Martin R. C. Kasasian ist im englischen Lancashire aufgewachsen, hat in Fabriken und Restaurants gearbeitet, auf dem Rummelplatz, beim Tierarzt und als Zahnarzt, bevor er zu schreiben begann. Die Sommer verbringt er mit seiner Frau in Suffolk, im Winter leben die beiden auf Malta.
Der Übersetzer
Alexander Weber, geboren 1969, ist promovierter Anglist und lebt als freier Übersetzer in Berlin. Er übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Englischen.
Für Mel, Tom und Will in Liebe
Gestern besuchte ich unser altes Hausmädchen in ihrem neuen Zuhause, und während wir uns unterhielten, schellte irgendwo ein Glöckchen. Zweimal klingeln hieß Tee, entsann sie sich, war aber zu erschöpft, um aufzustehen. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie gut aufgehoben war, verabschiedete ich mich und sah beim Verlassen des Gebäudes, dass man die Thanet Street abgesperrt hatte, während die Armee versuchte, einen Blindgänger zu entschärfen.
Also ging ich den Burton Crescent entlang – wie ich ihn noch immer nenne. Am nördlichen Ende des elegant geschwungenen Häuserbogens stach, etwas zurückgesetzt, ein klobiges Bauwerk hervor – Gethsemane, das letzte Überbleibsel jener Straße, die einst Gaslight Lane hieß.
Schreckliche Dinge hatten sich hinter diesen Mauern zugetragen, doch nun hatte die Druckwelle eines Beinahetreffers die Fassade auf die Straße stürzen lassen und das Gebäude in ein monströses Puppenhaus verwandelt, das der Welt sein finsteres Innenleben offenbarte. Einige der Möbel waren auf den Gehweg geschleudert oder geplündert worden, doch der achteckige Tisch stand noch immer an seinem Platz, ragte hervor aus Staub und Schutt.
Kurz sah ich Cherry am Kamin sitzen, vertieft in einen Brief, und fast hätte ich zu ihr emporgerufen. Doch heute trennt uns eine Kluft, die zu überwinden mich das Leben kosten würde.
Das Entsetzen über die furchtbaren Taten, die in der Gegend geschehen sind, hat die Bewohner veranlasst, sich für die Umbenennung der Straßen einzusetzen, sodass Gaslight Lane und Burton Crescent im Jahr 1908 schließlich aufhörten zu existieren und gemeinsam zu Cartwright Gardens wurden, zu Ehren jenes Sozialreformers, den Sidney Grice so abgrundtief verabscheute.
Mein Vormund zählte den Fall zu seinen größten Erfolgen, wiewohl er offiziell als einer seiner seltenen Fehlschläge galt. Für mich jedoch ist er keines von beidem.
Unbemerkt schleiche ich an den Feuerwehrleuten vorüber, husche wie unsichtbar zwischen Luftschutzhelfern und müden Schaulustigen hindurch, denn heute friste ich mein Leben im Schatten, und die Schemen der Vergangenheit sind so echt wie die der Gegenwart. Mir scheint, als gehörte ich zwar nicht mehr zu dieser Welt, wollte mich aber nicht den vielen Geistern zugesellen, die noch immer diese Mauern heimsuchen – die Ruinen der Gaslight Lane.
M. M., 19. Juli 1943
Gower Street 125
In der einundzwanzigsten Septembernacht des Jahres 1872, fast zehn Jahre, bevor ich nach London kam, wurde der gesamte Haushalt der Familie Garstang ermordet. Holford Garstang, seine Frau Augusta und drei der im Hause lebenden Bediensteten war die Kehle durchgeschnitten worden. Ihren Patensohn Lionel Engra hatte man erdrosselt.
Die einzige Überlebende war Angelina Innocenti, das Kammermädchen, das man am nächsten Morgen blutüberströmt und halb wahnsinnig vorfand.
Sie lebten und starben in einem imposanten Gebäude namens Gethsemane, im Bezirk Bloomsbury, einer Gegend im Londoner Stadtteil Camden. Holford Garstang war ein angesehener und überaus erfolgreicher Verleger religiöser Traktate und Meister seiner Freimaurerloge. Augusta hingegen entstammte einer alten Reederfamilie, und mit dem Zusammenschluss beider Unternehmungen hatten sie ein florierendes Außenhandelsgeschäft aufgebaut. Dennoch war ihre Ehe mehr als eine Zweckgemeinschaft. Dem Vernehmen nach waren sie einander äußerst zugewandt, wiewohl der Herrgott ihre Verbindung nicht mit Kindern gesegnet hatte. Die Garstangs hatten allen Grund anzunehmen, dass ihnen noch ein langes und gesundes Leben bevorstand. Sie hatten keinen Grund zu glauben, dass man sie wie Schweine abschlachten würde.
Der Mörder meines Vaters hatte seine Arglist und Verdorbenheit hinter einem liebenswerten Äußeren verborgen. Doch als er glaubte, dass ich ihn umbringen würde, war seine Fassade zerschellt, und als Sidney Grice und Inspektor Pound ihn fanden, lag er winselnd und zu einem Häuflein Elend zusammengekauert auf dem Boden in einer Ecke seines Laboratoriums. Der Verhaftete wurde in Handschellen gelegt und für unsere Rückreise nach London im Schaffnerabteil angekettet, und erst als mein Vormund hinaustrat, um nach ihm zu schauen, gewährte er mir einen Augenblick mit dem Inspektor allein.
Ich rutschte auf der Bank etwas zur Seite, bis ich ihm gegenüber saß.
»Welch ein Glück, dass Ihnen nichts geschehen ist«, sagte er, machte aber keine Anstalten, sich mir zu nähern.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen den Ring Ihrer Mutter zurückgegeben habe«, erwiderte ich. »Ich habe mich viel zu lange an eine Erinnerung geklammert. Das habe ich aus alldem gelernt.«
George Pound fasste sich an den Kopf. »Ich frage mich, was wohl passieren würde, wenn Ihr Verlobter morgen zurückkehren könnte.«
»Das vermag ich nicht zu beantworten.«
»Vielleicht war die Frage auch nicht fair.« Er zupfte etwas von seiner Stirn. »Aber da gibt es noch etwas, das mir Sorgen bereitet, Miss Middleton.«
»Miss Middleton?« Nach allem, was ich durchgemacht hatte, konnte man mich noch immer schockieren, wie es schien.
