Wiseman, Kate Gangster School – Die Rache der Badpennys

Bücher für coole Mädchen.
www.piper.de/youandivi

 

Übersetzung aus dem Englischen von Michaela Link

 

© Kate Wiseman 2019
Titel des englischen Originalmanuskripts: »Revenge of the Badpennys«
© you&ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München

 

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Kapitel 1

Pekunia Badpenny saß auf einer umgedrehten Holzkiste, die so aussah, als enthielte sie eine Sammlung getrockneter Insekten. Dabei betrachtete sie ihre schäbige Umgebung und rümpfte die Nase. Es roch stark nach Schimmel und Mäusedreck.

So weit war es also gekommen. Sie, die große Badpenny, die meistgefürchtete Meisterschurkin, die ungekrönte Königin der Verbrecherwelt, hockte mit ihren armseligen Zwillingsbrüdern in einem muffigen Schuppen.

Sie wusste, wer die Schuld daran trug. Griselda Martinet, die Direktorin von Blaggard’s Schule für Große Gangster. Und Milly Dillane mit ihrem schlaksigen Freund Charlie Partridge. Außerdem der Wolf, ihr verräterischer ehemaliger Mitarbeiter, der sie im Stich gelassen hatte, als sie ihn am dringendsten gebraucht hätte. Selbst Gruffel, Charlie Partridges übel riechender Köter, hatte eine Rolle bei ihrem Sturz gespielt.

Wären ihre für gewöhnlich nutzlosen Brüder nicht gewesen, wäre sie immer noch in dem Schiffscontainer eingesperrt und auf dem Weg zu einer strengen Bestrafung gewesen, weil sie ein oder zwei Pandas gewildert hatte. Wahrscheinlich sollte sie den beiden dankbar sein, aber sie waren einfach so … öde.

Zu allem Übel war der Badpenny-Clan jetzt das Gespött der Verbrechergemeinde, da er kürzlich gleich zweimal von Blaggardianern vorgeführt worden war, noch dazu von Nachwuchs-Blaggardianern. Früher hatte der Name Badpenny die einzigen Menschen, die wirklich zählten – nämlich andere Kriminelle –, in Angst und Schrecken versetzt. Jetzt sorgte er dafür, dass man die Augen verdrehte und prustend lachte.

Es war unerträglich!

Zumindest gab es einen Lichtblick am dunklen Horizont. Wenn sie den faden Zwillingen Glauben schenken konnte, dann nahte die Zeit der Vergeltung. Und die würde gigantisch ausfallen.

Pekunia lauschte kurz der Flüsterstimme ihres Bruders, dann wurde ihr langweilig und sie würgte ihn ab.

»Bist du dir sicher, Cumulus?« Sie wollte den Gedanken unterdrücken, dass Cumulus wie ein Klammeraffe in einem roten Pullover aussah, doch warum sollte sie sich die Mühe machen? Er sah tatsächlich aus wie ein Klammeraffe – klein und spindeldürr, mit einer Nase, die ein Eigenleben zu führen schien. Außerdem stand ihm der rote Pullover überhaupt nicht. Er hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung, wie man das richtige Schurkenimage ausstrahlte.

»Ich bin Ethereus. Er ist Cumulus.« Ethereus kauerte auf dem staubigen Sitz eines Aufsitzrasenmähers. Er deutete auf einen anderen Mann, der in der Ecke lümmelte. Wahrscheinlich, um cool zu wirken, dachte Pekunia und verzog angewidert den Mund. Doch dummerweise hatte er sich nur in großen Spinnennetzen verheddert. Dem Gefuchtel nach, mit dem er sich daraus befreien wollte, waren sie von ziemlich dicken Spinnen gewebt worden.

Pekunia verdrehte die Augen und sprang von der Kiste. Rasch klopfte sie sich den schwarzen Hosenanzug ab, zog sich einen fiesen Splitter aus dem Hintern, schnippte besagten Splitter in Richtung Rasenmäher und marschierte zu ihrem zappelnden Bruder, um ihm zu helfen. Mit ungeduldigen Händen wischte sie ihm die Spinnweben von Haaren, Augen, Hals, Ohren, Mund, Armen, Beinen … Es schien keinen Körperteil zu geben, der nicht mit klebriger Spinnenseide überzogen war. Nach und nach enthüllte sie ein rosiges Gesicht mit einer forschenden Nase, die in jeder Hinsicht mit dem Riechkolben des Klammeraffen auf dem Rasenmäher übereinstimmte.

