Laurent, Jean Jacques Elsässer Intrigen

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© Piper Verlag GmbH, München 2020
Redaktion: Uta Rupprecht
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
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EINS

Was wusste er schon von Colmar, außer dass es der Geburtsort von Frédéric-Auguste Bartholdi war, des Schöpfers der New Yorker Freiheitsstatue?

In den zwei Jahren, die Jules Gabin nun im Elsass lebte, hatte er die drittgrößte Stadt der Region immer mal wieder besucht. Ab und zu dienstlich, meistens jedoch privat, wenn er sich mit Joanna Laffargue traf, deren erster Wohnsitz die Stadt nach wie vor war.

Colmar also. Eine Stadt voll buntem Fachwerk, überbordendem Nippes und dem wohl besten Flammkuchen weit und breit. Im Sommer ächzte die Kleinstadt unter dem Andrang Hunderttausender Touristen aus aller Welt, während es im Winter meist beschaulich und gemütlich zuging.

Kriminalität? Bis auf Handtaschenraub und Zechprellerei weitgehend Fehlanzeige. Daher würde sich Jules nicht großartig umstellen müssen, wenn er das kleine Winzerdorf Rebenheim verließ und seinen neuen Job in Colmar antrat. Ihn erwartete wohl kaum mehr Arbeit, dafür aber etwas mehr Gehalt und die Aussicht auf baldige Beförderung. Und auf die hatte er es abgesehen, denn mit Mitte dreißig musste man zusehen, dass man vorankam. Schließlich wollte er nicht ewig im Dienstrang eines Majors hängen bleiben. Die neue Stelle bot ihm Chancen, und die wollte er wahrnehmen.

Trotzdem fühlte sich Jules, als er vor dem Gebäude in der Rue de la Cavalerie stand, das die Gendarmerie nationale beherbergte, nicht ganz wohl in seiner Haut. Umgeben von mehrstöckigen Wohnhäusern und von Zäunen und Mauern geschützt, ähnelte dieser Gebäudekomplex so gar nicht dem fast mittelalterlich anmutenden Corps de Garde, seinem bisherigen Dienstsitz in Rebenheim. Alles wirkte hoch gesichert und effizient, ein Funkturm überragte die Anlage wie ein mahnend aufgestellter Zeigefinger. Nein, so erkannte Jules schon von außen, in dem kameraüberwachten Areal wehte bestimmt ein anderer Wind, als er es gewohnt war.

Während Jules sich einem blau lackierten Pförtnerhäuschen mit Gegensprechanlage näherte, dachte er mit einer gewissen Wehmut an seine alte Wirkungsstätte zurück. Mit einem Mal standen ihm die Gesichter seines früheren Teams vor Augen: das seines linkischen Adjutanten Alain Lautner, das des trägen, dicklichen Gendarms Kieffer und das freundliche, gutmütige Antlitz seiner Assistentin Charlotte. Hier in Colmar bekam er es mit einem weitaus größeren Kollegenkreis zu tun – und die überlangen Mittagspausen mit hausgemachten Spezialitäten von Alain Lautners Mutter gehörten ebenfalls der Vergangenheit an. Vielleicht sogar für Lautner selbst, denn nach Jules’ Weggang hatte der einstige Adjutant die Leitung der Station übernommen. Er würde sich künftig an die Regeln halten müssen, immerhin sollte er jetzt ja Vorbild sein.

Jules seufzte bei diesen Erinnerungen. Dann straffte er die Schultern, ging die letzten Schritte bis zur Pforte und drückte auf die Klingel. Das im Torpfosten eingebaute Kameraauge leuchtete rot auf, kurz darauf ertönte eine blecherne Stimme: »Bonjour, was wünschen Sie?«

Jules nannte seinen Namen und hielt den Dienstausweis vor die Linse, woraufhin der Türöffner summte.

Fünf Minuten später stand Jules mitten in seinem neuen Leben: ein Großraumbüro mit acht Schreibtischen, dahinter eine durch eine Glaswand abgetrennte Besprechungsecke mit einem Kaffeeautomaten. Eine weitere gläserne Barriere schirmte den Raum des Chefs, Capitaine Raymond Debré, ab. Wäre da nicht die große, unübersehbare Trikolore an der Wand des Büros gewesen, so hätte Jules sich in eine US-amerikanische Polizeiserie versetzt gefühlt. Auch die geschäftige Betriebsamkeit, die in diesem Büro herrschte, hätte dazu gepasst.

Jules schaute sich um und erhaschte erste Eindrücke von den neuen Kollegen: etwa gleich viele Frauen wie Männer, die meisten von ihnen noch recht jung.

Sein neuer Boss begrüßte ihn mit kräftigem Händedruck. Debré war dreiundvierzig, das wusste Jules aus seinen Akten, und er war etwas größer als Jules, mit markantem Gesicht und sonnengebräuntem Teint, das dunkle Haar kurz geschnitten.

»Willkommen an Bord!« Die Stimme des Capitaine passte zu seiner Person, fand Jules: kräftig, kernig, entschlossen.

Hatte Jules damit gerechnet, für ein erstes Gespräch ins Zimmer des Vorgesetzten gebeten zu werden, so sah er sich getäuscht. Debré fasste ihn in der Armbeuge und dirigierte ihn aus dem Großraumbüro zurück ins Treppenhaus. Zwei weitere Gendarmen zogen sich ihre Uniformjacken über und schlossen sich ihnen an.

»Wir müssen zu einem Tatort«, erklärte Debré im Gehen. »Sind Sie dabei?«

Jules trug zwar ebenfalls Uniform und war seit dem heutigen Morgen offiziell der Gendarmerie nationale in Colmar zugeteilt, aber er fühlte sich innerlich noch nicht bereit für einen Einsatz.

Dennoch nickte er bestätigend und erkundigte sich beiläufig: »Was ist denn passiert?«

»Ein Mord«, antwortete Debré in einem Ton, als wäre das nichts Besonderes.