»Eine größere Vertraulichkeit steht mir wohl nicht zu.« Er streckte mir entschuldigend die geöffnete Hand entgegen. »Nicht allein, dass Sie einen Verblichenen mir gegenüber vorziehen. Als wir uns kennenlernten, ließen Sie mich glauben, Sie verfügten über so gut wie kein persönliches Vermögen.«
»Das stimmt«, bestätigte ich, »doch seither haben einige der Bergbauaktien meines Vaters beträchtlich an Wert gewonnen.«
»Folglich sind Sie nun eine wohlhabende Frau«, er ließ die Hand sinken, das Innere mir noch immer zugewandt, »und somit für mich unerreichbar.«
Ich sann über seine Worte nach. »Wenn dies das einzige Hindernis darstellt, so lässt es sich problemlos überwinden.« Der Zug rumpelte über eine Reihe von Weichen. »Sobald ich volljährig bin, kann ich all mein Geld einem guten Zweck spenden. Davon gibt es reichlich.«
Pound starrte hinaus in die Dunkelheit. »Ich kann nicht zulassen, dass Sie dies tun.«
Voller Empörung fuhr ich auf. »Sie können mich wohl kaum daran hindern.«
»Nein.« Er rang nach Worten. »Was ich damit sagen will ist, ich könnte von keiner Frau verlangen, ihren Annehmlichkeiten zu entsagen, um mein karges Leben zu teilen.«
»Ich hatte gehofft, Sie wären mir Annehmlichkeit genug.«
Im Fenster zum Gang zeichnete sich ein düsterer Umriss ab, und ich ließ mich zurück in den Sitz sinken. Als mein Vormund ins Abteil zurückkam, saß ich wieder auf meinem angestammten Platz. Den Platz, den die Welt, in der wir lebten, mir zugewiesen hatte.
Um mich von diesem tiefen Schlag zu erholen, wie auch von all den Giften, die man mir verabreicht hatte, um mich in den Wahnsinn zu treiben, brach ich auf eine Reise durch Großbritannien auf. Meine liebe Freundin Harriet Fitzpatrick leistete mir Gesellschaft, und gemeinsam wurden wir in die haarsträubenden Ereignisse in Scarfield Manor verstrickt. Doch dies ist eine andere Geschichte, und die betreffenden Aufzeichnungen ruhen wohlbehütet im Tresor meiner Bank.
Im Herbst 1883 kehrte ich in die Gower Street 125 zurück, doch ich fürchte, ich war meinem Vormund zunächst keine große Hilfe, bis ich ihn im November wieder bei einem Fall begleiten konnte, dessen Einzelheiten aber vertraulich bleiben müssen. Womöglich wird es mir nie vergönnt sein, meine Schilderung der grausigen Geschehnisse um den Verleger aus Clerkenwell zu veröffentlichen.
Es fängt stets auf dieselbe Art an – ich falle in die Leere, kein Licht, nichts, woran ich mich festhalten könnte, nur der Fall. Wenn ich lande, erwache ich vom Aufprall. Ich nehme meine Medizin und versuche, mich zu beruhigen. Dann kommt die Hand, die meinen Kopf nach unten drückt. Ich spüre den Druck auf Nase und Stirn, jeden einzelnen Finger, Ballen und Innenfläche der Hand.
Für gewöhnlich endet der Traum an dieser Stelle, und ich schrecke hoch, doch manchmal verändert er sich auch. Etwas fällt weg oder wird hinzugefügt. Manchmal ist da ein endloser Gang mit leise quietschenden Dielen oder eine Treppe, die fast geräuschlos knirscht, wenn jemand sie zu erklimmen sucht. Eine rasche Bewegung. Bin ich es selbst, oder huscht da etwas auf mich zu? Am schlimmsten ist es, wenn es weitergeht – die Blässe im Mondschein, der schmale Streifen, der breiter und dunkler wird. Nein, das stimmt nicht. Das Schlimmste ist, wenn ich das Wimmern höre und dieses eine Wort.
NUTTY.
Und dann gerate ich ins Taumeln, versuche verzweifelt fortzurennen, komme in der sirupdicken Luft aber nicht vom Fleck, wage nicht daran zu denken, was hinter oder vor mir ist, das schrille Quietsch der Dielen, die Stufen knacken wie Donnerschläge.
Und NUTTY schießt mir durch den Kopf, prallt ab, jagt hin und her, sucht verzweifelt einen Ausgang. Doch es gibt kein Entrinnen. Es tut weh. Mein Kopf tut weh. Ich stolpere.
Und dann wache ich auf, atemlos und schweißgebadet, mit wild pochendem Herzen und zugeschnürter Brust. Ich bin wie gelähmt, während die Schatten drohend über mir lauern, aber ich zwinge mich zu atmen, zwinge mich, den Arm auszustrecken, mitten durch diese Schatten hindurch. Das winzige Glimmen leuchtet wie mein Schutzengel, mein einziger Beistand gegen die Dämonen der Nacht. Mit ungelenken Fingern versuche ich, den Docht der Öllampe an meinem Bett hochzuschrauben. Meine Hand zittert so sehr, dass ich sie um ein Haar umstoße. Die Schemen huschen um mich her und von mir fort, weichen ängstlich vor dem Licht, und die einzigen Schatten, die noch bleiben, sind die der Möbelstücke. Ich kenne sie in- und auswendig, doch ich fürchte sie noch immer.
Manchmal – und ich schäme mich zutiefst, dies zu gestehen – nässe ich mein Nachthemd ein, traue mich aber nicht, etwas zu unternehmen. Und wiewohl mir davor graut, triefnass im Bett zu bleiben – fühlt es sich doch an wie warmes Blut –, bin ich doch so starr vor Angst, dass ich nicht aufzustehen vermag; und dann kühlt es ab, wie Blut abkühlt, und wie wir alle irgendwann erkalten.
Selbst wenn ich wach bin, höre ich das Flüstern, ganz nah an meinem Ohr.
NUTTY.
Und dann fällt mir ein, wieso ich es so fürchte, und ich schreie mir die Seele aus dem Leib. Das war nicht der Albtraum. Dieser Augenblick ist der Albtraum. Und dieser Augenblick wird niemals enden.
Ein Regentropfen traf die Scheibe und zerplatzte.
»Fünfundzwanzig«, sagte Sidney Grice.
Fast eine Stunde stand er nun bereits verdrossen am Fenster der Gower Street 125 und hatte sein Schnaufen nur unterbrochen, um hin und wieder um den runden Tisch in der Zimmermitte zu humpeln, bevor er seinen Posten wieder einnahm.
»Fünfundzwanzig was?« Ich gab auf, weiter an meinem Bericht über den Zyklopen von Sydenham zu arbeiten, einem unserer letzten Fälle, und ließ meine Aufzeichnungen sinken.
»Das ungefähre Alter der Frau dort auf dem Gehsteig. Ich kann ihr Gesicht durch den Schleier nicht gut erkennen«, raunte mir mein Vormund über die Schulter zu. »Aber sie hat gerade ihre Brille aufgesetzt, um mein Schild zu lesen, und sie trägt sie fast auf der Nasenspitze.« Er wischte den Beschlag von der Scheibe. »Mir ist schon des Öfteren aufgefallen, dass Männer ihre Brille mit zunehmendem Alter weiter unten auf der Nase tragen, weil sie sie zum Lesen brauchen, aber, da sie weitsichtig geworden sind, ansonsten über sie hinwegspähen. Junge Frauen, die Sehhilfen bedürfen, setzen sie sich anfangs weit unten auf die Nase, um nicht ihre vermeintlich so bestrickenden Augen zu verbergen, und schieben sie dann allmählich weiter empor – je mehr die Notwendigkeit über die Eitelkeit triumphiert.«
»Folglich müssten beide Geschlechter sie mit etwa vierzig Jahren auf dem Nasenrücken tragen«, spekulierte ich.