»Wie hast du es nur geschafft, dich so einzuwickeln?«, blaffte sie. »Ein paar Minuten länger, und du hättest ausgesehen wie eine ägyptische Mumie.«

»Danke«, flüsterte Cumulus. »Tiere finden mich anscheinend unwiderstehlich, selbst Spinnen. Erst neulich wollten eine Igelfamilie und ein munteres Frettchen …«

»Halt die Klappe! Was kümmert mich das? Es war eine rein rhetorische Frage.« Pekunia verfrachtete ihn neben seinen Zwilling auf den staubigen Rasenmäher. Da hockten sie nun wie zwei hässliche Buchstützen, sie aber kehrte zu ihrer Kiste zurück. »Mich interessiert lediglich die Wahrscheinlichkeit, ob die Information korrekt ist. Wie sicher seid ihr euch? Was wissen wir über diesen Nostradummus?«

Ethereus und Cumulus tauschten einen aufgeregten Blick. Ethereus nickte Cumulus zu. Vielleicht war es auch andersherum. Aber wer fragte danach?

»Er galt als ziemliche Berühmtheit«, antwortete Cumulus. »Er war ein Zauberer oder so etwas und lebte vor Hunderten von Jahren in Deutschland. Er schrieb erstaunliche Prophezeiungen, aber niemand scheint ihm noch zu glauben.« Der Zwilling – welcher es auch sein mochte – blätterte in einem ledergebundenen alten Buch. »Hört euch die hier an!« Mit zusammengekniffenen Augen schlug er eine Seite auf und setzte zu einem feierlichen Vortrag an.

 

Wenn das Band breit durch die Lüfte wallt,

Werden Kindlein lächeln, Freunde sich befehden,

Werden Köpfe lol und Schultern hängen

Und Schweigen wird das Sagen haben.

 

»Nun?« Der Zwilling musterte Pekunia und erwartete offensichtlich, dass sie sich beeindruckt zeigte.

»Nun was?«, gab Pekunia zurück und hob die Brauen. »Er meint doch sicher Werden Köpfe rollen, nicht lol, oder? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Doch! Es ist das Internet. Verstehst du nicht?« Der Zwilling deutete auf die erste Zeile des Verses.

»Lächelnde Kinder und Freunde, die sich befehden, das sind die Fotos, die Rechtschaffene von ihren Töchtern und Söhnen posten, und der Streit über sinnlose Kleinigkeiten, der im Internet ausbricht. Und lol … es gibt wahrscheinlich kein Wort, das man im Internet häufiger sieht. Und … da, sieh mal!« Der Affenmann wedelte Pekunia mit dem Buch vor der Nase herum. »Er erwähnt sogar mehr oder weniger Breitband. Und du musst doch zugeben, dass kaum jemand – ob Verbrecher oder Rechtschaffener – noch ein anständiges Gespräch führt. Wir sind alle viel zu beschäftigt damit, Spiele wie Zornige Geier oder Toffee Squash Epic zu spielen. Nostradummus war ein Genie!«

»Hmmm.« Pekunia trommelte mit den Fingern auf den Rand der Kiste, auf der sie saß. »Lies noch einmal die Blaggard’s Prophezeiung vor! Glaubst du wirklich, dass sie zutreffend ist?«

Der Klammeraffe lächelte zuversichtlich. Er räusperte sich, bevor er begann.

 

Das zehnte Jahr der Macht von Königin Katze

Sieht Feuer und Flammen unter BB,

Es stürzt ein und alles ist verloren.

Eine Königin fällt, die andere steigt.

 

»Ich habe Gerhard Doppelgänger entführt, den weltweit bekanntesten rechtschaffenen Vulkanologen«, fuhr der Klammeraffe fort. »Ich habe ihn … angeregt, Tests durchzuführen, und er hat bestätigt, dass die Information korrekt ist. Blaggard’s wurde direkt auf einem Vulkan erbaut. Man nennt ihn den Unberechenbaren. Schon mal davon gehört?«

»Natürlich habe ich davon gehört«, blaffte Pekunia. »Aber ich dachte, der liegt in den USA

