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Piper Verlag GmbH, München 2019
Abbildungen Bildteil: Nicole Dau; 3 Abbildungen von Sophia Mahnert
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Sophia Mahnert
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Es ist eiskalt, windig, und es regnet. Ich versuche verzweifelt, den Kamin anzuwerfen. Doch statt gemütlich knisternder Wärme bekomme ich einen dicken Schwall Rauch ins Gesicht. Meine Augen brennen, ich huste, der Kohlenmonoxidmelder schreit los, als gäbe es kein Morgen. Zehn Quadratmeter sind eben schnell komplett verqualmt, wenn unaufhörlich Rauch nachströmt. Ich reiße die Tür auf, um den giftigen Schwaden zu entkommen. Von draußen strömt frische Luft herein. Meine Lungen freuen sich, aber dadurch wird es noch kälter in meinem neuen Zuhause. Was jetzt? Tod durch Kälte? Oder lieber durch Rauch? Eine schwere Entscheidung. Erst mal setze ich den lärmenden Melder vor die Tür. Ich weiß, da gehört er nicht hin. Es hat schließlich einen Grund, dass er gerade jetzt zur Höchstform aufläuft. Aber ich kann kaum denken bei dem Krach, und dass ich den Kamin irgendwie davon überzeugen muss, den Rauch nach oben hinauszublasen und nicht nach unten ins Wohnzimmer hinein, das ist mir inzwischen auch ohne technische Gerätschaften klar. Höchst dilettantisch schütte ich eine Flasche Wasser in die Luke des Kamins, um die Glut zu killen. Langsam hört es auf zu rauchen. Erst gestern haben wir das Ofenrohr gereinigt. So ein verdammter Mist, wieso zieht das blöde Ding denn jetzt nicht? Ist es der Wind? Heute bläst er stark von Osten, anstatt aus südlicher Richtung wie in den Wochen zuvor. Liegt es daran? Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich bin schließlich gerade im Home Office und habe noch einiges an Arbeit vor mir. Das Heizungsproblem muss bis nach Feierabend warten. Hoffentlich findet sich dann eine Lösung, der Winter hat doch gerade erst begonnen. Ich wickle mir eine dicke Wolldecke um die Beine und setze mich bei geöffneter Bauwagentür wieder vor meinen Laptop. Dann schreibe ich den Artikel für den Kunden eben unter Zähneklappern fertig. Kurz, aber wirklich nur ganz kurz, wünsche ich mich zurück in die beheizten Räume meiner Stadtwohnung. Die Heizung dort rauchte nie. Aber sie knisterte abends auch nicht so schön, wie das unser Ofen tut – solange der Wind aus Süden weht.
Ein paar Hürden gibt es immer auf dem Weg zum Glück. Erst recht, wenn das eigene Glück darin besteht, sehr viele Dinge zum ersten Mal zu tun. Ein wenig Trial-and-Error gehört da zum Programm. Doch wie viel Error ist erträglich? Unser selbst gebautes Tiny House ist noch nicht einmal halb fertig. Das geplante Schlafloft, mit dem wir unseren acht Meter langen Bauwagen um eine Etage erweitern wollen, ist nur ein kahles Gerüst, der Zugang zur zweiten Hälfte der unteren Etage ist mit einem Brett vernagelt. Dort fehlen noch Wände, der Boden ... na ja, eigentlich alles. Nur der kleine Bereich, in dem ich fröstelnd vor dem Laptop sitze, ist einigermaßen isoliert – und nun voller Rauch. Weitere Rückzugsmöglichkeiten gibt es nicht. Sieht so nun mein Leben aus? Ist das der Traum vom Tiny House auf dem Land? Warum wollte ich noch mal raus aus meinem gemütlichen, fertigen Stadtnest mitten in Hamburg-Altona? Aus unserer kleinen, aber muckeligen Wohnung mit fließendem Wasser und einer Badewanne? Die Badewanne! Oh, wäre das jetzt schön, so ein warmes Schaumbad. Ich habe aber keine Badewanne mehr. Um ehrlich zu sein, reicht es nicht mal für ein Fußbad. Wenn ich Wasser will, muss ich hundert Meter durch den Regen und über eine matschige Wiese gehen, um mir in der alten Bauernküche des Hofgebäudes ein paar Flaschen oder Eimer aufzufüllen. Und wenn ich schon mal dort bin, gehe ich am besten auch gleich mal aufs Klo. Das gibt’s in meinem neuen Zuhause nämlich auch noch nicht. Beim Urlaub auf einem Campingplatz macht einem das ja schließlich auch nichts aus. Nur ist das hier kein Urlaub, es ist mein Alltag, mein Leben. Manchmal kommen mir in solchen Momenten Zweifel. Haben wir uns zu viel vorgenommen? Ja, die jetzige Situation ist ein Zwischenschritt, die Bauphase läuft. Es wird irgendwann fließendes Wasser geben, eine funktionierende Küche, ein eigenes Klo. Aber hätten wir unser neues Heim nicht lieber erst fertig bauen sollen, anstatt mitten im Winter in eine halb fertige Baustelle zu ziehen? Es sollte ein Abenteuer werden. Ich sehe, wie mein Atem vor meinem Mund weiße Wölkchen in der Kälte bildet, während ich am Laptop sitze.
