»Wie ein Maultier, das der Sonne Eis bringt« ist ein bewegendes kleines Buch über das Älterwerden und die Kraft zufälliger Alltagsbegegnungen — und über eine Frau, die das Leben genauso liebt wie die Erinnerung. Morayo da Silva ist eine Frau, die auffällt, nicht nur durch ihre bunten Kleider und ihre energische Art. Einst eine stolze Diplomatengattin, in Nigeria geboren und in der ganzen Welt herumgekommen, hat sie niemals ihre Neugier verloren. Nun macht sie mit einem alten Porsche die Straßen San Franciscos unsicher und lässt keine Gelegenheit aus, neue Bekanntschaften zu schließen. Dabei steht Morayo kurz vor ihrem 75. Geburtstag. Und ausgerechnet, als sie die neuen Schuhe für die große Party anprobiert, stürzt sie schwer und landet im Krankenhaus …
Sarah Ladipo Manyika
Wie ein Maultier, das der Sonne Eis bringt
Roman
Aus dem Englischen von Monika Baark
Hanser Berlin
Das Haus, in dem ich wohne, ist steinalt. »Alt, aber stabil«, sagt unsere Vermieterin. Die Nummer 500 in der Belgrave Street ist anscheinend so solide gebaut, dass es dem Erdbeben von 1906 standgehalten hat. »Nicht mal ein einziger Riss«, so die Vermieterin. Aber unter uns gesagt, ich würde nicht darauf wetten, dass die Geschichte sich wiederholt. Das ist auch der Grund, warum ich im Obergeschoss wohne, denn wenn dieses Haus einstürzt, wird man zumindest nicht allzu tief nach mir graben müssen. Natürlich wünsche ich meinen Nachbarn nichts Böses, vor allem nicht dem Herrn unter mir. Was die miesepetrige Frau im Erdgeschoss angeht, die mich unbedingt Mary nennen muss, weil sie Morayo angeblich nicht aussprechen kann, nun, das ist etwas anderes. Aber selbst ihr wünsche ich nichts Böses. Ich stelle mir gern vor, wenn’s dann richtig kracht, sind wir alle oben bei mir versammelt und trinken ein schönes Glas Wein, und wir sitzen die Sache aus und können noch unseren Enkeln davon erzählen. Aber wer weiß, wenn die Erde beschließt, dass sie genug gezappelt hat und sich endlich mal ordentlich strecken will, werde ich vielleicht gerade im Treppenhaus auf dem Weg nach unten sein; in dem Fall werden meine Bücher die einzigen Überlebenden sein — Hunderte davon —, um einander Gesellschaft zu leisten.
Unser Gebäude war mal ein Einfamilienhaus, aber jetzt ist es in vier separate Wohneinheiten unterteilt, und in einer davon lebe ich seit zwanzig Jahren. Für meine arme Vermieterin muss das ziemlich ärgerlich sein, denn in dieser Stadt des Mieterschutzes könnte sie von einem neuen Mieter viel mehr Geld nehmen als von mir. Nicht, dass die Wohnung besonders spektakulär wäre; sie besteht nur aus einem kleinen Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer und Bad. Doch in San Francisco kommt es auf den Ausblick an. Und mein Ausblick, oja, mein Ausblick ist magnifique.
Steht man an der Küchenspüle, sieht man die vielen bunten Häuser von Haight-Ashbury. Und jenseits dieser Häuser die Eukalyptus- und Pinienwälder, die sich auf der anderen Seite der Bucht erstrecken, wo das Wasser an klaren Tagen azurblau schimmert. Insofern habe ich keinerlei Absicht, auszuziehen, und die Vermieterin weiß bestimmt, dass sie das, was ihr an Miete durch die Lappen geht, dadurch wieder reinholt, dass sie einen zuverlässigen Menschen hat wie mich, der auf ihr Eigentum aufpasst. Denn ähnlich wie das Haus bin ich steinalt. Zumindest nach nigerianischen Maßstäben habe ich die Lebenserwartung für Frauen um fast zwei Jahrzehnte übertroffen. Und weil ich schon so lange in diesem Haus wohne, kenne ich alle, die ein und aus gehen, und zwar so gut, dass ich an einem Vormittag wie diesem die Schritte des Postboten höre, noch bevor er die zweite Etage erreicht hat. Li Wei hat die Angewohnheit, zwei Treppenstufen auf einmal zu nehmen, und wenn er oben ankommt, warte ich schon auf ihn. Normalerweise würde ich nicht im Morgenmantel an die Tür gehen, aber Li Wei ist kein Fremder. Außerdem ist das hier eine Stadt, wo Leute im Pyjama ihre Hunde ausführen und ihre Kinder zur Schule bringen. Also stehe ich hier in meinem seidenen magentaroten Morgenmantel, und meine nackten Zehen (mit Zehenringen) stoßen an das raue Sisal der Fußmatte.
