Holly Bourne

Spinster Girls

Was ist schon Liebe?

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Hollys Tipps für einen Roadtrip durch die USA

Danksagung

Über Holly Bourne

Über das Buch

Über Holly Bourne

Holly Bourne, geboren 1986 in England, hat erfolgreich als Journalistin gearbeitet, bevor sie das Schreiben von Jugendbüchern zu ihrem Beruf machte. Mit den Wünschen und Sehnsüchten von Jugendlichen kennt sie sich gut aus, da sie auf einer Ratgeber-Webseite viele Jahre lang Beziehungstipps an junge Leute von 16–25 Jahren gab. ›Was ist schon Liebe?‹ ist der dritte Band der ›Spinster Girls‹-Trilogie um Evie, Amber und Lottie.

 

 

Nina Frey, geboren in Heidelberg, studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel in Hamburg, London und Berlin. Heute lebt sie als freie Übersetzerin in Wien.

Über das Buch

EINIGE VON HOLLYS TIPPS FÜR EINEN ROADTRIP DURCH DIE USA

 

1) Wenn du VegetarierIn bist, fahr nicht nach Texas. Die tun da sogar in die Tomatensuppe Fleisch.

2) Für solch eine Amerikatour ist ein Toyota Yaris nicht das coolste aller Fahrzeuge, aber man spart viele Hundert Dollar Benzingeld.

3) Den Grand Canyon muss man gesehen haben, bevor man sti rbt, auf jeden Fall. Also, einfach hinfahren. Aber unbedingt vor fünf Uhr in der Früh.

4) Du wirst nie in deinem Leben wieder so gut essen wie in New Mexico. Außerdem gibt es dort eine winzige Stadt namens Taos, die so ziemlich der perfekteste Ort ist, an dem ich jemals gewesen bin. Fahr hin und miet dich in einem Earthship ein. Iss im Taos Diner und bestell die Copper John’s Eggs. Wenn du nach Taos fährst und nicht zum Taos Diner gehst und dir keine Copper John’s Eggs bestellst, dann erzähl mir bitt e hinterher nie, dass du eine derart unverzeihliche Dummheit begangen hast.

5) Fahr nicht nach Las Vegas, wenn du nur 30 Dollar zum Ausgeben hast. Dein Spaß dort wird sich in Grenzen halten.

6) Wenn du jemals nach New Orleans kommst, dann verpass auf keinen Fall die »World War II 4D Experience«. Egal, wie besoff en du bist, geh einfach hin.

7) Mach die Nebelwanderung im Yosemite-Nati onalpark vor sieben Uhr morgens. Vergiss die Kamera nicht. Sei dir aber im Klaren darüber, dass deine Kamera einem solchen Grad an Schönheit nie gerecht werden kann.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2016 Holly Bourne

Titel der englischen Originalausgabe: ›How hard can love be?‹

2016 erschienen bei Usborne Publishing Ltd., London

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: dtv / Katharina Netolitzky

 

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eBook-Herstellung im Verlag

 

eBook ISBN 978-3-423-43517-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71815-8

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423435178






Für Connie.

Für die zwei Sommer, die aus mir das gemacht haben, was ich heute bin.

Ich vermisse dich jeden Tag.






Situationen, die nur schiefgehen können:

 

Der übelste Kater der Welt

+

Eine zehnstündige Flugreise

+

Ein Economy-Sitzplatz

+

Eine Körpergröße von gut eins achtzig

Eins

Nicht auf die Kinder kotzen … Bloß nicht auf die Kinder kotzen …

Vor mir in der Boarding-Warteschlange hüpften die kleinen Köpfe auf und ab. Wieder bäumte sich mein Magen auf und ich versuchte, ihn beidhändig zuzudrücken. Wenn ich meine Innereien abwürgte, würden sie sich vielleicht nicht auf die hyperaktiven Kinderköpfe entleeren.

Gefährdete man seine Zulassung zu einem Langstreckenflug, wenn man unschuldige Kinder vollreiherte? Nicht ausgeschlossen.

Warum hatte ich gestern Abend nur diesen letzten Shot getrunken? Warum nur? Warum? WARUM?

Der Flugbegleiter vorne überprüfte ein weiteres Ticket und winkte den Passagier durch. Unter der gnadenlosen Neonbeleuchtung der Abflughalle kroch die Warteschlange voran. Durch die Panoramascheibe sah man das Flugzeug. Es wirkte viel zu klein, um all diese Menschen nach Amerika zu befördern. Weiß war es, wie das Pferd eines edlen Ritters, auf dessen Rücken scharenweise Märchenprinzessinnen gerettet werden. Aber ich war keine Prinzessin und retten konnte ich mich selbst, danke der Nachfrage. Alles, was ich brauchte, um zwischen mir und meiner bösen Stiefmutter einen ozeanbreiten Abstand zu schaffen, war dieses Flugzeug.

Während sich mein Magen wieder meldete, musste ich an unseren Abschied denken …

»Schau dir an, in welchem Zustand sie ist«, hatte meine Stiefmutter Penny gesagt, so laut, dass es auch ja die ganze Abflughalle mitbekam. Wir befanden uns in der nervigen Phase, in der ein allgemeines hektisches Umpacken in durchsichtige Plastiktüten einsetzt, weil auch dem letzten Fluggast klar wird, dass er keine Flüssigkeiten mit an Bord nehmen darf.

»Aber hören kann ich dich durchaus.« Ich verdrehte die Augen, weil ich wusste, wie sie das ärgerte, und exte den Rest meiner Wasserflasche.

Sie ignorierte mich. »Die lassen sie doch so gar nicht ins Flugzeug.«

Verzweifelt sah ich mich nach Dad um: Hilfe! Er unterdrückte ein Lächeln.

»Entspann dich, Penny. Denk an die ganzen betrunkenen Junggesellen, die sie tagtäglich nach Vegas fliegen.«

»Ich bin nicht betrunken!«, protestierte ich und brachte damit zehn Touristengrüppchen zum Stehen und Starren.

Dad lachte und zog mich in seine Arme. Ich klammerte mich an ihm fest, kuschelte mich an seine Schulter, atmete seinen Geruch ein. Das half gegen die Übelkeit.

»Nein, du bist nicht betrunken, was, Puppi? Nur verkatert. Das war ja eine ziemliche Abschiedssause, die du da hattest. Aber riechen tust du schon noch reichlich alkoholisiert …« Er schnupperte auffällig an mir und schob mich weg … »Puh!«

»Ich hab heut früh geduscht.«

Was stimmte. Nur dass ich während der Fahrt zum Flughafen eben auch die Sambuca Shots vom Vorabend ausgeschwitzt hatte.

Dad schloss mich wieder in die Arme. »Wenn das so ist, her mit dir.«

Das hätte ein zärtlicher Moment sein können, wenn Penny nicht dabei gewesen wäre. Sie war fixiert darauf, ja immer mit dabei zu sein – als hätte sie eine Heidenangst davor, ich würde, sobald ich auch nur einen einzigen privaten Moment mit Dad erwischte, ihm umgehend vor Augen führen, was für eine manipulative Ziege sie doch war. Okay, fairerweise muss ich zugeben: Probieren würde ich es bestimmt.