Ein Abenteuer. Das ist es geworden.
Die Sorge ist dabei meine ständige Begleiterin, an deren raunende Stimme ich mich langsam gewöhnt habe. Ich mache mir Sorgen, ob meine handwerklichen Fähigkeiten genügen und ob meine Zeiteinteilung aufgeht. Nicht ein einziges Mal aber habe ich in den vergangenen Wochen meine grundsätzliche Entscheidung für dieses Leben infrage gestellt. Denn trotz qualmender Öfen und nächtlicher Wanderungen zum Klo gehe ich in diesem reduzierten Lebensstil zwischen grünen Feldern, baumgesäumten Landstraßen und dem scharfen Wind des Wendlandes richtig auf.
Der Kohlenmonoxidmelder hat inzwischen auch aufgehört zu pfeifen.
Wenn ich nicht vor dem Laptop sitze und als PR-Beraterin Texte schreibe und Kampagnen gestalte, baue ich mit meinem Mann Carsten am Haus. Ständig, bei Wind und Wetter, es soll ja fertig werden. Das Wort Freizeit bedeutet für uns seit Monaten lediglich freie Zeit von unseren eigentlichen Jobs. Wochenendtrips, Kinobesuche oder einfach mal nichts tun sind im Moment nicht drin. Darauf verzichte ich aber gerne, wenn ich dafür neue Erfahrungen sammeln darf. Und wenn es nur die Erkenntnis ist, dass sich die meisten meiner Sorgen beim Praxistest immer wieder in Luft auflösen.
Wir sind keine Tischler, haben keine handwerkliche Ausbildung – YouTube-Tutorials zählen nicht, oder? Carsten ist selbstständiger Heilpraktiker, und ich arbeite für eine Kommunikationsagentur in Hamburg. Sollten also gerade wir mit unseren eigenen Händen ein Haus bauen? Während wir bereits darin wohnen? Im Winter? Mit ein paar qualitativ fragwürdigen Werkzeugen von Ebay-Kleinanzeigen und lauter recycelten Materialien, die krumm und mit Nägeln gespickt sind? Vielleicht nicht unbedingt. Haben wir dabei gleichzeitig den Spaß und auch den Stress unseres Lebens? Auf jeden Fall! Stellen wir dabei jeden Tag aufs Neue fest, dass unsere körperlichen und geistigen Grenzen meist nur in unseren Köpfen existieren? Aber sicher! Wir haben gelernt, dass »Ich kann das nicht!« eigentlich nur »Ich habe das noch nie gemacht und traue mich nicht« bedeutet. Also trauen wir uns einfach mal was. Das hat damals mit dem Bulli und unserem Wunsch nach Veränderung ja auch geklappt. Also fast ...
Vor dem Rauch, dem Leben auf dem Land und im Tiny House ist einfach alles irgendwie festgefahren. Jeder Tag fühlt sich gleich an. Ich wohne mit Carsten in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Hamburg, mitten in Altona, und habe eine 40-Stunden-Woche in einer Agentur. Am Anfang ist es spannend. Der Irgendwas-mit-Medien-Job, das trendige Szeneviertel, an jeder Ecke coole, kleine Bars und Lädchen mit coolem, kleinen Nippes. Immer ist etwas los, ein buntes Treiben aus Menschen. Doch dann gehen ein paar Jahre ins Land, und etwas in mir ändert sich. Ich gehe nicht mehr in die Bars und auch nicht mehr in die Lädchen. Das bunte Treiben wird zu einem anstrengenden, hektischen Rauschen. Ich habe das Gefühl, nur noch vor dem Computer zu sitzen, und selbst am Wochenende ist es höchstens ein bisschen Haushalt, ein bisschen Einkaufen, vielleicht mal noch die Freunde treffen. Aber auch dazu habe ich kaum noch Lust und Energie. Das ist ohnehin das Hauptproblem. Wo ist auf einmal meine Energie hin? Früher konnte ich kaum still sitzen, wollte immer losziehen, Menschen treffen, Abenteuer erleben. Stattdessen bin ich auf einmal zu dem geworden, was ich bei anderen Menschen immer anprangere: ein selbstmitleidiges Opfer meiner Unfähigkeit, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Dieses ständige Nörgeln und Unzufriedensein, ohne jemals wirklich etwas daran zu ändern. Wie war das nur passiert? Ich hatte auch schon zuvor immer mal Phasen, in denen ich mich nicht mehr wohlfühlte. Mein Patentrezept dagegen: umziehen, alle Brücken abreißen, neuer Ort, neue Wohnung, neuer Job. Alles auf Anfang und wieder neue Erfahrungen sammeln. In zweiunddreißig Lebensjahren bin ich bereits elfmal umgezogen. Diesmal fühlt sich diese Option aber falsch an. Ich finde Hamburg eigentlich trotz der Hektik nach wie vor interessant. Auch mein Job gefällt mir, nur eben nicht in diesem zeitintensiven Ausmaß. Dadurch habe ich auf einmal eine örtliche Bindung, die ich früher so nicht kannte – auch durch Carsten. Als Heilpraktiker für chinesische Medizin hat er sich über die Jahre schließlich seinen Patientenstamm in Hamburg aufgebaut. Außerdem: Was wäre denn die Alternative? Gibt es einen anderen Job, den ich machen möchte? Und wie sähe der aus? Wo will ich leben? Kurz und knapp: Wie soll es weitergehen? Einfach den Kopf in den Sand stecken oder sich lieber wie ein Erdmännchen neugierig aufrichten und Ausschau nach dem nächsten Coup halten, oder Feind, was eben gerade da ist? Ich wähle das Erdmännchen. Ich schaue mich um und spüre, dass ich gerne Hilfe hätte, vielleicht auch einfach nur einen Schubs in die richtige Richtung. Etwas, das mich aufrüttelt.
