Über das Buch

Ein neues Abenteuer für Jake Turner

Jake und seine Schatzjäger-Familie müssen sich verstecken – vor der internationalen Polizei, aber auch vor der Schlangenfrau und ihrer geheimen Organisation. Doch Jake hält das untätige Herumsitzen nicht länger aus. Prompt tappt er in eine Falle. Und damit hat die Schlangenfrau ihn am Haken. Sie zwingt Jake und seine Familie, das Grab des Azteken-Gotts Quetzalcoatl im gefährlichen Dschungel von Honduras zu finden – und zwar bevor ihnen jemand zuvorkommt!

 

 

 

 

Für Jago, den coolsten Sturmtruppler der Welt

Über Rob Lloyd Jones

Als Kind wollte Rob Lloyd Jones immer Indiana Jones werden. Deswegen studierte er Ägyptologie und Archäologie. Bei seiner Teilnahme an verschiedenen Ausgrabungen stieß er auf allerhand spannende Geschichten, die ihn unter anderen zur Buchreihe JAKE TURNER inspirierten. Außerdem ist er der Autor zahlreicher Sachbücher. Rob Lloyd Jones lebt in Sussex /England.

1

Ich nahm einen tiefen Atemzug, hielt die Luft an und trat hinaus in die Dunkelheit.

»Nachtsicht!«

Die Einstellung meiner Smartbrille wechselte zu grobkörnig-grün und ich erkannte, dass die Granitwände um mich herum gewölbt waren. Ich befand mich in einem Geheimgang, tief unter einem fünftausend Jahre alten Tempel … oder einer Pyramide. Einer uralten Kultstätte jedenfalls. Okay, ich hatte nicht wirklich eine Ahnung, was das hier war. Ich hatte bei dem Briefing vor der Mission nicht richtig zugehört, weil ich so dringend pinkeln musste. Aber der Ort war cool, so viel stand fest.

Ich spürte ein Klopfen auf der Schulter: drei Mal – das Zeichen, stehen zu bleiben. Pan, meiner Zwillingsschwester, war etwas aufgefallen, jedenfalls huschten digitale Informationen über die Gläser ihrer Smartbrille. Die fahl leuchtenden Buchstaben ließen ihre Wangen noch bleicher erscheinen, als sie eh schon waren.

»Sami?«, fragte sie.

Klar und deutlich meldete sich eine Stimme. Die Smartbrillen übertrugen auch Schallwellen, das funktionierte mithilfe von … Okay, das Technik-Briefing hatte ich auch verpasst. Auf jeden Fall waren es absolute Hightech-Geräte. Und die Stimme, die wir hörten, war die des Brillenerfinders, Dr. Sami Fazri, Computergenie und Ausrüster der besten und gefragtesten Schatzjäger weltweit.

Die besten und gefragtesten Schatzjäger weltweit, das waren wir. Cool, was?

»Was gibt’s?«, fragte Sami.

»Hier sind Inschriften.« Pan ging in die Hocke und fuhr mit einem behandschuhten Finger über die Gravuren, eine Reihe von Linien und schrägen Strichen am unteren Ende der Wand. Für mich sah das Ganze so aus, als hätte ein Kleinkind den Stein mit einem Messer attackiert. »Ich glaube, das sind akkadische Zeichen«, fuhr sie fort. »Ich mach mal ein Foto. Schickst du es Mum zum Übersetzen?«

Pan beugte sich vor und blinzelte dreimal. Ihre Brille erkannte den Befehl und schoss ein hochauflösendes Blitzlichtfoto von der Inschrift.

»Ist angekommen«, bestätigte Sami. »Aber deine Mutter ist nicht zufrieden damit.«

»Du kennst sie länger als wir, Sami. Hast du sie jemals zufrieden erlebt?«, fragte ich.

»Ich kann dich hören, Jake«, schoss eine zweite Stimme in mein Ohr. »Und nur ganz nebenbei: Ich bin nicht eure Übersetzungs-Assistentin.«

»Mum, kannst du die Inschrift jetzt lesen oder nicht?«, fragte Pan.

»Wieso kannst du das nicht?«

»Weil ich das Akkadische nicht beherrsche.«

Na ja, das stimmte nicht ganz. In den paar Monaten, in denen unsere Eltern uns nun schon zu Schatzjägern ausbildeten, hatte Pan gleich mehrere alte Sprachen gelernt. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie schon über das Akkadische, eine Sprache aus dem Mittleren Osten, habe reden hören. Meine Schwester ist ein Genie – und das meine ich so, wie ich es sage. Sie hat ein fotografisches Gedächtnis und entsetzliche Stimmungsschwankungen. Aber okay, wahrscheinlich verstand sie tatsächlich noch nicht ausreichend Akkadisch, denn sonst hätte sie Mum niemals um Hilfe gebeten. Das tat sie nämlich nur im alleräußersten Notfall.

Mum seufzte betont laut, damit wir es auch ja hörten.

»Erstens: Die Inschrift ist sumerisch, nicht akkadisch«, sagte sie. »Dir sind offenbar die fehlenden Präfixe bei den Stammwörtern mit drei Konsonanten entgangen.«

Pans Hände ballten sich zu Fäusten und ich wusste, dass sie sich gerade schwer beherrschen musste, um ihren Frust nicht laut rauszuschreien. Ich tippte ihr zweimal kurz auf die Schulter – ein Zeichen zwischen uns beiden, das so viel bedeutete wie: Egal, runterschlucken, weitermachen.

»Jane«, warf Sami ein, »Pan ist keine Expertin für Alte Sprachen wie du.«

»Deswegen ist die Inschrift trotzdem sumerisch und nicht akkadisch«, beharrte Mum. »Also, was sagt euch das?«

»Dass ihr zwei, du und Dad, zu viel Zeit in Bibliotheken verbracht habt«, stellte ich fest.

»Nein, Jake«, entgegnete Pan.

Sie nahm langsam Fahrt auf. Meiner Schwester war nur selten anzumerken, wenn sie aufgeregt war. Ihre Lieblingslaune war »mürrisch«. Das hieß: Dauerschmollgesicht unter strähnigen, schwarz gefärbten Haaren und einer dicken Schicht Goth-Make-up, mit dem sie aussah wie eine Kreuzung aus Dracula und jemandem, der sich wie Dracucla kleidet, dabei aber ziemlich übertreibt. Wenn sie jedoch auf irgendein superinteressantes Thema stieß, dann entflammte sie und konnte das schlecht verbergen. Dann leuchteten ihre Augen und ihr Kiefer verkrampfte sich beim Versuch, bloß nicht zu lächeln.

»Das sagt uns, dass die Inschrift vor mehr als zweitausendfünfhundert Jahren in den Stein geritzt wurde, zu einer Zeit, als die sumerische Schrift noch verwendet wurde«, erklärte sie.