Und dann war da natürlich noch Craig, um den Augenblick zu versauen. Klar, was wäre eine böse Klischeestiefmutter ohne böse Stiefgeschwister im Schlepptau?

Wie aufs Stichwort musterte Craig mich von Kopf bis Fuß und sagte: »Du riechst wie deine Mum.«

Wie konnte er es wagen wie KONNTE ER ES WAGEN wiekonnteereswagen wiekonnteEReswagen? Der blutrote Nebel, den er immer in mir aufsteigen ließ, schwelte sich durch meinen Kater. Ich sah Pünktchen und mein Fuß fuhr automatisch aus und kickte ihn gegen das Schienbein.

Er jaulte auf und brach zusammen – Spitzenshow.

Penny und Dad nahmen sofort die Verteidigungsstellung ein und das totale Chaos brach aus.

»AMBER! DU ENTSCHULDIGST DICH SOFORT, JUNGE DAME

»CRAIG, ALLES IN ORDNUNG? JETZT WEIN DOCH NICHT

»Du bist völlig irre, genau wie sie«, ergänzte Craig vom Boden aus.

Dad hielt mich zurück, als ich mich wieder auf Craig stürzen wollte. »Amber, nein!«

Ich zerrte und versuchte, mich aus Dads Armen freizukämpfen. Penny hatte sich schützend vor ihrem Sohn aufgebaut und feuerte ihre Dämonenblicke auf mich ab. Als hätte ich Craig völlig grundlos angegriffen. Als hätte sie nicht gehört, was er gesagt hatte.

Die Leute schauten. Sicherheitspersonal eingeschlossen. Dad machte beruhigende Laute in mein Ohr, streichelte mir übers Haar und ich brüllte: »Das nimmst du zurück, das nimmst du zurück!«

»Amber, komm schon. Beruhig dich. Sonst lassen sie dich wirklich nicht ins Flugzeug …«

Ich blickte mich um. Ein Typ in Uniform kam auf uns zu. Penny hatte ihn ebenfalls entdeckt. Ich sah die innere Zerrissenheit in ihrem Gesicht – Anschiss für mich um den Preis einer Szene … Sie beschloss, keine Szene zu machen.

»Psst«, machte sie – an uns beide gerichtet.

Craig und ich funkelten einander an, doch wir richteten uns auf und taten unauffällig. Der Sicherheitsmann blieb stehen, musterte uns und ging dann zurück in die Nische, aus der er gekommen war.

Ich seufzte. Mir war so dermaßen übel. Und ich hatte mich von Dad verabschieden wollen – unter vier Augen. Ich warf meine leere Plastikflasche in den dafür vorgesehenen Eimer und mied seinen Blick.

»Entschuldige dich, junge Dame«, verlangte Penny.

Ich zog meine Rucksackriemen fester und war plötzlich so richtig ernsthaft wütend. Auf meine blöde Stiefmutter. Auf meinen noch blöderen Stiefbruder. Und auf Dad. Dafür, dass er Craig nie, wirklich nie dazwischenfunkte …

»Dann soll er sich auch entschuldigen – für das, was er gesagt hat.«

»Wieso? Ich hab’s doch genau so gemeint«, rief Craig hinter Penny hervor. Und wieder musste Dad mich zurückhalten, damit ich mich nicht auf ihn stürzte.

»Wisst ihr was? Leckt mich doch einfach alle am Arsch.« Ich drehte mich um und preschte in Richtung Security-Warteschlange davon, im sicheren Wissen, dass sie mir nicht folgen konnten.

»Amber? AMBER!«, rief Dad.

Ich beachtete ihn nicht und ging einfach weiter.

»Amber, komm schon, sag anständig Tschüss.«

»Anständig Tschüss«, schoss ich über meine Schulter zurück, fädelte mich zwischen den Wartenden ein und zog meine Boardingcard hervor.

Das sollten – für die nächsten sechs Wochen – meine letzten Worte zu ihm gewesen sein.

 

Nicht auf die Kinder kotzen. Nicht auf die Kinder kotzen.

Die beiden Mädchen vor mir in der Schlange waren in seliger Unkenntnis der Kotzgefahr, in der sie schwebten. Sie tauschten rosa Sammelkarten mit Hundewelpen drauf, während ihre Eltern mit ihren Pässen herumstressten und ständig überprüften, ob sie denn auch noch immer in derselben Tasche steckten.

Gott, was war ich wütend auf Dad. Zehn Millionen Prozent jedes einzelnen Tages war ich wütend auf ihn. Denn diese beschissene Flughafenszene war keine Ausnahme gewesen. Sie war nur ein ganz alltägliches Vorkommnis im ewigen Ich-gegen-Craig, Ich-gegen-Penny … und daneben Dad, der auf Teufel komm raus den Frieden wahren wollte, statt sich hinter seine einzige Tochter zu stellen. Ich war so erschöpft vom Kämpfen. Ich war so erschöpft davon, immer außen vor zu bleiben.

Ich war so erschöpft davon, meine Mutter zu vermissen …

Die Einsteigeschlange kroch wieder vorwärts und jeder trottete voran, sein Gepäck mitschleifend. Mein Magen stülpte sich um von den gummiartigen Duty-free-Eiern, die ich still schluchzend im brutal neonbeleuchteten Flughafenrestaurant verzehrt hatte.

Wenn ich mich jetzt bitte nicht übergeben könnte …

Wenn ich bitte einfach normal genug aussehen könnte, um ins Flugzeug zu dürfen …

Dann könnte dieser Sommer losgehen. Ich könnte mit Mum zusammen sein und rausfinden, was falsch gelaufen war und wie ich sie zurücklocken und mich wieder heil fühlen könnte.

Jetzt war die Familie vor mir an der Reihe und die Mädchen witschten zwischen den Elternbeinen durch, fragten die Flugbegleiterinnen, wie hoch denn das Flugzeug flog und wie schnell und ob es an Bord Disneyfilme gab … nicht aber die wichtigste aller Fragen: »Wird uns dieses grüngesichtige Mädchen hinter uns wohl auf die Köpfe reihern?«

Sie wurden durchgewunken, außer Brechweite. Jetzt war ich dran. Ich holte tief Luft, schabte meinen Haarmopp nach hinten und trat vor, um meinen Pass zu überreichen.

Salonfähig aussehen. Salonfähig aussehen. Salonfähig aussehen.

Die Stewardess war so stark geschminkt, dass ich nicht erkennen konnte, wie sie tatsächlich aussah. Ich konzentrierte mich auf ihre grundierungsverkrusteten Wangen, während sie mir meinen roten Reisepass abnahm. Sie lächelte und ihre Wange brach auf.

»Fliegst du zum ersten Mal alleine?« Sie benutzte dieselbe Stimme wie eben bei den Kindern.

Ich fürchtete mich davor, den Mund aufzumachen, deshalb nickte ich bloß.

»Wenn du irgendwas von uns brauchst, kannst du’s mir einfach sagen.«

»Danke«, murmelte ich.

Sie beäugte mich neugierig. »Geht’s dir gut? Du siehst verängstigt aus.«

Ich habe Angst davor, mit dem mörderischsten Kater der Weltgeschichte zu fliegen …

»Ich hab nur ein bisschen Flugangst …« Mir kam ein Geistesblitz. »Ich krieg oft die Reisekrankheit.«

»Du siehst auch etwas angeschlagen aus.«

»Wird schon gut gehen.«

Mir war die perfekte Tarnung eingefallen. Gott sei Dank.