»Du bist eigentlich die Königin des Waldes, versteckst dich aber unter dem Deckmantel eines Gnoms«, höre ich Alex sagen. Ich strecke mich und blinzle. Wie war das gerade? Bis eben lag ich noch auf einer Liege, während Alex mit den Händen über meinen Körper gefahren ist und mir dabei Fragen stellte. Wie fühlt sich das an? Atmest du tief durch, oder hältst du die Luft an? Wenn ich deine Schläfen berühre, spürst du etwas an deinen Füßen? Glaubst du, dass dir als Kind ein Engel mit den Flügeln über das Gesicht gestrichen hat? Na gut, den letzten Teil füge ich in Gedanken hinzu. Ich bin etwas nervös. Alex ist Körpertherapeutin. Ihre Methode nennt sich Cranio-Sakral-Therapie. Ich hatte vor meiner Zeit auf Alex’ Liege noch nie etwas davon gehört. Aber auf der Suche nach meinem Schubs landete ich bei ihr. Sie strahlt Ruhe aus, Fröhlichkeit und hat ein offenes Lachen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was sie da tut. Ich erzähle ihr davon, dass ich unglücklich bin und nicht weiß, wie ich das ändern kann. Dass ich wütend bin, weil ich mir albern und wehleidig vorkomme. Dass ich noch wütender werde, weil ich nicht weiß, was ich tun muss, um mich nicht mehr so zu fühlen. Sie nickt, hört sich meine Sorgen an, stellt ihre Fragen. Sie fragt nicht, ob ich eine schwere Kindheit hatte oder was andere Therapeuten vielleicht sonst so fragen würden. Das ist gut. Ich bin bei ihr, weil ich nicht gerade der größte Fan von Psychotherapien bin. Ich freue mich, wenn sie anderen helfen. Ich bin aber ein sehr stark körperlich, eher haptisch orientierter Mensch und brauche mehr als nur ein Gespräch, damit sich neue Ideen und Gedanken in mir wirklich entwickeln können. Die Cranio-Sakral-Therapie ist anders als eine Psychotherapie. Sie hat sich aus der Osteopathie entwickelt und verfolgt das Ziel, durch verschiedene Handgriffe den Energiefluss im Körper wieder in sein Gleichgewicht zu bringen. Irgendwie so. Ich bin kein Experte darin. Das klingt erst einmal alles etwas esoterisch. »Die Königin des Waldes«, sag ich da nur. Schon klar. Aber es bleibt nicht bei diesem plakativen Spruch. Wir unterhalten uns viel, und sie hilft mir zu verstehen, was mich treibt und bremst. Sie hilft mir auch zu sehen, dass ich innerlich eigentlich doch ganz gut weiß, was ich will und wer ich bin. Unsere Gespräche entwickeln sich hin zu einer Art Jobcoaching. »Was ist dir das Wichtigste an deinem Job?«, fragt sie. Ich muss nicht überlegen. Na was schon? Vielseitigkeit, Abwechslung. Sie grinst nur. Ich werde rot und winke ab. Das sagt wahrscheinlich jeder. Aber nein. Sie grinst, weil es zu meinem Wesen passt. Die meisten anderen sagen: Sicherheit. Sicherheit? Mein Stichwort! Auf keinen Fall soll das mein oberstes Lebensziel werden! Niemals! Ich will etwas ändern, jetzt, bevor ich auch zu einem Sichherheitsjünger werde. Was habe ich zu verlieren? Ich bin doch sowieso nicht glücklich, es kann doch nur besser werden. Das Tiny House sehe ich noch nicht. Es wird mich später finden. Aber ich sehe einen Wunsch, den ich mir schon seit langer Zeit erfüllen wollte. Einen Bulli. Ein motorisiertes Stück Freiheit.
Schon bevor Instagram & Co. das Vanlife-Hashtag etablierten, fand ich die Vorstellung, mit einem Bulli die Welt zu entdecken, einfach magisch. Totale Flexibilität, keine Pläne – das pure Abenteuer. Alex verabreicht mir den Schubs, den ich brauche, und bringt mir meine Energie zurück. Ich will jetzt wieder impulsiv sein und handeln. Ich will mir das zurückerobern, was mich ausmacht. An die Stelle von Fröhlichkeit, einer »Einfach-mal-machen«-Attitüde, Begeisterungsfähigkeit und Zuversicht sind in den letzten Monaten immer mehr Sarkasmus, Ironie und Misanthropie getreten. Ja gut, ein wenig gehört das auch zu meinem Wesen. Was würde ich nur ohne Ironie machen? Das Leben wäre trist. Aber ab einem gewissen Punkt schwappt es schnell in Bitterkeit über. Dann wird es traurig, und darauf habe ich, salopp ausgedrückt, einfach keinen Bock. Mit achtzig kann ich immer noch bitter werden. So mit Katzen und Nachbarskinder anmotzen. Das wird klasse.