»Fünfundvierzig«, korrigierte er, »doch ausnahmsweise haben Sie das Prinzip einmal begriffen. Nun hat sie die unterste Treppenstufe betreten.«
»Müssen Sie sie denn so angaffen?«, fragte ich und erntete ein abschätziges Schnauben.
»Aber natürlich muss ich das. Es gehört zu meinem Beruf, Leute anzugaffen.« In der Diele ertönte die Türglocke, und Mr G wandte sich um. »Enttäuschenderweise ist Molly bereits auf dem Weg.«
Ich hörte sie die Treppe hochtrampeln.
»Wieso denn enttäuschenderweise?«
Mr G nahm seine weinrote Augenklappe ab und ein Glasauge aus seiner Westentasche. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein gütiger Onkel, der Kindern Bonbons anbietet. »Denn wenn sie ihrer Arbeit nachkäme, müsste sie Erstere kurz beiseitelegen, bevor sie sich aus ihrem Schlupfwinkel emporarbeitet.« Dann spreizte er seine rechten Lider und presste das Auge in die Höhle. »Wohingegen ihre rasche Reaktion eher auf ein schuldbewusstes Hochschrecken hindeutet.«
»Auch Molly darf sich hin und wieder ausruhen«, sagte ich.
»Humbug.« Mr G humpelte zum Kaminspiegel und fuhr sich mit den Fingern durchs dichte pechschwarze Haar. »Ihr ganzes Leben besteht aus purem Müßiggang.«
Ich wollte ihn gerade fragen, wer wohl hier die ganze Hausarbeit erledigte, als Molly hereinplatzte. Zu meinem Erstaunen – schließlich bezichtigte Sidney Grice unser Dienstmädchen regelmäßig, in ihrer Uniform zu schlafen –, war ihre Schürze strahlend weiß und faltenlos, wenngleich ihr fuchsrotes Haar wie so oft aus den Spangen gerutscht war, die es bändigen und unter der gestärkten Haube halten sollten.
»’ne Dame wünscht Sie zu sehen, Sir«, verkündete sie und präsentierte ihm das silberne Visitenkartentablett. »Ich hab ihr gesagt, dass Sie sich nich recht wohlfühlen nich, aber sie meinte, es ist dringend.«
»Was fällt dir ein, mit Wildfremden über meine Gesundheit zu reden?«
»Aber es is doch niemand sonst nich da, mit dem ich drüber reden könnte«, erwiderte sie schlüssig. »Miss Middleton ist zu – ach, wie heißt das Wort noch mal?«
»Diskret«, schlug ich vor.
»Langweilig«, beschloss sie.
Ihr Dienstherr schnappte sich die Karte vom Tablett und beschirmte sie mit der Hand wie ein argwöhnischer Pokerspieler. »Miss Charity Goodsmile – was für ein deprimierend fröhlicher Name – aus der West Grundy Street 28.« Er verzog das Gesicht. »Keine sehr angesehene Adresse. Hoffentlich glaubt sie nicht, ich würde mit meinem Honorar runtergehen, wenngleich ihr Aufzug durchaus vermuten lässt, dass sie es sich leisten kann.«
»Sie redet nich wie ’n armer Schlucker«, warf Molly ein.
»Mein Gedächtnis muss nachlassen.« Ihr Dienstherr rieb sich die Stirn. »Ich kann mich nicht entsinnen, dich je um deine hirnlosen Mutmaßungen gebeten zu haben.«
»Machen Sie sich da mal ja nich keine Sorgen«, versicherte ihm Molly. »Ich vergess ständig, beim Kaufmann nach Ihrem Wechselgeld zu fragen oder furchtbar wichtige Nachrichten weiterzugeben, und mit meinem Gehirn is alles in bester Ordnung.«
»Außer, dass du es nie in Betrieb genommen hast«, ätzte mein Vormund. »Führ meinen Besuch herein.«
Ich klappte meine Aufzeichnungen zu und erhob mich, während Molly hinausging, um unseren Gast hereinzubitten.
»Miss Charitable Goodsmell«, verkündete Molly großtönend, und eine schlanke junge Dame folgte ihr ins Studierzimmer.
»Smile«, verbesserte sie die Frau mit sanfter Stimme. Molly bleckte unsicher die Zähne.
»Raus mit dir«, schalt Mr G. »Und bring uns Tee.«
Molly lief rot an, knickste linkisch und verschwand.
»Mr Grice«, sagte die Dame leise. Sie war im Trauerstaat, nur den dünnen Florschleier an ihrem Hut hatte sie zurückgeschlagen. »Wie freundlich von Ihnen, mich zu empfangen.«
»Bitte verwechseln Sie meine Neugier nicht mit Freundlichkeit.« Mr G nahm ihre Hand und verbeugte sich, weniger aus Höflichkeit, als um ihre Hand eingehender zu studieren. Sie war eine bildhübsche Frau, gut zehn, zwölf Zentimeter größer als wir beide, deren rabenschwarzes Haar und nachtfarbenes Kleid sich vorzüglich von ihrem blassen Teint abhoben. Sie hatte weiße makellose Haut und lange Wimpern, die einzigen Farbtupfer in ihrem Gesicht waren das Zartrosa ihrer Lippen, die dunklen, schmalen Linien ihrer Brauen und ein leiser Schimmer Himmelblau in ihren mandelförmigen Augen.
»Setzen Sie sich doch, Miss Goodsmile.« Er geleitete sie zu meinem Sessel, und sie hockte sich aufrecht ganz vorn auf das Polster.
»Meine Freunde nennen mich Cherry.«
»Es tut mir leid, das zu hören.« Er nahm im Sessel gegenüber Platz. »Diese andere Frau hier …«, er wies flüchtig in meine Richtung, »… ist meine Assistentin Miss Middleton.«
Ich gab ihr die Hand. »Wie geht es Ihnen, Cherry? Nennen Sie mich doch March.«
Ich zog mir einen der Walnussstühle vom runden Tisch herüber und nahm zwischen den beiden Platz, dem Kamin zugewandt.
»Der kürzliche Verlust Ihres Vaters muss Sie schwer getroffen haben, insbesondere, da er von Ihrer Mutter getrennt lebte und Sie weder Brüder noch ältere Schwestern haben«, erklärte mein Vormund, und unser Gast straffte den Rücken.
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, Mr Grice.« Zwei dicke Falten kräuselten ihre Stirn. »Aber woher wussten Sie, dass ich zu Ihnen kommen würde?«
Mr G ließ ein dünnes Lächeln aufblitzen. »Noch vor zwei Minuten und vierzehn Sekunden wusste ich nicht einmal, dass Sie existieren.«
»Man muss kein Detektiv sein, um zu sehen, dass ich einen Verlust erlitten habe.« Sie griff sich an den Schleier. »Doch der Rest Ihrer Ausführungen verblüfft mich.«
»Das ist der Siegelring eines Mannes.« Mr G wies auf die Silberkette um ihren Hals, an der ein goldener, mit einer Siegelplatte versehener Ring baumelte.