»Sag Bescheid, wenn wir dir irgendwie helfen können. Siebzehn ist noch ziemlich jung für einen unbegleiteten Flug.«

Sie strahlte mich an. Also, wenn ihr mich fragt, gehört eine solche Fröhlichkeit zu derart früher Morgenstunde verboten.

 

Die Kopfschmerzen schlugen zu, kaum dass ich mich auf meinen Fensterplatz gezwängt hatte.

»Aua«, sagte ich laut und erschreckte damit den Riesen, der neben mir saß. Er hatte es kaum zwischen seine Armlehnen geschafft und die Knie hingen ihm, nachdem er sich reingefaltet hatte, praktisch im Gesicht. Meine eigenen langen Beine schmerzten im kaum vorhandenen Fußraum. Ich angelte in meiner Tasche nach einer Ibuprofen, würgte sie trocken herunter und zog mein Handy heraus.

Zwei Nachrichten. Eine von Lottie, eine von Evie. Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte ich.

 

Lottie: Tut mir leid, dass ich dich so abgefüllt habe. War alles nur ein böser Plan, um dich den Sommer über hierzubehalten. Leeeebst du noch?

 

Evie: Lass uns hier nicht alleiiiiiiiiiiiiiiiiin!

 

Mein Lächeln fiel in sich zusammen. Sie würden mir so sehr fehlen!

Ihre Nachrichten ließen mir Szenen der vergangenen Nacht vor Augen treten …

… »MORGEN UM DIESE UHRZEIT BIN ICH IN DER LUFT

Wir waren mit dem Taxi auf den Dovelands Hill gefahren, nachdem der Pub uns rausgeworfen hatte. Das war unser Hügel. Dort waren wir in jener Nacht, in der wir Freundinnen geworden waren, das erste Mal gemeinsam gewesen. Am Gipfel angekommen, stellte ich mich auf die Bank, legte den Kopf in den Nacken und deutete extrem sturzgefährdet in die Tintenschwärze über mir.

Evie schnappte sich meinen Arm, um mich zu stützen.

»Amber, komm da runter. Ich bin viel zu winzig, um dich aufzufangen.«

»AMERIKA, ICH KOMME!!!«

Lottie tanzte ohne Musik auf dem begrasten Abhang unter uns – kreiselte mit ausgebreiteten Armen.

»Amber, du wirst mir so fehlen! Kann ich mich nicht in deinem Koffer zusammenfalten und mitkommen?«, fragte sie und kreiselte, kreiselte, kreiselte, bis sie dumpf auf dem Gras aufschlug und losgackerte.

»Hilfe«, sagte Evie. »Ihr seid beide viel zu besoffen, um von mir allein gebabysittet zu werden. Amber, gibt mir die Hand.«

Noch einmal blickte ich zum Himmel empor, dann stolperte ich in ihre Arme und ließ mich von ihr aufs Gras führen. Dort plumpste ich neben Lottie, die rücklings auf dem Boden lag. Evie seufzte und rollte sich neben uns. Mit aneinandergeschmiegten Köpfen starrten wir gemeinsam in die Höhe.

Die Sterne drehten sich.

»Ich kann euch nur raten, keine Läuse zu haben«, sagte Evie.

»Das kann auch nur dir einfallen«, entgegnete Lottie … und hatte recht.

Ich lachte und sah zu, wie das Universum über mir sich drehte und drehte …

»Ich freu mich so dermaßen auf meine Mum«, sagte ich leise. Mit einem ganz warmen Gefühl im Bauch. »Das wird alles so großartig werden.«

»Wie lange ist es jetzt her?«, fragte Lottie.

»Zwei Jahre.«

Kreisel, kreisel, kreisel.

»Puh, ganz schön lange …«

»Ja, ich weiß …«

Ich schob Gedanken aus meinem Kopf. Gedanken wie: Sie hat dich noch nicht mal zu ihrer Hochzeit eingeladen. Und: Du warst es, die gefragt hat, ob du diesen Sommer zu Besuch kommen kannst, und nicht umgekehrt. Und: Warum musste sie dich verlassen, um gesund zu werden?

Wie immer half mir dabei der Alkohol.

»Sechs ganze Wochen haben wir zusammen«, erklärte ich dem Himmel. »Sechs perfekte Wochen …«

»Vorsicht.« Evies Haare kitzelten mich im Gesicht. »Nichts ist jemals perfekt.«

»Besonders nicht, wenn du in einem Sommercamp arbeitest und von hyperaktiven amerikanischen Kindern umgeben bist«, ergänzte Lottie.

»Jetzt wird mal geschwiegen, ihr Negativorakel.« Ich schloss die Augen und lächelte bei der Vorstellung von Mums Gesicht, wenn sie mich am Flughafen abholen würde …

 

Das Anschnallzeichen leuchtete noch nicht, deshalb konnte ich doch bestimmt noch schnell zurückschreiben.

Ich hab so einen Höllenkater!! Was hab ich hier in diesem Flugzeug zu suchen? Hilfe! Mir brummt der Schädel!

Ich schloss die Augen und lauschte den Flugzeuggeräuschen – dem unregelmäßigen Gepiepse, dem leisen Röhren der Klimaanlage, den Leuten, die höflich-unhöflich fremde Taschen in den Gepäckablagefächern herumschoben. All diese Menschen würden mit mir gemeinsam diese Reise machen. Wir würden zehn Stunden lang zusammen eingepfercht in einer Blechdose durch den Himmel fliegen und uns danach nie wieder über den Weg laufen.

Fliegen war seltsam.

Mein Kopf tat weh.

Wie würde es wirklich sein, Mum wiederzusehen?

Würde sie, also na ja, eine Erklärung liefern?

Mein Kopf tat weh.

Mein Handy fiepte. Doppelt.

 

Lottie: Ich fass es nicht, dass sie dir lebendige Kinder anvertrauen! Amerikanische noch dazu. Werden die alle Hank oder so heißen?

 

Evie: Das wird schon! Denk einfach dran, dass jede spannende Geschichte über Leute unseres Alters in einem Flugzeug beginnt.

 

Ich wollte aber gar keine spannende Geschichte – ich wollte einfach nur Zeit mit meiner Mutter verbringen …

Ich wollte auch die hartnäckige Stimme in meinem Kopf nicht hören, die ständig herumkrähte, dass mit ihr noch nie etwas einfach gewesen war.

Situationen, die nur schiefgehen können:

 

Ein emotionsgeladenes Wiedersehen

+

Eine Mutter und eine Tochter, die nicht so können mit Emotionen

+

Und die sich zwei Jahre nicht gesehen haben

Zwei

Durch irgendeine wundersame Fügung schlief ich im Flugzeug ein. Vielleicht, weil meine Beine das Eingequetschtsein nur besinnungslos ertrugen, vielleicht, weil mein Kater genau wusste, was ich jetzt brauchte. Wie dem auch sei: Ein Geschenk des Himmels ließ mich einschlummern, gleich nach dem Flugzeugbratwurstessen, das wie mühsam rausgepresstes Kinder-Aa ausgesehen hatte.