Zurück zum Wesentlichen: der Bulli. Vielleicht klingt das höchst unspektakulär. Wow! Sie kauft sich ein Auto, ist ja mal was ganz anderes! Aber ehrlich gesagt: Genau das ist es! Nach über drei Jahrzehnten auf diesem Planeten ist dies mein erstes, eigenes Auto. Was soll ich sagen? Ich war immer ein Stadtkind. Was willst du da groß mit einem Auto? Es gibt den öffentlichen Nahverkehr, Züge, Carsharing, Mitfahrgelegenheit und so weiter und so fort. Kein Grund, sich mit einem eigenen fahrbaren Untersatz unnötig zu belasten. Bei dem krassen Verkehr bin ich selbst mit dem Fahrrad schneller, und außerdem findet man in der Stadt nie einen Parkplatz. Doch mir geht es nicht mehr nur um ein normales Auto. Ich will eines, das groß genug ist, um darin schlafen zu können. Vielleicht sogar, um darin zu leben. Es macht einfach nur Spaß, im Netz die bunte Bulli-Parade (Autos, nicht den Comedian) zu bestaunen. Soll es ein VW sein oder doch ein Ford? Die haben ja auch ein paar coole Vans. Aber so ein T4 hat schon was. Die perfekte Größe, um auch entspannt durch den Stadtverkehr zu kommen, aber mit langem Radstand auch genug Platz zum Schlafen und Leben. Na gut, ein T4 also. So mit Campingausstattung im California-Modell sind die aber ganz schön teuer. Das hätte ich gar nicht gedacht. Dabei sind die doch auch schon zwanzig Jahre oder älter. Dennoch zehntausend Euro extra nur für ein paar Einbauschränke, Gasherd und Kühlschrank? Das ist eine Ansage. Am besten finde ich ja die Anzeigen »Für Bastler« oder wenn einfach nur eine ganze Reihe von zu behebenden Mängeln aufgelistet ist. Nee, sorry, Freunde, aber als Autojungfrau habe ich einfach nicht genug Ahnung davon, als dass ich mir gleich zu Beginn ein halb fahrunfähiges Teil aussuche. Uh, was haben wir denn da? Baujahr 2000, metallicblau, ein bisschen PS, um auch wenigstens den einen oder anderen Lkw mal versägen zu können – und der lange Radstand! Super, ein bisschen mehr Platz, um unser ganzes Geraffel einzupacken. Mit der U-Bahn sind es gerade mal zwanzig Minuten zum Halter in Hamburg. Den muss ich mir ansehen. Also den Bulli, nicht den Halter. Der Besitzer und junge Kitesurfer trifft Carsten und mich am Auto. Er und seine Kumpel würden nun doch nicht mehr so oft ans Meer fahren, dass sich so ein Bulli für ihn lohnen würde. Na gut, dann lass uns doch mal eine Runde mit dem Schmuckstück um den Block fahren. Ich steige ein und denke mir: Jetzt verstehe ich, was die Leute immer mit dem hohen Sitzen haben. Bei mir geht es zwar nicht um vermeintliche Alterserscheinungen und die herannahende Hüftarthrose, aber es ist irgendwie hammer, so von oben auf die anderen Verkehrsteilnehmer zu schauen. Muhaha, ich komme mir jetzt schon total mächtig vor. Okay, erst mal wieder ein bisschen beruhigen. Motor an und ... Ähm, wie geht der denn an? Ach so, der hat einen Startknopf. Wo? Hier unten? Ja klar, das wusste ich natürlich. Ich komme mir schon gleich ein bisschen weniger mächtig vor. So ist das im Leben, von wegen hohes Ross. Aber ich kann es fühlen, ich bin jetzt schon verliebt. Ich nehme die Kurven ganz selbstverständlich. Ich hätte irgendwie gedacht, dass sich so ein Bulli schwieriger fährt, wie ein kleiner Lkw eben. Man muss dazu sagen, dass ich bis dahin, wenn überhaupt, mit dem alten Twingo meiner Mutter oder kleinen Leihautos gefahren bin. Aber trotz der Größe des Autos bin ich total entspannt. Im Grunde brauchen wir gar nicht weiterzuschnacken. Kannst du ihn mir gleich zum Mitnehmen einpacken? Ach, den TÜV könnten wir vielleicht noch machen. Unser Kitesurfer gibt uns recht. Das gäbe uns doch ein bisschen mehr Sicherheit, dass auch wirklich alles in bester Ordnung ist.
Zwei Wochen später. Der Kitesurfer und ich treffen uns beim TÜV. Ein paar kleine Mängel hier und da, aber alles im Rahmen. Wieso jetzt ausgerechnet eine schwarze Klebefolie auf den Seitenfenstern als Sichtschutz ein Problem für den TÜV ist, wird mir wohl für immer ein Rätsel bleiben. Aber als alles gerichtet ist, kann ich es kaum erwarten, den Kaufvertrag zu unterschreiben und endlich mit meinem ureigenen Bulli in den Sonnenuntergang zu reiten.