Jules stieß einen Pfiff aus. Mord – das fing ja gut an. Von wegen bloß Taschendiebe und Betrüger …

 

Sie liefen über einen Hof, auf dem rund um einen Masten mit der französischen Flagge mehrere weiß-blaue Einsatzwagen parkten. Jules zählte sieben, dazu noch einige Zivilfahrzeuge. Ein weiterer deutlicher Unterschied zu den gewohnten Rebenheimer Verhältnissen, wo gerade mal zwei Autos zur Verfügung standen, von denen eines meistens in der Werkstatt stand.

Capitaine Debré klemmte sich hinter das Steuer eines Citroëns, Jules setzte sich auf den Beifahrersitz. Dicht gefolgt von einem weiteren Polizeiwagen passierten sie mit heulender Sirene die Ausfahrt, noch ehe sich das stählerne Rolltor vollständig geöffnet hatte.

»Möchten Sie gebrieft werden?«, fragte Debré über das Dröhnen des Motors und das Heulen der Sirene hinweg und warf Jules einen raschen Blick zu. Währenddessen trieb er den Wagen mit rasantem Tempo in Richtung Innenstadt.

Jules’ rechte Hand tastete nach dem Haltegriff. »Ja, gern.«

»Eine Tote in einem Hotelzimmer. Der Notarzt konnte die Todesursache nicht eindeutig feststellen, deshalb kommen wir ins Spiel.«

»Was veranlasst Sie, von einem Mord auszugehen?«, erkundigte sich Jules.

Debré schnalzte mit der Zunge. »Bei dem Opfer handelt es sich offenbar um eine Prostituierte, weshalb der Arzt zunächst auf eine Überdosis getippt hat. Käuflicher Sex hängt oft mit Drogen zusammen. Aber Fehlanzeige.«

»Sie tippen auf einen gewalttätigen Freier?«

»Das liegt doch nahe, oder?«

Der Citroën schoss ungebremst über Zebrastreifen und missachtete Vorfahrtsschilder. Dabei veränderte sich das Stadtbild: Hatten sich zunächst moderne Wohnblocks aneinandergereiht, tauchten nun mehr und mehr Altbauten auf. Die ersten mit Fassaden aus rotgelbem Sandstein, dann folgte Fachwerk.

»Mit toten Nutten hatten Sie in Ihrem Winzerörtchen vermutlich nicht oft zu tun«, merkte Debré an.

»Nein, dafür aber mit einem mörderischen Weinbauer, einem Feuerteufel und einem toten deutschen Touristen«, zählte Jules die spektakulärsten Fälle der jüngsten Vergangenheit auf. »Langweilig war es bei uns auch nicht. Aber ich gebe zu: Das waren Ausnahmefälle.«

Debré quittierte das mit einem weiteren Schnalzen, offenbar sein Markenzeichen.

»Erzählen Sie mir mehr, Jules. Ich darf Sie doch beim Vornamen nennen? So halten wir das bei uns.«

»Aber ja, Capitaine«, willigte Jules ein. »Was möchten Sie wissen?«

Debré zwang das Auto in eine enge Kurve. Sie waren jetzt mitten drin im Gewirr der engen Altstadtgässchen. »Ihr Akzent klingt nach Westküste, ich tippe auf Bordeaux. Ist das Ihre eigentliche Heimat?«

Aus dieser Frage schloss Jules, dass sein neuer Chef sich nicht sehr ausgiebig mit seiner Personalakte befasst hatte. »Korrekt. Vor meiner Zeit in Rebenheim war ich in Royan an der Atlantikküste stationiert.«

»Vom Atlantik ins Elsass? Eine ungewöhnliche Wahl«, fand Debré und ließ die Sirene weiterhin heulen, während sie durch die schmalen Gassen schossen. Einige Touristen brachten sich in Sicherheit, indem sie sich an eine Hauswand drückten.

»Ich erhielt die Chance, eine eigene Station zu leiten«, begründete Jules und unterschlug einen gewichtigen Grund für seinen Umzug: die Flucht aus der zu eng gewordenen Beziehung mit seiner Exverlobten Lilou.

»Und nun schon wieder eine Versetzung auf eigenen Antrag«, konstatierte Debré. »Sie bekommen bei uns zwar etwas mehr Lohn, dafür aber waren Sie in Rebenheim Ihr eigener Herr. Weshalb geben Sie das auf? Weil es Ihnen in dem winzigen Provinznest zu langweilig wurde? Das kann kaum der ganze Grund sein.«

»Ich erhoffe mir durch den Wechsel nach Colmar, dass ich viel von Ihnen lernen kann«, lautete Jules’ diplomatische Antwort.

Debré sagte lachend: »Sie möchten sich bei uns wohl die Sporen für den nächsten Karriereschritt verdienen, was? Sie wollen es ebenfalls zum Capitaine bringen. Solange Sie nicht an meinem eigenen Stuhl sägen, können Sie auf meine Unterstützung zählen.«

Jules wusste allerdings nicht, ob sein Chef sich wirklich amüsierte oder die Heiterkeit bloß vortäuschte. Denn wer wollte schon einen möglichen Konkurrenten in den eigenen Reihen haben?

ZWEI

Unterwegs war Jules der eigenartige Baustil der Altstadthäuser aufgefallen. Sie wurden von einem gemauerten Erdgeschoss ausgehend nach oben hin immer ausladender. Daraus schloss er, dass die Grundstücke in Colmar schon zu den Entstehungszeiten dieser Gebäude begehrt und teuer gewesen sein mussten, so behalf man sich mit Erkern und Überhängen, um mehr Wohnfläche auf beschränktem Raum zu schaffen.