Als ich aufwachte, ging es mir acht Trillionen Mal besser. Ich gähnte. Ich versuchte, mich zu strecken. Ich rieb mir den schmerzenden Nacken.

Der Brummschädel hatte sich in Luft aufgelöst. Genau wie die rasende Übelkeit. Die Kinder auf dem Flug 105HWSF von London nach San Francisco mussten sich nicht mehr vor meiner Kotze fürchten. Ich fingerte an meinem Sitz herum und zog die Fernbedienung für das Unterhaltungsprogramm heraus. Auf der drückte ich so lange herum, bis der Flugverlauf auf meinem Bildschirm erschien.

Und schwupps war sie wieder da, die Übelkeit.

Jetzt lag ein ganzer Ozean zwischen mir und praktisch jedem, den ich kannte, und das winzige Zeichentrickflugzeug kreuzte über den Nordwesten dieser Riesenfläche namens Amerika.

Der Reisezeitanzeige nach würden wir demnächst landen.

Ich stand so unvermittelt auf, dass meine Fernbedienung am Kabel zurückschnalzte und vom Körper meines hünenhaften Sitznachbarn abprallte.

»Oh, Verzeihung, Pardon. Ich muss mal.«

Ich stürzte regelrecht zu der winzigen Toilettenkabine, verriegelte die Tür hinter mir, lehnte mich dagegen und nahm einen tiefen Atemzug von der chemischblau stinkenden Urinluft. Und gleich noch einen, nachdem sich meine Nase an den stechenden Geruch gewöhnt hatte.

Atmen, Amber, einfach nur atmen … ist doch nur deine Mum. Also die Frau, die dich aus ihrem Körper geboren hat und dich vorbehaltlos liebt … ungeachtet der Tatsache, dass sie über achttausend Kilometer weit weggezogen ist, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, dich mitzunehmen.

Aber das mit dem Auswandern war gar nicht ihre eigene Entscheidung gewesen, oder? Das bekloppte Arschgesicht namens Kevin war es gewesen, mit seinem bekloppten amerikanischen Arschkinn. Er hatte gewusst, wie verletzlich Mum war, und sie einfach mitgenommen, sie so lange gehirngewaschen, bis sie uns verlassen hatte … und außerdem, mal ehrlich, wie unmoralisch ist es bitte, sich an jemanden RANZUMACHEN, den man eigentlich therapieren sollte?

Ich drückte die Spülung und das markerschütternd laute Zischen riss mich aus meiner Wut.

Ich hatte sechs Wochen. Sechs Wochen, um den ganzen Schaden, den er angerichtet hatte, wiedergutzumachen und sie mir zurückzuholen. Sechs Wochen, um rauszufinden, was passiert war, womit ich sie vertrieben hatte.

Als ich mich wieder ausreichend im Griff hatte, um zu meinem Platz zurückzukehren, war es schon zu spät, um noch einen Film anzufangen. Also grub ich in meiner Tasche nach meinem Skizzenbuch. Das Foto von meiner Mutter und mir rutschte zwischen den Seiten heraus und mir in den Schoß. Seit letzter Woche saß ich daran, es abzuzeichnen. Ich nahm es in die Hand und betrachtete es. Beim Anblick ihres Gesichts verzwirbelten sich meine Organe, als spielten sie ein Fadenspiel. Das Foto hatte Dad gemacht, als sie mich das letzte Mal bei ihm besucht hatte. Wir waren im Garten gewesen, den Rosenbusch dahinten erkannte ich, und ich erinnerte mich an den Aufstand, den Penny bei ihrer Ankunft gemacht hatte (»Weiß der Teufel, was dieses Weib in MEINEM Haus zu suchen hat«). Wir lächelten beide in die Kamera, aber ich wusste noch genau, wie elend mir an dem Tag zumute gewesen war. Wie ich nicht hatte aufhören können zu schluchzen, als sie sich verabschiedet hatte. Das war das Mal gewesen, als sie mir gesagt hatte, sie fliege nach Kalifornien. Der Tag, an dem jede Hoffnung, Arschgesicht Kevin würde sie mir nicht wegnehmen, eines elenden, röchelnden Todes gestorben war.

Ist aber kein Problem, hatte sie gesagt. Ich komm einfach ständig zu Besuch.

Doch mittlerweile waren zwei Jahre vergangen, und wer nun zu Besuch kam, war ich … mit einem Koffer, der bis zum Rand vollgestopft war mit Schutzfaktor-50-Blocker, Klamotten fürs Ferienlager und unbeantworteten Fragen.

Ich zog meinen liebsten 2B-Bleistift hervor und tat, was ich immer tat, um die Gedanken zu verscheuchen – ich zeichnete.

 

Die Landung war mehr als holprig. Normalerweise macht mir Fliegen nichts aus, aber als sich das Flugzeug schaukelnd und rüttelnd absenkte und im Grunde eine Bauchlandung auf der Landebahn hinlegte, klammerte ich mich unwillkürlich an Teilen des Hünen fest, wofür ich mich ausschweifend entschuldigte.

»Werden wir sterben?«, fragte ich ihn und grapschte nach seinem überschüssigen Armfleisch. »Warum will uns das Flugzeug umbringen?«

»Das ist der Nebel«, sagte er in schleppendem amerikanischem Tonfall. »San Francisco ist immer zugewuchert mit dem Zeug und das können die Flieger nicht leiden.«

Als wir schließlich heil auf der Landebahn standen, spähte ich durch mein kleines Fenster. Wenigstens das Wetter bereitete mir einen netten Empfang. Überall graue Gräue, mit Nieselregenflecken auf der Scheibe.

Ich wandte mich ihm zu. »Ich dachte, wir wären in Kalifornien! Hier ist das Wetter ja mieser als in England!«

Er lachte. Mit amerikanischem Akzent, falls so was möglich ist. Oder vielleicht war ja jetzt ich diejenige mit dem Akzent. Das ist das Seltsame am Fliegen: Innerhalb von zehn Stunden vertauscht es diejenigen, die den Akzent haben.

»Noch nie den Satz gehört: ›Mein schlimmster Winter war der Sommer, den ich in San Francisco verbracht habe‹?«, fragte er.

Ich schnallte nicht wirklich, was er meinte, lachte aber höflich und blickte wieder aus dem Fenster.

»Wenigstens bleibt mir dann die Sommersprossenexplosion erspart«, murmelte ich.

Nach und nach leerte sich das Flugzeug. Ich verabschiedete mich vom Riesen und dankte ihm für die moralische Unterstützung, dann marschierte ich den längsten Marsch aller Zeiten zur Gepäckausgabe. Dad hatte mich vor den gruseligen amerikanischen Grenzkontrollen gewarnt, und so verdrückte ich mich schnell in einen der hundert verfügbaren »Waschräume«, um jede verbliebene Katerspur wegzuspülen.

 

Die Grenzkontrollen waren wirklich absolut zum Fürchten. Der Typ hatte eine Knarre, eine RICHTIGE KNARRE, und bemerkte meine schlotternden Finger beim Überreichen des Reisepasses. Gereizt schlug er ihn auf, als hätte der Pass seine Mutter beleidigt oder so. Er musterte mein Foto so intensiv, dass ich rot anlief. Es war ein dermaßen mieses Bild. Ich hatte es letztes Jahr während der Hitzewelle machen lassen und mein Haar nahm fast den ganzen Raum ein.

