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Übersetzt aus dem Amerikanischen von Andreas Decker
© 2018 by Guild of Letters Ltd.
Titel des englischen Originalmanuskripts:
»A Court of Miracles«
First published in the United States by: Alfred A. Knopf
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: Guter Punkt, Sarah Borchart unter Verwendung von Motiven von Getty Images
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Da hörte er plötzlich einen Schrei, wie man ihn seit
den bösen Tagen nicht mehr gehört hatte. Einen gar schrecklichen Schrei. Eine Mischung aus Hass,
Triumph, Furcht und Verzweiflung, die anschwoll
und wieder erstarb, zitterte und schwankte wie aus
weiter Ferne.
Es ist die Zeit einer Hungersnot, eine Zeit, in der einen das Verlangen nach Nahrung quält und von innen nach außen zu verschlingen droht, das einen nur noch auf den Tod warten lässt. Und Tod, der Endlose, kommt immer.
Lange vor Anbruch der Morgendämmerung ist es dunkel und still. Die Leichen der Verhungerten hat man während der Nacht auf das Straßenpflaster von Paris gelegt, wo sie auf die Karren warten, die sie fortbringen werden. Die Toten haben die Augen weit aufgerissen, sie hören nichts; ihnen ist alles egal, und sie haben keine Angst mehr. Sie erinnern mich an meine Schwester Azelma.
Azelma, die niemals weint, hat zwei ganze Tage lang geweint. Ich habe den Grund dafür nicht begriffen, sie wollte weder essen noch schlafen. Ich habe alles getan, damit sie aufhört. Ich habe ihr sogar gesagt, dass Vater mit zwei Flaschen Schnaps im Bauch und Zorn im Blick kommt. Aber sie hat sich nicht gerührt, hat nicht zugehört, ihr war alles egal. Sie hatte keine Angst mehr.
Am dritten Tag hat sie schließlich aufgehört. Ein paar Stunden lang hat sie auf dem Bett gelegen und in die Ferne gestarrt. Sie reagierte nicht, sah mich nicht einmal an. Ich glaube, das Weinen gefiel mir besser.
Normalerweise hat Azelma mich mit einem gemurmelten »Komm schon, petite chaton« geweckt, und ich habe mich in ihre Wärme gekuschelt, während sie mir das Haar gebürstet und mir beim Anziehen geholfen hat.
Jetzt schlüpfe ich ohne sie aus dem Bett und ziehe mich in der Kälte an, nehme das Kleid, das mir langsam zu kurz wird.
Ich zerre ein paarmal mit der Bürste an meinem Haar und flechte es zu einem schiefen Zopf. Dann spritze ich mir eiskaltes Wasser aus dem schweren Porzellankrug ins Gesicht und werfe meiner Schwester einen verstohlenen Blick zu. Sie liegt auf der Seite, die Augen weit geöffnet, ohne etwas zu sehen.
Die Schenke ist still zu dieser Stunde. Ich zögere kurz, aber Azelma regt sich nicht, also gehe ich nach unten, schnappe mir einen Eimer und nehme ein verblichenes Schultertuch vom Haken. Es gehört meiner Schwester und ist mir zu groß, aber der Brunnen ist viele Straßen von der Schenke entfernt, und der Weg wird kalt sein. Ich hasse den Weg in der Dunkelheit, und ihn allein zu gehen hasse ich auch, aber ich muss es tun.
Draußen eile ich zum Brunnen und versuche den Blick auf die Leichen auf der Straße zu vermeiden, als ich an ihnen vorbeikomme. Am Brunnen senke ich den Eimer und hieve ihn gefüllt wieder nach oben. Meine eiskalten Finger kämpfen mit der Last.
Der Weg zurück ist gefährlich glatt, und bei jedem vorsichtigen Schritt gefriert mein Atem zu Wolken. Mit jedem Atemzug denke ich an meine Schwester, und wieder nagt die Furcht an mir.
Als ich die Schenke erreiche, sind meine zitternden Finger erleichtert, den Eimer abstellen zu können. Ich schütte etwas Wasser in einen Topf und setze ihn zum Kochen auf, dann blicke ich mich um. Der Boden muss geschrubbt werden, obwohl das den Gestank von altem Wein nicht entfernen wird. Im Dämmerlicht ist der Schankraum ein wahres Chaos aus Tellern, leeren Bechern und Krügen; das alles muss gespült werden.
Ich habe Hunderte Teller gespült und abgetrocknet, habe den Boden Dutzende Male geputzt, und Azelma war immer an meiner Seite. Sie rümpfte die Nase, bespritzte mich mit Seifenblasen und sagte: »Katzen hassen Wasser.«
Mit einem Seufzen entscheide ich mich, mit dem Boden anzufangen. Der Besen ist schwer, er lässt meine müden Arme schrecklich schmerzen, aber ich schiebe ihn energisch über die Bohlen. Vielleicht gelingt es mir ja, die Weinflecken wegzuscheuern. Vielleicht kann ich auch die Worte wegscheuern, die mir unablässig durch den Kopf gehen.
Meine Schwester, meine Schwester.
Gestern Abend hat Vater nichts gesagt, als Azelma schon den dritten Abend hintereinander nicht aus dem Zimmer kam. Als hätte er vergessen, dass es sie gibt. Er hat gesummt, fröhlich mit den Fingern auf den Tisch getrommelt. Er hat mir sogar ein Stück warme Brioche zugeworfen, was so ungewöhnlich war, dass ich mich kaum überwinden konnte, es zu essen. In der ganzen Stadt gibt es kaum genug Mehl für Brot, geschweige denn für Brioche, also weiß ich nicht, wo er sie gestohlen hat. Mein Vater ist ein Dieb. Statt diesem Stück Backwerk hat er sonst funkelnde Juwelen und schwere Börsen voller Gold gestohlen. Aber welchen Nutzen hat Gold schon in Zeiten der Hungersnot?
Bei dem Duft der Brioche hat mein Magen laut geknurrt. Aber die Furcht nagte viel dringlicher an meinen Knochen als der Hunger, also brachte ich Azelma das Gebäck, wo es noch immer auf dem angeschlagenen Teller neben ihrem Bett liegt und vertrocknet.
Meine Hände sind vom Putzen gerötet, auf meiner Stirn perlen Schweißtropfen, aber ich zittere noch immer. Wenn Azelma nicht isst, wird sie schon bald bei den Leichen draußen in der Kälte liegen und darauf warten, dass man sie abholt. Doch sie ist weder krank noch fiebrig, davon habe ich mich überzeugt. Mit ihr stimmt etwas anderes nicht, etwas Schreckliches. Aber was noch viel schlimmer ist, ich kann nichts tun, damit es aufhört. Ich komme mir wie das Kätzchen vor, mit dem Azelma mich immer vergleicht – winzig und zerbrechlich schlage ich mit den Pfötchen gegen den Wind.
Von der Treppe kommt ein Laut. Ich drehe mich um. Dort steht Azelma. Sie hat sich angezogen und das Haar geflochten, sie sieht mich an. Das sollte mich erleichtern, aber ihre Miene ist beunruhigend.