Sie erreichten das Gerberviertel, wo diese Bauweise zur Perfektion getrieben worden war: So hoch aufragende Fachwerkhäuser hatte Jules bislang noch nie zu Gesicht bekommen. Auch das Hôtel d’Alsace, in dem die Tote aufgefunden worden war, reihte sich da ein: eine fünfstöckige Fachwerkperle, deren Fassade mit einer Vielzahl Blumenkästen und einem ausladenden Schild aus gedengeltem Blech verziert war. Die Flächen zwischen den Holzbalken waren in weichen Pastelltönen himmelblau und zartrosa gestrichen. Nach Jules’ Ansicht ging das nur haarscharf an Kitsch vorbei. Aber einer Art von Kitsch, mit der man sich durchaus anfreunden konnte.

Den Polizeiwagen stellten sie direkt gegenüber dem Hotel im absoluten Halteverbot ab. »Kommen Sie, Jules!«, rief Debré und stieg aus.

Im Foyer, das nur wenig von der eleganten Weitläufigkeit moderner Gebäude hatte und von dunklen Tönen dominiert wurde, erwartete sie bereits die Vorhut: Zwei Uniformierte der Police municipale hatten sich links und rechts des Empfangs postiert, sehr zum Leidwesen des Portiers, der mit unglücklicher Miene vor dem Schlüsselbrett stand.

»Bonjour, messieurs«, begrüßte sie der gedrungene Mann in der steifen Jacke mit goldfarbenen Knöpfen. Im gleichen Atemzug fügte er hinzu: »Muss das wirklich sein?«

»Was?«, entgegnete Debré barsch. »Die Polizeipräsenz? Befürchten Sie, dass wir Ihre Gäste verschrecken?« Er baute sich vor dem Empfangstresen auf. »Mein lieber Herr, wir haben es sehr wahrscheinlich mit einem Kapitalverbrechen zu tun. Rücksichtnahme auf den Hotelbetrieb können wir uns da nicht leisten.«

Da Debrés Worte keinerlei Widerspruch duldeten, schluckte der Portier nur und sagte matt: »Zimmer 303. Sie können es nicht verfehlen, denn davor steht noch ein Gendarm.«

Debré tippte sich an den Schirm der Kappe. »Merci«, sagte er ein wenig freundlicher, um gleich darauf klarzumachen: »Sie halten sich zu unserer Verfügung. Und geben Sie Ihrem Boss Bescheid. Wir wollen ihn sprechen, sobald wir zurück sind.«

Statt sich in einen schmalen Aufzug zu quetschen, bei dessen nachträglichem Einbau die Konstrukteure bei den engen Verhältnissen wahre Wunder vollbracht hatten, nahmen sie das ebenfalls beengt wirkende Treppenhaus. Ein Eindruck, den die vielen Ölgemälde mit Heimatmotiven an den Wänden nicht gerade minderten. Auf den holzbraunen Dielen war ein burgunderroter Teppich ausgerollt.

Wie angekündigt stand neben der Zimmertür ein Wachposten. Er salutierte, als er die beiden ranghöheren Polizisten auf sich zukommen sah. Ganz alte Schule, dachte Jules, der sehr wohl wusste, dass die Gendarmerie militärisch straff organisiert war. In Rebenheim hatte er die Disziplin allerdings ziemlich schleifen lassen.

Das Zimmer selbst entsprach Jules’ Erwartungen. Antik anmutende Möbel, schwere Vorhänge und ein dicker, weicher Teppich, all das in den satten Farben bürgerlicher Behaglichkeit. Jules wandte seine Aufmerksamkeit umgehend dem Opfer zu, das halb bedeckt vom Laken rücklings auf dem Bett lag. Eine junge Frau, brünettes Haar, die dunklen Augen starr zur Decke gerichtet.

»Nun, was meinen Sie, Jules?«, fragte Capitaine Debré, nachdem sie jeder für sich die Tote gemustert hatten.

»Sie ist …«, setzte Jules an.

»… nackt«, vollendete Debré den Satz. »Ja, wie Gott sie schuf. Eine Augenweide. Wirklich schade um sie. Aber sehen Sie irgendwelche Anzeichen von Gewalteinwirkung?« Debré holte einen Kugelschreiber aus der Jackentasche und hob damit behutsam die Bettdecke an. »Nein, nichts. Auch der Unterleib wirkt unversehrt. Ganz, wie es der Notarzt angegeben hat.« Als Nächstes inspizierte er die Armbeugen. »Keine Anzeichen von Einstichen. Unser Opfer hing also nicht an der Nadel, womit wir eine Überdosis wohl ausschließen können. Was bleibt sonst an nicht sichtbaren Todesursachen, außer Pillen oder einem Aneurysma?«

Jules, dem eine leichte Blaufärbung der Lippen nicht entgangen war, deutete auf ein Kissen, das neben dem Kopf der Toten lag. »Ersticken«, sagte er.

Debré nickte. »Ganz meine Meinung. Auch die etwas gedunsenen Wangen sprechen dafür. Wir müssen zwar die Autopsie abwarten, um ganz sicher zu sein, doch bis dahin bleiben wir sicher nicht untätig.« Mit diesen Worten zog er sich ein Paar Latexhandschuhe über und machte sich an der Garderobe der Toten zu schaffen, die über der Lehne eines verschnörkelten Stuhls hing. Aus dem strassbesetzten Handtäschchen zog er einen Ausweis und klappte ihn auf. »Natascha Smirnowa heißt unsere erkaltete Schönheit«, las er vor. »Eine Weißrussin mit Touristenvisum. Eine Urlauberin? Wohl kaum. Die ist zum Arbeiten gekommen. Wollen wir wetten, mit was sie sich ihr Geld verdient hat?«

»Ich denke, das können wir uns sparen.« Jules sah ihre ersten Vermutungen allein schon durch die Zusammenstellung der abgelegten Garderobe bestätigt: superkurzer Minirock, transparente Bluse, Stilettos. Zwar hatte er etwas gegen Vorurteile, in diesem Fall allerdings würde sein Kollege wohl recht behalten.