»Wie lang bleiben Sie?«, bellte er.

»Äh … sechs Wochen?«

Er sah zu mir hoch, mit zornigem Blick. Ich wich tatsächlich einen Schritt zurück.

»Warum so lang?«

Ich war viel zu eingeschüchtert, um irgendwas Sarkastisches zu entgegnen wie: »Na ja, hab gedacht, ihr seid so reizend hier. Muss mich verhört haben.« Ich schielte runter auf seine Knarre. Besser gesagt: auf seine KNARREN. Plural. »Ähem, ich arbeite in einem Sommercamp?«

Seine dunklen Augen wurden schmal. »Haben Sie ein Arbeitsvisum?«

»Nein …«, sagte ich, und er machte Anstalten, den roten Knopf zu drücken. »Moment! Ja, mein ich. Na ja, also auch nein. Ich arbeite da nicht offiziell, weil ich sowieso erst siebzehn bin. Meine Mum hat so einen amerikanischen Typen geheiratet, dem ein Sommercamp gehört. Ich wohn bei ihnen, weil ich meine Mum besuche … und helf im Camp aus, aber nicht offiziell oder so … ich hab so ein 90-Tage-Visums-Waiver-Dingsda. Hier.« Ich zog die Fotokopie raus, von der Dad geschworen hatte, dass ich sie brauchen würde.

Er antwortete nicht, sondern hackte nur in seine Tastatur. Hatte ich es schon in den Sand gesetzt? Würden sie mich zurückschicken? Roch ich noch nach Sambuca?

»Hierherschauen, bitte.« Er schubste mich vor sein kleines schwarzes Ding. Vor meinem Augapfel glühte es rot auf, dann folgte ein Klickgeräusch.

Moment mal. Hatten die mir da gerade die Netzhaut gescannt? War das legal? Steckte ich so tief in der Tinte? Mir wummerte das Herz. Ich sah mich nach anderen Einreisenden um, die gerade die Augäpfel abfotografiert bekamen. Doch abgesehen von einer geradezu beängstigenden Zurschaustellung von Bauchtaschen gab es keine Auffälligkeiten.

Gerade als ich so richtig durchdrehen wollte, brach der Sicherheitstyp in breites Grinsen aus und reichte mir meinen Pass.

»Willkommen in Amerika«, strahlte er. »Hoffe, ihr habt alle viel Spaß miteinander.«

 

Immer noch wie betäubt, taumelte ich in die Ankunftshalle. Warum hatten die meinen Augapfel abgelichtet? Verletzte das nicht meine Bürgerrechte? Was machten die jetzt mit meinem Augapfelfoto? Es in irgendeiner Datenbank speichern? Lottie würde an die Decke gehen, wenn sie das hörte. Sie hatte es ständig vom Überwachungsstaat und von Orwell und 1984.

»Amber? Amber!«

Und da war plötzlich Mum. Rannte auf mich zu. Ihr Haar, genauso orangerot wie meines, flatterte hinter ihr her. Meine Brust füllte sich mit genau der Luft, die mir seit zwei Jahren gefehlt hatte.

Jetzt stand sie vor mir.

»Amber«, flüsterte sie und zog mich in eine Umarmung.

Ich begann zu weinen. Ich drückte sie richtig fest und roch ihren Geruch, wie Rosen. Sie trug immer noch dasselbe Parfüm. Meine Tasche stand auf dem Boden und wir hatten ein Nadelöhr im Ankunftsbereich verursacht, aber das war mir schnurz.

Schließlich ließen wir einander los.

»Komm mit.« Mum nahm meinen Koffer. Sie einfach weggehen zu sehen, machte meine Brust wieder ganz eng, obwohl ich ihr folgen konnte. Dann wurde mir bewusst, was sie nicht gesagt hatte: »Du hast mir gefehlt …«

Sie drehte sich zu mir um. »Du musst völlig am Ende sein. Ich hab uns in einem Motel eingemietet, damit wir noch ein bisschen Zeit für uns haben, bevor wir zum Camp fahren. Lust auf Sightseeing in San Francisco?«

»Klingt … toll.«

Wir bahnten uns Koffer rollend unseren Weg zu einem Shuttle, der uns zu einem mehrstöckigen Parkhaus wuschte. Unglaublich, wie viel Platz zwischen den einzelnen Orten lag, besonders im Vergleich zur Stapelarchitektur von Heathrow. Mums Wagen stand auf dem obersten Parkdeck, und als wir aus dem Shuttle stiegen, schlotterte ich im Nebel.

»Ich dachte, in Kalifornien soll’s so heiß sein?«, witzelte ich und machte den Reißverschluss meines Kapuzenpullis zu.

Mum lächelte. Mein Lächeln. Wir hatten das gleiche Lächeln. Das hatte ich vergessen. Sie wiederzusehen fühlte sich seltsam an, ich konnte mich einfach nicht an ihr Gesicht gewöhnen. Als wäre sie eine Fremde. Aber sie war keine Fremde – sie war meine Mum.

»Ist es auch, nur eben in San Fran nicht. Wart nur ab, bis du oben in meinen Bergen bist. Da ist es so heiß, dass du für kalten Nebel beten wirst.«

Wir gingen zwischen den Autoreihen hindurch und blieben unerwartet vor einem riesigen roten Monstertruck stehen, mit gigantischen Reifen und abgedunkelten Scheiben.

Warum sagte Mum »San Fran«? Wer sagte überhaupt »San Fran«? Und warum war sie so gelassen? Meine sämtlichen Innereien verknoteten sich vor in mich reingefressenen Gefühlen.

»Da sind wir.« Sie entriegelte die Tür mit einer Fernbedienung.

Einer Fernbedienung?! In England hatte sie einen ramponierten Mini mit kaputter Beifahrertür gefahren. An den Wochenenden, an denen sie mich hatte – jedenfalls an denen, an denen sie dran dachte und tatsächlich aufkreuzte –, hatte sie ihre Ankunft kundgetan, indem sie vor Dads Haus auf die schrottige Hupe gedrückt hatte, um Penny zu ärgern. Und ich hatte jedes Mal über den Fahrersitz klettern müssen, um raus- oder reinzukommen.

»Da braucht man ja eine Leiter zum Einsteigen«, scherzte ich in der Hoffnung, meine Mum würde die Zwischentöne meiner »Witzigkeit« raushören.

Tat sie nicht.

»Hey, du bist so groß wie ich. Da kommst du locker rein.«

Ich hievte mich auf den Beifahrersitz, während Mum mein Zeug hinten reinwarf. Ich durchwühlte meine Tasche nach dem Geschenk, das ich für sie besorgt hatte, und hielt es in der Hand, als sie neben mir einstieg.

Sie erspähte die Schachtel im Geschenkpapier.

»Ist die für mich?«, fragte sie, als ich sie ihr vorsichtig entgegenhielt.

Ich nickte. Plötzlich komplett nervös, voller Hoffnung, dass sie es mögen würde … es begreifen.