»Ich mache den Rest«, sagt sie tonlos. »Du holst Femi.«
Eigentlich sollte ich froh sein, nicht mehr putzen zu müssen, aber meine Finger fassen den Besenstiel nur noch fester. Ich runzle die Stirn. Warum soll ich Femi Vano holen, den man den »Boten« nennt? Er kommt und geht, wie er will, flüstert meinem Vater Dinge ins Ohr. Er spricht leise mit Azelma und bringt sie zum Lachen. Aber die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen; Vater schnarcht in seinem Bett. Warum muss ich jetzt Femi holen? Können wir nicht einfach Seite an Seite putzen, wie sonst auch?
Azelma kommt die Stufen herunter und nimmt mir den Besen ab. Meine Schwester kann mit Worten umgehen; ihre Stimme ist wie Honig, und die Gäste lieben sie dafür. Und weil sie hübsch und anschmiegsam ist. Aber auch wenn sie jetzt gedämpft spricht, ihr Tonfall ist befehlend.
»Bring ihn nach hinten und sag es niemandem. Hast du mich verstanden?«
Ich nicke und gehe zögernd zur Tür.
Azelma fragt mich sonst immer, ob ich ein Schultertuch habe. Oder sie erinnert mich daran, dass ich einen Mantel brauche. Sie ermahnt mich, vorsichtig zu sein und nicht zu trödeln. Aber diesmal wendet sie sich ab und sagt kein Wort. Ich werfe ihr einen letzten Blick über die Schulter zu. Dieses harte Mädchen kenne ich nicht. Sie ist nicht meine Schwester. Sie ist etwas anderes, ein hohles Ding, das nur das Gesicht meiner Schwester trägt.
Ich rufe Femi, indem ich auf die Weise pfeife, die er mir beigebracht hat. Plötzlich ist er da, scheinbar wie aus dem Nichts.
»Kätzchen«, sagt er mit einer angedeuteten Verbeugung, aber ich habe keine Zeit für seine Höflichkeiten und zerre ihn am Arm zur Schenke. Azelma schaut mit leblosem Blick zu uns auf und befiehlt mir, das Kerzenwachs von den Tischen zu kratzen und in den Topf zu werfen, in dem man es zu neuen Kerzen schmelzen wird. Als sie aus der Hintertür schlüpft, um mit Femi zu sprechen, schleiche ich auf Zehenspitzen in die Küche und klettere auf den hohen roten Hocker, den ich fürs Spülen benutze. Auf die Zehen gestellt, kann ich durch die zersprungene Scheibe gerade eben den oberen Teil ihrer Köpfe ausmachen. Sie stehen an der Wand, drücken sich dagegen.
»Er kommt dich holen?«, höre ich Femi fragen.
Ein langes Schweigen folgt. Als Azelma endlich spricht, klingt ihre Stimme bitter. »Vater wird noch etwas feilschen, das tut er immer. Du musst sie mitnehmen, solange sie beschäftigt sind. Ihnen wird gar nicht auffallen, dass sie weg ist.«
»Wir können fliehen.« Femis Stimme hebt sich verzweifelt. »Wir können uns verstecken.«
»Wer ist ihm jemals entronnen? Wie weit werden wir schon kommen, bevor man uns findet? Selbst wenn wir durch ein Wunder entfliehen könnten, würden wir sie verdammen, denn man wird uns mit Sicherheit aufspüren. Und wenn wir sie zurücklassen, wer wird dann wohl den Zorn meines Vaters zu spüren bekommen, was glaubst du? Hast du schon einmal daran gedacht, wen er Kaplan ausliefern könnte, um ihn zu beschwichtigen? Oder mich zu bestrafen?«
Azelma schüttelt den Kopf und blickt zum Fenster, als würde sie mich dort spüren. Ich ducke mich, damit sie mich nicht sieht.
»Du hast mir süße Dinge zugeflüstert, Femi Vano«, sagt sie, und ich hebe gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie sie ihm sanft die Hand an die Wange legt. »Aber wo ich hingehe, werden die Worte verblassen. Wenn ich Glück habe, werde ich mich an nichts erinnern. Schwöre es mir bei Knochen und Eisen – du wirst einen Beschützer für sie finden.«
Femi hebt die Hand, und nach einer funkelnden Bewegung seines Messers ist die Handfläche von einem langen dunklen Strich gezeichnet. Blutstropfen bilden sich wie schwarze Diamanten.
»Mein Wort, mein Blut«, sagt er. »Ich gebe dir mein Versprechen bei Knochen und Eisen.«
Ihre Stimme wird weicher, sie legt eine Hand auf seine Brust. »Liegt dir etwas an mir?«
»Das weißt du doch.«
»Dann weine nicht um mich. Ich bin bereits tot.«
»Nein, nicht tot. Die Toten sind wenigstens frei …«
Als Azelma zurück ins Haus kommt, ist ihr Gesicht eine kalte Maske. Femi folgt ihr. Wie seine Vorfahren, die Maghrebiner aus Nordafrika, trägt er sein dichtes Haar in Zöpfen. Er hüllt sich immer in einen schweren braunen Umhang, ganz egal, welches Wetter herrscht, der Stoff ist voller Regenflecken, und die Säume sind ausgefranst. Es lässt ihn aussehen, als hätte er große, zusammengefaltete Flügel. Seine dunkle Haut wirkt wie poliertes Kupfer, er hat eine Hakennase, und seine Augen leuchten wild und golden. Und im Moment sind sie rot gerändert.
Azelma bedeutet mir, zu ihr zu kommen. Ich nehme ihre Hand, meine kleine Hand liegt in ihrer kalten, als sie mich die Treppe hinauf in unser Zimmer führt.
Auf dem Bett liegen ein paar alte Kleidungsstücke, Jungenkleidung, viel zu groß und seit Ewigkeiten weitergereicht.
Ihr Blick wandert erbarmungslos über meine dürre Gestalt. Bei meinem Gesicht hält sie inne und mustert mich, als würde sie nach etwas suchen. »Dieu soit loué, wenigstens bist du nicht hübsch.« Ihre Stimme bricht.
Sie hat recht. Wo sie nur aus weichen Kurven besteht, bin ich eckig und knochig. Wir haben nur unsere olivfarbene Haut gemeinsam, das Erbe der Pieds-noirs aus Algerien, denen unsere Mutter angehörte. Als ich noch klein war und der Winterwind rachsüchtigen Geistern gleich an unseren Schlagläden rüttelte, legte Azelma die weichen Arme um mich und erzählte mir Geschichten. »Welche möchtest du hören, kleine Katze?«
»Erzähl mir von unserer Mutter.«
Vater behauptet, sie sei eine Ratte gewesen, weil sie uns bei ihm gelassen hat.
»Die Frau, die uns zur Welt gebracht hat, ist nicht unsere wahre Mutter«, pflegte Azelma zu sagen. »Unsere Mutter ist die Stadt.«
Aber selbst ich wusste, dass nicht die Stadt uns unsere olivfarbene Haut und das rabenschwarze Haar zum Geschenk gemacht hat.
Jetzt fällt Azelmas Blick auf den dicken Zopf, den ich mühsam allein geflochten habe. Sie streckt die Hand aus, und ich komme zu ihr. Mit sanften, aber energischen Fingern löst sie den Zopf und fängt an, ihn auszukämmen.