»Man hielt ihn für erloschen«, entgegnete der Klammeraffe. »Aber das ist er nicht. Er schläft nur. Was die Verwechslung seines Standorts betrifft – ein viktorianischer Wissenschaftler hat ihn ausfindig gemacht, aber irgendetwas muss ihn abgelenkt haben. Vielleicht ist ihm das Schnurrbartwachs ausgegangen oder sonst was. Jedenfalls, anstatt den Standort des Unberechenbaren mit Borage Bagpize anzugeben, hat er ihn bei Borage Bagpuss verzeichnet. Und das ist eine amerikanische Präriestadt, wie du weißt.«

»Ts, ts …« Ob solcher Schlamperei schüttelte Pekunia missbilligend den Kopf. »Und gleichzeitig, wie wunderbar! Bist du dir sicher, dass sonst niemand davon weiß? Absolut niemand, sei er Verbrecher oder Rechtschaffener, lebendig oder tot, auf der ganzen Welt?«

Der blaue Klammeraffe nickte. »Es war ein totaler Zufall, dass ich das Buch der Prophezeiungen gefunden habe. Ich war in diesem komischen kleinen Laden in der Stadt, der nutzlosen Müll verkauft. ABGETRAGEN heißt er. Muss ein Rechtschaffenenwitz sein. Ich habe nach gebrauchten Brechstangen gesucht und bin einfach darübergestolpert. Der Band lag neben einem hübschen Schrumpfkopf. Beides zusammen habe ich für ein Pfund bekommen. Das nenne ich mal ein Schnäppchen!« Dann schien ihm wieder einzufallen, dass er die Frage nicht beantwortet hatte. »Selbst wenn jemand anders die Prophezeiung liest, könnte sie alles Mögliche bedeuten. Das hast du selbst gesagt.«

Pekunia Badpenny rieb sich hämisch die Hände und hielt einen Moment lang inne, um deren schlanke Eleganz zu bewundern. Die Leute sagten manchmal, ihre Hände sähen aus wie die einer jahrhundertealten Moorleiche. Aber das war nur Eifersucht, und sie war daran gewöhnt.

»Endlich!«, krähte sie. »Rache an Griselda Martinet. Rache an Blaggard’s für das Unrecht, das uns im Lauf der Jahre angetan wurde. Und Rache an diesen widerlichen Blagen, Milly Dillane und Charlie Partridge. Und an dem Wolf und dieser ekelhaften Töle. Rache an der ganzen stinkenden Bande!«

Der blaue Klammeraffe klatschte seinen Zwilling ab und dann, leicht widerstrebend, seine große Schwester.

»Nicht einfach irgendeine Rache, Pekunia«, sagte er. »Sondern schreckliche, unvergessliche Rache. Rache, die die Lehrbücher über Vergeltung auf Jahrhunderte neu schreiben wird.« Dann fügte er hinzu: »Können wir jetzt reingehen? Hier draußen ist es schrecklich unbequem.« Genervt rutschte er auf seinem Rasenmähersitz herum.

»Und das Timing? Ist es genau?«, schnurrte Pekunia, ohne die Bitte ihres Bruders zu beachten.

Ethereus (oder Cumulus) nickte. »Auch das habe ich von dem Vulkanologen überprüfen lassen. Er sagt, es ist mehr oder weniger eindeutig. Es gibt bereits Anzeichen, dass sich Druck aufbaut. Genau wie Nostradummus vorhersagt, wird der Unberechenbare in Kürze seine Spitze wegsprengen.«

»Wunderbar«, gurrte Pekunia. »Am besten unternehme ich einen kleinen Ausflug nach Blaggard’s und sehe mir das an.« Ihr kam ein unliebsamer Gedanke. »Nur eins noch … wo ist die Verrückte jetzt?«

»Keine Sorge! Die Verrückte ist aus dem Weg – auf einer Motorrad-Weltreise, die mit einem Hell’s-Angels-Treffen in Weston-Super-Mare endet. Sie ist noch lange nicht zurück. Falls sie überhaupt zurückkommt. Können wir JETZT bitte reingehen? Unser Hintern ist schon ganz taub. Warum müssen wir uns überhaupt in diesem schäbigen kleinen Schuppen treffen?«

Pekunia sprang von der Kiste.