»Der könnte auch meinem verstorbenen Gatten gehören«, wandte Cherry Goodsmile ein, doch Mr G schnaubte nur verächtlich.
»Sie tragen keinen Ehering, und wenn Sie ihn abgenommen hätten, um Ihre neuerliche Verfügbarkeit auf dem Heiratsmarkt kundzutun – was obendrein geschmacklos wäre, da Sie noch in tiefer Trauer gehen –, befände er sich ebenfalls an dieser Kette.« Sidney Grice musterte sie prüfend. »Und besäßen Sie einen Bruder oder eine ältere Schwester, wäre der Ring an einen von ihnen gegangen.«
Sie nickte kaum merklich. »Und was ist mit meiner Mutter?«
Mr G ließ seinen linken Daumen über die Nägel seiner Linken gleiten. »Würde sie noch immer mit Ihrem Vater zusammenleben, hätte sie den Ring genommen. Wäre sie tot, würden Sie auch ihren Ring tragen.«
Cherry Goodsmile sah ihn an. »Sie haben ein scharfes Auge, Mr Grice.«
Mein Vormund zuckte mit den Schultern. »Ich sehe nichts, was andere nicht auch sehen können. Was mich von ihnen unterscheidet, ist, dass ich dem, was ich sehe, tatsächlich Beachtung schenke. Mein kolossaler Scharfsinn liegt darin, dass ich weiß, welche Schlüsse ich aus meinen Beobachtungen zu ziehen habe.«
»Dann können Sie mir vielleicht auch sagen, warum ich hier bin?«, wollte sie wissen. Mein Vormund legte den Kopf zur Seite.
»Ich bin imstande, Bücher, Straßenschilder und Zeitschriften in acht Sprachen zu lesen, Gedanken jedoch in keiner davon.« Er lehnte sich zurück. »Nun, selbstverständlich könnte ich mutmaßen, dass es etwas mit dem Tod Ihres Vaters zu tun hat, aber das Selbstverständliche war mir schon immer höchst zuwider, und ich hasse Rätselraten.«
Molly kehrte zurück und stellte ein Tablett auf den Tisch zwischen uns.
»Das stimmt«, beschied sie unseren Gast. »Letztes Weihnachten hat er sich sogar geweigert ›Wer bin ich?‹ mitzuspielen, als Miss Middleton so getan hat, als wär sie dieser Bohner-Pate, oder wie der noch mal heißt.«
»Napoleon«, korrigierte ich sie.
»Mmh, ich hätt schwören könne, der hieß Bohner-Pate«, sinnierte sie. »Und dann haben Sie diesen lustigen irischen Akzent nachgemacht.«
»Raus!«, bellte ihr Brotherr, und sie trollte sich.
»Mit Ihrer Vermutung hätten Sie richtig gelegen«, sagte Cherry leise. »Mein Vater wurde bestialisch ermordet, Mr Grice, nachts in seinem Bett.«
»Ausgezeichnet«, rief mein Vormund aus und klatschte freudig in die Hände.
Cherry Goodsmile starrte Sidney Grice ungläubig an, und ihre Lippen erblassten.
»Es freut mich, dass Sie das so sehen«, merkte sie beißend an.
»Ich schätze, das war ironisch gemeint«, sagte Mr G, während unsere Besucherin die Arme zurückzog und die Sessellehnen packte, um sich zu erheben. »Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich gegen Sarkasmus gefeit bin und Mitgefühl in meiner Honorarrechnung nicht enthalten ist.«
»Oh, um Himmels willen«, stieß ich hervor.
»Menschliche Empfindungen fallen – wie Sie womöglich bereits herausgefunden haben – in Miss Middletons Ressort«, erklärte er unverfroren. »Und wenn Sie auf Tränen aus sind, kann Ihnen jeder seriöse Bestatter eine Gruppe professioneller Trauernder besorgen. Die Iren sind ja geradezu berühmt für ihr vorzügliches Wehklagen.«
»Ich bin nicht hergekommen, um mich verhöhnen zu lassen.« Cherry Goodsmile sprang auf, und ich erhob mich, um ihr Platz zu machen.
»Allerdings«, fuhr mein Vormund mit sanfter Stimme fort, »wenn Sie herausfinden wollen, wer Ihren Vater umgebracht hat – und ich gehe stark davon aus, dass dies der Fall ist –, garantiere ich Ihnen, dafür zu sorgen, insofern Sie über die nötigen Mittel verfügen.«
Unser Gast hielt inne. »Wie können Sie so etwas denn versprechen?«
»Weil ich nie versage«, erwiderte er schlicht.
Cherry Goodsmile zögerte. »Mir gefällt Ihre Art nicht.«
»Mir ebenso wenig«, versicherte ich ihr, »aber er sagt die Wahrheit. Ich bin erst seit zwanzig Monaten hier …«
»Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit«, raunte Mr G, doch ich schenkte ihm keine Beachtung.
»… doch in dieser Zeit«, fuhr ich unbeirrt fort, »hat er sechs Mörder gefasst sowie eine ganze Reihe andere Verbrecher. Was er an Charme vermissen lässt, macht er durch Scharfsinn mehr als wett.«
»Habe ich etwa das Zimmer verlassen?«, brummte er. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Bleiben Sie wenigstens auf eine Tasse Tee.« Ich legte Cherry Goodsmile eine Hand auf den Arm. »Wir können Ihnen gewiss helfen.«
Sie sah mich an. »Sie sind der Hauptgrund, weshalb ich hier bin. Er ist der einzige Privatdetektiv mit einer weiblichen Assistentin, den ich finden konnte.«
»Persönlicher Ermittler«, blaffte Mr G. »Ich bin persönlicher Ermittler.«
»Aber kein versöhnlicher«, wisperte ich, und Cherry schenkte mir den Anflug eines Lächelns.
»Und auch kein schwerhöriger«, erwiderte er scharf, während sie wieder Platz nahm. Er studierte sie mit kühlem Blick. »Nun, da Miss Middleton endlich fertig geplaudert hat, können Sie mir vielleicht erzählen, was geschehen ist.«
Ich langte nach der Teekanne. »Wann genau ist Ihr Vater ermordet worden, Cherry.«
Unsere Besucherin schluckte schwer. »Vor drei Wochen, am vierten Januar.«
»Am 1(38. Jahrestag der Schlacht von Ruspina und dem 1013. der Schlacht von Reading.« Mr G verschränkte die Finger wie im Gebet. »Ansonsten aber ein überaus beschaulicher Tag. An jenem Freitag wurden in ganz London gerade einmal vier Morde gemeldet: Jessie und Jermey Unwin, die es wohl tatsächlich fertiggebracht haben, sich gegenseitig mit Lanzen zu durchbohren, Paul Devine, dem man Quecksilber gespritzt hatte und Nathan …«
»Mortlock«, fiel Cherry ihm ins Wort. »Nathan Mortlock war mein Vater. Er wohnte in der …«
»Gaslight Lane«, fiel Sidney Grice ihr ins Wort und richtete sich jäh auf.