»Unsere Mutter, die Stadt, ist keine mitfühlsame Mutter«, sagt sie, während sie mein Haar mit einer Hand zusammenfasst. »Es ist gefährlich, in dieser Stadt ein Mädchen zu sein. Sie wird böse Dinge auf dich herabbeschwören. Und die Stadt ist nicht gnädig zu jenen, die sich nicht verteidigen können. Sie schickt Tod den Endlosen, um die Schwachen von den Starken zu trennen. Das weißt du.«
Ich höre den Laut, bevor mir klar wird, was da passiert. Ein scharfes, schneidendes Geräusch und ein plötzlich leichtes Gefühl im Nacken. Ich reiße die Augen auf, aber bevor ich etwas sagen kann, landet ein dunkler Haarschopf lautlos neben meinen Füßen. Azelma legt die Schere an den Rest meines Kopfes und schneidet das Haar ganz kurz.
»Halte es immer kurz.« Als sie fertig ist, sagt sie: »Zieh das Kleid aus.«
Verwundert gehorche ich, meine Hände zittern, als ich die Knöpfe öffne, die sie dort angenäht hat. Früher hat sie mich immer gezwungen, wie eine Statue mit ausgebreiteten Armen dazustehen, während sie mir eines ihrer alten Kleider anpasste, den Mund voller Stecknadeln. Ich habe dann die Augen immer fest zugekniffen, weil ich Angst hatte, die verrosteten Nadeln würden mich stechen und bluten lassen. Das ließ sie nur hinter den gespitzten Lippen mit der Zunge schnalzen. »Bis jetzt habe ich dich noch nie gestochen, kleines Kätzchen.«
Jetzt streckt sie die Hand aus, während ich das Kleid vom Körper schäle und ihr gebe. Ich stehe in dem oft geflickten Leinenhemdchen vor ihr.
»Das auch.«
Nun, völlig nackt, lassen mich Kälte und Furcht frieren.
»Höre meine Worte, denn sie sind das Einzige, was ich dir noch geben kann. Lege sie wie eine Rüstung um dein Fleisch. Du darfst mein Gesicht und meine Stimme vergessen, aber nie die Dinge, die ich dir sage.«
»Das werde ich nicht.« Ich versuche, nicht zu zittern.
»Iss nur genug, um am Leben zu bleiben. Du musst dich an den Hunger gewöhnen, damit er dich nicht brechen kann. Bleib klein, zwänge dich in enge Räume, damit sie dich immer brauchen werden.«
Ich will sie fragen, wer sie sind und wozu sie mich brauchen werden, aber ihr Ton ist ernst, und die Zunge klebt mir am Gaumen fest.
»Keine Kleider mehr. Lass nicht zu, dass Männer dich mit Verlangen ansehen.« Sie wickelt ein Stück dünnen Stoff um meine Brust und bindet ihn so fest, dass ich kaum Luft bekomme. »Schlinge Stoffbahnen um jeden Teil von dir, der weich ist.«
Sie gibt mir ein zu großes Paar Hosen, das so verblichen ist, dass man ihm nun keine besondere Farbe mehr zuschreiben kann. Ich ziehe sie schnell an, dann lasse ich ein weites Hemd folgen.
»Trage Kleidung wie eine Maske, damit dich niemand wahrnimmt. Verstehst du? Trage sie, um dein wahres Gesicht zu verbergen. Du bist nicht Nina, das Kätzchen, du bist die Schwarze Katze. Zeige bei jeder Gelegenheit deine Zähne und Krallen, damit die anderen nicht vergessen, dass du gefährlich bist. Erst dann wirst du eine gewisse Sicherheit haben. Ein Auge voll Schlaf.«
Ich schnüre ein paar dicke Stiefel zu, die bereits mehrere Besitzer gehabt haben, dann setze ich eine große Mütze auf, die mein kleines Gesicht in Schatten hüllt.
»Vater mag vielleicht seine Silberzunge an mich weitergegeben haben, aber dir gab er seinen scharfen Verstand. Du bist schlau, Nina, und das ist eine Waffe. Du bist klein, und du bist schnell. Und auch das sind Waffen.« Sie schnappt sich meine Handgelenke und blickt mir ins Gesicht. »Sei nützlich, sei klug und allen anderen immer einen Schritt voraus. Sei tapfer, selbst wenn du Angst hast. Vergiss nie, jeder hat Angst.«
Jetzt habe ich Angst vor ihr. Vor den zwei Tagen des unablässigen Weinens und der leeren Blicke und dem Feuer, das nun in ihren sonst so sanften Augen lodert. Was ist mit meiner Schwester geschehen?
»Wenn du glaubst, dass die Finsternis dich holen will, wenn du dich klein und schwach fühlst und befürchtest, dass unsere Mutter, die Stadt, dich vernichten will, darfst du das nicht zulassen. Hast du mich verstanden? Du musst überleben!«
»Das w…werde ich, ich schwöre es.« Meine Stimme zittert.
Wir gehen nach unten, wo Femi Vano in den Schatten wartet.
»Du wirst Femi begleiten und tun, was er dir sagt.«
Neue Angst lässt mein Herz rasen. »Aber ich will bei dir bleiben!«
Dieser ausgeschnittene Schatten von Schwester beugt sich vor und schaut mir in die Augen. Ihre Stimme klingt hohl.
»Manchmal müssen wir einen schrecklichen Preis zahlen, um die Dinge zu beschützen, die wir lieben.«
Ich verstehe nicht, was sie meint, und ich will ihr hundert Fragen stellen, aber ich finde nicht die richtigen Worte. Sie bleiben mir im Hals stecken, während mir Tränen über die Wangen laufen. Azelma ignoriert sie.
»Von nun an musst du auf dich selbst aufpassen.« Sie sieht Femi an, ihr Blick ist wie Eis. »Bring sie weg.«
Es gibt keinen Abschied, keine Umarmung, sie verkündet nicht ihre Liebe für mich. Stattdessen stößt sie mich fort, als würde sie mich nicht länger wollen.
»Zelle?«
Sie fängt an, die Tische zu wischen.
»Zelle …« Ich will zu ihr gehen, aber Femi hält mich davon ab.
»Sei still.« Sorge liegt in seiner Stimme. Er hat Angst, aber ich verstehe den Grund nicht.
Dann höre ich es. Über dem lauten Trommeln meines Herzens höre ich Stiefel auf dem Kies knirschen. Draußen ertönen Stimmen.
»Geht jetzt!«, zischt Azelma.
Femi nimmt mich auf den Arm, drückt mich an sich. Ich fühle, wie seine Furcht auf mich übergreift.
Er zerrt mich in die Küche, fort von Azelma, die den Bruchteil einer Sekunde einen gequälten Blick über die Schulter in unsere Richtung wirft. Dann wendet sie sich ab und richtet sich auf. Ihr Kopf ist hocherhoben, ihre Hände ballen sich zu Fäusten.
Ich will ihren Namen rufen, aber Femis Hand legt sich fest auf meinen Mund.
»Thénardier!« Ein Brüllen vor dem Eingang der Schenke zerbricht die Stille, ein geknurrter, durchdringender Befehl. Femi erstarrt. Über uns höre ich unbeholfenes Gepolter. Der Ruf scheint Vater aus seinem Schlummer gerissen zu haben. Es erstaunt mich, dass, wer auch immer dort unten steht, ihn mit einem Wort aus dem betrunkenen Schlaf holen konnte.
Femi wagt einen Blick aus dem Fenster; er sieht nach, ob jemand auf dem Hof steht.
Ich höre, wie sich die Schenkentür öffnet.