»Weil es hier drinnen ideal ist. Hier sind wir sicher vor neugierigen Augen und lauschenden Ohren. Oh, das wird einfach genial!«, krähte sie. »Blaggard’s wird vom Antlitz der Erde getilgt. Mit jedem Lebewesen dort, sei es Mensch oder Tier, Krimineller oder Ahnungsloser …«

Kapitel 2

»Charlie, wo bist du?«, rief Milly Dillane und sah sich angestrengt um. Alle Lichter waren ausgeschaltet und die Aula lag im Dunkeln. Menschen keuchten, weinten und riefen um Hilfe. Ferne Sirenen wurden lauter. Knarrend senkte sich das alte Gebäude wieder auf seine Grundmauern, nachdem die Kostümdisco der Schule plötzlich von einem entsetzlichen Erdbeben unterbrochen worden war.

Jemand stolperte über sie. »Au!« Die Stimme war weiblich. Milly glaubte sie zu erkennen. »Trickery? Bist du in Ordnung?«, fragte sie. Der jahrhundertealte Staub, der sich auf ihre Augen legte und ihr in die Kehle kroch, reizte sie zum Husten.

»Ich glaube, ja.« Trickery klang atemlos. »Was ist passiert?«

Milly streckte die Arme aus und fühlte etwas Seidiges. Natürlich! Trickery hatte für die Kostümdisco ein Seidenkleid angezogen und sich als ihre eigene Vorfahrin verkleidet, die Spionin Chicanery Hackett, die sich als Schäferin getarnt hatte. Die Gestalt zog Milly auf die Füße.

»Keine Ahnung.« Milly hustete noch einmal. »Borage Bagpize ist nicht gerade für Erdbeben bekannt.«

Wieder fragte sie sich besorgt, wo Charlie Partridge steckte, ihr bester Freund. »CHARLIE!«, rief sie noch lauter.

Irgendwo hinter ihr ächzte und keuchte jemand.

»Ich bin hier, Mills«, war Charlies Stimme zu hören. »Irgendetwas liegt auf mir. Ich erkenne nicht, was es ist. Es fühlt sich kalt und schwer an und riecht übel. Anscheinend will es mit mir … kuscheln.«

Erleichterung durchströmte Milly, während sie sich zu Charlie vortastete. »Hoppla, tut mir leid!« In der erdrückenden Dunkelheit war sie über jemanden gestolpert.

»Milly Dillane.« Griselda Martinets Stimme klang nicht ganz so katzenhaft wie gewöhnlich. Oder, um genau zu sein, sie klang zwar immer noch wie eine Katze, aber eine Katze, die Schmerzen litt. »Wenn du Charlie befreit hast, könntest du dann zurückkommen und mir helfen? Ich fürchte, ich komme allein nicht hoch.«

»Miss Martinet! Alles in Ordnung? Warten Sie, ich helfe Ihnen!« Milly streckte abermals die Hände aus. Sie berührte etwas Warmes und unverkennbar Menschliches. Sie stemmte die widerstrebende Person in eine sitzende Haltung, als die Direktorin weitersprach.

»Natürlich habe ich Schmerzen. Aber damit werde ich fertig.« Ihre Stimme stockte für einen Moment. »Es wäre besser, wenn du Charlie hilfst, bevor das Licht wieder angeht und er sieht, womit er kämpft.«

Da Ms Martinet dank ihrer Kindheit unter Katzen über ein hervorragendes Sehvermögen verfügte, befand Milly, dass sie dem Vorschlag der Rektorin folgen sollte. Sie wollte gerade die seltsam widerborstige Gestalt bequemer hinsetzen, als Ms Martinet wieder das Wort ergriff. »Außerdem sollte ich vielleicht darauf hinweisen, dass du im Moment nicht mir hilfst, sondern Miss Vipond.«

»Igitt!« Milly ließ die hilfsbedürftige Person wie eine heiße Kartoffel fallen.

In diesem Moment ging das Licht wieder an. Jane Vipond, Lehrerin für Trotz und Unhöflichkeit, lag auf dem Boden und bedachte Milly mit einem bösen Blick. Ihr sonst so schmerzhaft straffer Haarknoten hatte sich in der Panik gelöst und dichtes goldbraunes Haar kam zum Vorschein. Es war überraschend schön.

»Hättest du mich nicht losgelassen, hätte ich dich in den Arm gebissen«, erklärte sie finster. »Und wenn du mich noch einmal anfasst, aus welchem Grund auch immer, dann beiße ich dich nicht in den Arm, sondern ich reiße dir den Kopf ab.« Miss Vipond war eine Expertin in Unfreundlichkeit. Von einer Kleinigkeit wie Hilfe nach einem Erdbeben ließ sie sich nicht aus dem Tritt bringen.