Wir nennen ihn Slow Lori, nach den langsamen Äffchen aus Thailand. Eine Hommage an unsere Form der Fortbewegung: langsam, aber genau, wie und wohin wir wollen. Eines steht allerdings noch an: der Ausbau. Denn die Zehntausend-Euro-Maßanfertigung-Camping-Geschichte fehlt Slow noch. Aber wie schwer kann das schon sein? Und was wird uns so ein Selbstausbau wohl kosten? Geld ist ja im Grunde immer ein Problem. Geld ist vor allem immer eine wunderbare Ausrede. »Ich würde ja gerne mal dies und jenes tun, aber ich kann es mir einfach nicht leisten.« Das ist praktisch. Jeder fühlt sofort mit, denn Geld haben wir ja alle immer zu wenig. Das muss doch auch anders gehen. Natürlich.
»Carsten, wir müssen los!«, mein morgendlicher Standardgruß ab sofort. Schläfriges Blinzeln, unzufriedenes Grunzen, ein paar blonde Locken schauen unter der Decke hervor. Carsten ist nicht begeistert. Es ist Trüffelzeit! Trüffeln, so nennen wir unsere Sammelattacken, wenn wir gebrauchtes Material zum Bauen organisieren. Noch sind wir völlig ahnungslos, dass das Trüffeln für unser Tiny House eine wichtige Rolle spielen wird. Meine Suchaufträge bei eBay-Kleinanzeigen haben heute mal wieder ein paar super »Zu Verschenken«-Angebote gemeldet. Plexiglas, geil! Das können wir für die Zwischenwand zwischen Fahrerkabine und Schlafbereich nehmen. Ein paar Holzpaneele, perfekt! Nach der Isolation verkleiden wir damit den Innenraum. Das wird irre gemütlich, wie ein Mini-Wohnzimmer. Und da sind auch noch zwei Packungen Laminat. Das müsste genau reichen. Los, anziehen und ab dafür! Sonst ist es vielleicht schon weg. Unser neues Hobby frisst zwar Zeit, versorgt uns aber mit so ziemlich allem, was wir für den Ausbau benötigen. Besonders in größeren Städten wie Hamburg ist es gar kein Problem, ausreichend Material zu finden. Viele Leute haben wegen der hohen Mieten und Grundstückspreise nur kleine Wohnungen. Die halten es nur bis zu einem gewissen Grad aus, wenn man sie mit lauter ungenutzten Dingen vollstellt. Irgendwann ist eben kein Platz mehr. Dann heißt es: Weg damit, und jemand anderes kann sich darüber freuen.
So geht es ungefähr vier Monate. Materialien sammeln, Holzpaneele lackieren, sägen, schrauben, hämmern und flicken. Ich bin voll in meinem Element. Jeder Tag Arbeit am Bus zeigt sofort Erfolge und – wenn auch manchmal kleine – Entwicklungsschritte. So ist das mit der Handarbeit: Du siehst einfach direkt, was du geschaffen hast. Bei einem Tag Arbeit im Büro frage ich mich abends schon manchmal, was ich eigentlich heute die ganze Zeit gemacht habe. Natürlich sieht nicht alles perfekt aus, manches ist krumm oder fransig. Es gibt keine Tischlerwerkstatt, und wir müssen mit Stichsäge, Akkuschrauber und Bohrmaschine auskommen. Für mich persönlich macht aber gerade das auch den Charme aus. Ich mag es nicht so gerne korrekt, statisch und super präzise. Ein bisschen quer hier und da kann doch auch ganz schön sein.
Auf einmal steht er da, der kleine Slow, mit seiner Custom-Made-Camperausstattung. So was Hübsches. Heck auf und reingehuscht. Direkt links schnappe ich mir einen Griff und ziehe daran. Es öffnet sich eine Klappe, die sich als Schreibtisch entpuppt. Der ist besonders wichtig. Ich will ja nicht nur in den Urlaub fahren, sondern eigentlich gleich digitale Nomadin werden. Einfach mal die Wohnung kündigen, alles hinter mir lassen und von unterwegs aus arbeiten. Was brauche ich schon groß, außer dem Internet, für meinen Job? Auf Instagram gibt es doch auch ohne Ende Menschen, die alle von unterwegs aus ihrer Arbeit nachgehen. Social Media Manager, Blogger, Journalisten, diese ganzen »Entrepreneure«, die irgendeinen Onlineshop launchen. Was die können, kann ich schon lange! Hauptsache Reisen und die Welt sehen. Meinen Eltern war das nie besonders wichtig, daher habe ich in meiner Kindheit sehr wenig gesehen. Wir hatten in der Nähe unserer damaligen Heimatstadt Kassel einen Wohnwagen mit Vorzelt auf einem Dauercampingplatz. Da fuhren wir meist im Urlaub hin. Manchmal wurde es auch »exotisch«. In unserem Fall bedeutete das Center Parks in der Bispinger Heide, die Verwandten besuchen in der Nordeifel oder zur Kur an die Nordsee. Als Jugendliche nahm ich es dann selbst in die Hand. Mit Freunden ging es nach Spanien, Frankreich, Tschechien oder Russland. Später studierte ich Geowissenschaften und reiste für Exkursionen in die Schweiz, nach Italien, Schottland oder Luxemburg. Ich liebte es. Wie sagt Carsten ständig? »Die interessantesten Menschen triffst du immer auf Reisen.« Genauso ist es.