»Richtig, Pandora«, sagte Mum. »Und jetzt denkt weiter.«

»Also ist der König, dessen Grab wir suchen, schon mehr als zweitausendfünfhundert Jahre tot«, folgerte ich.

»Ashurnasipal«, präzisierte Pan. »Und ja, ist er.«

»Also führt dieser Gang hier tatsächlich zu seinem Grab! Bingo.«

Pan und ich klatschten uns ab.

»Hört auf mit dem Quatsch!«, blaffte Mum. »Mag ja sein, dass ihr auf der richtigen Spur seid – aber aus Erfahrung kann ich euch sagen, dass ihr jetzt erst recht wachsam sein müsst.«

»Echt?«, murrte Pan. »Komisch, deinen Riesenschatz an Erfahrung hast du noch nie erwähnt.«

Eine dritte Stimme meldete sich in unseren Ohrhörern. »Verkneif dir deine Ironie, junge Dame.«

»Dad?«, fragte ich. »Du hörst auch mit?«

Dads Stimme klang verzerrt und knackte so laut, dass es in den Ohren wehtat.

»Sami?«, rief ich. »Ich glaube, die Verbindung bricht gleich zusammen.«

»Nein«, antwortete Sami. »Das ist euer Dad. Er isst Chips.«

»Und da sollen wir uns konzentrieren?«, schimpfte Pan.

»Pandora hat recht«, pflichtete ihr Mum bei. »Hör mit dem Chipsessen auf, John.«

»Aber das ist mein Mittagessen.«

»Chips sind kein Mittagessen«, widersprach Mum. »Ein Sandwich ist Mittagessen.«

»Und was sind Fish & Chips?«

»Leute? Denkt ihr noch an eure Mission?«, schaltete sich Sami ein.

Er hatte recht. Pan hatte ihren Teil schon beigetragen. Jetzt war ich dran. Erneut atmete ich tief ein und hielt die Luft an. Das gehörte zu der Meditationstechnik, die Dad mir beigebracht hatte – damit ich mich besser konzentrieren und kontrollieren konnte. Pan war zwar das Genie von uns beiden, doch ich hatte eine andere Gabe – falls man es als Gabe bezeichnen konnte: Mein Verstand lief in brenzligen Situationen zu Höchstform auf und arbeitete reflexhaft schnell. Dieses instinkthafte Handeln hatte mir in der Vergangenheit haufenweise Probleme eingebracht, doch langsam lernte ich, es zu beherrschen.

»Sami«, bat ich, »kannst du uns ein Infrarotbild von den nächsten fünfzig Metern schicken? Und einen Ultraschall-Scan des gesamten Tunnels? Und dann sende mir doch bitte noch einen 4-D-Plan der Grabanlage auf meine Brille. Und die genauen Koordinaten der Stelle, an der uns die Drohne nachher rausholt. Ach ja, und Vorschläge zu Fluchtwegen, falls es mit der Drohne nicht klappt. Pan und ich werden ein paar Fundstücke aus der königlichen Grabkammer mitbringen und mit einem Archäologenteam zurückkehren, sobald die Echtheit der Sachen bestätigt ist.«

»Okay«, sagte Sami. »Könnte allerdings sein, dass es Probleme gibt. Das Infrarotbild zeigt drei Wärmepunkte. Zwei davon seid ihr, der dritte logischerweise nicht. Er nähert sich euch mit ziemlichem Tempo.«

Das klang nicht gut.

»Wie schnell?«, fragte Pan.

»Sami«, bat ich, »kannst du ein so genaues Wärmebild machen, dass man die Bluttemperatur erkennt?«

Ich hörte Sami auf dem Bildschirm herumtippen. »Die Bluttemperatur deutet darauf hin, dass es sich nicht um ein menschliches Wesen handelt … sondern um ein wechselwarmes«, antwortete er schließlich. »Am ehesten ein Insekt. Allerdings ist der Wärmepunkt viel zu groß für ein Insekt.«

»Such mal nach einer Liste von Insekten, die hier – wo immer hier ist – vorkommen.«

»Das Teil ist zu groß für ein Insekt, Jake.«

»Kannst du trotzdem nachsehen, Sami?«, fragte Pan.

»Sehr gut, Pandora.« Das war wieder Mums Stimme.

Ich spürte einen Stich Eifersucht und hasste mich selbst dafür. Es war total kindisch, gerade jetzt über so was nachzudenken, aber trotzdem: Mich lobte Mum nie für irgendetwas.

»Okay«, sagte Sami, »die Liste kommt gleich …«

»Es ist ein Skorpion«, fiel ich ihm ins Wort.

»Könnte sein«, sagte Sami. »Aber dann muss es ein …«

»… mutierter Riesenskorpion sein«, unterbrach ihn Pan.

»Ja. Woher weißt du das?«

»Weil er direkt vor uns steht.«

Pan und ich rückten zusammen, bis wir uns berührten. Panik stieg in mir auf, aber ich schluckte sie runter und konzentrierte mich auf die Kreatur, die auf uns zukam. Sie war so lang wie ein Krokodil, mit klobigen, hoch erhobenen Zangen, die ständig auf und zu schnappten. Der Schwanz war nach oben gerollt, als würde das Vieh eine von Mums Yoga-Übungen machen, und der Stachel am Ende war so lang wie ein Dolch.

Ich tastete nach dem technischen Equipment an meinem Ausrüstungsgürtel: Karabiner, ein Micro-Laser-Steinschneider, eine Enterhaken- und eine Signalpistole, ein Atemschlauch mit komprimiertem Sauerstoff und ein integriertes Bungee-Seil. Verdammt, wo war die Riesenskorpion-Tötungsvorrichtung, wenn man sie brauchte?

Das Monstrum kam näher, seine Zangen klapperten auf dem Steinboden.

»Jake«, zischte Pan. »Bring uns hier raus.«

Ich wandte mich von dem Skorpion und meiner Schwester ab und scannte die Tunnelwände. Mein Puls wurde ruhiger und ich merkte, wie meine Instinkte das Kommando übernahmen. Blitzschnell huschten meine Augen über die Tunnelwände. Ich musste an das Mantra unserer Eltern denken, das sie gebetsmühlenhaft wiederholten, in jeder Trainingseinheit: Es gibt immer einen zweiten Ausgang. Man muss nur scharf nachdenken und darf sich seinen Verstand nicht von der Angst vernebeln lassen. Und da passierte es wieder: Es war, als ob sich jemand in mein Hirn reinhackte und die Kontrolle übernahm. Jedenfalls arbeiteten meine grauen Zellen plötzlich anders als sonst.

»Die Inschrift«, keuchte ich.

»Was ist damit?«, fragte Pan.

»Der Stein, in den sie eingraviert ist, unterscheidet sich vom Rest der Wand.«

»Und … warum?«

Ich ging in die Hocke und inspizierte den Stein. Er war von einem Spalt umgeben, so als wäre er nachträglich eingefügt worden und könnte jederzeit wieder herausgezogen werden. Der Spalt war sogar ziemlich breit. Auffällig breit. So als sollte er die Blicke von Eindringlingen auf sich ziehen …

»Das ist eine Falle!«, warnte ich.