»Ist das nicht der Ort des Garstang-Massakers?« Ich erinnerte mich, einen Bericht über die Morde gelesen zu haben, als ich noch in Parbold lebte, sowie später noch eine andere Version aus der Feder Trafalgar Trumpingtons, jenes skrupellosen Schmierfinks, der meinen Ruf nach unserem Kennenlernen schamlos in den Schmutz gezogen hatte.
»Garstang«, hauchte mein Vormund, und sein Gesicht erstrahlte wie die Züge eines Sehers. »Ein geheiligter Name in den Annalen des Verbrechens.«
»Sie werden verstehen, wieso ich einen anderen Nachnamen verwende.« Cherry senkte das Haupt. »Wenngleich Sie mich jetzt auch gerne Mortlock nennen dürfen. Ich bezweifle, dass Sie unter hundert Menschen auch nur einen finden, der nicht wüsste, was der Familie meines Großonkels widerfahren ist.«
»Und wenn man der Presse glauben darf – was gelegentlich sogar der Fall ist –, hat Ihren Vater ein ganz ähnliches Schicksal ereilt«, ergänzte Sidney Grice und rührte dabei vergnügt in seinem ungesüßten milchfreien Tee – exakt sechsmal im Uhrzeigersinn und sechsmal in der Gegenrichtung.
»Man fand ihn mit durchschnittener Kehle in seinem Bett«, flüsterte Cherry kaum vernehmbar, »und zuvor wurde er erdrosselt.«
»Zwei Tötungsarten zum Preis nur eines Mordes«, vermerkte Mr G munter.
»Wer hat ihn gefunden?«, erkundigte ich mich, und als sie den Ring berührte, fuhr ich mit der Hand unwillkürlich an jene Stelle, wo auch ich einst einen getragen hatte – unterm Kleid an einer Kette.
Cherry Mortlock hob den Kopf. »Sein Kammerdiener.«
»Und wie heißt der?« Mein Vormund schüttelte seinen Löffel trocken.
»Austin Hesketh.«
»Der Name kommt mir bekannt vor.« Mit Cherrys Zustimmung goss ich Milch in unsere beiden Tassen.
»Er hat schon Großonkel Holford gedient.« Unser Gast zupfte sich am Ärmel.
»Und in der Nacht des Blutbads weilte er angeblich bei seiner kranken Mutter in …« Mr G durchforstete sein enzyklopädisches Gedächtnis. »… Nuneaton.«
»Das angeblich können Sie getrost fortlassen.« Cherry strich sich über den Ärmel, als gälte es, eine Wespe zu verjagen. »Die Polizei hat damals alles penibel überprüft, und Unmengen von Zeugen haben unabhängig voneinander ausgesagt, dass er in dieser Nacht nicht in London war.«
Mr G hob seine Tasse und beäugte Cherry über den Rand hinweg. »Sämtliche Fakten sind angeblich, solange ich sie nicht überprüft habe.« Dann nippte er anerkennend an seinem Tee.
»Wie ich mich entsinne, ist auch Ihr Vater damals in Verdacht geraten.«
»Ich habe nie verstanden, warum.« Cherrys Tasse klirrte auf der Untertasse. »Gewiss, er hat das Vermögen der Garstangs geerbt, aber er hat damals die gesamte Nacht in einer Gefängniszelle verbracht – und ein besseres Alibi kann man sich ja wohl kaum vorstellen.«
»Ich könnte Ihnen vierzehn bessere aufzählen.« Mr G stellte seine Tasse ab und drehte den Henkel sorgfältig in den gewünschten Winkel. »Doch sechs davon scheiden in diesem Falle aus.«
»Das spanische Hausmädchen hat ebenfalls überlebt«, erinnerte ich mich.
»Angelina Innocenti.« Sidney Grice legte die Fingerspitzen aneinander.
»Ja, leider«, bestätigte Cherry verbittert. »Sie mag ihrer gerechten Strafe entgangen sein, indem sie vorgab, irre zu sein, doch war der Name einer Frau wohl nie so trügerisch. Sie war gewiss kein Engel – und schon gar nicht unschuldig. Es steht wohl außer Zweifel, dass sie es war, die die Taten begangen hat, und jetzt sitzt diese Teufelin in Broadmoor und lässt sich’s gut gehen.«
»Ich hoffe sehr, dass man sie dort besser im Auge behält als einst Miss Grebe.« Sidney Grice klimperte mit seinen langen Wimpern.
»Wer?«, fragte Cherry reflexhaft.
»Hezzuba Grebe, die Taubenvergifterin von Primrose Hill«, erklärte ich. »Sie ist kurz vor Weihnachten ausgebrochen, und die Behörden haben keinen Schimmer, wo sie steckt.«
»Der durchschnittliche Polizist findet nicht einmal sich selbst in einer Kleidertruhe«, spottete mein Vormund.
»Wenn sie nur Vögel umgebracht hat, wieso sitzt sie dann in Broadmoor?«, erkundigte sich Cherry geistesabwesend.
»Unter normalen Umständen hätte man ihr womöglich einen Orden für ihre Verdienste bei der Schädlingsbekämpfung verliehen.« Mr G zog seine Taschenuhr auf. »Hezzuba Grebe allerding war von Beruf Köchin und tischte die Vögel ihren Herrschaften auf. Beim ersten Mal hätte es sich noch um ein tragisches Versehen handeln können, doch als innerhalb von nicht mal drei Jahren in sechs Häusern, die sie beschäftigten, insgesamt fünfundzwanzig Menschen starben, schöpfte man langsam Verdacht.«
Cherry stöhnte auf. »Hat irgendetwas davon mit dem Tod meines Vaters zu tun?«
»Womöglich«, der große Detektiv lauschte dem Ticken seiner Taschenuhr, »nicht.«
»Was macht Sie so sicher, dass Angelina Innocenti schuldig war?«, wollte ich wissen. »Wenn ich mich recht erinnere, wurde sie nie angeklagt.«
»Wer hätte es denn sonst gewesen sein können?«, fragte unsere Besucherin erregt. »Schon bevor mein Vater das Haus noch sicherer gemacht hat, war es eine Festung. Niemand hätte in dieser Nacht hinein- oder hinausgelangen können.« Sie ließ einen halben Löffel Zucker in ihren Tee gleiten. »Aber ich bin nicht hier, um diese alte Geschichte aufzuwärmen. Mein Vater ist ermordet worden, und die Ermittlungen der Polizei laufen ins Leere. Ich will Gerechtigkeit, Mr Grice. Ich will meinen Vater beisetzen können und mein Erbe antreten.« Sie nahm einen Schluck Tee. »Es tut mir leid, wenn Letzteres Ihnen vulgär erscheinen mag.«
»Geld, meine liebe Miss Mortlock, ist nie vulgär«, stellte mein Vormund fest, »nur die Menschen, die keines haben, sind es.«
Es war wohl kaum der rechte Zeitpunkt, ihm zu sagen, dass ich in unserer Stadt schon so einigen maßlos vulgären Menschen mit einer Menge Geld begegnet war.
