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Aus dem Englischen von Sabine Thiele
© Carol Wyer 2016
Titel der englischen Originalausgabe:
»Life Swap«, Bookouture, London 2016
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2020
Redaktion: Lisa Wolf
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
nach einem Entwurf von Emma Rogers
Coverabbildung: iStock (cinnamonsaturday; ma_rish;
SilkenOne und heather_mcgrath)
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Simon Green ertrank in fluffigen weißen Marshmallows. Er schlug wild um sich, während ihn kräftige Hände immer tiefer in die klebrigen Vanilletiefen drückten und die Marshmallows allmählich seine Atemwege zu verschließen drohten. Irgendein primitiver Instinkt sagte ihm, dass es kein Traum war. Panisch wurde ihm bewusst, dass er weder die Augen öffnen noch atmen konnte. Simon versuchte vergeblich, den Kopf hin und her zu bewegen. Doch ein bleiernes Gewicht drückte ihn weiter nach unten. Ein Wort kam ihm in den Sinn, während die Starre sich langsam löste: Ivan. Schlagartig war er wach, packte zu und zog mit aller Kraft. Ein kühler Luftzug traf seine Wangen, und er holte dankbar Atem, ohne allerdings den Nacken seines Angreifers freizugeben. Der riesige getigerte Kater starrte ihn wütend aus funkelnden grünen Augen an. Schon zum zweiten Mal in dieser Woche hatte ihn das verdammte Vieh im Schlaf fast erstickt. Wollte es ihn kaltmachen? Simon überlegte, ob er Ivan aus dem Schlafzimmerfenster werfen sollte. Der Kater fauchte und zeigte instinktiv die Krallen.
»Ist das mein kleiner Flauscheschatz?«, ertönte eine verschlafene Stimme neben Simon. Der Kater zog sofort die Krallen ein und miaute jämmerlich.
»Simon«, sagte seine Frau Veronica scharf. »Was tust du da? Setz Ivan sofort ab.« Dann fuhr sie mit hoher Kleinmädchenstimme fort: »Komm zu Mummy, Ivan. Daddy wollte versuchen, mein Flauschebaby aus dem Bett zu werfen, nicht wahr? Böser Daddy. Beachte ihn gar nicht. Er ist nur so schlecht gelaunt, weil er gestern zu viel getrunken hat.«
Simon ließ das riesige Tier los. Mit einem dumpfen Geräusch fiel Ivan auf die Bettdecke, unter der Veronicas Arm auftauchte. Sie streckte die Hand nach Ivan aus und wackelte mit den Fingern.
Simon zupfte sich Katzenhaare von der Zunge und sah auf den Wecker neben dem Bett – es war erst sechs Uhr morgens. Verfluchtes Vieh. Er schnaubte verärgert und versuchte dann, sich wieder in die Bettdecke einzukuscheln. Der Kater lag jetzt auf dem Rücken, aalte sich in Veronicas Aufmerksamkeit und warf ihm abfällige Blicke zu. Man sah geradezu das höhnische Grinsen. Das skrupellose Vieh hatte in letzter Zeit eine Abneigung gegen Simon entwickelt – was auf Gegenseitigkeit beruhte. Entweder war das Tier beleidigt, weil Simon es vor ein paar Tagen aus seinem Lieblingssessel vertrieben hatte, oder es war wegen Veronica eifersüchtig auf ihn. Seinetwegen konnte Ivan sie ganz für sich allein haben. Sie nörgelte sowieso immer nur an ihm herum.
»Armes Baby«, säuselte Veronica. »Du sehnst dich nach Georgie, nicht wahr?«
Simon warf dem verwöhnten Kater einen bösen Blick zu, dem sein mürrisches Frauchen, die Teenagertochter der Familie, nicht besonders zu fehlen schien. Simon jedenfalls vermisste Georgina oder ihre in letzter Zeit ständig schlechte Laune nicht. Was war nur aus seiner kleinen Prinzessin geworden? Noch im letzten Jahr war sie eine zufriedene Zwölfjährige gewesen und Simon ihr bester Freund. Er und Georgie hatten immer ein enges Verhältnis zueinander gehabt. Sie teilten denselben albernen Humor, saßen oft gemeinsam auf dem Sofa, sahen Sendungen von Komikern wie Lee Evans oder Harry Hill und prusteten vor Lachen, während Veronica schlecht gelaunt danebensaß. Jetzt ignorierte ihn seine Tochter nur noch oder blaffte ihn genauso an wie Veronica. Vielleicht war sie besserer Stimmung, wenn sie von ihrer Reise zurückkam. Nein, das war genauso wahrscheinlich, wie dass er den Jackpot im Lotto knackte. Er seufzte, hievte sich aus dem Bett und setzte die Schildpattbrille auf. Seine Umgebung wurde klarer.
»Tee, Liebes?«, fragte er wie jeden Morgen. Veronica gab etwas Unverständliches von sich. Simon zog sich seinen Morgenmantel über. Der Kater streckte sich träge auf seiner Betthälfte.