Ich wittere die Freiheit der Straße und die vielen tollen Abenteuer, die ich bestimmt erleben werde. Ich folge direkt auf Facebook mal der Seite von DNX, der Community für digitale Nomaden. Marcus und Felicia, die beiden Gründer, haben zum Ziel, ortsunabhängige Entrepreneure miteinander zu vernetzen. Regelmäßig veranstalten sie ein riesiges DNX-Event und posten immer wieder Tipps für Reisende und »Remote Worker«. Natürlich sieht man sie in ihren Videos und auf den Bildern nur allzu oft an coolen Locations, braun gebrannt und in lässigen Surfer-Klamotten. Schließlich bist du nur wirklich ein digitaler Nomade, wenn du auf Bali oder in Portugal bist – klar, oder? Alle wirken immer glücklich, ausgelassen und sehen die traumhaftesten Orte. Urlaub und Arbeiten scheinen zu verschwimmen. Anstatt in stickigen Betonkästen mit abgetrennten Bürowürfeln, chillen die Nomaden auf Sonnenliegen am Strand oder in Coworking Spaces aus Bambus gebaut und ohne Wände – wenn immer die Sonne scheint, wer braucht da Wände? Ja, ich gebe es zu, ich bin verliebt! Für mich ist das alles wie ein Traum, und ich will unbedingt Teil dieser Community werden.
Außerdem bedeutet das Vanlife noch etwas anderes für mich: weniger finanziellen Druck. In der Agentur habe ich inzwischen auf eine Sechzig-Prozent-Stelle reduziert. Das ist für mich eigentlich das Maximum dessen, was ich in der Woche über einen längeren Zeitraum für ein Projekt motiviert aufbringen kann. Sechzig Prozent. Vierundzwanzig Stunden. Ich meine, jetzt mal ehrlich. Vierzig Stunden? Immer wieder den gleichen Einheitsbrei? Jede einzelne Woche? Das hat auch den Vorteil, dass ich mir meine Kräfte nicht so einteilen muss wie jemand, der noch viel länger seine Zeit absitzt. Bei sechzig Prozent kann ich die ganze Zeit konzentriert zu Werke gehen und habe dennoch Zeit für eigene Projekte und Experimente. Bei einhundert Prozent Büro nahezu unmöglich. Nur sind das eben auch nur sechzig Prozent des Gehalts. Das ist etwas wenig in einer Stadt mit einem der teuersten Wohnungsmärkte Deutschlands. So ein Bulli, der schluckt halt Sprit, ein bisschen Versicherung. Das sollte doch ganz gut machbar sein.
»Wie jetzt? Du könntest dir vorstellen, in einem Bulli zu leben? So vollkommen ohne feste Wohnung? Ohne Badezimmer? Mit so wenig Platz?« Das ist meine Freundin Sarah. Sarah guckt sich Abenteuerfilme im Fernsehen an. Die liebt sie und findet es immer irre spannend, was andere Menschen so alles wagen. Selbst machen würde sie es nicht. Vielleicht könnte ich sie als normal bezeichnen? Hm, oder vielleicht ist sie auch einfach nicht so anspruchsvoll wie ich, wenn es um Abenteuer geht. Ihre Ansprüche an ein gutes Leben sind ein gut bezahlter Job, zwei- bis dreimal im Jahr in den Urlaub fahren, gerne mit dem Kreuzfahrtschiff, ein teures Auto und eine hübsch eingerichtete Wohnung. Später mal ein Haus, das ist ja klar. Das muss schon alles passen. Verrücktheit ist was für das Fernsehprogramm, nicht für das normale Leben. Dass Sarah meine Idee bescheuert findet, überrascht mich nicht wirklich. Wir sind befreundet, haben Spaß miteinander und doch oft sehr unterschiedliche Prioritäten. »Wollt ihr nicht erst mal eine längere Reise machen, bevor ihr gleich alles über den Haufen werft, eure Wohnung kündigt und einfach abhaut? Ihr habt doch überhaupt keine Ahnung, worauf ihr euch da einlasst. So was will gut geplant sein.« Vielleicht hat Sarah recht? Da ich ja durchaus empfänglich bin für gute Vorschläge, denke ich gleich an einen Urlaub im Baltikum. Dort kann man ganz offiziell wildcampen. Außerdem wollte ich schon immer mal dort hin. Als Waldliebhaberin muss ich mir die unberührte Natur dort einfach ansehen. Planung, sagt Sarah. Also recherchiere ich, wochenlang, nach der perfekten Route, den wichtigsten Sehenswürdigkeiten und in den besten Reiseblogs. Zwei Wochen wollen wir unterwegs sein. Nicht unendlich lange, aber da kann ich doch einiges hineindrücken. Bloß nichts verpassen.