»Ja, na so was, Süße, das wäre doch nicht nötig gewesen.«

Sie nahm das Geschenk und packte es vorsichtig aus, ohne das Papier zu zerreißen, indem sie ganz zart den Tesafilm lockerte. Sie zog eine kleine Schmuckschachtel heraus und klappte den Deckel hoch. Mir blieb fast das Herz stehen.

»Oh, wow, Amber, wie wunderhübsch!«

»Das sind die Heiligtümer des Todes!«, sagte ich, weil ich mich nicht mehr beherrschen konnte.

»Ach ja, natürlich.« Sie zog die glänzende Silberkette heraus und wickelte sie sich um den Finger, um den dreieckigen Anhänger zu mustern. Ich war so stolz auf mich – und auch ein bisschen neidisch, weil ich nicht selbst einen hatte. Mein ganzes Geld war für ihren draufgegangen.

»Ich hab die Harry-Potter-Studios besichtigt«, erklärte ich. »Das ist unfassbar super da, das müsstest du dir echt mal anschauen. Egal, die Kette gab’s dort im Andenkenshop. Das ist die offizielle. Mit JKR-Gütesiegel. Gefällt sie dir?«

»Oh ja. Die ist wunderschön. Ich zieh sie gleich an.«

Was sie auch tat – aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr die rechte Begeisterung fehlte … ich hatte buchstäblich laut aufgequietscht, als ich die Kette im Laden entdeckt hatte. Ich hatte buchstäblich die ganze Besichtigungstour über gequietscht. Mum war es gewesen, die mir in meiner Kindheit die Bücher vorgelesen hatte. Sie hatte sich neben mir auf mein Bett gekauert und mich weit über meine Schlafenszeit hinaus wach gehalten, um mit mir unsere sämtlichen Lieblingsfiguren durchzusprechen. Warum quietschte sie nicht? Warum ließ sie einfach den Motor an?

Das breite Grinsen klebte mir immer noch im Gesicht, als ich einen neuen Versuch startete. »Weißt du noch, als du bei meiner Geburtstagsparty allen mit Schminke das Dunkle Mal auf den Arm gemalt hast? Und als dann Dingsdas Mutter – die Mutter von Keira – völlig durchgedreht ist?«

Ein schmales Lächeln mühte sich über Mums Gesicht, aber es reichte nicht aus. Oder vielleicht las ich auch einfach zu viel hinein.

»Ja, weiß ich noch«, sagte sie, aber sie fügte der Geschichte nichts hinzu. Blinkte nur links, um aus dem Parkhaus rauszufahren. Vielleicht war sie einfach müde … daran lag’s wohl.

Bald fuhren wir stadtwärts, auf einer Autobahn, auf der lauter Riesenkutschen wie unsere unterwegs waren. Mum lenkte und sabbelte.

»Ich freu mich so, dass du beim Camp dabei bist, Amber. Die werden dort alle so begeistert von dir sein! Kevin redet von nichts anderem mehr. Ich kann’s kaum erwarten, dass du ihn richtig kennenlernst. Wir haben noch ein paar Tage, bevor die Kinder kommen, und dann wird’s echt hektisch …«

»Mum?«

»Ja, Süße?« Sie wandte ihren Blick von der Straße und musterte mich aus dem Augenwinkel.

»Du hast einen … amerikanischen Akzent.«

Sie berührte geistesabwesend ihren Hals. »Hab ich das?«

»Ja, echt.«

»Das ist ja schräg. Hier merkt immer jeder gleich, dass ich aus England bin.«

»Das liegt bestimmt an deiner superbleichen Haut und den Sommersprossen, die du mir netterweise vererbt hast.« Ich lächelte.

»Nein, es muss an meinem Akzent liegen.« Sie schaute wieder nach vorn. »Ständig heißt’s überall: ›Ich liebe deinen Akzent!‹«

Ich liebte ihren Akzent kein bisschen.

Unter uns breitete sich die Großstadt aus, Teile davon bohrten sich durch die dicke Nebelschicht. Ich fühlte nicht die Spur von Müdigkeit oder Jetlag, obwohl es nach meiner Zeit drei Uhr in der Früh war. Das Nickerchen im Flugzeug brachte mich über die Runden. Ich reckte mich auf meinem Sitz in der Hoffnung, einen Blick auf die berühmte Golden Gate Bridge zu erhaschen. Doch es gab nichts als Nebel und ein gelegentliches Aufblitzen von Orange.

»Ich seh null«, grummelte ich.

»Willkommen in San Fran.«

Schon wieder San Fran.

Wir erreichten die Innenstadt und stellten das Plaudern ein, damit Mum sich aufs Fahren konzentrieren konnte. Wir rumpelten steile Hügel runter, teilweise in geradezu irrwitzigen Serpentinen, und ratterten über metallene Straßenbahnschienen. Ich starrte aus dem Fenster, wollte nichts verpassen, alles war mir so fremd. Die Häuser waren in Farben gestrichen, die man sich normalerweise in Eiswaffeln schaufeln lässt … Pistazie, Kirschsorbet, Zitrone …

Mama deutete nach links in eine dunkle Straße mit hohen, dicht gedrängten Häusern.

»Da arbeite ich ehrenamtlich in dem Zentrum«, sagte sie. »Hab ich dir von erzählt, weißt du noch?«

»Jepp, weiß ich.« In so einem Zentrum hatte sie das fürchterliche Arschkinn kennengelernt. In einem englischen Ableger. Würde mir wohl kaum entfallen.

»Gleich sind wir da.«

Mum blinkte rechts und sauste in eine Tiefgarage hinunter. Sie stellte den Motor ab und zog die Handbremse an.

»Bitte sehr!«, sagte sie mit breitem Lächeln. »Dann schaffen wir mal dein Gepäck ins Zimmer und gehen essen. Du musst ja am Verhungern sein nach dem Flugzeugfraß.«

Wir rollten mein Zeug in die Motelrezeption und Mum gab unsere Namen an. Mir tat das Herz ein bisschen weh (oder vielmehr ganz schön), als sie ihren neuen Nachnamen verwendete, der nicht der meine war.

»Willkommen im Cow Hollow«, strahlte die Empfangsdame, als freute sie sich ganz aufrichtig, dass wir da waren. »Wow, ich liebe euren Akzent! Seid ihr aus England?«

Wir nickten und nahmen unsere Schlüssel.

Vielleicht meldete sich langsam doch der Jetlag, denn so richtig echt fühlte es sich nicht an, als wir uns auf der Suche nach unserem Zimmer durch endlose Gänge wanden und schließlich die Tür zum größten Hotelzimmer öffneten, das ich jemals gesehen hatte. Ich ließ mich auf eines der königreichgroßen Betten fallen, ohne dass mein langer Körper es auch nur ansatzweise ausgefüllt hätte. Mum saß am Schreibtisch und lächelte mir zu.

»Müde, Darling?«

»Darling« hatte sie mich früher auch nie genannt … Noch mehr Amerika.

Ich drehte mich auf den Bauch und versank in der weichen Matratze. Auf einmal hatte ich schreckliches, entsetzliches Heimweh. Die Euphorie des Wiedersehens hatte ihren Höhepunkt überschritten und wich nun schwelender Verwirrung und einem Gefühl des … Verlorenseins.

Ich kannte diese Frau da vor mir gar nicht. Nicht wirklich. Ich kannte diese Stadt nicht. Dieses Land, das meine Mutter mir vorgezogen hatte.