Debré steckte den Pass in ein Plastiktütchen und schaute sich in dem kleinen Zimmer um. Dann sagte er, sie sollten besser der Spurensicherung, die sich bereits auf dem Weg hierher befand, das Feld überlassen.

»Die werden sich bedanken, wie sträflich hier mit Spuren umgegangen wurde«, merkte er an. »Erst das Zimmermädchen, das die Tote gefunden hat, dann weiteres Hotelpersonal und die Sanis – ein unberührter Tatort sieht anders aus.«

Und den Rest haben wir besorgt, dachte sich Jules, während sie das Zimmer verließen.

Im Foyer hatte der traurige Portier inzwischen Gesellschaft bekommen. An seiner Seite stand ein hochgewachsener Mann im Anzug, der ebenso steif wirkte wie sein Angestellter, sein Mienenspiel jedoch besser im Griff hatte.

»Messieurs«, sagte er mit angedeuteter Verbeugung. »Darf ich mich vorstellen? Karcher ist mein Name, directeur de l’hôtel. Sie wünschten mich zu sprechen?«

»Wir wünschen es noch immer«, erwiderte Debré in ebenso affektiertem Tonfall.

 

Kurz darauf saßen sie Karcher in einem gediegenen Büro gegenüber, dessen Sprossenfenster zur belebten Fußgängerzone hinausgingen. Debré kam wieder ohne Umschweife zur Sache, seine Vorgehensweise war um einiges forscher als die von Jules.

»Wir brauchen einige Informationen von Ihnen, Monsieur Karcher.« Debré klappte einen Notizblock auf.

»Die sollen Sie bekommen, messieurs«, versicherte Karcher. »Sie können auf meine Kooperation zählen. Aber bitte klären Sie mich auf: Weshalb der ganze Trubel? Der Tod der jungen Dame ist tragisch, sicher, jedoch kann ich keinen Grund erkennen, warum Sie das ganze Haus auf den Kopf stellen.«

»Wirklich nicht?« Debré sah ihn scharf an. »Wie ich bereits Ihrem Pagen …«

»Empfangschef«, korrigierte Karcher.

»Meinetwegen Empfangschef. Wie ich bereits sagte, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Gewaltverbrechen, und wir sind verpflichtet, es aufzuklären. Fangen wir mit dem Zimmer Nummer 303 an: Wie lautet der Name des Gastes, der diesen Raum gemietet hat? Ich nehme nicht an, dass sich Mademoiselle Smirnowa in Ihr Gästebuch eingetragen hat.«

»Smir… was?«, fragte Karcher mit nervösem Zucken der Augenlider.

»Natascha Smirnowa. So lautet der Name der toten Frau aus 303.«

Karcher hüstelte verlegen. »Bei dem Gast aus Zimmer 303 handelt es sich um Herrn Nikolas Forster, einen Geschäftsmann aus Deutschland. Dass er sich in weiblicher Begleitung befand, war uns nicht bekannt.«

»Aha«, sagte Debré, schlüpfte aus seiner Uniformjacke und hängte sie über die Stuhllehne.

Als Nächstes würde er sich wahrscheinlich die Ärmel hochkrempeln, um dem Hoteldirektor noch mehr Druck zu machen.

»Nachdem das schneller als erwartet geklärt ist, beantworten Sie mir gewiss auch meine nächste Frage«, sagte Debré.

»Und wie …«, setzte Karcher an.

»Wie was?«, entgegnete Debré gereizt.

»Wie lautet Ihre nächste Frage?«, erkundigte sich Karcher eingeschüchtert.

»Ist das nicht selbsterklärend?«, fuhr Debré ihn an. »Ich möchte wissen, wo sich Ihr Gast aus Zimmer 303 aktuell aufhält.«

Karcher schluckte. So laut, dass es Jules deutlich hören konnte.

»Er hat bereits ausgecheckt und ist abgereist«, sagte der Hoteldirektor kleinlaut.

»Das habe ich nicht anders erwartet.« Debré drückte sein Kreuz durch. »Wann?«

»Etwa eine Stunde bevor Claire die Tote gefunden hat.«

»Claire?«

»Das Zimmermädchen.«

Reflexartig schaute Jules auf seine Armbanduhr. Zwischen Alarmierung der Polizei und ihrem Erscheinen hatte ungefähr eine halbe Stunde gelegen. Forster hatte somit annähernd zwei Stunden Vorsprung. Die deutsche Grenze lag nur etwa vierzig Fahrminuten vom Tatort entfernt. Es würde also sehr eng werden, um den Verdächtigen noch auf französischem Staatsgebiet zu schnappen. Alles andere wäre mit Kompetenzgerangel und Zeitverlust verbunden.

Debré schien ähnliche Überlegungen anzustellen. Er stand auf und schnappte sich seine Jacke. »Ich benötige sämtliche Angaben über diesen Herrn Forster, über die Sie verfügen. Adresse, Telefonnummer, alles, was er bei der Buchung angegeben hat. Und sagen Sie mir jetzt nicht, dass Sie es mit dem Anmeldebogen nicht so genau nehmen.«

»Ich bitte Sie, Monsieur Capitaine!«, erwiderte Karcher empört. »Wir sind ein ordentliches Haus.«

»Eines, in dem die Nutten ein und aus gehen, angeblich, ohne dass Sie es bemerken«, spottete Debré. »Danke für das Gespräch.«

Jules bekam das Ende der Unterhaltung kaum noch mit. Er war bereits dabei, den Namen des Verdächtigen an die Zentrale durchzugeben. Wenn die Fahndung nach Forster auch nur geringste Chancen haben sollte, musste sie sofort erfolgen. Denn Natascha Smirnowas letzter Freier war auch ihr Mörder gewesen, da war sich Jules sicher.