Milly verkniff sich die Entschuldigung, die ihr auf der Zunge lag, bis ihr die Augen aus den Höhlen traten. Sie hatte gelernt, dass man sich niemals, wirklich absolut niemals bei Miss Vipond entschuldigen durfte.

Dicht hinter ihr lag Ms Martinet auf dem Boden, das linke Knie unnatürlich verdreht.

Sie verzog das Gesicht und rieb sich das Bein. »Charlie Partridge ist dort drüben.« Sie wies in die entsprechende Richtung.

Milly linste zu Charlie hinüber. Er schien mit einer Schaufensterpuppe zu ringen. Der Boden ringsum war mit Glassplittern übersät, die wie herabgefallene Eiszapfen glitzerten.

»Ei, zum Eichdachs!«, fluchte Milly. »Sir Bryon! Das Erdbeben muss seine Vitrine zertrümmert haben. Kein Wunder, dass Charlie so verstört wirkt! Er kämpft mit dem ausgestopften Leichnam eines Mannes, der seit zweihundert Jahren tot ist.«

Die Direktorin versteifte sich wieder. »Vielleicht kannst du dich mit Charlie beeilen und dann zu mir zurückkommen. Der Schmerz wird stärker … Ich könnte ja Miss Vipond um Hilfe bitten, aber sie hat gerade den pechschwarzen Gürtel in Killerkarate erlangt und dieser seltsame Ausdruck in ihren Augen …« Sie funkelte Miss Vipond an, die inzwischen aufgestanden war und sich zu ihr hinabbeugte.

»Bleiben Sie bloß weg von mir, Sie Teufelin!«, zischte Ms Martinet die Lehrerin für Trotz und Unhöflichkeit an.

Milly eilte zu Charlie. Sir Bryon hielt ihren Freund am Boden fest. Sein Gesicht, auf ewig in einer Kreuzung aus Schmollen und Grinsen bewahrt, lag ganz dicht neben dem seinen, und es sah so aus, als wollte er dem zappelnden Jungen einen dicken Schmatz aufdrücken.

»Bah, pfui!« Charlie drehte gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite, damit ihm Sir Bryons Ohr, das sich von seinem Körper gelöst hatte, nicht in den Mund fiel. »Argh! Hilf mir, Mills!«, flehte er.

Milly packte Sir Bryon um die steife Taille und zog.

Charlie stemmte von unten, Milly zerrte von oben, und so hoben sie Sir Bryon hoch genug, dass Charlie unter ihm hervorrutschen konnte.

Sobald Charlie frei war, ließ Milly Sir Bryon fallen. Er prallte wieder auf den Boden und landete auf den Knien. Er sah aus, als sei er mitten in einem Liegestütz stecken geblieben.

»Würg! Du hast recht«, sagte Milly und half Charlie auf die Füße. »Er stinkt wirklich.«

Charlie klopfte seinen Anzug ab – er war als sein Held Gavin McGlintock verkleidet, der höhnische Spezialist aus seiner Lieblingssendung Kunst, Krempel & Kriminelles. Dann fuhr er sich durchs Haar. Sonst stand es so wild ab, dass er einem verrückten Professor glich. Für die Kostümdisco hatte er es aber mit Gel zurückgekämmt und jetzt zerzauste er es, bis es wieder in alle Richtungen abstand.

»Danke«, sagte er. »Was ist passiert?« Als Milly mit den Achseln zuckte, wies er zum anderen Ende der Aula. Das Erdbeben hatte die große goldene Uhr von Blaggard’s aus der Verankerung gerissen und sie baumelte an ihren Sicherheitsketten wie eine sterbende Sonne. »Sie muss wieder befestigt werden, bevor ein übereifriger Dieb sie klaut.« Mit dem Kopf deutete er auf William Proctor, das sommersprossige, böse kleine Genie. Er betrachtete die Uhr und rieb sich das Kinn.

Charlie musterte Milly von Kopf bis Fuß. »So, wie du aussiehst, bist du in Ordnung. Allerdings hast du ein paar Schuppen verloren.«

Milly hatte sich für die Kostümdisco als kleine Meerjungfrau verkleidet, mit einer grünen Paillettenhose anstelle eines Schwanzes. Sie betrachtete ihre Beine.