»Alles gut.« Ich langte nach dem Vorhang und zog ihn auf. Der Nebel draußen hing immer noch träge herum und ließ die Autos auf der Hauptstraße ganz verschwommen aussehen. Hören konnte ich sie auch nicht, die Fenster mussten ziemlich schalldicht sein. »Ich hab im Flugzeug geschlafen.«

»Hunger? Gegenüber ist ein toller Laden. Amerikanischer geht’s nicht.«

Tatsächlich lechzte ich eher nach einer Tasse Tee und einem Marmite-Toast als nach einem USA-Festmahl, aber ich wollte unser Wiedersehen nicht durch mangelnden Enthusiasmus verderben.

Also ließ ich den Vorhang sinken, blickte in das fremde Gesicht, das zur Hälfte auch meines war, und rang mir ein Lächeln ab.

»Lecker. Klingt toll.«

Situationen, die nur schiefgehen können:

 

Small Talk

+

Der größte Fleischkloß, den die Welt je gesehen hat

Drei

»Mum, das ist ja, als ob hier drinnen jemand Amerika ausgekotzt hätte.«

Ich drückte mich an einer leuchtenden Jukebox vorbei. Der Diner sah aus wie der Brutkasten, dem Grease entsprungen war. Die Kellnerinnen trugen Pseudo-Fifties-Frisuren mit süßen Schürzlein, und wohin ich auch blickte, starrte mir Elvis aus einem gerahmten Foto entgegen. Die Kunden thronten auf glänzenden Barhockern an einem hohen weißen Tresen und schlürften Riesenmilkshakes mit Cocktailkirschdeko.

Zum ersten Mal seit meiner Ankunft lachte Mum und fragte nach einem Zweiertisch. Unsere Kellnerin führte uns doch tatsächlich zu einer richtigen Nische und reichte uns Speisekarten, die so groß waren, dass ich dahinter mein Gesicht samt Haaren verstecken konnte.

Ich konnte einfach nicht aufhören, Mum Blicke zuzuwerfen, als wäre sie mein Schulschwarm oder so. Ich linste über die Speisekarte, die ich vorgeblich studierte. Ihr Haar lag ordentlich auf einer Seite, während sie gelassen die Karte durchging, offensichtlich ganz ohne sprudelnde Emotionen unterdrücken zu müssen – wie ich. Sie wirkte so gesund. Schlanker, weniger aufgedunsen. Ihre Kleider sahen sauber und neu aus, was bei einer Mum wie meiner durchaus erwähnenswert war. Sie trug sogar einen schmalen Gürtel, der ihr langes weißes Shirt zusammenhielt … Die schmuddeligen Jogginghosen, in denen sie mich immer abgeholt hatte, waren Geschichte, genau wie der schale Geruch, kaschiert durch billiges Parfüm …

»Was nimmst du, Darling?«

Ich brachte einen Blick in die Speisekarte zustande. »Keine Ahnung. Vielleicht den Pink Lady Burger?«

»Mmmm. Mjamm. Jetzt bist du in Amerika.«

Die Kellnerin kam herbeigeschlappt, als wisse sie, dass wir gewählt hatten.

»Was kann ich euch bringen?« Sie hob ihren Block.

»Wir nehmen einen Pink Lady Burger«, sagte Mum. »Und einen Milkshake – Amber, möchtest du einen Milkshake? Der mit Erdbeergeschmack ist gut.«

Ich nickte stumm.

»Und für mich den Obstsalat …« Sie gab die Speisekarten zurück.

»Einen Obstsalat, sonst nichts?«, fragte ich. »Ich bestell quasi eine halbe Kuh und du knabberst ein Stück Wassermelone?«

»Ach, ich esse eigentlich gar kein Fleisch mehr. Aber du, lass es dir schmecken.«

»Wie, du isst kein Fleisch mehr? Du hast doch immer Fleisch gegessen.«

Mama lächelte ein schmales Lächeln, das mir nicht gefiel.

»Nun, inzwischen nicht mehr. Tut kaum jemand in San Fran. Ich wollte dich eigentlich in dieses Rohkostrestaurant mitnehmen, aber ich wusste nicht, wie sehr du auf so was stehst …«

Sie ließ den Satz in der Luft hängen und die Jukebox sprang um auf einen anderen Song – auf den, zu dem John Travolta und Uma Thurman in Pulp Fiction tanzen. Evie hatte uns zwecks »Fortbildung« zum Anschauen verdonnert.

Ich konnte es einfach nicht fassen, dass Mum VEGETARIERIN sein sollte. Seit wann? Sonntags hatte sie immer den sagenhaftesten Braten fabriziert – Lamm mit ihrer Spezial-Minzsoße. Na ja, nicht jeden Sonntag. Besonders nicht an den Sonntagen nach ihrem Krankenhausaufenthalt.

Das Essen wurde serviert und mein Witz über die halbe Kuh gerann zur simplen Tatsachenfeststellung. Turmgleich erhob sich der Burger auf meinem Teller. Er reichte mir fast bis ans Kinn, umgeben von einem kaum weniger hohen Pommesgebirge. Ich nahm einen Riesenbissen, ohne überhaupt zum Fleisch vorzustoßen. Mum stocherte elegant an einem Weinträublein herum und ich zuckte innerlich zusammen. Alles war so anders. Damit hatte ich nicht gerechnet, absolut nicht.

»Du freust du dich also drauf, mit den Kindern Kunst zu machen?«

Ich nickte, obwohl ich noch keine großen Gedanken daran verschwendet hatte. Aber ich wusste, dass sie das wollte. Arschgesicht Kevin hatte gemeint, eine Bedingung für meinen Aufenthalt wäre, dass ich »meinen Beitrag leisten« würde zum Supi-dupi-Sommercamp, das er gleich nach der Hochzeit gekauft hatte, und Kunstunterricht schien bei mir das Naheliegendste. Mum war es gewesen, die mich zur Kunst gebracht hatte, als ich fast noch ein Kleinkind gewesen war, und ich hatte mich daran geklammert wie an eine Droge, während sie sich an … na ja, andere Dinge geklammert hatte …

»Aber die Kinder sind nicht wie Craig, oder?«

Mama lachte scharf und ließ beinah die Gabel fallen.

»Nein. Oh Gott, nein … ’tschuldigung, darüber hätt ich nicht lachen sollen.« Wir lächelten einander verschwörerisch an. »Ist er immer noch so … schlimm?«, fragte sie.

Ich dachte an seine Flughafenbemerkung.

»Wenn nicht noch schlimmer …«

Plötzlich wollte ich, dass sie sich schuldig fühlte – obwohl sie für Craig nichts konnte. An ihm war Penny schuld. Und an Penny war Dad schuld. Weil er Mum gegen eine Laura-Ashley-tragende, Kuchen backende, mit Perlenketten behängte Antimutter eingetauscht hatte.

Aber Mum hatte mich mit ihnen sitzen lassen … mich in meinem Haus ersticken lassen. In einer Wolke von Pennys Chanel No. 5, ohne jede Rückendeckung. Früher waren mir wenigstens die Wochenenden mit ihr geblieben, jetzt hatte ich nichts mehr.