DREI

Mit Anfang dreißig hatte Joanna Laffargue bereits eine Menge erreicht: Studium in Rekordzeit, Berufserfahrung in Paris und Nizza, nun Untersuchungsrichterin in Colmar. Bewundernd sah Jules seine Begleiterin an. Er betrachtete ausgiebig ihr luftiges Kleid, das die schönen, schlanken Beine besonders zur Geltung brachte, und erfreute sich an ihrer gut geschnittenen blonden Kurzhaarfrisur. Dann widmete er sich ihrem Gesicht: schmal und wohlgestaltet mit neugierigen blauen Augen.

»Hast du dich allmählich sattgesehen?«, fragte Joanna Laffargue und wedelte demonstrativ mit der Speisekarte. »Ich für meinen Teil habe nämlich Hunger.«

Jules lächelte und freute sich über sein Glück. Mit Joanna hatte er wirklich das große Los gezogen. Eine Traumfrau, nach der er sich verzehrte. Er konnte es kaum abwarten, sie später in ihre Wohnung zu begleiten. Nachdem sie sich zwei Tage lang nicht gesehen hatten, wurde es höchste Zeit, das Versäumte nachzuholen. Ihm wurde ganz warm bei diesen Gedanken.

Joanna räusperte sich und schob Jules die Karte zu. »Ich weiß schon, was ich nehme. Wie steht’s mit dir?«

Jules fiel es schwer, den Blick von seiner Freundin zu lösen und sich stattdessen mit der Bestellung zu befassen. Sie saßen in einer urgemütlichen Winstub mitten in der Altstadt, die Tische dicht an dicht, die Wände holzvertäfelt, das Licht auf gemütliche Weise schummrig. Durch die offenen Fenster hörten sie das Flüsschen Lauch plätschern.

»Pâté en croûte au Riesling«, las Jules vor. »Pastete im Teigmantel.« Dann suchte er unschlüssig weiter. »Mousse de foie d’oie, Gänseleberpüree.« Schließlich legte er die Karte beiseite und sah Joanna lächelnd an. »Weißt du, was? Ich nehme einfach das Gleiche wie du!«

»Wie unoriginell«, meinte Joanna, lächelte aber ebenfalls. Sie beugte sich über den Tisch und küsste ihn sanft auf den Mund.

Nachdem sie den Kellner herbeigewinkt und die Bestellung aufgegeben hatte, erkundigte sie sich, wie Jules’ erster Arbeitstag gelaufen war.

»Das kannst du dir doch denken: Jedem, wie er es verdient«, sagte Jules. »Ein Mord zum Einstand – was will man mehr?«

»Tja, ich hätte dir einen sanfteren Beginn gegönnt, aber so ein Sprung ins kalte Wasser hat ja auch etwas für sich. Davon abgesehen, scheint diese Sache ja eine recht einfache Angelegenheit zu werden.«

»Du kennst die Details?«

Joanna nickte. »Ein Kollege hat mich ins Bild gesetzt. Gegen diesen Deutschen ist Haftbefehl erlassen worden.«

»Ja, aber noch haben wir ihn nicht erwischt. Wir können nur hoffen, dass er nicht inzwischen den Rhein überquert hat.«

»Und wenn schon«, sagte Joanna gelassen. »Dann geht er den Kollegen in Baden-Württemberg ins Netz. Das bedeutet für uns zwar mehr Papierkram, doch letztlich läuft’s auf das Gleiche hinaus.«

Das stimmte zwar, denn grenzübergreifende Amtshilfe war in solchen Fällen selbstverständlich, dennoch hätte Jules den Fang lieber persönlich gemacht – zumal es bisher kein Motiv gab und Jules den Verdächtigen gern selbst verhört hätte.

»Dass er ihr Freier war, steht aber fest?«, erkundigte sich Joanna.

»Alles spricht dafür. Inzwischen wissen wir definitiv, dass das Opfer anschaffen gegangen ist. Kollegen von der Sitte haben das bestätigt. Im Gewerbe nannte sie sich übrigens Nicolette. Forster muss ihr letzter Kunde gewesen sein.«

Ein Kellner servierte den Aperitif: Zur Feier des Tages hatte Joanna Crémant bestellt. Der Schaumwein sprudelte golden in den hohen Kelchen.

»Wie ist denn der Capitaine so?«, wollte sie wissen. »Ich hatte mit Debré bisher nur am Rande zu tun. Soll ein ziemliches Raubein sein, hat seinen Laden aber offenbar gut im Griff.«

Raubein traf es recht gut, fand Jules. »Er hat eine sehr direkte Art. Aber das geht schon in Ordnung. Mit so jemandem kann ich besser umgehen als mit Leuten, die ständig um den heißen Brei herumreden.«

»Und die anderen Kollegen?«

»Eine gemischte Truppe. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich mit einem von ihnen zu unterhalten.«

»Gemischte Truppe heißt, dass Frauen dabei sind. Hübsche?«

Jules lachte. »Keine im ganzen Land ist so hübsch wie du. Sagt dir das nicht täglich dein Spiegel?«

»Charmeur!« Joanna versetzte ihm einen Knuff.

Der fiel allerdings so heftig aus, dass Jules ihn durchaus als Warnung verstand.

 

Nach dem Essen streichelte Jules Joannas Hand. »Ist es nicht schön, dass wir jetzt mehr Zeit miteinander verbringen können?«, fragte er und sah sie versonnen an. »Das ständige Pendeln zwischen Rebenheim und Colmar hat ein Ende.«

»Ja, das ist wunderbar«, stimmte Joanna zu, zog jedoch gleichzeitig ihre Hand zurück. »Trotzdem sollten wir nicht allzu lange warten und bald mit der Suche beginnen.«

»Mit der Suche?« Jules blickte sie verwundert an.