Dann ertönt die honigsüße Stimme meines ausgesprochen verkaterten Vaters oben an der Treppe. Ich höre die Unsicherheit, die darin steckt. »Gildenherr Kaplan?«
Der Besucher ist eingetreten, während Femi uns in den Schatten der Küche lautlos zur Hintertür zerrt. Jeder Schritt ist winzig und genau berechnet, versucht so lautlos wie möglich zu sein.
»Vergebt mir«, fährt mein Vater fort, »ich hätte nicht gedacht, dass Ihr Euch selbst um diese unbedeutende Angelegenheit kümmern würdet.«
»Eine unbedeutende Angelegenheit, Meister der Tiere?«, erwidert die knurrende Stimme, die das Schenkendach selbst zum Erzittern zu bringen scheint. »Hast du vergessen, wer ich bin? Hast du vergessen, warum ich hier bin? Ich wollte sehen, ob du es tatsächlich tust – ob selbst ein Mann wie du wirklich sein eigenes Fleisch und Blut verkauft.«
Sein eigenes Fleisch und Blut verkauft? Die Erkenntnis trifft mich wie eine Faust und raubt mir den Atem.
Azelma … Vater will Azelma verkaufen?
»Ich habe hier zwölf Goldstücke, Thénardier.«
»Zwölf …«, wiederholt Vater, aber seine Stimme ist berechnend. Zorn steigt in mir auf, denn ich kenne diesen Ton. Er tut, was er immer tut. Er feilscht um einen besseren Preis für seine eigene Tochter.
Ich beiße in Femis Hand, aber er lockert seinen Griff nicht und zieht mich hinaus in die Dunkelheit.
Ich vermag nicht zu sagen, wie lange Femi und ich unterwegs sind. Die ganze Zeit über wehre ich mich gegen ihn und schreie wie ein wildes Tier, aber sein Griff lockert sich nicht ein einziges Mal. Nach einer Weile verliere ich meine Stimme und flehe ihn heiser an, mich zu Azelma zurückzubringen, aber er trägt mich weiter.
Seine Stimme ist unsicher, als er mir etwas zumurmelt. »Ich bringe dich an einen Ort, in den du einbrechen musst«, sagt er. »Im Westflügel wirst du ein Zimmer finden. In diesem Raum liegt ein Junge, und um seinen Hals befindet sich etwas, das du holen musst. Oder alles ist verloren.« So lauten seine Worte, während ich von meinen Gefühlen überwältigt werde. Vielleicht darf ich ja wieder nach Hause gehen, wenn ich ihm gehorche.
Ich schaue zu dem Eisentor hoch, auf dessen Spitzen sechs Köpfe aufgespießt sind. Sie sind die Torhüter, die für alle Ewigkeit starren. Man hat die Köpfe mit Öl getränkt, damit sie nicht verfaulen, aber Wind und Regen haben sie trotzdem in etwas Schreckliches verwandelt. Es ist eine grausame Botschaft für das ganze Land, was mit jenen geschehen wird, die den Adel verraten.
In diesen Ort muss ich hinein. Einen goldenen Käfig, den Palast der Tuilerien.
Die Furcht ist wie ein Knoten in meiner Brust.
Vergiss nie, jeder hat Angst.
Ich schließe die Augen und erinnere mich an Azelmas Worte, an ihre Geschichte von den sechs kleinen Mäusen, die in einer Stadt voller Katzen lebten, die Fragen stellten, wie es noch keine Maus zuvor gewagt hatte und die sich schließlich gegen die Katzen erhoben …
Ich öffne die Augen und zählte erneut die Köpfe auf den Spitzen, sage dabei lautlos die Namen auf.
Und so lauteten die Namen, die man den Mäusen verlieh: Robespierre der Unbestechliche, Marat der Abscheuliche, Danton mit der goldenen Zunge, Mirabeau der Weise, Desmoulins der Mutige und Saint-Just der Schöne, der Engel des Todes.
Vater nimmt mich seit mehr als einem Jahr auf seine Einbrüche mit, also weiß ich gut, wie man lautlos in kleine Öffnungen schlüpft. Schließlich bin ich nur ein Hauch von Mädchen, mehr Schatten als Fleisch.
In den Palast einzubrechen, erfüllt mich mit Angst. Aber ich habe größere Angst vor dem, was passieren wird, wenn ich es nicht tue. Ich weiß nur, dass wir zu meiner Schwester zurückmüssen. Je schneller ich also erledige, was man mir befiehlt, desto schneller kann ich zurückkehren. Darum werfe ich mich zwischen die Räder einer fahrenden Kutsche und klammere mich an ihrem Boden fest, lasse sie mich vorbei an den Wachen auf das Gelände bringen. Ich bleibe dort hängen, bis Füße in juwelenbesetzten Schuhen aus der Kutsche auf den knochenweißen Kies treten und die Diener in den Lederschuhen und harten Stiefeln die Türen lautstark schließen. Die Kutsche fährt durch den Schatten eines Gebäudes, ich lasse los und verberge mich.
Irgendwie gelingt es mir, an dem Lärm vorbeizuschlüpfen, denn selbst zu dieser frühen Stunde lärmen hier Diener, Wachen und Kutschen. Ich klettere die Mauer hoch, die mich in den Westflügel bringen wird.
Als ich den richtigen Balkon erreiche und mich über das Geländer ziehe, bluten meine Finger. Erschöpft sacke ich zu Boden.
Ich brauche ein paar Minuten, um mich zu orientieren. Da ist eine große, verriegelte Tür. Aber Vater hat mir gezeigt, wie man ein Schloss knacken muss, bevor ich laufen konnte. Ich greife in die Hosentasche und finde die Nadeln, die Azelma dort für mich verstaut hat. Mit einem stummen Dank an sie hole ich sie hervor und mache mich an die Arbeit. Vater hat mich gut unterrichtet. Die Tür öffnet sich in Sekunden lautlos nach außen, und ich starre in einen riesigen, in Dunkelheit gehüllten Raum. Überwältigende Furcht schnürt mir die Kehle zu und treibt mich an.
In diesem Raum ist ein Junge …
Er befindet sich am anderen Ende und schläft in einer Höhle von Bett.
Ich ignoriere sämtliche Verzierungen, die kostbaren Möbel und den ganzen Tand, der unheimlich im Mondlicht schimmert, das sanft in den Raum dringt. Die Vorhänge um das Bett sind nicht zugezogen.
Lautlos und mit geschmeidigen Bewegungen schleiche ich zu dem Jungen, bezwinge die Panik in mir. Ich frage mich, wer er ist. Fraglos handelt es sich um einen Adligen von Bedeutung, ist sein Zimmer doch so groß wie die ganze Schenke meines Vaters.
Um seinen Hals befindet sich etwas, das du holen musst …
Ein Nachthemd mit Kragen entblößt ein Stück blasse Haut. Aber ich entdecke nichts um seinen Hals.
Obwohl Vater mich Wände hinauf- und Schornsteine hinuntergeschickt hat, um zu holen, was auch immer er befohlen hat, habe ich doch noch niemals etwas einer Person gestohlen, die tatsächlich anwesend war. Die Regel lautete stets, sich zu verbergen, bis sie weg ist. Aber heute Nacht gilt diese Regel nicht.