Mum wechselte taktvoll das Thema und auch das war etwas ganz Neues. Früher hatten wir durchgängig die Schlechtigkeiten von Craig und Penny durchgehechelt, hatten uns an den gemeinsamen Wochenenden die Mäuler zerrissen und miteinander rumgekichert, mehr wie verschworene Schwestern als wie Mutter und Tochter.

»Erzähl mir doch mal was von der Schule. Wie liefen denn die Prüfungen vor den Sommerferien?«

»Ganz gut, glaub ich«, quetschte ich zwischen dem Rind hervor. »Die Ergebnisse krieg ich erst, wenn ich wieder in England bin. Es lief okay, aber für die Kunstakademie kommt’s ja hauptsächlich auf meine Mappe an. Ich bin froh, dass ich kein Gemeinschaftskunde mehr habe.«

»Und wie sieht’s mit Freundinnen aus? Mit wem hängst du momentan so ab?«

Ich schluckte und grinste. »Ich hab da zwei Mädchen, mit denen ich sehr eng bin, Evie und Lottie. Die hab ich Anfang des Schuljahrs kennengelernt und wir haben uns gleich total gemocht. Evie ist … na ja, sie hat’s mit den Nerven …« Ich verspürte einen tiefen Stich von Traurigkeit, wie immer, wenn ich an Evie dachte. Sie hatte eine Zwangsstörung und letztes Jahr einen heftigen Rückfall gehabt. Aber mittlerweile ging es ihr besser … sofern das bei einer Zwangsstörung möglich war. »Aber sie ist so unglaublich lustig, und so richtig schlau und kennt sich total mit Filmen aus. Und redet fast immer wie eine Oma daher. Echt wahr, bei meiner Abschiedsparty hat sie ernsthaft ›Gottchen!‹ gesagt.«

»Die haben dir eine Abschiedsparty geschmissen? Das ist ja mega.«

Mega. Mich schauderte.

»Ja, war’s auch.« Wie besoffen ich gewesen war, verschwieg ich lieber. »Und die andere ist Lottie. Die ist echt ein Genie, aber sie will keins sein. Sie will nach Cambridge und Premierministerin werden, aber sie benimmt sich wie ein Hippie und zieht sich auch so an, mit Spitzen und Häkelzeugs und so. Sie ist ständig dabei, gegen irgendwas zu protestieren. Sie würde dir gefallen.«

Mum schlürfte an ihrem Milchshake. »Toll, dass du eine Freundin hast, die sich engagiert.«

Ein warmes, rindfleischiges Gefühl machte sich in meinem Bauch breit.

»Wir drei haben eine Art Club gegründet. Einen feministischen Club, wo wir uns treffen und über Frauenrechte diskutieren. Wir setzen uns auch für Sachen ein. Wir haben’s zum Beispiel geschafft, dass ein grässlicher Vergewaltigungssong aus der Schuljukebox geflogen ist.«

Meine Mum setzte ihren Milchshake ab.

»Ernsthaft?« Ihre Mundwinkel zuckten aufwärts.

»Ernsthaft.« Stolz blähte sich in mir auf. »Wir nennen uns die ›Spinster Girls‹. Wir haben den Begriff genommen und die Bedeutung auf den Kopf gestellt.«

Mum sah mich an, sah mich richtig an. Sie langte über den Tisch und nahm meine Hand. »Das macht mich so stolz, Darling.«

Ich badete in ihrem Blick. Es fühlte sich gut an, diese … Wertschätzung von ihrer Seite. Dad stand meinen ganzen Spinster-Girl-Aktivitäten etwas ratlos gegenüber. Nicht sehr überraschend, wo er doch Penny geheiratet hatte, die halb Mensch, halb Kernseife war. Einmal hatte ich doch tatsächlich mitgehört, wie sie Dad versichert hatte, mein Feminismus sei »eine Phase«.

»Also«, sagte Mum und schluckte eine weitere Weintraube. »Dann verrat mir doch mal, ob’s in England irgendwelche besonderen Jungs gibt, von denen ich wissen sollte.«

Ich legte die Gabel ab. »Mum!«

»Was denn?«

»Da erzähl ich dir gerade von meinen Wahnsinnsfeminismusaktivitäten und du untergräbst alles mit der Frage, ob ich denn einen Freund habe.«

Sie lächelte. »Komm schon, ich bin deine Mutter. Die Frage gehört zu meinem Job.«

Es gehört auch zu deinem Job, dein Kind nicht zu verlassen …

Ich setzte den Burger ab, weil meine Nackenmuskeln sich so verspannten.

Versau es nicht versau es nicht.

»Tja, nein, da ist niemand. Momentan nicht.«

»Keiner gut genug für dich?«

Noch mehr Nackenmuskelkrämpfe.

»Nein, die sind alle noch so kindisch.«

Ich konnte es ihr nicht sagen, nicht die volle Wahrheit. Dass Jungs einfach … nicht auf mich standen. Also wirklich gar keiner, noch nie. Besonders im Vergleich zu meinen Freundinnen. Sogar als Evie ihren Rückfall gehabt hatte, waren ihr in der Schule die Jungs nachgestiegen. Ich meine, ich habe lieber keine Verehrer als eine Zwangsstörung … aber trotzdem … so gar nicht beachtet zu werden, ist schon eine ziemliche Meisterleistung. Und Lottie, na ja, die wirkte auf Kerle wie Katzenminze auf Katzen. Mir war klar, dass ich nicht komplett hässlich war … nur einfach sehr auffällig. Oder »einschüchternd«, wie ich schon aus mehreren Mündern gehört hatte. Ich hatte immer das Gefühl, als wären meine wütenden Feminismus-Predigten weniger mitreißend, weil ich groß und rothaarig und weniger hübsch bin – während Lottie und Evie mit ihren Reden nur so durchmarschierten. Und klar, natürlich wollte ich all das Wichtige, was mich ausmachte, nicht einfach über Bord werfen, nur um auf einer Party befummelt zu werden … aber bisher hatte ich noch nicht mal wen geküsst und das machte mir schon Sorgen.

Doch ich wollte nicht, dass Mum von alldem wusste. Ich wollte ihr nicht noch mehr Beweismaterial dafür liefern, wie unliebenswert ich war, weil ich Angst hatte, dass es auch sie abstoßen würde …

»Mach dir keine Sorgen.« Sie spießte zwei Erdbeeren auf. »Im Camp gibt’s jede Menge Jungs.«

»Ich bin aber nicht hier, um Jungs kennenzulernen, sondern um den Sommer mit dir zu verbringen!«

»Also, dafür bin ich viel zu beschäftigt, du wirst dir schon Freunde suchen müssen.«

Zu beschäftigt? Beschäftigt? Die Riesenmenge Fleisch in meinem Bauch verklumpte sich und wurde schwer. Ich spürte, wie Grauen mich durchsickerte … War das schon eine erste Ausrede, um mich hängen zu lassen?

Nein, Amber … nein … nicht zu viel reinlesen …

Ich verschränkte die Arme. »MÜSSEN tu ich gar nichts.«

»Komm schon, Amber, sei nicht so.«

Wie, so? Wie ich selbst? Mein normales rotziges Ich? Das Ich, das sie nicht kannte? Nicht wirklich. Seit zwei Jahren nicht mehr.