»Ach, na ja. Nicht das Ende der Welt. Obwohl es sich so angefühlt hat.«

Sie blickte in die Runde. Überall kamen Blaggardianer auf die Beine, untersuchten sich auf Verletzungen und hielten Ausschau nach ihren Freunden.

Trickery kümmerte sich um Jet Mannington, ihren festen Freund. Jet kümmerte sich um sein Haar. Blotch, das entkriminalisierte Schaf, das nach dem Abenteuer in Crumley’s mit nach Blaggard’s gekommen war, war über und über mit Staub bedeckt.

Außer Ms Martinet lag niemand mehr auf dem Boden, was darauf schließen ließ, dass keiner ernsthaft verletzt war. Die Aula, Teil des ursprünglichen Gebäudes von Sir Thomas Blaggard, schien unversehrt. Viele Vitrinen aber waren umgekippt und hatten Fotos, Trophäen und weniger reizvolle kriminelle Erinnerungsstücke über den Boden verteilt.

Die Bühne, auf der Ms Martinet beim Ausbruch des Erdbebens gestanden hatte, glich einem Trümmerfeld. Aus den Überresten ragte die lebensgroße Pappfigur von Sir Thomas Blaggard heraus, eins der vielen sehenswerten Dekorationsstücke der Disco. Er ähnelte einem Mann, der im Treibsand versank.

Milly und Charlie eilten zu Ms Martinet, die sich auf die Füße helfen ließ. Stark humpelnd übernahm sie das Kommando. »Lehrer, prüft nach, ob eure Klassen vollzählig sind! Hauskapitäne, teilt eure Häuser in Teams ein und räumt den Saal auf! Ich gehe zum Tor, um die Rettungswagen der Rechtschaffenen abzuwimmeln. Horden von Polizisten und Sanitätern, die nur herumschnüffeln, können wir hier wirklich nicht gebrauchen. Milly Dillane und Charlie Partridge, ihr dürft mir durch den Wald zum Tor helfen. Charlie, du solltest deinem Wolfsfreund und seinem wohlriechenden Gefährten unbedingt klarmachen, dass es ab-so-lut notwendig ist, sich zu verstecken, bis wir die Ahnungslosen ihrer Wege geschickt haben.«

»Wolfie! Gruffel!« Charlie sah sich um und runzelte die Stirn. »Wo sind die beiden?«

Kapitel 3

Während Milly und Charlie Ms Martinet beim Verlassen der Aula halfen und Blaggard’s beeindruckende Eingangshalle durchquerten, hielten sie Ausschau nach Wolfie und Gruffel. Dabei kamen sie an der gewaltigen marmornen Empfangstheke und dem Fußbodenmosaik vorbei, das Blaggardianer bei niederträchtigen Umtrieben im Wandel der Zeiten darstellte.

Ein fliegender Roboterhund und ein ungewöhnlich streng riechender weißer Hund sollten nicht schwer zu finden sein. Doch von ihnen war keine Spur zu entdecken.

»Wo waren die beiden, als das Erdbeben losbrach?« Milly runzelte die Stirn.

»Sie sind im Sturzflug auf Mister Borgia hinabgeschossen. Er hat sich hinter einer Gruppe Siebtklässler versteckt«, erinnerte sich Charlie nach kurzem Nachdenken.

Sie halfen Ms Martinet durch die gewölbte Eingangstür, die Sir Thomas Blaggard aus dem Tower von London gestohlen hatte, über den Rasen und den Weg entlang, der sich durch den Wald von Blaggard’s zum Verschlungenen Tor schlängelte.

»Nur gut, dass sie so klug waren und sich rargemacht haben«, bemerkte Ms Martinet.

Milly warf Charlie einen besorgten Blick zu, antwortete aber nicht. Das lag jedoch nur zum Teil an der Überlegung, wo sich Gruffel und Wolfie wohl befinden mochten. Vielmehr war ihr gerade etwas eingefallen, das sie kurz vor dem Erdbeben bemerkt hatte. Sie hatte Pekunia Badpenny gesehen, ihre ärgste Feindin, die im Hintergrund umhergeschlichen war. Zumindest glaubte sie, dass sie sie gesehen hatte.

Die grotesken Formen des Verschlungenen Tors kamen in Sicht. Es wurde von zuckenden blauen und orangefarbenen Lichtern beleuchtet, in denen die eisernen Bären und die langen Brennnesseln aussahen wie Gebilde, die aus den Tiefen der Hölle emporgezerrt worden waren.