»Vergiss nicht, Georgies Schranktür zu reparieren, bevor sie zurückkommt«, sagte Veronica und drehte sich auf die Seite.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum die Schule ausgerechnet China ausgesucht hat«, beschwerte er sich, während er in die Hausschuhe schlüpfte und bemerkte, dass sich eine Sohle ablöste. Er untersuchte die Schuhe näher. Die Spitzen sahen zerkaut aus. Verdammter Kater! Böse funkelte er Ivan an. »Als ich in ihrem Alter war, haben wir uns schon über den jährlichen Tagesausflug nach Boulogne gefreut.«
»Nicht schon wieder, Simon«, murmelte Veronica. »Das ist eine Kulturreise, Himmel noch mal. Denk nur an die Sehenswürdigkeiten, die sie besuchen darf, die Erfahrungen, die sie macht. Es wird ihr die Augen für die Welt öffnen.«
»Vor allem öffnet sie meine Brieftasche – achthundert Pfund! Himmel! Wir können uns nicht einmal eine Woche in Bognor Regis leisten …« Er unterbrach seine Tirade, als er bemerkte, dass Veronica ihn wieder mit diesem ganz bestimmten Blick musterte.
»Halt die Klappe, Simon. Du bist ein jämmerlicher alter Geizkragen. Du musstest sie mitfahren lassen. Sonst wäre sie als Einzige aus ihrem Jahrgang daheimgeblieben. Es wird ihr guttun, und außerdem müssen wir Opfer für unsere Kinder bringen. Das machen Eltern so. Du hast schlechte Laune – wahrscheinlich wegen der zweiten Flasche Wein. Ich habe dir doch gesagt, dass du sie nicht aufmachen sollst. Trink einen Kaffee und reiß dich zusammen. Georgie kommt am Wochenende zurück. Bis dahin muss der Schrank repariert sein.«
»Ja, Liebes.« Simon hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man mit Veronica am besten zurechtkam, wenn man sich ihren Wünschen beugte. Stellte man sich ihr entgegen, konnte sie einem das Leben zur Hölle machen. Er erinnerte sich an eine bestimmte Situation, in der er sie verärgert hatte – am 3. März 2005. Sie war völlig ausgeflippt und hatte seine wertvolle Sammlung von Oldtimerzeitschriften in die Papiertonne geworfen, ihm Obszönitäten entgegengeschrien, als er sich nach der Arbeit umziehen wollte, ihn dann durch die Hintertür nach draußen gedrängt und ihn aus dem Haus ausgeschlossen. In Unterhose und Socken hatte er die Nacht im Schuppen verbracht, auf einem unbequemen Gartenstuhl unter einer müffelnden Decke. Die Benzindämpfe des Rasenmähers hatten ihm höllische Kopfschmerzen beschert, die durch die lautstarken Vorwürfe, die er einstecken musste, als er endlich wieder zurück ins Haus durfte, noch verstärkt wurden. In den nächsten zehn Jahren hatte er nie wieder ihren Hochzeitstag vergessen.
Zu seiner Verteidigung musste er allerdings sagen, dass er damals unter großem Druck gestanden hatte. Wegen der ausgeschriebenen Prämie von tausend Pfund hatte er den Titel »Verkäufer des Monats« unbedingt ergattern wollen. Sie brauchten das Geld dringend, um weiter die Raten und die Rechnungen abzubezahlen, die seit dem Umzug in ein größeres Haus auf ihnen lasteten – ein Haus, auf dessen Kauf Veronica bestanden hatte. »Das Dorf ist entzückend, Simon. So pittoresk, Simon. In der Nähe gibt es eine großartige Schule – die ist perfekt für die Kinder. Und an der Straße liegt sogar ein Pub, Simon. Ich weiß, dass es ein bisschen unsere Finanzen sprengt, aber ich liebe es. Lass es uns kaufen, Simon. Bitte!« Der Druck war seither übrigens nicht kleiner geworden.
Simon seufzte schwer. Ivan, der immer noch seine Bewegungen verfolgte, leckte sich ein Bein. Für ihn war alles in Ordnung. Die weiblichen Mitglieder des Haushalts überschütteten ihn mit Aufmerksamkeit. Er bekam zu fressen, wenn er danach verlangte, und hatte keine Sorgen. Abgesehen von den Bergen an Futter, die er verschlang, interessierte ihn nur Schlafen. Simon schleppte sich ins Badezimmer, wobei er darauf achtete, die wieder eingeschlafene Veronica nicht zu stören. Er hob seine Brille und blinzelte in den Spiegel. Böser Fehler. Der Mann mit den dunklen Augenringen, der ihn anblickte, schien eher Ende fünfzig als Ende vierzig zu sein. Er berührte die kahl werdende Stelle an seinem Hinterkopf und fluchte. Sie schien über Nacht größer geworden zu sein. Er wagte einen genaueren Blick in den Spiegel und zuckte zurück. Die blutunterlaufenen Augen waren zu viel für diese Uhrzeit. Er hätte früher mit dem Wein aufhören sollen. Normalerweise trank er nicht so viel, und vor allem nicht unter der Woche. Ein lautes Geräusch ertönte aus der Küche im Erdgeschoss. Der Grund, warum er bis weit nach Mitternacht getrunken hatte, war endlich zurückgekehrt. Simon zog nach unten in die Schlacht.