»Ist nicht der Riesenskorpion die Falle?«, kreischte Pan.

»Schau dir den Boden an, auf dem wir stehen«, sagte ich. »Das ist eine Falltür, die sich öffnet, sobald wir den Stein mit der Inschrift wegdrücken.«

»Und was ist darunter?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Und wie hilft uns das jetzt gegen den Skorpion?«

Pans Stimme wurde schriller, je höher das Spinnentier seinen Schwanz aufrichtete. Er war inzwischen eingerollt wie eine gespannte Feder – und der Stachel war ausgefahren.

»Ich verpass ihm eins mit dem Laser«, beschloss Pan.

»Nein! Lass ihn näher kommen.«

»Weißt du, wie Skorpione ihre Beute töten? Sie betäuben sie und fressen sie lebendig. Lebendig, Jake.«

»Vertrau mir, Pan. Nimm deine Enterhakenpistole und feuere den Haken an die Decke, wenn der Skorpion die Falltür betritt. Ich drücke gegen den Inschriften-Stein und halte mich dann an deinen Beinen fest. Die Falltür öffnet sich, der Skorpion stürzt ab und wir baumeln am Seil.«

»Sicher?«

»Ja. Nein. Hoffentlich.«

Der Skorpion kam noch näher.

Mit zitternden Händen drückte ich gegen den Stein. Mein Herz hämmerte wie ein Presslufthammer.

»Mach dich bereit …«, sagte ich.

Der Skorpion blieb stehen. Seine Zangen schnappten auf und zu … und verschwanden. Mitsamt dem ganzen riesigen Körper. Lautes Rauschen und Knistern erfüllte den Tunnel. Um uns herum begannen die Wände zu flimmern. Kurz tauchte der Skorpion noch einmal auf, kopfüber an der Decke des Ganges, dann verschwand er wieder.

Pan riss sich ihre Smartbrille vom Kopf. »Verdammt!«, schrie sie. »Das Simulationsprogramm spinnt schon wieder.«

Plötzlich war alles in grellgelbes Licht getaucht, während gleichzeitig weitere Teile des »Grabes« verschwanden – die Tunnelwände, der steinerne Boden und die Falltür. Stattdessen sah ich Wände aus Holzbrettern, haufenweise Strohballen und – in der Ecke – einen alten verrosteten Traktor.

Ich konnte mir ein Stöhnen nicht verkneifen. Für einen Moment hatte ich tatsächlich vergessen, dass wir uns gar nicht in einem verschollenen Grab befanden – sondern in Yorkshire Dales, hoch oben im Norden Englands, auf dem Landgut eines alten Freundes der Familie. Wir hatten uns hier versteckt, um zu Schatzjägern ausgebildet zu werden. Nur dass es mit dem Training nicht wirklich voranging …

Sami balancierte oben auf einer Stehleiter und nestelte an dem Hologramm-Projektor herum, der an der Scheunenwand befestigt war. Der Projektor war nur eines der vielen Hightech-Geräte, die die Tunnelsimulation an die Scheunenwand projiziert hatten. Samis Gesicht war so schrumpelig wie eine Rosine und sein kahler Schädel glänzte vor Schweiß, trotz des kalten Herbstwindes, der durch die Ritzen der Holzwände pfiff. Die Djellaba, sein traditionelles arabisches Gewand, klebte an seinem Rücken.

Er murmelte und schimpfte auf Arabisch vor sich hin. Als einer der weltweit führenden Zukunftstechnologen schätzte er es gar nicht, wenn seine Hightech-Spielzeuge nicht funktionierten.

»Bleibt in Position«, rief er uns zu. »Das ist nur eine kleine Panne.«

»Lass es gut sein, Sam.«

Mum erhob sich von einem der Strohballen. Sie klappte den Laptop zu und setzte ihre Smartbrille ab, über die sie mit uns kommuniziert hatte. Dann rieb sie sich die Augen. Sie wirkte erschöpft, hauptsächlich wohl aus Enttäuschung.

»Sie haben eh versagt«, fügte sie hinzu.

»Versagt?«, empörte ich mich. »Wie waren kurz davor, den Skorpion umzubringen.«

»Du warst kurz davor, dich selbst umzubringen«, sagte Mum. »Und deine Schwester gleich mit. Sami, was befand sich unter der Falltür?«

»Kochendes Öl.«

»Kochendes Öl?«, schnaubte Pan. »In einem fünftausend Jahre alten Grab? Wie soll das denn gehen? Wie soll das immer noch gekocht haben? Mal ganz abgesehen davon, dass die Akkadier noch gar kein Öl kannten.«

Mums Kieferknochen verspannten sich. »Die Sumerer! Der Punkt ist, dass ihr euch nicht sicher wart. Wenn das Szenario echt gewesen wäre …«

»Sorry, aber wie echt ist ein mutierter Riesenskorpion?«, maulte Pan.

»Na ja, in Ägypten hattet ihr es mit einer mutierten Riesenschlange zu tun«, gab Sami zu bedenken.

Mich fröstelte, aber nicht wegen dem Wind, der an den Scheunenwänden rüttelte. Vor ein paar Monaten hatten Pan und ich unsere Eltern noch für zwei schnarchlangweilige Professoren für Alte Geschichte gehalten. Wir hatten sie auf eine Reise nach Ägypten begleitet, wo sie urplötzlich verschwanden. Auf unserer Suche nach ihnen waren wir Sami und einem zweiten Schatzjäger namens Kit Thorn begegnet, dessen Landhaus wir gerade nutzen durften. In einer der Pyramiden hatten wir ein Labyrinth aus Geheimgängen und das verschollene Grab einer altägyptischen Gottheit entdeckt. Nur dass wir dort leider von besagter Riesenschlange angegriffen wurden. Und dann passierte etwas noch Dramatischeres: Wir fanden heraus, dass Mum und Dad eigentlich Hightech-Schatzjäger waren.

Nein, das stimmt so nicht ganz. Sie waren früher, vor unserer Geburt, Schatzjäger gewesen. Da hatten sie alte Kulturschätze gerettet und in Museen gebracht, damit Plünderer oder mafiöse Grabräuber die Schätze nicht auf dem Schwarzmarkt verkaufen konnten. Aber nach unserem Ägypten-Abenteuer hatten sie ihren »Ruhestand« aufgegeben und trainierten Pan und mich, damit wir sie bei ihrer gefährlichen Arbeit unterstützen konnten. Nur dass es, wie gesagt, nicht so richtig gut lief …

»Hab’s repariert«, verkündete Sami und im selben Moment sprang der Simulator wieder an. Hologramme schossen aus einer ganzen Batterie von Projektoren und fügten sich zu einem 3-D-Video des Tunnels zusammen. Wir wurden geradewegs von der Scheune in die Grabanlage katapultiert – und die Falltür öffnete sich.