»Hallo Dr. Morayo, ich habe ganz viel Post für Sie heute«, sagt Li Wei und reicht mir mit einer derart eleganten Geste einen kompakten Stapel, dass ich an einen Samurai denken muss, der vor seine Kaiserin tritt, die Hände ausgestreckt, den Kopf leicht geneigt. »Der Briefkasten war voll«, verkündet er und wirkt verdutzt, bis ich lächle, und dann lächelt er auch, weil wir beide wissen, dass mein voller Briefkasten keine Überraschung ist. In letzter Zeit lasse ich ihn immer voll werden, weil ich gern Besuch von Li Wei bekomme. Wir genießen unser kurzes Geplauder, bis er wieder an die Arbeit muss, seine Uniformmütze antippt und mir einen schönen Tag wünscht. Sobald er weg ist, verbringe ich aus Achtung vor seiner Freundlichkeit immer ein paar Minuten damit, die Wurfsendungen zum Wahlkampf und die Schreiben von Amnesty International und dem Sierra Club durchzusehen. Wenn hin und wieder eine bunte Ansichtskarte oder ein handschriftlich adressierter Umschlag aus dem Stapel fällt, freue ich mich und denke, vielleicht hat mir ein Bekannter geschrieben, auch wenn ich weiß, dass es sich meistens doch nur um eine hübschere Form von Werbung handelt. Wo sind sie nur geblieben, die vielen Freunde, die früher immer Briefe und Postkarten geschickt haben? Heutzutage schreiben die Leute nur noch E-Mails oder lassen gar nichts von sich hören. Und dann sind natürlich viele Freunde tot. Halbherzig blättere ich in der Granta und der CAR herum, dann mache ich mir eine Tasse Tee, in den ich einen Ingwerkeks tunke. Ja, ich weiß, ich schinde nur Zeit, und wenn ich nicht aufpasse, komme ich mit der Zahlung einiger Rechnungen in Verzug. Sie lassen einem kaum Zeit zum Bezahlen, aber ich zerbreche mir deswegen nicht den Kopf. Früher einmal, da war ich gewissenhaft, außerordentlich gewissenhaft sogar, aber das Leben ist zu kurz, um sich von solchen Lappalien verrückt machen zu lassen. Das rede ich mir zumindest ein, bis meine Gewissenhaftigkeit wieder zum Vorschein kommt und ich mich erneut meiner Post zuwende.
Heute habe ich Post vom Straßenverkehrsamt, mitsamt Formularen. Ich werfe einen Blick darauf, mache im Geiste meine Kreuze: Nein, nein und nein bei der Frage nach hohem Blutdruck, Herzinfarkten, Diabetes. Ich vermute, es handelt sich um eine Formalie. Aber halt: Mein Geburtstag steht vor der Tür, vielleicht ist das der Grund. Warum muss, sobald man »ein gewisses Alter« erreicht hat, jeder Hinweis auf einen Geburtstag etwas leicht Düsteres haben? Wieder werfe ich einen Blick auf den Brief und stelle fest, dass die Rückantwort letzte Woche fällig gewesen wäre. Wie ärgerlich. Besser gleich anrufen. Ich wähle die Nummer und klemme mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter, während ich meine Cornrows aufdrösele, die ich mir manchmal flechte, damit meine Haare nicht zerzausen. Es macht mir nichts aus, zu warten, doch eine Stimme auf Band gibt mir die Option, mich zurückrufen zu lassen, ohne meinen Platz in der Warteschlange zu verlieren. Sehr zivilisiert. Ich hinterlasse Namen und Telefonnummer, löse nun mit freien Händen mein letztes Zöpfchen und überlege, was ich heute anziehen soll.