Ich reibe die Hände aneinander, um sie zu wärmen, dann beuge ich mich über den Jungen. Er hat lange Wimpern und dunkles, gewelltes Haar. Er sieht friedlich aus, und soweit es das Mondlicht enthüllt, scheint er durchaus hübsch zu sein. Wie jemand aus einer von Azelmas Geschichten.
Ich zwinge mich, völlig reglos dazustehen. Ich senke sanfte Finger zu seinem Nachthemd – man darf sich weder zu langsam noch zu schnell bewegen. Ich halte mich an den Stoff und versuche, seine Haut nicht zu berühren. Da ist sie! Eine lange und schwere Kette. Darum liegt sie nicht oben an seinem Hals. Länge und Gewicht bedeuten außerdem, dass sie locker anliegt und leicht herauszuzupfen ist. Ihr Ende gleitet aus dem Stoff, und ich halte inne, als sie im Mondlicht schimmert. Das ist der größte Edelstein, den ich je gesehen habe, ein schwerer Saphir in einer Goldfassung, umringt von kleinen Perlen und weiteren Edelsteinen. Er liegt schwer auf der Brust des Jungen. Bei dem Versuch, ihn anzuheben, wird er vermutlich aufwachen. Bei dem Versuch, ihm das Schmuckstück über den Kopf zu ziehen, wird er ganz bestimmt aufwachen.
Du bist klein, und du bist schnell. Und auch das sind Waffen.
Ich zähle bis drei, dann mache ich meinen Zug. Die Kette wird ihm mit einer fließenden Bewegung so weich wie Wasser abgenommen, ihre Eisenglieder kommen nur den Bruchteil eines Moments mit seiner Haut in Berührung. Als er die Augen aufschlägt, blickt er mich direkt an.
Du bist schlau, Nina, und das ist eine Waffe.
Wenn er nach Hilfe schreit, wird mich das der wichtigen Augenblicke berauben, die ich zur Flucht brauche. Vielleicht würde ich es bis zum Balkon schaffen, aber weiter sicher nicht.
»Das ist die Kunst des Diebstahls.« Femis Worte gehen mir durch den Sinn. »Taub sind die Abgelenkten, blind die Überraschten. Diejenigen, die von einem Gesicht gebannt sind, bemerken nicht, wo die Hände hinkriechen.«
Ich muss ihn ablenken, ihn weiterhin überrascht halten – zumindest überraschter, als er im Augenblick ist. Sein Mund steht offen, also tue ich das Erste, was mir einfällt – ich küsse ihn. Ich drücke meine Lippen auf die seinen, auf eine Art, die ich schon zu oft in den dunklen Ecken von Vaters Schenke beobachtet habe. Er schmeckt wie Schokolade. Das ist der letzte bewusste Gedanke, bevor ich mich von ihm löse und zum Balkon renne.
Meine Lippen brennen noch immer, als ich über den Rand springe. Ich glaube, einen erstickten Laut zu hören, als ich auf dem Balkon darunter lande und dann die Wand hinunterklettere.
»Warte! Bitte!«
Ich sollte nicht nach oben schauen, aber ich tue es. Der Wind zerrt an meinem Rücken, meine Finger sind wund. Zwei Stockwerke über mir starrt der Junge zu mir herunter. Er wird die Wachen rufen, er wird verlangen, dass ich die Kette zurückgebe. Er wird mich verhaften lassen, und ich werde Femi und Azelma im Stich gelassen haben.
»Wer bist du?«, fragt er.
Ich zögere nur einen Moment, bevor ich ihn anlächle. »Die Schwarze Katze«, sage ich und erinnere mich an Azelmas neuen Namen für mich, bevor ich wie ein Schatten verschwinde.
Femi und ich eilen in der Dunkelheit über die Dächer, weit über dem Lärm der Straßen, die niemals schlafen, fort von der Stadtmitte, hinweg über Elendsviertel und verlassene, pechschwarze Gassen. Femi bewegt sich furchtlos und anmutig. Gelegentlich stößt er einen Pfiff aus, jedes Mal ein anderer Laut, so klar wie die Glocken von Notre-Dame. Ich glaube im Wind das Echo einer Antwort zu hören, bin mir aber nicht sicher, ob mir mein aufgewühlter Verstand keinen Streich spielt.
»Nicht langsamer werden, kleine Katze!«, ruft Femi leise. Seine Augen funkeln im Mondlicht. »Nicht nachdenken, nicht zögern, du musst springen, wenn ich springe.«
Jeder meiner Schritte ist von Schrecken erfüllt; ich weiß nie, ob mein Fuß auf festem Untergrund landen wird oder ob ich fallen werde. Vater hat mir beigebracht, wie ich in der Nacht an Gebäuden emporklimme, aber nicht, wie man schwebt. Wie man in der Dunkelheit wie ein Vogel von Dach zu Dach springt. Bei jedem Schritt denke ich an meine Schwester, und mir dreht sich der Magen um.
Als wir anhalten, damit ich wieder zu Atem komme, erklärt Femi mir im Flüsterton eindringlich den Grund für unsere Mission, Worte, die ich wiederholen, Gesten, die ich ausführen muss. Die vielen Dinge, die ich mir merken muss, sind Furcht einflößend. Wieder steigt die Panik. Aber ich denke an Azelma und beiße mir auf die Lippe, zwinge mich dazu, mich zu konzentrieren. Dann geht es weiter. Und in der Dunkelheit wiederhole ich Femis Worte in Gedanken immer wieder, bis ich sie auswendig kenne. Um zurück zu Azelma zu kommen, werde ich tun, was auch immer nötig ist.
Schließlich bleibt er stehen, und beinahe hätte ich vor Erleichterung gewimmert, überwältigt von der Reise und seinen Instruktionen, die mir noch immer in den Ohren dröhnen. In der silbrigen Morgendämmerung entdecke ich, dass wir uns am Rand eines verlassenen Viertels befinden, dessen Gebäude die Zeit angenagt hat. Wir klettern ein zerfallendes Haus hinunter und eilen an einem offen stehenden Tor entlang. Im Schatten einer eingestürzten Kirche wartet eine massige Flügeltür. Unsere Ankunft scheucht einen Krähenschwarm auf, der im Dachstuhl darüber nistet. Was im Inneren nicht zerfallen ist, wurde weggeschleppt; Bänke, Altäre und Buntglasfenster sind dunkle offene Wunden an den zerbröckelnden Wänden.
»L’Eglise de l’Evêque Myriel«, sagt Femi. Seine leise Stimme hallt durch die Ruine. »Wie man sich erzählt, geht hier der Geist ihres Gründers um, eines Mannes, der gewaltsam von einem Leben ruchlosen Verbrechens bekehrt wurde.« Er streckt die Hand nach mir aus und zieht mich weiter mit sich in die Dunkelheit. »Und andere sagen, Evêque Myriel hätte seine kriminellen Taten niemals aufgegeben. Zum Mann Gottes zu werden, war die perfekte Tarnung für seine glorreiche Karriere.«
Sanft zieht mich Femi zu einer kleinen Tür, die einst in eine Sakristei geführt haben muss. Wir treten ein, durchqueren einen weiteren zerfallenden Raum und steigen dann eine dunkle Treppe hinunter. Er geht etwas langsamer und zeigt mir die Reihenfolge der Stufen und welche davon vermutlich unter unserem Gewicht kippen wird. Am Ende der Treppe wartet eine gewaltige Tür, die sogar noch dunkler als die Dunkelheit dieses lichtlosen Gebäudes ist. Femi legt eine Hand darauf, ich folge seinem Beispiel. Sie ist kalt unter meiner Berührung. Eisen, das weder verfault noch brennt oder sich einfach auflöst …
Die riesige Tür schwingt vor uns auf, Lichtschein blendet mich.
