigenen Kopf kam. Dass jemand mein Gesicht in das Glas gestoßen hatte.
»Sprich Englisch«, sagte der Junge mit der gelben Topffrisur, seine Hängebacken gerötet und schwabbelig.
Die grausamsten Wände sind aus Glas, Ma. Ich wollte nur noch durch die Scheibe brechen und aus dem Fenster springen.
»Ey.« Der Junge mit den Hängebacken lehnte sich vor, sein Essigatem strich an meiner Wange entlang. »Kannst du überhaupt sprechen? Kannst du Englisch?« Er packte meine Schulter und zerrte mich zu sich herum. »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede.«