»Er ist noch nicht beigesetzt worden?«, fragte ich nach. »Nach drei Wochen? Wie entsetzlich für Sie.«
»Ganz recht«, grinste Sidney Grice. »Doch wie vortrefflich für mich.«
»Vortrefflich?«, wiederholte Cherry entgeistert.
»In der Tat«, bekräftigte er. »Es gibt nur vierzehn Dinge, die ich mehr hasse, als einen Mord zu untersuchen, ohne die Leiche gesehen zu haben.«
Cherry Mortlock atmete scharf ein. »Sie sprechen hier über meinen Vater.«
»Wir können auch über das Wetter plaudern, wenn Ihnen das lieber ist«, schlug er vor. »Meine Zeit ist schließlich Ihr Geld, und wo wir gerade davon reden …« Er zog eine Schublade heraus und reichte ihr ein Blatt Papier. »… ich habe sämtliche Honorare vereinheitlicht und sie hier aufgeführt.«
Cherry griff in ihre Satinhandtasche, brachte eine goldberänderte Brille zum Vorschein und setzte sie sich, wie mein Vormund schon beobachtet hatte, ganz vorn auf die Nasenspitze. »Sie sind sehr teuer, Mr Grice. Charlemagne Cochran verlangt nicht einmal die Hälfte dieser Summe.«
Allein die Erwähnung seines verhassten Rivalen ließ meinen Vormund vor Zorn erbleichen. »Und meine Köchin würde Ihnen nicht einmal ein Vierzehntel davon berechnen«, räumte er ein, »doch das Ergebnis wäre dasselbe. Wenn Ihnen daran gelegen ist, umgarnt und umschmeichelt zu werden, dann sollten Sie ihn auf der Stelle engagieren, aber Scharlatan Cochran hätte Adam und Eva für den Mord an Abel festgenommen.«
Cherry Mortlock nahm die Brille ab. »Immerhin hat er den Regent-Street-Würger gefasst.«
Mein Vormund schnaubte entrüstet auf. »Christopher Focton war ebenso unschuldig, wie Sie es sind, Miss Mortlock – und ich gehe davon aus, dass Sie für jedes dieser Verbrechen ein Alibi haben. Wenn er über die Mittel verfügt hätte, meine Dienste in Anspruch zu nehmen, hätte ich Mr Focton an einem einzigen Nachmittag vor dem Galgen bewahren können. Der wahre Übeltäter ist ein peruanischer Phrenologe, der in den dunklen Gassen Glasgows noch immer sein Unwesen treibt. Aber es schert so gut wie niemanden, wer in dieser entlegenen Stadt stirbt, mich am allerwenigsten.«
Sie lauschte ihm argwöhnisch. »Also gut«, beschloss sie schließlich. »Ich werde Ihnen ein Angebot machen, Mr Grice. Sobald der Mörder meines Vaters auf der Anklagebank sitzt und schuldig gesprochen wird, werden Sie Ihr Honorar bekommen – plus zehn Prozent. Andernfalls erhalten Sie keinen müden Penny.«
»Ach, Miss Mortlock, Sie appellieren an einen meiner edelsten Wesenszüge.« Sidney Grice zupfte sein vernarbtes Ohr. »Meine Gier.«
»Dann steht unser Geschäft?«
Mr G zog ein Schriftstück hervor. »Sie haben den Geschäftssinn Ihres Großonkels. Lass Sie uns hoffen, dass Sie nicht auch sein Schicksal teilen.«
»Ich kann nicht glauben, was Sie da gerade gesagt haben«, schimpfte ich.
»Wäre es Ihnen denn lieber, wenn es so kommen würde?« Mein Patenonkel warf unserem Gast das Blatt in den Schoß. »Das ist mein Spezialkontrakt. Bitte beachten Sie insbesondere die Konditionen für eine Vertragsauflösung in Paragraph fünf sowie die strenge Verschwiegenheitspflicht.«
»Ich bin mir sicher, dass ich mich auf Ihre Diskretion voll und ganz verlassen kann«, erwiderte Cherry gönnerisch.
»Ich ebenso.« Sidney Grice polierte seinen Daumennagel am Revers. »Und um auch die Ihre sicherzustellen, verpflichtet sich der Klient mit diesem Vertrag, über alles, was mit unseren Ermittlungen zu tun hat, vierzehn Jahre lang Stillschweigen zu bewahren.« Er schloss die Schublade.
»Ich werde ihn zu Hause lesen.« Cherry Mortlock faltete das Schriftstück zusammen und steckte es in ihre Handtasche.
»Tun Sie das, unterzeichnen Sie ihn sorgsam und schicken Sie ihn mir baldmöglichst zurück.« Dann neigte sich Mr G zu ihr vor. »Eine Sache noch, Miss Charity Mortlock. Machen Sie sich keinerlei Illusionen: Sollte ich herausfinden, dass Sie eine Vatermörderin sind, werde ich nicht zögern, die Polizei zu verständigen.«
Cherry brauste wutentbrannt auf. »Wieso um alles in der Welt würde ich Sie engagieren, wenn ich schuldig wäre?«
Mein Vormund zuckte mit den Schultern. »Ich habe bereits drei Klienten an den Galgen gebracht, und alle haben mich exakt dasselbe gefragt. Ich möchte tunlichst vermeiden, dass Sie die Nummer vier werden.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Ihnen das etwas ausmachen würde«, gab sie missmutig zurück.
»Es würde mir sehr wohl etwas ausmachen.« Mr Gs Blick glitt zur Seite. »Es ist furchtbar schlecht fürs Geschäft.« Dann lehnte er sich zurück. »Trinken Sie Ihren Tee. Ich habe vierzehn Fragen, die ich Ihnen stellen muss.«
»Gibt es bei Ihnen denn immer vierzehn Stück von allem?«
»Heute schon«, entgegnete er gelassen.
Cherry Mortlock ließ ihre Handtasche zuschnappen, seufzte tief, und einen Moment lang dachte ich schon, sie würde gehen.
»Erzählen Sie uns von Ihrem Vater«, forderte ich sie auf.
»Was würden Sie denn gerne wissen?«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?« Um sie zum Bleiben zu bewegen, schenkte ich ihr Tee nach, doch sie würdigte ihn keines Blickes.
»Am ersten Weihnachtsfeiertag.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich stattete ihm einen Besuch ab, um mich mit ihm zu versöhnen.«
»Weswegen hatten Sie sich denn zerstritten?« Sidney Grice streckte den Arm aus und holte aus der Kommode neben sich ein rotbraunes ledergebundenes Notizbuch.