In meinem Kleiderschrank liegt ein Stapel bunter Stoffe. Manche habe ich mir selbst gekauft, andere sind Geschenke von Freunden gewesen. Inzwischen macht es mir viel mehr Spaß als früher, afrikanische Trachten zu tragen, vor allem an sonnigen Tagen. Ich suche mir einen neuen Ankara-Stoff in leuchtendem Rosa und Blau aus und halte ihn mir an die Nase. Beim Auseinanderfalten stelle ich mit Entzücken fest, dass der Geruch der Märkte von Lagos noch in der Baumwolle hängt — Dieselabgase, heißes Palmöl, brennende Holzöfen. Der Geruch beschwört die Extravaganz und Verrücktheit der Megastadt herauf, in der ich zwischen zwei Auslandsposten meines Diplomatengatten gelebt habe. Es war ein Ort der Partys und Verkehrsstaus, die Heimatstadt meines Mannes und seiner Familie; meiner vielen Neffen, Nichten und Patenkinder. Oft habe ich mit dem Gedanken gespielt, nach Lagos zurückzugehen, und manchmal träume ich sogar, ich wäre schon hingezogen in diese große verrückte Stadt, wo mich alle »Auntie« oder »Mama« nennen; das Land der ewigen Sonne und des täglichen Theaters. Ich denke an die Cousinen und Cousins und frage mich, wie es wohl wäre, wieder den Kontakt mit ihnen aufzunehmen, in ihrer Nähe zu leben. Ich habe sogar darüber nachgedacht, in Caesars Gegend zu ziehen, nicht weil er mir fehlt, sondern weil wir gemeinsame Erinnerungen an Menschen und Orte haben, an die sich inzwischen nur noch wenige andere erinnern. Aber selbst während ich mich dabei ertappe, im Internet nach Wohnungen in Ikoyi zu suchen, weiß ich, dass ich mich in einer so überfüllten Stadt nicht wohlfühlen würde. Ich erinnere mich an die überfluteten Straßen während der Regenzeit. Ich erinnere mich an die Stromausfälle und den chaotischen Verkehr, und ich erinnere mich daran, wie wenige Buchläden es gibt, wie wenig Cafés und Museen. Im Grunde meines Herzens weiß ich, dass mein Wunsch nach Rückkehr mehr mit Nostalgie zu tun hat als mit echter Sehnsucht. Die Zeiten sind vorbei, wo ich die Alltagsstrapazen von Lagos einfach wegstecken konnte. So oder so ist es Jos, die Stadt meiner Kindheit, in die ich am liebsten zurückkehren würde. Aber das ist noch unwahrscheinlicher. Jos war einmal ein Ort der Ruhe, mit kühlem Hochlandwetter, und nicht die angespannte Stadt, die sie heute ist, wo man ständig Angst haben muss, dass irgendwo Gewalt ausbricht. Und jetzt, wo meine Eltern nicht mehr leben und Schulfreunde weggezogen oder tot sind, bleiben eigentlich nur noch die Erinnerungen.
Ich seufze, lege den Stoff beiseite und entscheide mich für einen anderen — dieser ist goldgrün und duftet nach Biowaschmittel mit Lavendelduft. Ich wickle mir den Stoff um die Taille, die Beine hüftbreit auseinander, um mir genügend Bewegungsfreiheit zu lassen, umwickle mich ein zweites Mal und stecke den Stoff seitlich fest. Als Kontrast wähle ich ein gelbes Tuch für die Haare, werfe einen Blick in den Badezimmerspiegel und rücke meinen Afro zurecht. Zufrieden trage ich mit dem Finger rosa Lipgloss auf und tupfe die Lippen mit einem Papiertaschentuch ab. Runter mit der Brille, zweimal kurz mit einer eigens für diesen Zweck angeschafften Babybürste die Augenbrauen Richtung Schläfen gebürstet. Ich erinnere mich irgendwo gelesen zu haben, dass das den Blick auf die Augen lenkt. Augen, sagte der Apostel Matthäus, sind die Lampe des Leibes. Und weil ich außerdem neulich gelesen habe, dass die Augen das sind, was beim Menschen niemals altert, kann’s nicht schaden. Ich nehme meine beschmierte Brille ab und säubere sie mit warmer Seifenlauge, wobei ich sie am Rahmen festhalte, wie ich es als Kind gelernt habe.