»Der Wohnungssuche«, präzisierte Joanna. »Vorerst kommst du natürlich bei mir unter, ist doch klar. Aber auf Dauer …«

Jules schluckte. Das gute Essen, der Sekt und danach der Wein, dazu die Nähe zu Joanna – all das rückte mit einem Mal in den Hintergrund. »Ja, aber ich dachte …«

Joanna sah ihn liebevoll an, machte jedoch deutlich, dass sie nicht so weit sei, ihre Eigenständigkeit vollständig aufzugeben. »Lass es uns langsam angehen«, sagte sie sanft. »Schritt für Schritt. Wir wollen unsere Liebe doch nicht durch zu viel Nähe ersticken.«

Jules hatte andere Vorstellungen von einer Beziehung und wenig Lust, noch länger als Junggeselle zu leben. Immerhin war er fünf Jahre älter als Joanna, und irgendwann musste man doch Nägel mit Köpfen machen.

Er kam nicht dazu, zu protestieren, denn er bemerkte, wie Joanna unterm Tisch einen ihrer Schuhe abstreifte. Langsam glitt ihr nackter Fuß an Jules’ Hosenbein empor. Ihr Blick dabei ließ keine Fragen offen.

Der Ärger war verflogen, und Jules winkte nach dem Kellner, um Joanna möglichst bald in ihr Appartement zu entführen. »L’addition, s’il vous plaît!«, rief er.

In diesem Moment vibrierte sein Handy. Sein erster Gedanke war, dass die Kollegen Nikolas Forster verhaftet hatten. Doch als er den Namen des Anrufers auf dem Display erkannte, wich die Hoffnung einer anderen, bösen Ahnung.

»Du wirst ja auf einmal ganz blass«, sagte Joanna besorgt. »Wer ist es denn? Und warum gehst du nicht dran?«

»Es ist Charles«, antwortete Jules, überhaupt nicht begeistert.

»Dein Vater?«

Er nickte. »Er ruft mich nie an. Höchstens mal zum Geburtstag und an Weihnachten.«

»Weil er dir nicht verziehen hat, dass du deiner Heimat Royan den Rücken gekehrt hast«, konstatierte Joanna.

»Ja, das trägt er mir bis heute nach.«

»Trotzdem musst du abnehmen«, drängte sie ihn. »Vielleicht ist ja etwas passiert.«

Genau das dachte Jules auch. »Entschuldige mich einen Moment. Wird nicht lange dauern.« Er schob den Stuhl zurück und stand auf. Mit dem Handy am Ohr verließ er den Gastraum.

Er trat aus dem Flammkuchendunst an die frische Luft und lehnte sich an die schmiedeeiserne Einfriedung, die die Restaurantterrasse vom Bachlauf der Lauch trennte.

»Salut, mon père«, sagte er und merkte selbst, wie unterkühlt er sich anhörte.

»Salut«, kam es nicht viel freundlicher zurück. »Hast mich lange warten lassen.«

»Ja, entschuldige, ich war gerade beschäftigt«, sagte Jules ausweichend. »Wie geht es dir? Alles gut so weit?« Sein Blick glitt über das Wasser. Zwischen den Wellen sah er die dunklen Schatten einiger Flussfische auftauchen und gleich darauf wieder verschwinden. Gedanklich hatte er den Atlantik vor Augen, an dessen wildromantischer Küste er groß geworden war.

»Mir geht’s gut. Ich komme zurecht«, antwortete sein Vater im Brustton der Überzeugung. »Auch ohne deine Mutter, Gott habe sie selig – und ohne dich.«

Jules überging diese Spitze und fragte: »Was kann ich für dich tun? Sag bloß, du willst dich nach meinem ersten Arbeitstag in Colmar erkundigen?«

»Wäre das denn so abwegig?«

»Nun ja …«

»Hör mal, mein Junge: Auch wenn ich mich selten melde, heißt das nicht, dass ich kein Interesse daran habe, wie es dir geht und was du treibst. Ich mache mir sehr wohl ein Bild von deinem neuen Leben in der Fremde.«

»Fremde? Das hört sich an, als wäre ich ausgewandert.«

»Bist du ja. Frankreich und das Elsass sind zwei verschiedene Paar Schuhe.«

Charles hörte sich an, wie es Jules bisher ergangen war, dann berichtete er über alte Freunde und Verwandte. Wie zu erwarten stand, erwähnte er auch Jules’ Exverlobte Lilou, die inzwischen Mutter eines kleinen Jungen geworden und wieder glücklich liiert war. So stellte Charles es zumindest dar.

Je länger sein Vater erzählte, desto argwöhnischer wurde Jules. Charles war nie ein Mensch der großen Worte gewesen. Das passte nicht zu diesem sturen Küstenbewohner, der einer langen Ahnenreihe von Fischern entstammte. Deshalb war Jules sicher, dass sein alter Herr mit etwas hinterm Berg hielt.

Und tatsächlich kam Charles schließlich auf den Punkt: »Dieser Fall mit der toten Prostituierten, von dem du gerade erzählt hast: Nimmt er dich eigentlich sehr in Anspruch?«

»Nun, er scheint nicht sonderlich komplex zu sein. Weshalb fragst du?«

»Dann hättest du also noch genügend Zeit übrig, dich um einen alten Freund der Familie zu kümmern?«

Jules wusste jetzt, dass seine Skepsis berechtigt gewesen war. Sein Vater wollte ihn um einen Gefallen bitten, deshalb der ungewöhnliche Anruf. Da Jules keine Ahnung hatte, wer dieser »alte Freund der Familie« sein sollte, blieb er auf der Hut: »Offen gesagt sieht es derzeit schlecht aus. Ich habe hier ja noch nicht mal eine feste Bleibe. Wie soll ich da jemanden unterbringen? Und für Stadtbesichtigungen habe ich wirklich keine Zeit.«

»Keine Bange, du sollst nicht den Stadtführer geben, zumal du dich in Colmar wahrscheinlich ohnehin kaum auskennst. Der Gast braucht auch keine Unterkunft, denn er hat schon die beste: Er wird im La Maison des Têtes wohnen, ein Fünfsternehotel.«

Durch Jules’ Kopf schwirrten die verschiedensten Namen. Welcher ihrer Bekannten konnte sich einen solchen Nobelschuppen leisten?