Cherry umklammerte ihre Handtasche. »Ich hege solch glückliche Erinnerungen an meinen Vater. Als er jung war, konnte man stundenlang mit ihm plaudern und lachen. Wir hatten damals zwar keinen Penny, aber – wie er stets zu sagen pflegte – wir hatten auch keine Sorgen.« Sie hantierte am Verschluss herum. »All das änderte sich, als wir nach Gethsemane zogen. Wir wurden zwar reich, doch die Umstände, unter denen er zu seinem Vermögen gelangt war, machten ihn zu einem Aussätzigen, den die Gesellschaft fortan mied. Es kursierten Gerüchte, er habe jemanden dafür bezahlt, den Haushalt seines Onkels zu ermorden, und wenn sich doch noch jemand mit ihm abgab, dann aus reiner Sensationsgier. Er wurde mürrisch und reizbar, litt unter entsetzlichen Kopfschmerzen und bekam furchtbare Wutanfälle.« Sie zögerte. »Selbst meiner Mutter wurde das Leben mit ihm bald unerträglich. Ihr Name ist Fortitude, wie passend, denn es verlangte ihr viel Tapferkeit ab, diese Ehe durchzustehen. Vor drei Jahren hat sie ihn schließlich verlassen.« Cherry stellte ihre Handtasche auf den Boden. »Sie ist mit einem italienischen Bildhauer und Zeichner namens Montanari durchgebrannt.«
»Agostino Cristiano Montanari?« Sidney Grice tupfte ein Zuckerkörnchen vom Tablett und fügte auf ihr Nicken hin an: »Ich bewundere sein Werk seit langem.«
»Aber Sie machen sich doch gar nichts aus Kunst«, wandte ich ein.
»Ich verabscheue Kunst und alles, was sich als solche ausgibt«, pflichtete er mir bei, ohne den Blick von unserem Gast zu wenden. »Und wo sind die Turteltauben jetzt?«
Cherry Mortlock verzog das Gesicht. »In einem Dorf am Genfer See.«
»Die Schweiz.« Das Wort allein schien Mr G Schmerzen zu bereiten. »Ein scheußliches Land, zum Bersten vollgepackt mit unnötigen Bergen und unnützen Tälern, allesamt verseucht mit laktierenden Wiederkäuern, Republikanern und Kuckucksuhren.« Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog seinen mechanischen Mordan-Bleistift hervor. »Doch wie mir scheint, ist Ihre Mutter nicht die Einzige, die mit Künstlern verkehrt.«
Ihr Kopf schnellte zurück. »Jetzt weiß ich, dass Sie sich über mich kundig gemacht haben.«
Sidney Grice machte sich rasch eine Notiz. »Als Sie vorhin so überaus anmutig durch mein Studierzimmer schlenderten, haben Sie mit Hilfe Ihrer andalusischen Kuhlederstiefel drei Krümel halb getrockneter Ölfarbe auf meinem unzulänglich polierten Boden aus Hampshire-Eiche hinterlassen.« Er deutete mit seinem Bleistift darauf. »Zwei davon Berliner Blau, der dritte gebrannte Umbra. Wo sonst sollten sie herrühren als aus einem Atelier?«
Plötzlich sprang Spirit hervor. Sie musste sich unter dem Schreibtisch versteckt haben, wo sie gern mit den Papierkugeln spielte, die mein Vormund in Richtung Abfallkorb schleuderte, denn das Erste, was ich sah, war ein weißes Knäuel, das durchs Zimmer flitzte, unter meinen Stuhl huschte und schließlich mit einem Riesensatz auf dem Schoß unserer Besucherin landete.
Cherry schnellte empor.
»Es tut mir ja so leid«, rief ich.
»Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass diese widerliche Bestie oben bleiben soll, insbesondere, wenn wir Klienten empfangen«, schalt mich Mr G.
»Ich hatte ganz vergessen, dass sie hier war.« Ich machte Anstalten, sie fortzuscheuchen, doch Cherry lachte nur.
»Bitte, machen Sie sich keine Umstände. Ich liebe Katzen. Aber mein Vater hat mir nie Haustiere erlaubt.« Zärtlich strich sie Spirit über den Rücken. »So ein wunderschönes Fell.«
»Wir haben sie aus einer Fabrik gerettet, wo man sie wegen ihres Fells gezüchtet hatte«, erklärte ich, und unser Gast zuckte zusammen.
»Wie barbarisch.« Sie fuhr mit dem Daumen über Spirits Hals, und jetzt erst fiel mir auf, dass unsere Besucherin außergewöhnlich lange Finger besaß. »Habe ich sie verärgert? Sie schnurrt ja gar nicht.«
»Sie wird auch nicht miauen«, antwortete ich. »Sie ist stumm.«
»Was Sie mehr als wettmachen, Miss Middleton«, ließ Mr G mich wissen und wandte sich wieder unserer Klientin zu. »Wann haben Sie denn das letzte Mal mit Ihrer Mutter gesprochen?«
»Ich habe kein Wort von ihr gehört, seit sie mir am Vorabend ihrer Flucht gute Nacht sagte.« Cherry ließ Spirit an ihren Fingern schnüffeln.
»Haben Sie je versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen?«, fragte ich, worauf Cherry kurz innehielt.
»Sie weiß ja, wo ich bin, doch was sie betrifft, wird mir diese Ehre nicht zuteil.«
»Wäre es möglich, dass sie zurückgekehrt ist?«, wollte ich wissen.
»Um ihren Mann zu ermorden?«, erwiderte Cherry stirnrunzelnd. »Sie hatte entsetzliche Angst vor ihm.«
»Und was ist mit dem Bildhauer?« Ich schob unserem Gast das Milchkännchen hinüber.
»Ich habe ihn nur ein einziges Mal getroffen.« Sie kraulte Spirit hinter dem Ohr. »Er war ein sanftmütiger Mann. Ich schätze, deshalb ist sie ihm verfallen.«
»Wie angenehm es doch ist, seine Zeit mit müßigem Spekulieren zu vergeuden«, spottete Mr G. »Was ist am ersten Weihnachtstag geschehen?«
»Sie verstehen sich darauf, stets zur Sache zu kommen, Mr Grice.« Cherry atmete schwer aus. »Letzten Sommer belegte ich einen Malkurs, wenn auch nur, um der bedrückenden Atmosphäre zu Hause zu entfliehen. Mein Lehrer war ein Künstler der präraffaelitischen Schule, Fabian Le Bon. Wir haben uns ineinander verliebt. Er ist arm. Mein Vater missbilligte die Verbindung – und zwar aufs schärfste –, also bin ich fortgegangen. Eine meiner Mitschülerinnen, Maria Feltner, hat mich bei sich in der West Grundy Street aufgenommen. Das war im Oktober. Im November hatte Fabian eine kleine, aber recht erfolgreiche Ausstellung und erhielt eine Reihe von Aufträgen. Ich hatte gehofft, dies und die weihnachtliche Stimmung würden meinen Vater besänftigen und womöglich umstimmen.« Sie liebkoste Spirits Rücken. »Doch sein einziges Zugeständnis bestand darin, selbst zur Tür zu kommen, nachdem Easterly, unser Butler, es nicht übers Herz brachte, mich fortzuschicken.« Sie seufzte tief. »Mein Vater hat ihm diese Aufgabe dann abgenommen – mit Freuden sogar. Er hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen und mich im Schnee stehen lassen.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Als ich ihn das nächste Mal sah, lag er im Leichenhaus.«
»Und wo war Mister Le Bon während dieser missglückten Versöhnung?«, suchte Mr G nach.