Ich kann mich nicht erinnern, seit wann ich eine Brille trage — gefühlt mein ganzes Leben; aber woran ich mich erinnere, ist das Kano Eye Hospital und die Fahrt dorthin von Jos, die lang und holprig war und über unbefestigte Straßen führte. Der Termin, der immer am folgenden Tag war, dauerte ebenfalls von morgens bis abends — vom Warten auf den Holzbänken draußen im Freien bis hin zur eigentlichen Untersuchung auf dem großen Stuhl des Augenarztes. Der Doktor ließ sich Zeit, um in den Schubladen zu kramen, die mit silbern gerahmten Linsen gefüllt waren, aufgereiht wie Kekse in einer Dose. Ich stellte mir vor, wie er zwischen Butterkeksen und Ingwerkeksen wählen musste, bevor er die hauchdünne Linse in das schwere stählerne Gerät auf meiner Nase schob. »Besser oder schlechter?«, fragte er immer, und manchmal war es besser, manchmal schlechter. Doch immer roch sein Atem süßlich nach Mango, was mich schließlich überzeugte, dass er arm war. Mangos gab es in Nigeria umsonst — jeder konnte sie von den Bäumen pflücken, so viele waren es, dass mein Vater während der Mangosaison einen Pflücker bezahlte, um die Früchte nicht auf der Erde verfaulen zu lassen. Auch habe ich mich immer gefragt, ob der Doktor an Diabetes litt. War süßlicher Atem nicht ein Anzeichen dafür? Aber vielleicht aß der Mann ja einfach nur gerne Mangos. Und als es dann so weit war und er mir mit seinem grellen gelben Licht in die Augen leuchtete, war es mir immer unmöglich, zu tun, was er sagte. Anstatt auf seinen mit Sommersprossen übersäten Nasenrücken zu starren, zog ich es vor, in meine eigenen Augen zu sehen, die sich in seinen spiegelten und wunderschön glänzten wie Weingummis mit Erdbeergeschmack. Es war mir ein Rätsel, wie meine Nahsicht so perfekt, meine Fernsicht dagegen so schlecht sein konnte. Dann klingelt das Telefon.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, antworte ich und lächle, weil mir die Stimme am anderen Ende der Leitung bekannt vorkommt. »Sunil?« Ich versuche den Namen einzuordnen.
»Ja, Ma’am, hier ist das Kraftfahrzeugamt, Sie hatten um einen Rückruf gebeten.«
»Das Kraftfahrzeugamt«, wiederhole ich. »Das Kraftfahrzeugamt, sagten Sie? Ach ja … natürlich.« Ich erinnere mich wieder, habe aber die schlaue Ausrede vergessen, die ich mir zurechtgelegt hatte. Jetzt muss ich wohl einfach um Aufschub bitten.
»Geben Sie mir bitte einen Moment, Ma’am«, erwidert der Mann, »das müsste ich eben mit meinem Vorgesetzten abklären. Können Sie einen Moment in der Leitung bleiben?«
»Natürlich«, sage ich mit einem Lächeln und stelle mir den jungen Mann vor, der irgendwo in Indien in einem Callcenter neben seiner Blechdose mit Aloo Paratha und eingelegten Gurken sitzt. Und während ich dem dezenten Jazz lausche, der an seine Stelle tritt, spiele ich in Gedanken das Gespräch durch, das wir führen werden, sobald er wieder da ist. Wie überrascht er sein wird, wenn ich ihm erzähle, dass ich mal in seinem Land gelebt habe, und wenn ich ihm erzähle, wie sehr mir meine Freunde auf den Gewürzmärkten fehlen. Ich werde ihm erzählen, dass ich immer noch Kardamom und Kreuzkümmel im Schrank habe, zum Andenken an damals. Ich könnte ihm sogar sagen, wo ich die Zehenringe gekauft habe, oder meine seidenen Vorhänge, auch die stammen aus Bombay. Mumbai. Und habe ich nicht erst vor wenigen Minuten noch beim Wickeln meines Kleides gedacht, wie einfach dieses Wickeln doch ist im Vergleich zum Sari mit seiner komplizierten Falttechnik. Den Sari habe ich nie kapiert.