»Polizei und Feuerwehr«, sagte Ms Martinet mit angewidertem Schmollmund. Eine Gruppe uniformierter Rechtschaffener hatte sich draußen um das elektronische Schloss versammelt und drückte heftig streitend auf dem Tastenfeld herum. Einer der Feuerwehrmänner hatte die Axt über den Kopf erhoben und schien drauf und dran zu sein, sie auf das Schloss niederfahren zu lassen.

»LEGEN SIE DIE AXT WEG!«, brüllte Ms Martinet so laut, dass der Feuerwehrmann vor Schreck zusammenzuckte.

Ms Martinet straffte den Rücken und schüttelte Millys und Charlies Hände ab.

»Ich brauche euch wohl kaum an Blaggard’s Tarnidentität zu erinnern. Wir sind Constance Bottomley’s Akademie für Ländliche Landwirtschaft, und ich bin Miss Thistledown Blessington, die Direktorin. Verstanden?«, flüsterte sie und bedachte Milly und Charlie nacheinander mit einem eindringlichen Blick.

Sie kamen in Hörweite der Rechtschaffenen hinter dem Tor. Ein Polizist drückte auf die Gegensprechanlage am Tastenfeld. Hinter ihm drängte sich ein halbes Dutzend Feuerwehrmänner, einen Schlauch im Anschlag.

»Das wurde aber auch Zeit!«, rief der Polizist, als er die Blaggardianer auf das Tor zukommen sah. »Na los, machen Sie auf! Warum dauert das denn so lange?«

Ms Martinet streckte die rechte Hand durch das verschlungene Gitter. Sie schüttelte dem Polizisten die Hand und ließ sie schnell wieder fallen.

»Ich bin die Direktorin hier an Bottomley’s Akademie«, antwortete sie. »Mein Name ist Blessington. Ich bin Ihnen überaus dankbar, dass Sie uns zu Hilfe eilen, aber es ist falscher Alarm. Sie werden nicht gebraucht. Nur ein wissenschaftliches Experiment zum Überschallknall, das ein bisschen schiefgegangen ist. Wir sind alle wohlauf! Guten Abend.«

Sie wandte sich um und wollte gehen.

Aber so leicht ließ sich der Polizist nicht abwimmeln.

»Einen Moment, Mrs Blessington!«, rief er.

Ms Martinet seufzte und drehte sich um. Auf jemanden, der sie nicht kannte, musste sie ungerührt wirken, aber Milly sah, mit welcher Anstrengung sie ihre Ungeduld zügelte.

»Miss. Miss Blessington«, sagte sie mit eisigem Lächeln.

»Ah. Ich bitte um Verzeihung.« Der Polizist lächelte und zuckte mit den Achseln. »Ich wüsste nur gern etwas mehr über diesen Überschallknall. Warum führen Sie um diese Uhrzeit noch Experimente durch? Das kommt mir ein wenig … ungewöhnlich vor …«

»Die Schüler sind überaus eifrig«, erklärte Ms Martinet. »Manchmal muss ich sie um Mitternacht ins Bett scheuchen und sie mit Nachdruck vom Lernen abhalten. Sie sind so wissbegierig!«

»Wirklich?« Der Polizist wirkte überrascht. »Ihre Schule ist anscheinend ganz anders als die meiner Kinder. Die Sache ist die … wir müssen Berichte ausfüllen. Gezeichnet und gegengezeichnet vom Assistant Chief Constable, dem Chief Constable und dem Chiefiest Constable, unserem obersten Vorgesetzten. Deshalb ist es wichtig, dass die Einzelheiten stimmen. Wenn Sie uns hereinlassen, könnten wir rasch das Gelände untersuchen, nur um uns davon zu überzeugen, dass jetzt alles überstanden ist. In Ordnung?« Er lächelte sie an und zwinkerte ihr zu.

»Nein, nichts ist in Ordnung, wie ich befürchte.« Ms Martinet wirkte bedauernd, aber Milly sah, dass sie die Fäuste ballte. Offenbar unterdrückte sie nur mit Mühe den Drang, dem Polizisten eins auf die rechtschaffene Nase zu geben. Niemand zwinkerte Ms Martinet ungestraft zu.