»Alles, worum ich dich bitte, ist ein gemeinsames Abendessen mit ihm«, sprach sein Vater weiter. »Diesen Wunsch kannst du mir nicht abschlagen.«

Bloß ein Abendessen? Jules suchte nach dem Haken. »Wer?«, fragte er. »Wer ist dieser geheimnisvolle Besucher?«

»Oh, geheimnisvoll trifft es sehr gut. Denn euer gemeinsamer Ausflug in die elsässische Gastronomie muss absolut vertraulich behandelt werden«, betonte Charles.

Jetzt war es raus! »Du meinst doch nicht etwa …«, setzte Jules an.

»Doch, doch. Eric Duval kommt ins Elsass«, bestätigte Charles die Ahnung seines Sohnes. »Du weißt, wie sehr Eric das enge Korsett seiner Sicherheitsauflagen hasst. Die ständige Begleitung durch Personenschützer schränkt ihn ein und nimmt ihm die Luft zum Atmen. Daher wünscht er sich nichts mehr als ein paar Stunden an deiner Seite, denn du bist selbst Polizist und bewaffnet. Mit diesem Argument könnte er seine Bodyguards zumindest vorübergehend loswerden.«

Jules musste tief durchatmen. »Du verlangst von mir, für einen ehemaligen Minister den Babysitter zu spielen?«

Das war starker Tobak, fand Jules, einer solchen Verantwortung fühlte er sich nicht gewachsen. Der Mann, um den es ging, war eine bekannte Größe im Land: Unter der Präsidentschaft Giscard d’Estaings war Duval in den späten 1970er-Jahren eine Zeit lang Innenminister gewesen, daher hatte er bis heute ständig eine ganze Entourage von Leibwächtern an seiner Seite. Jules’ Vater und Eric waren zusammen zur Schule gegangen und seit dieser Zeit gute Freunde.

»Gib dir einen Ruck!«, appellierte Charles. »Nimm Eric für einen Abend unter deine Fittiche, und schenk ihm ein paar Stunden außerhalb des Protokolls. Mein alter Freund ist vor allem an der guten Küche interessiert. Du weißt ja, dass er ein ausgewiesener Gourmet ist.«

Eric Duval war für Jules wie ein Onkel, den er seit Kindesbeinen kannte. Seine Familie und die der Duvals waren sehr vertraut miteinander, und so konnte sich Jules ausmalen, worauf sein Vater hinauswollte: Jules hatte es bereits selbst erlebt, wie der zwar betagte, aber immer noch agile Ex-Politiker seinen Personenschützern auskniff, um sich heimlich mit Charles zum Boule-Spiel an der Strandpromenade von Royan zu treffen. Ähnliches hatte Duval nun wohl auch in Colmar vor. Doch wie dachten sich das die beiden alten Freunde bloß? Duval stand, soweit Jules wusste, unter dem Schutz der Compagnies Républicaines de Sécurité, kurz CRS, einer gedrillten Sicherheitstruppe der Police nationale, die in einer unausgesprochenen, aber spürbaren Rivalität zur Gendarmerie stand. Jules hatte große Vorbehalte, sich gegen die Kollegen zu stellen.

»Komm schon, Junge! Lass dich doch nicht so lange bitten«, forderte Charles ihn auf. »Du weißt, wie gern Eric inkognito unterwegs ist, und das geht nun mal nicht mit drei bulligen flics an seiner Seite, die mit ihren steifen Anzügen und dunklen Brillen aussehen, als wären sie gerade einem James-Bond-Film entsprungen.«

Jules rang mit sich. Seine Vernunft riet ihm, die Sache abzulehnen, doch wollte er weder seinen Vater noch den alten Bekannten vor den Kopf stoßen. »Du sagst, es geht wirklich nur um einen einzigen Abend?«, vergewisserte er sich.

»Aber ja!«, versicherte Charles. »Führ Eric zum Essen aus, lass ihn seinen geliebten Wein trinken, und übergib ihn anschließend wieder an seine Aufpasser von der CRS. Du opferst ein paar wenige Stunden für einen guten Freund der Familie und machst deinen Vater sehr glücklich.«

VIER

Es war ein sanftes Erwachen. Jules spürte die Wärme ihrer weichen Haut dicht neben sich, als Joanna sich zu rekeln begann und herzhaft gähnte.

»Fichu!«, fluchte sie nach einem Blick auf die Uhr. »Verdammt, ich bin mal wieder viel zu spät dran.« Sie schlug das Laken zurück und stand auf.

Jules bewunderte ihre Figur, die sich wie ein Schattenriss gegen das Licht der Morgensonne abzeichnete. »Schade, ich lasse dich ungern gehen.«

»Mir geht’s genauso«, rief Joanna ihm von der Kommode aus zu, aus der sie sich Unterwäsche nahm. »Am liebsten würde ich den ganzen Tag mit dir im Bett verbringen. Vielleicht …«

»Vielleicht?« Jules setzte sich erwartungsfroh auf.

»Meine Bitte um mehr Abstand war etwas dick aufgetragen. Es ist schön, dich um mich zu haben«, sagte sie, schlüpfte in Slip und BH und öffnete die Schranktür.

Jules warf ihr einen Luftkuss zu.

»Andererseits …« Sie hielt zwei Kleiderbügel mit Kostümen hoch und schien unschlüssig, für welches sie sich entscheiden sollte.

»Andererseits?«

»Ein Leben, wie es deine Verflossene Lilou führen wollte, kann ich dir nicht bieten. In nächster Zeit eine Familie zu gründen kommt für mich nicht infrage. Ich habe so viel für meine Karriere getan, da möchte ich sie mir nicht durch ein Kind verbauen. Und bevor du auf die Idee kommst: Nein, ich würde es nicht übers Herz bringen, ein Baby mit wenigen Monaten in die crêche zu geben oder einer Au-pair anzuvertrauen. Bei mir heißt es: ganz oder gar nicht.«

Jules ließ sich wieder aufs Kopfkissen zurückfallen.