»Willkommen bei der Gilde der Diebe«, murmelt Femi mir ins Ohr.
»Keine Angst, Kleines, Thénardier ist heute Nacht nicht hier.«
Der Name meines Vaters lässt mich erschaudern, aber Femi berührt sanft meine Schulter.
»Sieh nach oben.«
Ich lege den Kopf in den Nacken. Die Decke ist eine Kuppel und sieht wie ein Netz aus schimmerndem Licht aus.
»Die wahre Schönheit der Diebesgilde liegt dort«, sagt Femi. »Einmal im Jahr während dem Fest von l’Evêque Myriel, dem Schutzheiligen der Diebe, bringt jeder Angehörige der Gilde einen Edelstein, einen Kristall oder eine schimmernde Goldmünze. Jede Katze der Gilde erhält einen davon, und sie klettern an der Wand hoch oder an aus hohen Fenstern hinabgelassenen Seilen. Die Katze, die als Erste oben ist, hat die Ehre, das Geschenk mit Mörtel in die Decke zu mauern.«
Unsere Mutter, die Stadt, ist ständig in so dichten Nebel und Dunst getaucht, dass ich die Sterne am Nachthimmel noch nie gesehen habe. Aber genauso sehen sie in meiner Vorstellung aus. Die Schönheit berührt etwas in meinem Inneren. Leider bleibt nicht viel Zeit, die Decke zu bewundern, bevor Femi mich weiterführt. Ich blinzle und konzentriere mich auf das lärmende Chaos im Saal.
Er ist wie ein Palast, würde es in einem Palast keine Ordnung geben und überall riesige Schätze herumliegen. Ein Wirrwarr aus anmutigen weißen Marmorstatuen und uralten schwarzen Wasserspeiern, die von Notre-Dame selbst stammen müssen. Der Boden besteht aus sich überlappenden Teppichen aus dicker, farbiger Seide, die zweifellos aus den besten Häusern der Stadt stammen. Jeder Zoll der Wände ist mit kleinen und großen Gemälden in vergoldeten Rahmen behängt, die Schlachten, Schiffe auf See, Landschaften, romantische Begebenheiten aus Mythen, religiöse Ikonen und Porträts darstellen.
Der ganze Saal summt vor Wein, Hitze und deftigem Geplauder. Aber darunter pulsiert eine seltsame Strömung von Gefahr. Dieser Ort ist voller Leben – hier wimmelt es von Leuten sämtlichen Alters, jeglicher Größe, Hautfarbe und Kleidung. Wohin ich auch sehe, finde ich Gesichter mit scharfen Augen, alte Frauen in voluminösen Gewändern, Leute aus der Kaufmannsschicht mit steifen Umhängen und den einen oder anderen Priester.
»Am Hof der Wunder gibt es keine Nachnamen, es gibt keine Rasse oder Religion«, erklärt Femi. »Glaube, Kaste, Blut – keines dieser Bande hält die Elenden zusammen. Denn so sieht uns die Welt, als die Elenden. Und darum heißen auch alle Kinder des Hofs der Wunder Elende. Unsere Gilde schließt uns zusammen. Dieser Bund ist stärker als die Familie und dicker als Blut. Hier siehst du nur Brüder und Schwestern der Diebesgilde.« Er zeigt auf einen Haufen zerlumpter, barfüßiger Jungen und Mädchen, die nur wenige Jahre älter als ich sind. »Das sind die Hunde; diese Diebe gehen ihrem Handwerk auf der Straße nach. Die Straßenräuber sind die Pferde, aber von denen gibt es nur noch zwei in der ganzen Gilde, seitdem der Monsieur nicht mehr reitet.«
Für jeden, der wie ein ganz normaler Bürger aus den Straßen der Stadt aussieht, gibt es zehn weitere in unmöglich bunter Kleidung mit funkelndem Schmuck. Männer und Frauen mit Diamanten und Rubinen an Hals, Nase, Handgelenken und Ohren; jeder Knöchel ist von leuchtenden Edelsteinen bedeckt.
»Das sind die Katzen.« Femi deutet verstohlen auf die grell gekleideten Gestalten. »Einbrecher, die über Dächer schleichen und durch Fenster und Schornsteine einsteigen.«
Der Anblick eines besonders rundlichen Mannes in Purpur, Gold und Rosa lässt ihn die Augen zusammenkneifen. Der Mann trägt so viel Schmuck, dass es ihm eigentlich unmöglich sein sollte, die Hände zu heben.
»Katzen müssen immer angeben.«
An der einen Seite des Saals steht eine lange und schiefe Schlange von Leuten. Femi zeigt auf sie.
»Alle Diebe übergeben ihre Beute den Leuten der Feder. Das sind Sekretäre, die von der Gilde der Schreiber abgestellt werden. Sie dienen allen neun Gilden des Hofs der Wunder als Buchhalter, Anwälte und Buchprüfer.«
Mit zusammengekniffenen Augen spähe ich zu der Reihe aus blassen, ausdruckslosen Männern und Frauen, die in unauffällige Farben gekleidet sind. Sie sitzen alle hinter einem langen Tisch. Ihre Köpfe sind gebeugt, sie machen sich fleißig Notizen und sagen kaum ein Wort.
»Die Leute der Feder können nie genug Wissen sammeln«, flüstert Femi. »Ihre Hingabe an Ordnung und Details ist stärker als ihre mögliche Schwäche, korrumpiert zu werden. Alle Elenden fürchten und respektieren sie, denn es gibt nichts über uns, das sie nicht wissen. Der Standort eines jeden Gildenhauses ist ein gut gehütetes Geheimnis. Ausgenommen für mich, der ich als Bote aller Gilden arbeite, und für die Gilde der Schreiber. Wenn sie für eine Buchprüfung an die Tür klopft, müssen selbst die furchterregendsten Gildenherren ihr Einlass gewähren.«
Sobald die Beute verzeichnet ist und dafür unterschrieben wurde, reicht man sie an Sekretäre mit Monokeln und Vergrößerungsgläsern weiter, die die Leute wie Eulen aussehen lassen. Sie inspizieren jeden Gegenstand, überprüfen Silber und Gold, setzen Dinge in Brand, schlagen sie mit Hämmern oder beißen sogar darauf, bevor sie ihre Erkenntnisse mit einem Murmeln kundtun. Manchmal provozieren sie Gelächter auf Kosten der Diebe oder auch neidisches Murren.
In der Mitte des Saals steht ein schwarzer Stuhl mit aufwendigen Schnitzereien. An der spitzen Rückenlehne hängen Berge funkelnder Ketten, ein oder zwei Diademe und mehrere kostbare Wandteppiche. Auf dem thronähnlichen Stuhl sitzt ein Mann, der kaum älter als mein Vater ist. Er hat Femis kupferbraune Haut und goldene, listige Augen.
Sie müssen verwandt sein, denke ich.