Das Packen macht fast am meisten Spaß. Jetzt zeigt sich, ob wir bei unserem Bulli-Ausbau auch mitgedacht haben. Allein der Anblick bei offener Heckklappe – ein Traum! Ich ziehe die weiß lackierten Obstkisten unter dem Bett aus Europaletten hervor. Durch Filz gleiten sie leicht auf dem verlegten Laminatboden. Ich nehme die Deckel von den Kisten ab, unter denen sich kleine Polster verbergen, damit wir die Obstkisten auch als Hocker nutzen können. Die Kisten selbst nutze ich jetzt erst mal als Kleiderschrank. Pullis, Hosen, Shirts, alles rein damit. Auch hinter dem aufgeklappten Schreibtisch ist noch Platz. Da landen unsere Wanderschuhe und ein bisschen Regenequipment, ein Teil der Vorhänge für die Nacht. Daneben, im kleinen Schrank mit den bunten Fächern, ist genug Platz für Kaffeepulver und ein paar andere Basics zum Kochen auf der Fahrt. Jetzt zur Schiebetür an der Seite. Von dort kann ich einmal fast komplett unter das Bett kriechen. Hier parke ich noch ein paar Kisten mit Campinggeschirr, den Kocher, zwei Klappstühle, einen Wasserkanister und einen Tisch. Irgendwo waren doch ..., ach ja, hier in die Lücke unter der kleinen Fensterbank passen die Tischtennisschläger gut rein. Und die Kniffelblöcke. Die müssen mit. Ein kleines Laster aus unzähligen Spieleabenden mit meiner Oma. Neben dem Bett ist noch ein Fach für Bücher. Da schmeiße ich doch gleich mal was zum Lesen rein, die Zeitschriften für die Fahrt sind schon in der Reuse bei der Heckklappe. Die Akkus zum Laden der Handys und die Lampen für die Nacht? Check! Sieht gut aus.
Bald geht es los. Ich bin schon ganz aufgeregt. Ich bringe Slow für einen letzten Check-up in die Werkstatt. Es sollen nur Kleinigkeiten gemacht werden. Eine Steckdose funktioniert nicht, der Rückscheibenwischer, so was eben. Am nächsten Tag klingelt das Telefon. Der Schrauber aus der Werkstatt ist dran, ich solle mal schleunigst vorbeikommen. Uuuuuh, der Tag ist für mich gelaufen. Was hat er denn bloß gefunden? Der TÜV ist wohl weniger vertrauenswürdig, als ich in meiner Naivität angenommen hatte. In der Werkstatt angekommen, geht der Schrauber mit mir zur Hebebühne, auf der mein kleiner Slow traurig rumhängt. »Hier und hier. Siehste das? Und hier.« Ja, sehe ich. Ein paar schöne Rostlöcher im Unterboden. »Außerdem sind die Traggelenke ausgeschlagen. Der Motor leckt auch.« Schluck. Das könnt ihr doch ruckizucki machen, oder? Der Schrauber lächelt müde: Keine Chance. Und wenn wir einfach losfahren und das alles nach dem Urlaub machen? »Also ich würd damit nirgendwo mehr hinfahren an eurer Stelle. Das dauert jetzt halt ein bisschen.« Bye bye Urlaub. Mein wohlverdientes Abenteuer, Abstand zu meinem Alltag und Freiheit – alles schon vorbei, bevor es angefangen hat?
Als Erstes richte ich meine Wut auf die Leute vom TÜV. Soll das ein Witz sein? Wir haben vor wenigen Monaten erst problemlos TÜV bekommen. In der Zeit können wir diesen Schaden unmöglich selbst fabriziert haben. Seid ihr alle blind? Ja, sind sie. Merken sie aber auch gerade, und wir müssen nicht lange diskutieren. Die Werkstattkosten übernehmen sie natürlich. Na, wenigstens etwas.
Trotzdem bin ich wütend, enttäuscht und unglaublich traurig. Sogar zu traurig. Ja klar, ich habe den Urlaub super vorbereitet, die ganzen Recherchen, die Planung, es ist wirklich schade. Aber ich bin richtiggehend am Boden zerstört. Eigenartig. Wieso nur zieht mich ein geplatzter Urlaub derart runter? Ich merke, dass ich mich mit dem Bau am Bulli auch abgelenkt und wochenlang auf ein Licht am Ende des Tunnels hingearbeitet habe. Die Vorstellung von zwei Wochen Flucht, einem konservierten Abenteuer, ließ mich weiterarbeiten und funktionieren. Aber es war doch nur eine Scheinlösung. Und als dieses Licht auf einmal erlischt: Bämm! Wie ein Frontal-Crash. Die ganze schöne Ablenkung ist dahin. Der Scheinwerfer strahlt wieder ungedimmt auf mein Leben und auf meine Unzufriedenheit. »Ich habe doch gesagt, diese ganze Van-Sache ist Quatsch. Jetzt siehst du es selbst. Nicht mal ein Urlaub klappt. Wie wäre es erst, wenn du wirklich darin lebst? Kann Carsten das überhaupt so ohne Weiteres mitmachen? Er hat doch seine Praxis und Patienten in Hamburg. Was würde er machen, wenn ihr nur noch unterwegs wärt? Meinst du, er kann dann so viele Workshops machen und Vorträge halten, dass es irgendwie passt? Außerdem wird das im Winter doch saukalt in so einem Bulli!« Auf Sarah ist Verlass. Sie ist manchmal ein bisschen wie alle meine Sorgen in einer Person vereint. Alle Ablehnung, alle Angst, alle Vorurteile. Aber hey, ich wäre nicht ich, wenn ich nicht jetzt erst recht weitermachen würde.