Die Bilder wechselten jetzt in schneller Folge. Es sah aus, als würden wir einen Schacht hinunterfallen. Und plötzlich landete der Skorpion mit einem Riesenplatsch neben uns in einer dunklen, blubbernden Flüssigkeit: dem kochenden Öl. Das Vieh krümmte sich, gab ein merkwürdiges Geräusch von sich und versank. Ich blickte Pan an, die mit den Achseln zuckte.

»Völlig unrealistisch, dass das Öl immer noch kochen soll«, murrte sie.

4

Ich lag die halbe Nacht wach und beobachtete die Regentropfen, die an der Fensterscheibe herunterliefen. Ich suchte mir einen Tropfen heraus, der die Schlangenfrau war, auf der Jagd nach der Smaragdtafel, und einen Familie-Turner-Tropfen, der versuchte, den Schlangenfrau-Tropfen zu überholen. Aber sie gewann immer.

Mums Worte schwirrten mir im Kopf herum. »Vielleicht wird es Zeit, dass wir die Sache abhaken.« Ich hatte seit Monaten gefürchtet und sogar damit gerechnet, dass sie das sagen würde. Unsere Eltern kniffen. Sie zogen den Schwanz ein. Je intensiver sie sich mit der Smaragdtafel beschäftigten, desto absurder fanden sie das ganze Projekt. Hin und wieder schien Mum den Schatzjäger-Job wenigstens Pan noch zuzutrauen, aber mich hielt sie offenbar für völlig untauglich.

Wenn wir doch nur einen Hinweis auf die nächste Tafel hätten! Dann sähe die Sache völlig anders aus. Dann würden Mum und Dad auch Blut lecken, garantiert. Zum Glück hatte ich einen Plan B, um der Sache etwas nachzuhelfen. Falls der jedoch schiefging, würden meine Eltern mir nie wieder vertrauen, das stand fest. Aber okay, das taten sie sowieso nicht. Also konnte ich es genauso gut riskieren.

Ich kletterte aus dem Bett und schnallte den Ausrüstungsgürtel mit Samis Schatzjäger-Equipment um. Sofort fühlte ich mich, als würde ich mein Lieblings-T-Shirt tragen. Der Gürtel gab mir Selbstvertrauen – vielleicht mehr, als für meinen durchgeknallten Plan gut war.

Barfuß tappte ich den Flur entlang. Immer wieder blieb ich stehen und lauschte. Kits Haus war mehrere Hundert Jahre alt. Es erinnerte mich an die stattlichen Häuser, in denen wir früher manchmal mit unseren Eltern die Wochenenden verbracht hatten. Die große, geschwungene Holztreppe machte zwar ordentlich was her, war aber eine totale Fehlkonstruktion, wenn man unbemerkt nach unten gelangen wollte. Bei jeder Stufe musste ich erst prüfen, ob sie knarzte und vielleicht meine Eltern aufweckte –  im Ernst, ich kam mir vor wie bei einer von Samis Trainingseinheiten.

Sicherheitshalber wartete ich eine Weile am Fuß der Treppe, aber alles, was ich hörte, war dröhnendes Schnarchen vom Ende des Flures. Sami war in seiner Werkstatt eingeschlafen.

Ich tappte weiter zu Mums Arbeitszimmer und löste ein lippenstiftähnliches Gerät von meinem Gürtel. Als ich es vor das Türschloss hielt, schoss es einen Laserstrahl in das Schlüsselloch, der die Rillen und Ritzen scannte. Kurz darauf schob sich ein dünner Stift aus dem Gerät und spreizte sich wie eine Art Kralle im Schloss. Ein Knirschen, dann ein Schnappen – und schon öffnete der Dietrich den Schließmechanismus. Grinsend trat ich ein und schloss die Tür hinter mir.

Durch das Bleiglasfenster fiel gerade genug Mondlicht, um den Holosphären-Monitortisch, die vielen Bücherstapel und die überall auf dem Fußboden ausgebreiteten Papiere zu erkennen. Ich löste meine Smartbrille vom Gürtel und streifte sie über.

»Ultraschall«, flüsterte ich.

Die Brille wechselte zur Echoortungsansicht: Ein Diagramm aus Kurven und Linien stellte die Schallwellen dar, die von den Hindernissen im Raum abprallten. Sami hatte die Ultraschallfunktion eingerichtet, damit wir in stockfinsteren Gräbern Geheimgänge oder Ritzen in Steinwänden aufspüren konnten. Aber jetzt brauchte ich sie für etwas anderes.

Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, atmete langsam ein und aus … da!

»Taschenlampe!«, flüsterte ich.

Ein supergreller Lichtstrahl schoss aus dem Brillenrahmen. Ich lief um den Monitortisch herum und hob ein Bild von der Wand. Dahinter befand sich ein Safe. Ich brauchte nicht lange, um ihn mit dem Dietrich zu öffnen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und leuchtete mit meiner Brillenlampe hinein.

»Suchst du das hier?«, fragte eine Stimme.

Ich kreischte auf und wirbelte herum.

Pan stand hinter mir – die Smaragdtafel in der Hand.

»Blende mir nicht ins Gesicht!«, blaffte sie.

Ich riss meine Brille ab.

Pan trug keinen Ausrüstungsgürtel! Sie hatte also keinen Dietrich bei sich – war aber trotzdem reingekommen. Und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Besaß sie etwa einen Schlüssel? Ich starrte sie verwirrt an.

»Was machst du hier?«, fragte ich.

Sie setzte sich an die Holosphäre und tippte einen Code in den Monitor. Ein halbes Dutzend Hologramme schoss in die Luft: archäologische Berichte und uralte Dokumente, von denen ich sicher war, dass Mum sie längst alle überprüft hatte. Aber Pan prüfte sie noch einmal.

»Mum hat mir erlaubt, das Zeug durchzulesen«, erklärte sie. »Für den Fall, dass ich etwas finde, was sie übersehen hat.«

»Moment mal: Sie erlaubt dir den Zutritt?«

»Manchmal. Daher kenne ich das Versteck für den Schlüssel. Obwohl, wenn sie wüsste, dass ich mich so spät noch hier rumtreibe, würde sie wahrscheinlich ausflippen.«

Ich nickte, als würde ich das verstehen. Ich verstand es ja auch. Es war nur vernünftig von Mum, Pan an die Smaragdtafel zu lassen. Pan war schlau genug, um einen Anhaltspunkt zu finden – und darum ging es uns ja. Aber es tat trotzdem weh, dass Mum es ihr erlaubte – und mir nicht. Mich hatte sie die Tafel kaum berühren lassen, seit wir sie der Schlangenfrau abgenommen hatten.

»Und? Wie sieht dein großer Plan aus?«, fragte Pan.