»Ma’am?«
»Ja.«
»Ja, geht in Ordnung, Ma’am, ich kann die Frist um eine Woche verlängern.«
»Fabelhaft! Danke schön«, sage ich erleichtert. »Sagen Sie mir, Sir, von wo aus rufen Sie an? Ist es schön sonnig bei Ihnen?«
»Ma’am, ich rufe aus Sacramento an, Ma’am. Ja, Ma’am, das Wetter ist ziemlich schön, kann man sagen.«
»Ach so«, sage ich ernüchtert. Sacramento war eine so enttäuschende Hauptstadt. Völlig charakterlos. Keine Hügel oder Berge; flach wie ein Teller. Jammerschade, dass er nicht aus Indien anrief. Wo ich drauf und dran war, ein paar Abschiedsfloskeln auf Hindi mit ihm auszutauschen. Gott sei Dank habe ich mich nicht zum Narren gemacht. Dennoch, seine Stimme kommt mir bekannt vor. Ich frage mich, ob er ein ehemaliger Student von mir ist? Meine Studenten fehlen mir. Aber wenn ja, warum erkennt er mich dann nicht wieder, an meinem Namen oder an meiner Stimme?«
»Okay, Ma’am«, sagt er, »nur nochmal zur Bestätigung, jetzt hat Ihr Arzt bis zum zwölften Zeit.«
»Mein Arzt?«
»Für den Gesundheitscheck, Ma’am.«
»Den Gesundheitscheck?« Wieder werfe ich einen Blick auf den Brief: Die angehängten Formulare müssen von einem Arzt ausgefüllt werden. Ich blättere sie durch und sehe, dass neben dem Gesundheitscheck und einem psychologischen Gutachten auch ein Sehtest verlangt wird. »Sagen Sie, wie war nochmal Ihr Name? Sanjay? Ist das so üblich, dass das Kraftfahrzeugamt solche Briefe verschickt?«
»Sunil, eigentlich.«
Ich höre eine Spur von Ungeduld heraus, aber welchen Grund hat er denn, genervt zu sein?
»Eigentlich haben wir gar nichts damit zu tun, Ma’am«, fährt er fort. »Das heißt, also, was ich meine, ist, es kommt von der Hauptverwaltung. Also, soweit ich weiß, wird so was gemacht, wenn Sie jemandem, ich sag mal, durch unachtsames oder rücksichtsloses Fahrverhalten aufgefallen sind.«
»Unachtsames Fahrverhalten!«, wiederhole ich, denn seine Syntax ist es, die die Bezeichnung ›unachtsam‹ verdient und nicht mein Fahrstil. »Na ja, kann schon sein, dass ich manchmal etwas zu weit vom Bordstein parke und vielleicht hin und wieder zu dicht am Bordstein, aber das sind doch wohl lässliche Sünden?« Ich zögere, warte auf sein Lachen, und als nichts kommt, spreche ich unerschrocken weiter. »Kann sein, dass ich mein Auto ein-, zweimal beim Anfahren am Berg abgewürgt habe, aber ist so etwas hier in San Francisco nicht gang und gäbe? Mein Wagen hat Schaltgetriebe. Es ist ein altes Auto mit Schaltgetriebe. Es ist ein Sammlerstück, genau genommen.« Aber inzwischen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass er wahrscheinlich keine Ahnung hat, was ein 911 ist, von einem 993 ganz zu schweigen. Wahrscheinlich gehört er zu den Leuten, die von einem Lexus mit goldenen Felgen träumen.
»Gut, Ma’am, kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nein, mein Lieber«, murmele ich. »Nein.« Jetzt ärgere ich mich, dass mir dieses Kosewort herausgerutscht ist, eine Eigenart, die ich mir niemals hatte angewöhnen wollen. Bei einer Freundin habe ich gemerkt, wie alt es sie macht, viel älter als die paar silbernen Strähnen und die Krampfadern, die sie so gern beklagte. Wer einen jungen Mann »mein Lieber« oder »junger Mann« nannte, hörte sich alt an, aber siehe da, nun hatte ich es selbst gesagt, einfach so. »Chouchouter«, flüstere ich, weil mir kein passendes englisches Wort einfällt. Als ich das gleichmäßige Summen in der Leitung höre, geht mir mit Verspätung auf, dass mein kleiner süßer Amerikaner aufgelegt hat. »Arschloch!«, rufe ich und wundere mich selbst über das, was da aus meinem Mund kommt. Längst nicht so schlimm wie mein Gesäusel von vorhin, aber dennoch, mein Vater wäre entsetzt gewesen. Entschuldigend wedle ich mit dem Brief gen Himmel, bevor ich ihn zusammenfalte und zurück auf meinen Schreibtisch lege.