Was ist schon ein Misserfolg? Statt des Baltikums machen wir einfach einen kurzen Wochenendtrip zu einem Festival an der Ostsee mit einem geliehenen Sprinter. Matratzen reingeworfen und fertig.
Einige Monate und Werkstattstunden gehen danach ins Land, und wir beschließen: Es ist nun wieder Zeit für einen zweiten Versuch mit unserem rollenden Wohnzimmer. Die nächste Destination: Ein bisschen nach Österreich zum Campen, danach über Baden-Württemberg und die Eifel zurück nach Hamburg. Das ist ja nun wirklich nicht der Rede wert. Wir sitzen im Bulli und sind auf dem Weg von Hamburg in den Süden. Was ist das für ein Geräusch? Sind wir in einer Einflugschneise? Carsten schüttelt den Kopf. Das seien unsere Bremsen. Ach so, na dann ... Was?! Aber weil es mit einem so lächerlichen Detail wie einer runtergerockten Bremse ja noch keine richtige Gaudi bringt, kann ich auf einmal mitten auf der Autobahn nicht mehr schalten. Der Schaltknüppel steckt fröhlich im fünften Gang fest. O Gott, jetzt bitte keinen Stau oder eine Baustelle! Nachdem die erste Panikattacke vorbei ist, finde ich irgendwann eine Ausfahrt mit nicht ganz so steiler Kurve und fahre auf eine Raststätte. Der ADAC-Mensch kommt eine Stunde später und lässt so gruselige Wörter wie »Vermutlich Getriebeschaden« fallen. Das kann doch nicht wahr sein! Jedes Mal, wenn wir wegfahren oder es gar erst versuchen, macht unser Kleiner Zicken. In und um Hamburg ist immer alles gut, erst mit etwas Abstand wird er unleidig. So ein kleiner Heimscheißer. Wir warten noch einige Stunden auf den Abschleppdienst, da der Schrauber vor Ort nichts machen kann und die Schaltung schlicht nicht mehr will. Mitten in der Nacht trifft er ein und bringt uns zu einer Werkstatt im Beton-Industrie-Paradies am Rande Geras, vor der wir im Bulli äußerst idyllisch nächtigen. Als wir am Morgen, es ist Freitag, in die Werkstatt gehen, kommt dann erst mal der GAU: Auf keinen Fall könnten sie den Wagen jetzt reparieren, sie hätten null Kapazitäten, und vor Dienstag ginge gar nichts mehr. Alter Schwede, mir versagt erst einmal kurz die Stimme. Wir sollen fast eine Woche in Gera abhängen, obwohl wir eigentlich nach Österreich in die Berge wollen? Das sind jetzt wirklich nicht die rosigsten Aussichten. Doch irgendjemand hat anscheinend Mitleid mit uns und schickt uns den liebsten ADAC-Mitarbeiter der Welt: den Schlepperfahrer aus der Nacht zuvor. Der gute Mann sieht uns und versteht unsere Verzweiflung sofort. Anstatt nach seiner langen Nachtschicht in den wohlverdienten Feierabend zu gehen, bleibt er noch bis zum frühen Nachmittag, werkelt an unserem Auto und ist nachher sichtlich platt. Es ist doch kein Getriebeschaden. So ein blödes Nubsi, in dem das Kugelgelenk des Schaltgestänges rotiert, ist gebrochen. Ja, das Ding ist halt auch einfach aus Plastik und sieht aus wie ein Colaflaschendeckel. Unglaublich! Technik, die begeistert!
Ich drücke unserem gelben Engel ein Glas selbst gemachte Erdbeermarmelade in die Hand. Das klingt vielleicht lächerlich, aber ich will einfach etwas tun, um meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Ich hätte ihm auch mein Erstgeborenes geschenkt.
Aber was ist denn mit den Bremsen? Genau, die machen immer noch höchst abenteuerliche Geräusche. Da wir nicht noch länger in Gera bleiben wollen, ignorieren wir das jetzt erst mal. Trotz der Flugzeuggeräusche funktionieren die Bremsen noch einigermaßen, und wir sind mit Freunden zum Campen in der Nähe von Salzburg verabredet. Wir fahren also erst mal vorsichtig dorthin und verbringen ein paar Tage in der Alpennatur. Danach werden wir aber doch etwas unruhig und wollen das Bremsproblem nicht noch länger ignorieren. Hin und wieder können ein paar Bremsen ja doch ganz hilfreich sein, habe ich mir sagen lassen. Also geht es weiter nach München. Wir bestellen Bremsscheiben und -klötze, und der Bruder eines Freundes baut uns die neuen Teile ein. Natürlich kommt die Lieferung zwei Tage später als geplant, und der Aus- und Einbau geht auch nicht ohne Weiteres vonstatten. Altes Auto, sag ich da nur, der Rost entwickelt da manchmal ein Eigenleben. Wir sind locker eine Woche in München, anstatt auf Tour. Wieder mal ein kläglich gescheiterter Versuch, völlig selbstbestimmt zu reisen und zu leben.