»Mein Plan?«

»Na ja, immerhin bist du gerade hier eingebrochen.«

»Oh, äh, ja. Ich wollte die Tafel stehlen und sie dem British Museum schicken. Das würde dann groß in die Nachrichten kommen – was der Schlangenfrau nicht entgehen würde. Sie würde versuchen, sich die Tafel zurückzuholen … und wir würden schon auf sie warten …«

»Ein selten dämlicher Plan, Jake.«

Okay, stimmt schon. Es war nicht meine beste Idee. Aber ich war verzweifelt.

»Du hast gehört, was Mum beim Abendessen gesagt hat, oder?«, fragte ich.

Pan nickte, den Blick immer noch auf die Hologramme geheftet. »Deshalb muss ich ja heute Nacht etwas finden.«

Ich betrachtete die Papierstapel, all die Berichte und Pläne, und fragte mich, ob es sich lohnte, sie genauer anzuschauen. Das Blöde war nur: Ich wusste ja gar nicht, wonach ich suchen sollte. Also ging ich zu der Pinnwand, an die Mum die wenigen Anhaltspunkte geheftet hatte, die wir zu der Schlangenfrau hatten. Sami hatte die sozialen Medien nach Fotos von ihrem Gesicht durchforstet. Über fünfzig Treffer hatte er gelandet, aber nur drei zeigten das uns bekannte Gesicht. Auf jedem der drei Fotos trug sie eine purpurrote Perücke, die ihr schneeweißes Haar verbarg. Ihre hohen, spitzen Wangenknochen und ihr arrogantes Lächeln konnte sie allerdings nicht verbergen. Sie wirkte extrem selbstzufrieden, als hätte sie gerade beobachtet, wie ein nerviger, kläffender Köter von einem Auto überfahren wurde.

»Was für eine widerliche Hexe!«, zischte ich.

Ich musste daran denken, wie sie Pan und mich während unseres Ägypten-Abenteuers auf einer Insel zurückgelassen hatte, damit wir dort krepierten. Und wie sie uns, nachdem wir entkommen waren und ihr erneut gefährlich wurden, die Mitarbeit in ihrer Organisation angeboten hatte. Ich fragte mich, was wohl passiert wäre, wenn wir eingewilligt hätten. Auf jeden Fall hätten wir ihren komischen Verein von innen kennengelernt. Und wären jetzt irgendwo unterwegs, auf der Jagd nach den Smaragdtafeln. Tatenlos hier rumsitzen würden wir jedenfalls nicht.

»Wow, die ist ja an coolen Orten unterwegs!«, staunte ich.

»Häh?«

»Die Schlangenfrau. Die Fotos stammen von allen möglichen Kontinenten.«

Pan wischte ein paar Hologramme weg, um mich besser zu sehen. Ihr Gesicht wirkte leichenblass im Computerlicht, aber ihre großen Augen leuchteten.

»Und wo genau?«, fragte sie.

»Keine Ahnung, aber die Autokennzeichen und die Schilder an den Geschäften sehen alle total fremd aus.«

Pan sprang auf und kam zur Pinnwand gerannt.

»Jake! Das ist es! Wir waren so damit beschäftigt, die Tafel zu entziffern, dass wir uns um die anderen Hinweise gar nicht gekümmert haben.«

Wenn Pan einen Geistesblitz hatte, liebte sie es, damit hinter dem Berg zu halten, um mich auf die Folter zu spannen. Aber ich würde nicht darum betteln, so weit kam’s noch! Ich drehte mich um und beobachtete den Regen, der gegen die Fensterscheibe prasselte.

»Glaubst du, dass es morgen schöner wird?«, fragte ich.

»Was?«

»Und was es wohl zum Frühstück gibt …?«

»Jake! Wir haben gerade eine Riesenentdeckung gemacht!«

Ich wirbelte herum. »Ach ja, und warum spuckst du sie dann nicht aus?«

»Wollte ich doch gerade!«

»Nein, wolltest du nicht. Das machst du nie!«

»Warte kurz hier«, sagte sie – und weg war sie.

Ich hockte eine Minute oder so in der Dunkelheit, ohne zu wissen, ob sie überhaupt wiederkommen würde. Gerade wollte ich die Tafel in den Safe zurücklegen, als sie durch die Tür gerauscht kam, einen verschlafenen Sami hinter sich herzerrend.

Sami trug Boxershorts und ein T-Shirt und fuchtelte mit einem Regenschirm im Dunkeln herum. Aber es war kein richtiger Schirm, das wusste ich, sondern eine seiner vielen technischen Spielereien: ein getarntes Betäubungsgewehr.

Schnell sprang ich aus der Zielrichtung. »Nicht schießen!«

Sami senkte den Schirm und sah mich verblüfft an. »Wo ist der Einbrecher?«

»Das war eine Notlüge, um dich herzubewegen«, gestand ihm Pan.

»Bist du verrückt? Die Waffe ist mit hochkonzentriertem Midazolam geladen. Das hätte Jake für zwölf Stunden ausgeknockt!«

Aber Pan wedelte seine Besorgnis mit der Hand weg und eilte zurück zu der Pinnwand. Sie war so aufgeregt, dass ihre Stimme total abgehackt klang: »Sami, wir brauchen deine Hilfe!«

Sami legte das Betäubungsgewehr auf einen Beistelltisch und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Ich werde eure El…«

»Nein, du rufst nicht unsere Eltern! Keine Sorge, wir werden diesen Raum nicht verlassen. Und sobald wir einen konkreten Anhaltspunkt gefunden haben, sagen wir ihnen eh Bescheid, versprochen.«

Sami seufzte und murmelte etwas auf Arabisch, aber ich wusste, dass er insgeheim auf unserer Seite war. In Ägypten hatte er Mum und Dad dazu überredet, uns zu Schatzjägern auszubilden. Und er wusste, wie nahe dran sie jetzt waren, aufzugeben.

»Was braucht ihr?«, fragte er schließlich.

Pan tippte auf die Pinnwand. »Diese Fotos der Schlangenfrau. Woher stammen die?«

»Von irgendwelchen Social-Media-Accounts«, antwortete er.

»Aber von welchen?«

»Keine Ahnung. Ich habe sie mithilfe eines biometrischen Abfangprogramms entdeckt. Es zeigt Gesichtswiedererkennungstreffer im Netz an. Die Schlangenfrau ist nur im Hintergrund der Fotos zu sehen. Zu wessen Account sie gehören, ist nicht wichtig.«

»Das ist absolut wichtig«, widersprach Pan. »Nicht wem der Account gehört, aber wo die Fotos geschossen wurden. Können wir das herausfinden?«

»Hm, ja, schon, aber nur, indem wir uns in die Accounts reinhacken. Und das ist illegal.«

»Du könntest es also machen?«, fragte ich.