Die Kaminuhr schlug die Viertelstunde.
»Er wartete außer Sichtweite im Park.«
Ich blickte Cherry Mortlock scharf an. »Hat Ihr Vater Sie je geschlagen?« Ich glaubte, unter ihrem rechten Auge ein leises Zucken wahrzunehmen.
»Mich nie.« Unsere Besucherin lehnte sich zurück, während Spirit ihr mit dem Schwanz um die Nase strich. »Aber meine Mutter hat er geohrfeigt, kurz bevor sie ihn verließ, und als er einen Fehler in ihrer Abrechnung entdeckte, hat er unsere Haushälterin Mrs Emmett so heftig gestoßen, dass sie stürzte und mit dem Kopf auf das Kamingitter schlug. Sie war bewusstlos, und als sie wieder zu sich kam, glaubte sie, es sei ein Unfall gewesen.« Cherry schob den Katzenschwanz zur Seite. »Ich weiß nicht, ob sie sich je ganz davon erholt hat.«
»Wie haben Sie vom Tod Ihres Vaters erfahren?«, fragte ich.
»Hesketh hat mir ein Telegramm geschickt. Bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Vater in der Nacht verschieden ist.« Sie erschauderte. »Bei ihm hörte es sich so friedlich an.«
»Vielleicht war es ja schneller und weniger schmerzhaft als Sie glauben«, gab ich zu bedenken, »insbesondere, da es im Schlaf geschehen ist.«
Cherry Mortlock hob die Schultern. »Es war ein stümperhafter Mord.« Ihre Schultern sanken hinab. »Mein Vater muss wach gewesen sein und sich gewehrt haben.« Sie rang um Fassung. »Die Polizei hat mir erzählt, sein Hals sei von Schnittwunden übersät gewesen.«
»Ich kennen viele Fälle, bei denen ein Selbstmörder die Rasierklinge etliche Male über Hals oder Pulsadern geritzt hat, bevor er den Mut für den tödlichen Schnitt aufbrachte«, merkte Sidney Grice an.
Unser Gast schloss die Augen. »Sein Hals war bis zur Wirbelsäule aufgeschlitzt. Meinen Sie, er hätte sich das selbst zugefügt?«
Mr G zupfte sich am Ohrläppchen. »Ich habe lediglich festgestellt, dass es auch andere Erklärungen für multiple Schnittverletzungen gibt.«
»Er wurde niedergemetzelt«, rief Cherry aus. »Reicht das etwa nicht? Was wollen Sie denn noch?«
»Seinen Mörder fassen und mein Honorar kassieren.« Mr G hielt seinen Bleistift waagerecht in die Luft und lugte darunter hindurch. »Wer ist für den Fall zuständig?«
»Inspektor Quigley.« Cherry verzog die Miene. »Ein grauenvoller Mann.«
»Da kann ich Ihnen nur beipflichten«, beschied ich ihr. »Das letzte Mal, als ich mit ihm zu tun hatte, wollte er mich zwingen, ein Geständnis zu unterschreiben – ich sollte gestehen, einen unserer Klienten umgebracht zu haben.«
»Wie schade, dass Sie dem nicht nachgekommen sind«, beklagte Sidney Grice. »Damit hätte ich seine Niedertracht beweisen können. Aber früher oder später werde ich ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.«
»Er macht einen recht gewissenhaften Eindruck«, widersprach Cherry. »Aber ich glaube nicht, dass er irgendwelche Fortschritte macht.«
»Er ist weniger unfähig als die meisten anderen seines Berufsstandes.« Mein Vormund rieb sich die Schulter. Bei solch klammem Wetter machte ihm die alte Wunde mehr zu schaffen. »Aber für die Torheiten des schwachen Geschlechts hat er weniger Geduld als ich.«
Cherry und ich wechselten vielsagende Blicke.
»Haben Sie das Schlafzimmer Ihres Vaters gesehen?«, fragte ich, worauf sie den Kopf schüttelte.
»Ich würde es nicht einmal über mich bringen, das Haus zu betreten, bevor es nicht sorgfältig gereinigt wurde.«
Sidney Grice’ Hand schnellte an sein Auge. »Sie haben es noch nicht säubern lassen?«
»Noch nicht«, versicherte sie ihm. »Wenn der Erbschein ausgestellt ist und das Haus mir gehört, wird es das Erste sein, was ich tue. Die Polizei hat es bereits durchsucht. Soll mein Zuhause denn weiterhin aussehen wie ein Schlachthof?« Ihre Stimme schwoll an. »Gütiger Himmel, dieses Zimmer muss noch immer voller Blut sein, dem Blut meines Vaters.«
Cherry Mortlocks Brust krampfte sich zusammen.
»Nein.« Sidney Grice schlug sein Notizbuch zu. »Es ist voller Spuren, und ohne meine ausdrückliche Erlaubnis werden Sie nichts anrühren.«
»Ihre …?« Unsere Besucherin hob Spirit hoch und setzte sie behutsam auf den Teppich. »Ich kann nicht mit Ihnen zusammenarbeiten, Mr Grice. Sie sind der unangenehmste Mensch, der mir je begegnet ist.«
»Geben Sie mir vierzehn Tage, und ich werde Sie mit mindestens einer Person bekannt machen, die noch weitaus widerwärtiger ist als ich.« Mein Vormund ließ die Mine wieder in seinem Bleistift verschwinden.
Cherry Mortlock zwinkerte zweimal. »Nun gut«, willigte sie schließlich ein. »Aber keinen Tag länger.«
»Ist das Haus derzeit bewohnt?«, fragte ich sie.
»Hesketh und die anderen Dienstboten sehen dort nach dem Rechten.« Sie setzte wieder ihre Brille auf. »Die Polizei hat das Schlafzimmer meines Vaters versiegelt.«
»Und wo ist Ihr Vater jetzt, wenn ich fragen darf?«
»Im Himmel, so hoffe ich«, erwiderte sie. »Seine sterblichen Überreste liegen bei Snushall and Sons, dem Bestatter in der Gordon Street.«
»Lassen Sie den Diener Ihres Vaters wissen, dass er uns erwarten und einlassen soll.« Mr G sprang auf und eilte zurück zu seinen Aktenschränken. »Ich werde mich bei Ihnen melden, wenn ich es für nötig halte.«
Cherry Mortlock schaute mich entgeistert an.
»Sind wir …?«
»Unsere Unterredung ist für heute beendet.« Er öffnete zwei Schubladen auf einmal. »Aber Sie dürfen gern noch Ihren Tee austrinken, solange Sie versprechen, mich nicht mit Ihrem geistlosen Geschwätz abzulenken.«