Er ist schlichter gekleidet als viele der Diebe um ihn herum. Sein Hemd ist von unauffälliger Farbe, die Jacke gut geschnitten. Tatsächlich gibt es nichts Auffälliges an ihm, bis auf die beiden Ketten unterschiedlicher Länge an seinem Hals. Die eine ist ein funkelnder Strang aus reinen Diamanten, die andere besteht nur aus Rubinen, die im Licht von hundert brennenden Kandelabern glitzern.
»Tomasis, der Herr der Diebe«, sagt Femi.
Neben dem Stuhl des Gildenherrn steht ein älterer Herr. Sein Antlitz besteht nur aus gepuderten Falten, sein Haar liegt unter einer Perücke verborgen, und gekleidet ist er in den abgetragenen Prunk eines heruntergekommenen Adligen.
Femi deutet mit dem Kopf auf den gepuderten Mann. »Am Hof gibt es nur noch drei merveilles – Wunder. Das sind Kriminelle von solchem Ruhm, dass sie zu lebenden Legenden geworden sind. Das Höchste, was jedes Kind des Hofs hoffen darf, ist, dass nach seinem Tod sein Lied gesungen wird und man seine Geschichten immer wieder erzählt. Aber die merveilles – ihre Taten werden von jedem Kind des Hofs erzählt, solange auch nur noch ein Atemzug in ihnen ist. Die drei merveilles sind Le Maire, die Fischerin und der Monsieur. Le Maire ist Mitglied der Schreibergilde und seit mehr als einem Jahrzehnt verschollen. Die Fischerin ist die Herrin der Schmugglergilde. Der Letzte steht dort neben dem Herrn der Diebe. Der ›ehrenwerte‹ Monsieur George, der berüchtigte Straßenräuber. Kannst du seine Gunst erringen, wird er dir viel beibringen.«
Der Monsieur entdeckt uns und flüstert Tomasis, dem Herrn der Diebesgilde, der gelangweilt in unsere Richtung blickt, etwas ins Ohr.
Femi drückt meinen Arm. »Nina, es ist Zeit. Denk an all das, was ich dir gesagt habe. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«
Femi führt mich zu den Männern. Leute machen uns den Weg frei und sehen mich mit einer Neugier an, die mir nicht gefällt.
Wir erreichen den Thron, und Femi lässt sich auf ein Knie sinken; mich zieht er mit. »Mon seigneur. Tomasis Vano, Herr der Diebe.«
»Mon frère, ich höre«, sagt Tomasis.
Ich werde in die Höhe gezerrt, als Femi sich wieder erhebt.
Tomasis wirft dem gepuderten Mann einen Blick zu, der Femi zunickt.
»Bote«, sagt der Mann in schmeichelndem Tonfall.
»Monsieur«, erwidert Femi mit einem leichten Nicken, dann wendet er sich wieder an Tomasis. »Ich habe ein neues Kind für Euch, mon seigneur.«
Sofort senke ich den Blick auf die schönen Seidenteppiche am Boden. Femi hat mir eingeschärft, den Ablauf nur durch die gesenkten Wimpern zu verfolgen, aber ich riskiere einen Blick.
Tomasis lächelt schmal, trinkt einen Schluck aus einem juwelenbesetzten Pokal.
»Ein Kind?« Er stellt den Pokal auf einem zierlichen Perlmutttisch neben ihm ab, bevor er mich mit seinem Blick festnagelt. Hatte ich ihn zuvor für träge gehalten? Er scheint mich aufzufressen. Neben ihm legt der Monsieur den Kopf schief, wie ein Vogel, der einen Bissen einschätzt.
»Sie ist eine Katze, mon seigneur«, sagt Femi.
Tomasis mustert Femi. Erneut fällt mir die Ähnlichkeit zwischen ihnen auf. Sie müssen Brüder sein.
»Ist die Rekrutierung von Kätzchen nicht die Aufgabe des Meisters der Tiere? Meines Wissens bist du noch immer der Aves, der Elanion – der Bote des Hofs der Wunder. Seltsam, dass derjenige, der Botschaften überbringt, plötzlich diese neue Verantwortung auf sich nimmt. Vor allem, da du nie besonderes Interesse an den Katzen der Gilde gezeigt hast.«
Tomasis ist für sein Misstrauen bekannt, hatte Femi mir erzählt, als wir über die Dächer geschlichen waren. Um Gildenherr zu werden, muss man misstrauisch sein, und wenn man es bleiben will, muss man weiter misstrauisch sein.
Tomasis konzentriert sich auf mich, und als er spricht, sind seine Worte täuschend sanft. »Und wer bist du, Kleines, dass der Bote des Hofs der Wunder für dich bittet?«
Plötzlich ist meine Kehle ausgedörrt, ich schlucke. Trotz des Summens der Unterhaltungen um mich herum fühle ich den brennenden Blick Hunderter Augen in meinem Rücken.
»Mein Name ist Nina Thénardier.«
Überraschung lässt den Lärm der Unterhaltungen anschwellen.
Tomasis kneift die Augen zusammen. Er mustert die Züge meines Gesichts, liest mich, als wollte er eine Ähnlichkeit entdecken. »Thénardier ist der Meister der Tiere unserer Gilde. Er herrscht unter mir und befiehlt allen meinen Kindern, den Hunden, Katzen und Pferden. Er kennt alle meine Geschäfte und übt im Leuchtenden Saal eine gewaltige Macht aus.«
Macht, die er gewonnen hat, nachdem einige andere Meister plötzlich auf geheimnisvolle Weise gestorben sind, hat mir Femi erzählt. Thénardier hat sich nie gescheut, eine oder zwei Kehlen durchzuschneiden, wenn es nötig ist.
»Erkläre mir doch einmal, warum ich sein eigen Fleisch und Blut hinter seinem Rücken aufnehmen sollte?« Bei der Frage liegt ein eigentümliches Funkeln in Tomasis’ Augen, aber Femi zuckt nicht einmal zusammen.
»Thénardier benutzt schon seit Jahren sein eigenes Fleisch und Blut für seine besten Raubzüge. Vielleicht auch für alle. Es hat ihm gar nicht zugestanden, diese Beute Euch zu geben.«
»Er ist also ein Dieb? Beschuldigst du ihn dessen? In diesen Wänden ist Diebstahl ziemlich normal.«
Die Worte rufen im Saal Gelächter hervor. Tomasis lächelt freundlich, aber der grimmige Strich seiner Lippen ist genauso wenig zu übersehen wie die Härte in seinem Blick.
»Und wenn sein Zehntel reichlich ist«, fügt er hinzu, »was interessiert mich dann, wie er darankommt?«
»Aber sie gehört nicht zu den Elenden. Sie ist kein Kind des Hofs der Wunder, ist an keine Gilde gebunden, trägt kein Zeichen.«
»Du weichst der Frage aus. Warum sollte ich den Meister der Tiere vor der ganzen Gilde beleidigen, indem ich eine Katze, die sein eigen Fleisch und Blut ist, hinter seinem Rücken aufnehme?«
»Fragt sie, was sie für Euch hat.« Femis Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern, aber es ist im ganzen Saal zu hören.
Ich greife in meine Jacke und ziehe mit zitternden Fingern die Kette aus der Tasche; der schwere Stein folgt.
»Bei Reinekes Eiern! Ist das der Talisman von Karl dem Großen?« Der Monsieur tritt vor und pflückt den Stein behutsam von meiner Handfläche. Er fischt ein Monokel aus der Brusttasche und untersucht ihn, bevor er ihn wieder zurücklegt. »Dieser Stein gehört zu den Kronjuwelen.«
»Ja«, antworte ich, obwohl ich keine Ahnung habe.