Sami starrte mich an. »Welchen Teil des Wortes ›illegal‹ hast du nicht verstanden?«

»Ich dachte, du wärst auf unserer Seite, Sami?«, sagte Pan. »Nicht auf der unserer Eltern.«

»Pan, hier gibt’s keine Seiten. Ihr seid eine Familie.«

»Erzähl das Mum und Dad. Du weißt selbst, dass sie kurz davor sind, aufzugeben. Und was wird dann aus uns? Ich muss zurück auf diese grauenhafte Hochbegabtenschule.«

»Auf die Schule für Genies«, präzisierte Sami.

»Für Freaks«, widersprach Pan. »Ich hasse den Laden. Und Jake? Der wird wieder klauen und Stress machen. Wie in alten Zeiten. Vermutlich endet er im Knast, Sami. Lebenslang. Ohne Hafturlaub. Und wenn du ihn dort besuchst, wirst du in seine leeren, gebrochenen Augen blicken und wissen, dass du durch unterlassene Hilfeleistung sein Elend und das Elend seiner Opfer verursacht hast.«

Ich versuchte, mir das Lachen zu verkneifen. Und Sami schien es ähnlich zu gehen, jedenfalls zogen sich die tausend Fältchen um seinen Mund noch enger zusammen. In den letzten Monaten war Sami Teil unserer Familie geworden, vielleicht konnte ihn Pan deshalb so schnell um den Finger wickeln.

»Sami«, bettelte sie. »Kannst du es nun machen oder nicht?«

Sami stieß einen weiteren arabischen Stöhn-Fluch aus, aber ich wusste, dass er uns helfen würde: nicht nur, weil wir endlich einen Anhaltspunkt finden mussten, sondern auch, weil ihn die Art und Weise reizte, wie wir ihn zu finden hofften. Er konnte der Herausforderung einfach nicht widerstehen. Wir hatten ihn bei seinem Ehrgeiz gepackt.

Er tippte auf den Holosphären-Monitor und sofort bauten sich Dutzende verschiedener Bilder in der Luft auf. Es waren ausschließlich Social-Media-Websites, bis auf eine Projektion: Sie zeigte ein Wesen wie aus einem alten Computerspiel, Space Invader oder so. Das Wesen blinkte und Sami starrte es ehrfürchtig an, so wie ein Pilger heilige Reliquien in einer Kathedrale bestaunt.

»Das ist ein extrem aggressiver Virus«, erklärte er. »Ein Programm, das sich in Social-Media-Accounts hackt.«

»Was für Social-Media-Accounts?«

»Egal. Alle.«

Das Licht der Hologramme ließ Samis kahlen Schädel leuchten. Seine Hand zitterte, als er den Space Invader mit zwei Fingern antippte und ihn in einen der aufleuchtenden Ordner verschob.

Plötzlich war es, als hätte jemand der Holosphäre den Stecker gezogen. Alles verschwand. Einen Moment standen wir im Dunkeln und keuchten vor Verblüffung. Ich wollte schon fragen, ob irgendetwas vollkommen schiefgelaufen war, als plötzlich eine Million Dateien aus dem Monitor schossen. Ich weiß, dass Leute oft von Millionen reden und eigentlich nur ein paar Hundert meinen. Aber in diesem Fall waren es wirklich eine Million. Mindestens. Und jede einzelne war ein kleiner Lichtpunkt. Wir hatten das Gefühl, direkt in den Sternenhimmel zu blicken.

»Was ist das?«, japste ich.

»Jeder einzelne Social-Media-Account im Internet«, erklärte Sami. »Zweieinhalb Milliarden.«

Die Dateien begannen sich zu bewegen, sie schossen umher und verschwanden, wurden ersetzt durch Tausende weitere. Es war ein unfassbares Gewimmel, das schon bald einem weißen Schleier glich.

Schweigend standen wir da, wie hypnotisiert von dem Lichtstrom. Ich spürte, wie Sami erst mich ansah und dann Pan. Er war einer der weltweit führenden Zukunftstechnologen, mit Auszeichnungen von den absoluten Top-Unis, aber seine Meinung zu sagen, war nicht unbedingt seine Stärke.

»Wisst ihr …«, begann er schließlich, »ich meine, hört mal zu, Leute … ich habe gerade gedacht, dass … also vielleicht … nicht, dass ihr es falsch versteht … ich meine, ihr habt garantiert eine große Zukunft als Schatzjäger vor euch … aber … vielleicht haben eure Eltern doch recht, was …«

»Sie haben nicht recht«, fiel ihm Pan ins Wort.

»Okay«, erwiderte Sami.

In dem Moment löste sich eine einzelne Datei aus dem Datenfluss. Sie kreiste an Samis Gesicht vorbei wie auf einer geheimnisvollen Planetenlaufbahn. Zwei weitere Dateien folgten rechts und links. Der Lichtstrom erlosch, nur die drei kleinen Lichtpunkte blieben übrig.

»Sind das die Accounts, auf denen die Fotos der Schlangenfrau zu sehen sind?«, fragte Pan.

Sami nickte. Mit Zeigefinger und Daumen zog er die Lichtpunkte größer. Es waren zwei Instagram- und eine Facebook-Seite. »Seid ihr sicher, dass ihr die öffnen wollt? Das wäre eine grobe Verletzung der Privatsphäre.«

»Absolut«, antworteten Pan und ich wie aus einem Mund.

Es waren ziemliche Allerwelts-Accounts – jede Menge Urlaubsbilder und Schnappschüsse von irgendwelchen Mahlzeiten. Nachdem wir uns einige Minuten durch die Fotos gewühlt hatten, fanden wir die, auf denen die Schlangenfrau im Hintergrund zu sehen war. Alle drei waren Selfies des jeweiligen Account-Besitzers, versehen mit Datums- und Ortsangabe.

»Wo sind die aufgenommen?«, fragte Pan.

»Das hier stammt aus New York«, erklärte Sami. »Dieses aus Wien und das dritte aus Shanghai.«

»Was hatte die Schlangenfrau denn dort zu suchen?«, wunderte ich mich.

»Genau das ist die Frage«, sagte Pan. »Sami, kannst du mal überprüfen, ob es an den drei Orten irgendwelche vergleichbaren Veranstaltungen oder so gab?«

Das Tempo, mit dem Sami in der Holosphäre herumfuhrwerkte, verblüffte mich immer wieder. Er war ein bisschen älter als unsere Eltern, also eigentlich ziemlich alt, und klagte oft über Rücken- und Knieschmerzen. Doch wenn es um Technik ging, hatte er die Energie eines kleinen Kindes. Seine Hände wirbelten nur so über den Tisch-Monitor. Er sah aus wie ein Konzertpianist. Unablässig leuchteten Websites auf und verschwanden wieder.

»Es gab diverse vergleichbare Veranstaltungen«, sagte er schließlich. »Musikfestivals, Filmpremieren, Auktionen …«

»Warte«, unterbrach ihn Pan. »Was für Auktionen?«

Sami vergrößerte die Homepages von drei Auktionshäusern.