»Qu’est-ce qui se passe?«, fragte sie. »Wenn du ein braves Hausmütterchen suchst, kannst du dir das mit uns beiden aus dem Kopf schlagen!«

»Habe ich das etwa behauptet?«

»Ich wollte das nur klarstellen.« Joanna entschied sich für das mintgrüne Kostüm. »Wann musst du los?«

»In einer halben Stunde. Ich treffe mich mit Debré in der Gerichtsmedizin.«

»Die Anatomie des Hôpital Pasteur findest du allein?«

»Ich werde mich schon durchfragen.«

Joanna ging ins Badezimmer, ließ die Tür jedoch offen. »Diese Geschichte mit deinem Onkel …«

»Erinnere mich nicht daran.« Jules drehte sich zur Seite. »Außerdem ist er ja nicht wirklich mein Onkel.«

»Jedenfalls klingt das recht abenteuerlich. Ich wundere mich, dass du zugesagt hast«, kam es aus dem Bad.

»Was blieb mir anderes übrig? Bin eben doch ein guter Sohn.«

»Dein Chef weiß Bescheid?«

»Bisher nicht. Das Ganze ist ja top secret. Ich weiß noch nicht, wie ich das am besten regle.«

»Klingt verzwickt. Und das am zweiten Arbeitstag. Na ja, ich wünsch dir jedenfalls Glück!«

Als Joanna aus dem Bad kam, war sie ganz Dame von Welt. Das Kostüm saß perfekt, genau wie die Frisur und das Make-up. Eine schöne und stolze Frau, fand Jules. Dennoch störte er sich daran, dass sie ihn immer wieder auf Distanz zu halten versuchte.

 

Der Raum war bis zur Decke weiß gekachelt und hell erleuchtet, die Atmosphäre so kühl wie die Temperatur. Die Tote lag auf einem Seziertisch aus Edelstahl, das Leichentuch bis zur Hüfte zurückgeschlagen. Jules erkannte sofort die charakteristische Y-Naht aus rohen Stichen, die an beiden Schultern ansetzten, unterhalb des Brustbeins zusammenliefen und bis zur Scham hinabreichten. Spuren der Obduktion, die so brutal aussahen, als wäre sie von einem Metzger ausgeführt worden.

Dabei sah der ausführende Rechtsmediziner alles andere als grob aus. Noël Clément war schlank, besaß zarte Gliedmaßen und Finger wie ein Pianist. Über dem freundlichen Gesicht des Mittdreißigers wippte eine dunkle Haartolle, die Augen blitzten freundlich interessiert.

»Sie sind also der Neue?« Dr. Clément nickte Jules freundlich zu.

Dieser erwiderte die Begrüßung, bevor sein Blick unwillkürlich zurückwanderte zum grausigen Antlitz der Toten. »Ja. Kaum im Dienst und schon die erste Leiche«, bemerkte er flapsig und verdrängte einen Anflug von Übelkeit. Trotz seiner Berufserfahrung hatte er nach wie vor Probleme damit, solche Eindrücke zu verkraften.

»Was kannst du uns bieten, Noël?«, unterbrach Debré das Begrüßungsgeplänkel. »Woran ist Natascha Smirnowa oder Nicolette, wie sie sich nannte, gestorben? Liegen wir richtig mit unserer Annahme: Tod durch Ersticken?«

»Die Frau war eigentlich kerngesund«, sagte Clément. »Daher lässt sich ihr Tod meiner Meinung nach nur auf eine Hypoxie, also die Mangelversorgung der inneren Organe und des Gehirns mit Sauerstoff zurückführen. Kein Sauerstoff bedeutet irreversible Zellschäden und schließlich Zusammenbruch der Körperfunktionen.«

»Woran machen Sie das fest?«, erkundigte sich Jules.

»Unter anderem an Merkmalen wie den Petechien. Punktförmige Blutungen. Sie treten zumeist in den Bindehäuten auf, sind in unserem Fall aber auch im Weiß des Augapfels nachzuweisen. Ich habe sogar minimale Blutungen an der Schläfenmuskulatur und in der Lunge festgestellt. Hinzu kommt eine Zyanose: die leichte Blaufärbung der Gesichtshaut.«

Debré schien zufrieden mit dieser Diagnose, bestätigte sie doch seine eigene Vermutung. »Wie sieht es mit der Tatwaffe aus? Das Kissen wurde ja inzwischen untersucht, es wurden Haare der Verstorbenen gefunden.«

»Wir haben es hier aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem sogenannten äußeren Ersticken zu tun, sprich: eine mechanische Blockade der Atemwege durch Verhinderung der Atembewegung. Da keinerlei weitere Verletzungen festzustellen sind, wie sie etwa durch einen Knebel oder das Zudrücken von Mund und Nase oder dem Hals mit bloßen Händen entstehen könnten, halte ich das Kissen als Tatwaffe für plausibel.«

»Wie lange hat der Täter pressen müssen, bis sie tot war?«, erkundigte sich Jules. Er fand, dass es ein großes Maß an Kaltblütigkeit brauchte, um jemanden auf diese Weise umzubringen.

»Das Gehirn ist das Organ, das am sensibelsten auf Mangel an Sauerstoff reagiert«, holte Clément aus. »Wenn die Sauerstoffzufuhr durch das Auflegen des Kissens vollständig unterbunden worden ist, könnte bereits nach etwa einer Minute Bewusstlosigkeit eingetreten sein. Nach acht oder neun Minuten hätte das Gehirn zwar noch wiederbelebt werden können, allerdings kommt es schon nach zwei Minuten zu irreversiblen Gehirnschäden. Ungefähr zehn Minuten dauert es, bis auch alle anderen Körperfunktionen erlöschen. Exitus.«