»Sie bewahrt man in den Tuilerien auf«, sagt Tomasis.
Ich nicke.
»Wo war der Stein?«
»Am Hals eines Jungen.« Ich gebe mir große Mühe, meine Stimme nicht zittern zu lassen.
Das lässt den Monsieur blinzeln. »Ein Junge? Der Dauphin von Frankreich trägt im Augenblick den Talisman.«
Also das war er. Der Prinz des Reiches. Der zukünftige König, der Erbe des Throns von Frankreich. Ich stoße die Luft aus. Ich habe den zukünftigen König geküsst, und er hat nach Schokolade geschmeckt …
Tomasis lacht, ein dröhnender Laut voller Wärme und Humor, der den Saal füllt und von der Wänden und der Decke widerhallt. »Der Talisman von Karl dem Großen, gestohlen vom Hals des Dauphins. Dieser Anblick ist mir mehr wert als Thénardiers Stolz.« Er wischt sich die funkelnden Augen.
Femi hebt kaum merklich die Braue. »Das ist meine Gabe, die ich Euch bringe«, sage ich schnell und wiederhole die Worte, die er mir auf den Dächern beigebracht hat. »Ein Geschenk vom …« Ich halte inne, um mir den Begriff in Erinnerung zu rufen. »Vom Kalifen an den König der Tagwandler. Es enthält das Haar eines ihrer heiligsten Heiligen.« Ich lasse mich auf ein Knie sinken und neige den Kopf. »Nehmt dieses Geschenk, Herr der Diebe. Möge es Euch erfreuen und mir Eure Gunst gewähren. Und nehmt mich mit ihm als Eure Tochter. Lasst mich als eine der Elenden in Eurer Gegenwart bleiben, als wahres Kind des Hofs der Wunder, und ich werde Euch alle meine Tage dienen.«
Der Monsieur wirft Tomasis einen Blick zu, und dieser nickt.
Der gepuderte Mann tritt vor und räuspert sich. »Wie ist dein Name?«, intoniert er.
»Ich habe keinen, bis mein Vater ihn verkündet hat.«
»Wer ist deine Mutter?«
»Ich habe keine Mutter außer der Stadt.«
»Und wer ist dein Vater?«
»Ich habe keinen Vater außer dem Herrn der Diebe.«
Der Monsieur hebt den Kopf und sieht die Diebe im Saal an, bevor er fortfährt. »Heute wirfst du deine irdische Haut ab und wirst in der Dunkelheit für deine Gilde und die Elenden wiedergeboren – deine Familie. Hiernach wird man dich bei deinem wahren Namen rufen …«
Er hält inne und wirft Femi einen Blick zu, der den Kopf hebt und sagt: »Schwarze Katze der Gilde der Diebe, Tochter von Tomasis, Kind des Hofs der Wunder. Möge man deine Lieder für alle Ewigkeit singen.«
»Möge man deine Lieder für alle Ewigkeit singen.« Die Worte hallen mir in den Ohren, als hundert Stimmen sie um mich herum wiederholen.
Tomasis bedeutet mir aufzustehen. Ich erhebe mich und bringe ihm den Talisman. Er beugt sich vor und senkt den Kopf. Ich lege die schwere Kette um seinen Hals. Der Stein findet seinen Platz an seiner Brust und schimmert trotzig gegen die Rubine und Diamanten darunter an.
»Von diesem Tag an werde ich dein Vater sein«, sagt Tomasis. »Du bist durch Knochen und Eisen an mich gebunden. Ich zeichne deine Haut, und du wirst niemanden außer mir über dir akzeptieren.«
»Vielen Dank, Vater«, erwidere ich. Im Augenwinkel sehe ich eine in Seide gekleidete dünne Frau, die sich mit einer Feder und einem Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit in den Händen nähert.
»Von diesem Tag an werde ich dich vor allem beschützen, und du wirst mir nach dem Gesetz des Hofs der Wunder in allem dienen und alles ertragen.«
»Das werde ich, mein Gildenherr.« Ich bemühe mich, nicht zu erstarren, als die Frau neben mir stehen bleibt. Sie drückt meinen Kopf zur Seite und entblößt meinen Hals. Mit einer erstaunlichen Schnelligkeit und einem brennenden Schmerz zeichnet sie etwas in die weiche Haut hinter meinem Ohr.
»Von diesem Tag an wird dir die Gilde der Diebe Bruder und Schwester sein, und du wirst ihr dienen und sie niemals verraten.«
Blutstropfen bilden sich unter der Feder der Frau; ein metallischer Geruch liegt in der Luft, als sie fertig ist. Es schmerzt.
Das Zeichen ist ein Diamant. Das weiß ich, denn ich habe Thénardiers Zeichen gesehen, als er nach einem betrunkenen Wutanfall besinnungslos auf dem Boden lag.
»Kleine Katze, es geschieht nicht oft, dass ich mit einer so wertvollen Gabe geehrt werde.« Tomasis hält den Talisman auf der Hand und dreht ihn, damit er das Licht einfängt. »Wenn du möchtest, mache ich dir ein Geschenk. Bitte mich um etwas, und es soll dir gehören.«
Femi zuckt zusammen. Ich spüre seine Warnung und ignoriere ihn.
»Ich wünsche mir, dass Ihr meine Schwester rettet«, sage ich eilig, »dass Ihr sie unter Euren Schutz stellt wie mich.« Ich halte den Atem an und versuche, nicht zu hoffen.
»Sie retten?«, fragt Tomasis. »Wovor muss sie denn gerettet werden?«
Die Worte wiegen schwer in meinem Mund. »Sie wurde verkauft …«
»Verkauft? Das ist in der Tat beklagenswert. Thénardier hat das erlaubt?«
Ich beiße mir auf die Lippe. Mein Vater ist in der Gilde der Meister der Tiere. Ich wage es nicht, schlecht von ihm zu sprechen. Nicht an diesem Ort.
»Ich verstehe.« Tomasis runzelt die Stirn, denn mein Schweigen ist offensichtlich Erklärung genug. »Er hat die Münzen immer schon übermäßig geliebt.« Tomasis berührt seine Kette, denkt nach. »Man kann sie zurückkaufen. Aber denke über Folgendes nach, Kleines. Was ist, wenn der Käufer sie nicht verkaufen will?«
Mit einem wilden Funkeln erwidere ich seinen Blick. »Dann gibt es jemanden, den ich tot sehen will.«
Tomasis lacht, und der Saal lacht mit ihm. Nur Femi schüttelt energisch den Kopf und versucht meine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Wie blutdürstig von dir. Dabei bist du ein so kleines Ding.«
Das Gelächter gefällt mir nicht. Ich habe das Falsche gesagt, und sie finden es lustig.
»Tötet ihr keine Menschen?«
Tomasis lächelt breit. »Für gewöhnlich nicht«, antwortet er. »Aber ich kenne andere, die ziemlich gut darin sind, den Tod zu bringen. Also verrate mir, wer hat sie sich genommen? Sage seinen Namen, und es wird getan.«
Femi gibt einen erstickten Laut von sich.
»Wie ich gehört habe, nennt man ihn Kaplan.«
Abrupt herrscht Stille im Saal. Femi steht wie erstarrt neben mir.