»Interessant«, murmelte er. »Hier wurden jeweils Antiquitäten versteigert.«

Ich rückte näher. »Also hat sich die Schlangenfrau altes Zeug gekauft? Führen die Auktionshäuser Listen der Objekte, die sie anbieten?«

»Ja, Auktionskataloge«, antwortete Sami.

»Vergleiche mal die Kataloge der drei Auktionen miteinander, ja?«, bat Pan.

Aber das hätte sie gar nicht sagen brauchen, Sami war bereits dabei. Er tippte und wischte und öffnete immer neue Projektionen – und diesmal konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Offenbar hatte er etwas entdeckt.

»Habt ihr zwei schon mal von den Azteken gehört?«, fragte er.

»Du meinst das Burrito-Restaurant in High Wycombe?«, fragte ich.

Verwirrt starrte er mich an. »Burrito-Restaurant? High Wycombe? Äh, nein.«

»Er meint die alte mexikanische Hochkultur«, erklärte Pan.

»Genau die meine ich«, stimmte Sami zu. »Auf jeder der Auktionen, die die Schlangenfrau besucht hat, wurde ein Azteken-Kodex versteigert.«

Pan beantwortete meine Frage, bevor ich sie stellen konnte. »Ein Kodex ist ein altes Buch mit Zeichen und Bildern. Eine Bildhandschrift.«

»Weiß ich selbst«, log ich.

Sami scrollte durch die Websites. »Die Auktionshäuser haben drei der vier Kodizes verkauft, die kürzlich in Mexiko entdeckt wurden. Sie stammen allesamt aus der Zeit der spanischen Eroberung.«

»Also der Zeit, als spanische Soldaten nach Mexiko übersetzten und die Azteken besiegten«, flüsterte mir Pan zu.

»Auch das weiß ich«, murmelte ich. »Sami, du hast eben von vier Bildhandschriften gesprochen. Steht die vierte auch zum Verkauf?«

»Warte, das überprüf ich.«

»Wenn ja, dann wissen wir ja, wo wir die Schlangenfrau finden«, sagte Pan. »Ich wette, diese Azteken-Kodizes liefern einen Hinweis auf die nächste Smaragdtafel.«

Als würde er Fliegen verscheuchen, wischte Sami diverse Bilder beiseite, bis er nur noch eine Website vor sich hatte. Er sah plötzlich verwirrt aus, so wie jemand, der in einer Idioten-Quizshow mit einer unerwartet kniffligen Frage konfrontiert wird.

»Hm, ich weiß nicht, ob das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht ist«, murmelte er.

»Was?«, drängte Pan.

»Die Auktion des vierten Kodex findet hier in England statt. In London.« Sami schaute uns durch die Hologramme hindurch an und ich konnte beim besten Willen nicht sagen, ob er grinste oder das Gesicht verzog.

»Und zwar morgen«, fügte er hinzu.

5

»Was zum Teufel ist hier los?!«

Vor Schreck packte ich Pan am Ärmel, Pan packte Sami und Sami umklammerte mich. Wie aus einem Mund kreischten wir auf.

Mum stand in der Tür … und offensichtlich kurz vor der Explosion. Ein »Was zum Teufel?!« aus ihrem Mund bedeutete immer Alarmstufe rot. Unter der hochgeschobenen Schlafmaske schossen ihre Augen Blitze. Hinter ihr tauchte Dad in seinem Morgenmantel auf, nicht ganz so wütend.

»Ich habe euch etwas gefragt!«, blaffte Mum.

»Es ist nicht so schlimm, wie es vielleicht aussieht …«, begann Pan.

»Wir haben …«

»Jetzt werde nicht frech!«, bellte Mum.

»Aber Mum, wir haben nur …«

»Sam«, schnitt Mum mir das Wort ab, »ich bin erstaunt, dass du in die Sache verwickelt bist. Ich dachte, du wärst auf unserer Seite.«

»Sami ist auf unserer Seite«, widersprach Pan. »Stimmt doch, Sami, oder?«

Schweißperlen glitzerten auf Samis Schädel. Er sah aus, als wünschte er inständig, auf niemandes Seite stehen zu müssen.

»Hier muss niemand auf irgendeiner Seite stehen«, sagte er. »Es ist nur so, dass Jake und Pan etwas herausgefun…«

»Genug, Sam«, unterbrach ihn Mum.

Dad trat an ihr vorbei ins Arbeitszimmer. Er legte die Smaragdtafel in den Safe zurück und rieb sich die Augen, ohne die Brille abzunehmen.

»Darüber können wir morgen früh sprechen«, sagte er.

»Aber Dad …«

»Morgen früh, sagte ich.« Mit diesen Worten verschloss er den Safe. Als er Samis Regenschirm-Gewehr auf dem Beistelltisch erspähte, seufzte er – als sähe er seine schlimmsten Befürchtungen über Pan und mich bestätigt.

»Es ist ja nicht so«, sagte er, »dass eure Mutter und ich eure Begeisterung nicht verstehen würden. Aber wir untersuchen die Smaragdtafel nun schon seit Wochen und haben nicht den kleinsten Anhaltspunkt gefunden, wie wir die Schlangenfrau lokalisieren können …«

»Sie nimmt morgen an einer Auktion in London teil«, platzte Pan heraus.

Mit herunterrutschender Brille und offenem Mund starrte Dad seine Tochter an. Er schob die Brille wieder hoch und warf Sami einen prüfenden Blick zu, der bestätigend nickte. Dann schaute Dad zu Mum und sie führten eine ihrer berühmten wortlosen Auseinandersetzungen: Nicken, Kopfschütteln, Augen aufreißen, Augen zusammenkneifen …

Offenbar gewann Mum den Streit, denn sie sprach als Erste: »Jake, Pandora. Euer Vater und ich … freuen uns natürlich sehr darüber, dass ihr euch so für unser früheres Leben interessiert.« Sie sagte »freuen«, aber es klang wie »verfluchen«. »Allerdings war unsere Annahme, es könnte sich einfach so fortsetzen, etwas voreilig, nicht wahr, John?«

Offenbar war das die Aussage, auf die sie sich gerade verständigt hatten, auch wenn Dad etwas weniger überzeugt wirkte. Sie wollten die Schatzjägerei also an den Nagel hängen und uns in unser langweiliges Alltagsleben zurückverfrachten.

»Ich … äh … Ja. Wahrscheinlich haben wir uns etwas mitreißen lassen.«

»Was?«, rief Pan. »Aber wir können nicht in unser altes Leben zurück!«

»Unser altes Leben war wenigstens sicher«, sagte Mum.

»Aber wir haben uns gehasst!«, erinnerte Pan sie.