»Warum?«

Ms Martinet zögerte. Einen Moment lang betrachtete sie ihre Füße.

»Pest.« Es schien, als spreche Ms Martinet das Wort nur mit großem Widerstreben aus. »Schwarzer Tod.«

Insgeheim musste Milly lächeln. Eine der beliebtesten Legenden der Schule war die, dass vor hundert Jahren versehentlich ein Zeppelin zerstört worden war. Diese Heldentat veranlasste den König, einen Besuch in Constance Bottomley’s Akademie für Ländliche Landwirtschaft vorzuschlagen, um sich persönlich zu bedanken. Der damalige Schulleiter war gezwungen gewesen, eine große Lügengeschichte auszuhecken, wollte er verhindern, dass sich die königliche Nase in Blaggard’s Angelegenheiten steckte. Die Lüge bestand darin, dass die Schule mit einem Ausbruch der Pest zu kämpfen habe.

Milly fand, dass Ms Martinets Geschichte noch ein wenig ausgeschmückt werden sollte. »Wir stehen unter Quarantäne«, erklärte sie. »Und man hat uns geraten, die Sache unter der Decke zu halten, damit unter den Bürgern von Borage Bagpize keine Panik entsteht. Deshalb führen wir so spät nachts noch wissenschaftliche Experimente durch. Schließlich kann dies unsere letzte Gelegenheit dazu sein«, fügte sie mit bekümmerter Miene hinzu.

Zweifel stand dem Polizisten ins Gesicht geschrieben. »Als Meerjungfrau verkleidet?« Er hob die Brauen, bevor sein Blick zu Charlie schweifte. »Und … als Grundstücksmakler?« Schließlich musterte er Ms Martinet. »Als Piratin?«

Milly betrachtete ihre paillettenbesetzten Beine. Zum Eichdachs! Wie konnte sie sich da herausreden?

Glücklicherweise war Charlie auf Draht. »Warum nicht?«, seufzte er. »Dies könnte die letzte Gelegenheit sein, unsere harmlosen kleinen Fantasien auszuleben. Ich habe immer davon geträumt, Grundstücksmakler zu sein …«

Das Gesicht des Polizisten nahm einen Ausdruck berufsmäßigen Mitgefühls an. Milly fand, dass es Zeit wurde, den wohlmeinenden, aber lästigen Haufen von Rechtschaffenen loszuwerden.

»Meine Achselhöhle … tut so weh!«, stieß sie stockend hervor. »Die riesige Beule platzt gleich.«

Bei den Feuerwehrmännern funktionierte es. Sie wichen zurück. Einer von ihnen verschwand hinter dem Löschfahrzeug und rollte den Schlauch wieder auf. Die anderen eilten zum Wagen zurück, und sobald der Schlauch verstaut war und der letzte Feuerwehrmann mit einem Fuß eingestiegen war, rasten sie davon.

Aber der Polizist war mutiger, misstrauischer oder beides. Er wich nicht von der Stelle und beäugte sie zweifelnd.

»Pest«, sinnierte er.

Es folgte ein langes Schweigen.

Milly hüstelte noch einmal. Sie röchelte, taumelte und tastete ihre Achselhöhle ab.

»Auuu!«, heulte sie. »Haben Sie ein Papiertaschentuch? Sie wird gleich platzen!«

Endlich wich der Polizist einige Schritte zurück. »Dann mache ich mich mal auf den Weg.« Er zog tatsächlich ein Papiertuch aus der Hosentasche, doch anstatt es Milly zu reichen, hielt er es sich vor die Nase. Er trat noch weiter zurück. »Ruft uns sofort an, falls ihr noch …«

Seine Stimme verlor sich.

Sein Blick hatte sich auf einen Punkt hoch oben in der Luft gerichtet, gleich hinter ihnen.

Sein Tuch flatterte zu Boden.

Ein erstaunter Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Milly hatte plötzlich ein ungutes Gefühl im Magen. Inständig hoffte sie, dass sich ihre Befürchtung nicht bestätigte.

»Eine Frage noch«, sagte er mit völlig veränderter Stimme. »Was hat es mit dem fliegenden Roboterhund auf sich? Und dieser räudigen Kreatur auf seinem Rücken? Sind das auch Pestopfer?«

Kapitel 4

»Na, fabelhaft«, murmelte Charlie, nachdem sie sich alle drei umgedreht hatten und hinter sich blickten.