»Und du und Dad, ihr habt euch in euren Professorenjobs zu Tode gelangweilt. Statt auf Schatzjagd zu gehen, wollt ihr also ernsthaft in euren Büros verstauben und bis an euer Lebensende unglücklich sein?«

»Solange ich euch in Sicherheit weiß, werde ich niemals unglücklich sein«, widersprach Mum.

»Aber wir können gar nicht zurück, völlig unmöglich«, wandte ich ein. »Wir sind international gesuchte Verbrecher.«

»Ich bin zuversichtlich, dass wir die Behörden davon überzeugen können, dass da ein Missverständnis vorliegt«, antwortete Mum.

»Ein Missverständnis?«, rief Pan. »Jake hat ein Grab, ein uraltes Kulturgut, in die Luft gejagt, schon vergessen? Daran lässt sich wohl kaum rütteln.«

Mum stöhnte auf, als täte ihr die Erinnerung daran körperlich weh. »Nein, wie könnte ich das jemals vergessen.«

Was sollte das denn nun schon wieder heißen? Hatte sie Angst, dass sich so etwas wiederholen könnte? Wollte Mum uns beschützen, indem sie uns von möglichen Gefahrenquellen fernhielt? Oder traute sie nur mir nicht? Hatte sie Angst, ich könnte wieder etwas Verrücktes anstellen?

Meine Arme begannen zu zittern. In mir begann es zu brodeln. Vulkanartig.

»Aber wir haben einen Anhaltspunkt!«, beharrte ich. »Und dem müssen wir nachgehen.«

»Wir sagen ja nicht, dass wir das nicht tun können«, sagte Dad. »Von Bibliotheken aus. Nach der Schule und am Wochenende.«

»Wir sollen uns in Bibliotheken verschanzen?«, stöhnte ich. »Wir müssen den Schlangenleuten den Arsch versohlen, und zwar dort, wo sie sich rumtreiben!«

»Pass auf deine Wortwahl auf, Junge!«, warnte Mum.

»Pass doch selber auf!«

Ich bekam vor Empörung kaum Luft und war am Ende meines Lateins. Es war ziemlich klar, dass Mums und Dads Entschluss feststand, obwohl es mir ein Rätsel war, wie sie die vergangenen Monate einfach so ausblenden konnten. Die Schatzjägerei war mein Traum – und das Einzige, was ich richtig gut konnte. Früher war ich ein kompletter Versager gewesen. Ein Dieb, eine Nervensäge. Ich hatte Angst vor dem alten Jake Turner. Die Schatzjägerei gab mir ein Ziel, etwas, worauf ich meine Energie konzentrieren konnte. Als Schatzjäger konnte ich meine Fähigkeiten sinnvoll einsetzen. Wir hatten so viel gelernt und so hart trainiert, aber für Mum und Dad waren wir immer noch nicht gut genug. Oder zumindest ich war nicht gut genug.

»Es liegt an mir, stimmt’s?«, fragte ich. »Pan ist ein Genie. Ihr traut ihr die Schatzjägerei zu – mir nicht. Mir habt ihr noch nie etwas zugetraut.«

»Du brauchst einfach noch etwas Zeit, Jake. Du musst lernen, dich zu beherrschen, dich unter Kontrolle zu bringen. Diese Sache heute mit dem Skorpion …«

»Ich hatte einen Plan!«, beharrte ich. »Und der hätte funktioniert.«

Sofort waren Pan und Mum im nächsten Streit, weil Pan wieder darauf herumritt, dass wir im echten Leben niemals einem Riesenskorpion begegnen würden. Aber ich hörte nicht mehr zu. Der Vulkan in meinem Inneren stand kurz vor dem Ausbruch.

»Mum, es tut mir leid«, sagte ich.

»Was denn, Jake?«

Ich schnappte mir das Betäubungsgewehr, nahm Mum ins Visier und drückte ab.

Nicht dass ich das von langer Hand geplant hätte. Ich meine, wer geht schon mit einem Betäubungsgewehr auf seine Mutter los? Bis zum Moment des Abdrückens hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich da tat. Und als ich es endlich realisierte, war ich total geschockt. Noch geschockter als Mum.

Ich taumelte rückwärts und starrte den Betäubungspfeil an, den ich durch die Regenbogenspitze in Mums Arm gejagt hatte. Erstaunlicherweise blieb sie relativ ruhig, wo sie mich doch sonst schon wegen absoluter Kleinigkeiten zur Schnecke machte. Vielleicht sah sie die Panik in meinen Augen und begriff, wie verzweifelt ich war.

»Jake, leg die Waffe hin«, sagte sie, immer noch erstaunlich ruhig. »Das ist ein Betäubungsgewehr, geladen mit Xylazin. Du weißt doch, dass dein Vater und ich schon seit Jahrzehnten immun dagegen sind. Wir haben damals einfach zu viel davon abbekommen.«

Natürlich wusste ich das. Aber es gab etwas, das Mum nicht wusste.

»Mum«, japste ich. »Das ist kein Xylazin.«

Ihre Augen weiteten sich. Sie wollte etwas sagen, aber da gaben schon ihre Beine nach und sie klappte bewusstlos auf dem Teppich zusammen.

Dad kam mit rudernden Armen angerannt.

»Jake«, keuchte er, »gib mir die Waffe. Mach keinen Unsinn.«

Mach keinen Unsinn? Ich hatte nur gerade meine Mutter mit einem Betäubungsgewehr niedergestreckt. Und nun musste ich dasselbe leider mit Dad tun. Mir blieb nichts anderes übrig. Nie und nimmer würde er uns jetzt noch zu der Auktion nach London fahren lassen. Jedenfalls nicht in bewusstem Zustand.

Die Waffe in meiner Hand zitterte. Ich musste vorsichtig sein. Dad wirkte zwar immer etwas tollpatschig, aber ich wusste, was für ein großartiger Kämpfer er war und was für Turboreflexe er hatte.

»Jake«, warnte jetzt auch Sami. »Leg das Gewehr hin.«

»Das ist kein Gewehr! Das ist ein Betäubungsgewehr!«, präzisierte ich.

»Wehe, du schießt auf mich, Jake!«, warnte Dad.

»Ich schieße doch nicht auf dich, Dad. Und was heißt hier überhaupt ›schießen‹? Wie gesagt, das ist nur ein Betäubungsgewehr.«

»Jake …«, zischte Pan.

Sie schien also auch nicht so überzeugt von meinem Plan – und ich konnte es ihr nicht verübeln. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Es ist nur für zwölf Stunden, Dad«, sagte ich. »Zwölf Stunden, in denen du dich mal so richtig ausschlafen kannst. Du siehst nämlich echt müde aus. Wir finden in der Zwischenzeit die Spur zur nächsten Smaragdtafel. Und wenn ihr wieder auf den Beinen seid, machen wir als richtige Familie weiter.«

»Als richtige Familie?«, fragte Dad. »Jake, du richtest eine Waffe auf deinen Vater

»Ein Betäubungsgewehr, Dad. Und es tut mir auch echt leid. Wirklich.«