Sein siebzehnjähriger Sohn Haydon stand vor dem offenen Kühlschrank und trank aus einem Milchkarton.
»Muss das sein?«, knurrte Simon.
Haydon zuckte mit den Schultern, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und antwortete: »So hast du weniger Abwasch.«
»Quatsch. Du bist nur faul«, sagte Simon. Er ging zum Schrank, holte ein Glas heraus und gab es Haydon. »Nimm das für die Milch. Andere wollen auch noch davon trinken, aber ohne deine Bakterien. Wir müssen uns übrigens unterhalten.«
»Wenn es darum geht, dass ich die ganze Nacht unterwegs war …«
»Das weißt du ganz genau. Wir haben ausgemacht, dass du um halb elf wieder hier bist.«
»Du hast halb elf gesagt, ich nicht. Halb elf ist für Kinder und eine dämliche Zeit, um nach Hause zu kommen. Niemand in meinem Alter geht um zehn.«
»Du hast gesagt, du bist um halb elf hier, komm mir jetzt also nicht so. Du hast nicht zum ersten Mal ignoriert, wann du zu Hause zu sein hast, aber die ganze Nacht warst du noch nie weg.«
»Ich konnte einfach nicht so früh abhauen. Die anderen wollten noch ins Galaxy und hätten mich für den totalen Loser gehalten.«
Simon bezweifelte ernsthaft, dass irgendwer seinen knapp einen Meter neunzig großen Sohn einen Loser nennen würde. Neben Haydon kam er sich wie ein Zwerg vor, und wenn er ehrlich war, war er sogar etwas eifersüchtig auf die Größe und Stärke seines Sohnes. Diesen Jungen würde niemand wie einen Fußabtreter behandeln. Es überraschte ihn immer wieder, wie sein Sohn sich körperlich so völlig anders entwickelt hatte als er. Wahrscheinlich hatten die Gene ein paar Generationen übersprungen. Simons Großvater war ebenfalls ein wahrer Riese gewesen, auch wenn Simon ihn nie kennengelernt hatte. Eines Tages war der Mann in der Arbeit zusammengebrochen und gestorben. Simon hoffte, dass er selbst nicht diese schwächeren Gene geerbt hatte, die für den Herzinfarkt und den frühen Tod verantwortlich waren. Wenn sein Leben noch stressiger werden sollte, würde er jedenfalls ziemlich sicher tot umfallen.
»Wenn du angerufen hättest, hätte ich dich abgeholt.«
»Klar, das kommt ja megacool – mein alter Herr wirft sich in Morgenmantel und Pantoffeln und holt mich ab. Du bist doch um zehn sowieso schon immer im Bett.«
Simon beschloss, die Taktik zu ändern. Haydon war defensiv. So würde er keinen Streit mit dem Jungen für sich entscheiden.
»Sieh es doch mal so«, sagte Simon und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Kannst du dir vorstellen, wie es uns dabei geht? Wir wussten, dass du mit Ricky und Adam unterwegs warst. Als du nicht nach Hause gekommen bist, haben wir uns Sorgen gemacht.«
Haydon starrte ihn unverwandt aufgebracht an. Simon entschied, seinen Trumpf auszuspielen.
»Deine Mum war außer sich vor Angst.« Er verstummte. Einen kurzen Moment sah sein Sohn nach unten. Haydon war immer schon ein Mamakind. Veronica wollte er auf keinen Fall aufregen. Simon fuhr fort: »Du weißt doch, wie schnell sie sich in etwas reinsteigern kann. Um elf wollte sie alle Krankenhäuser der Gegend abtelefonieren, um sicherzugehen, dass dir nichts passiert ist.«
Was überhaupt nicht stimmte. Veronica hatte gemütlich vor dem Fernseher gesessen und sich nicht die geringsten Sorgen gemacht. Als Simon sich beschwert hatte, dass Haydon noch nicht zu Hause war, hatte sie ihm gesagt, er solle »ganz cool bleiben«, und ihn daran erinnert, dass Haydon kein Kind mehr war. Simon hatte sich ein weiteres Glas Wein eingegossen und geschäumt. Es war doch wirklich nicht zu viel verlangt von seiner Familie, ihm gegenüber ein wenig Respekt und Rücksicht zu zeigen. Schließlich war er der Ernährer.
»Ich habe dir doch eine Nachricht geschickt. Ganz blöd bin ich ja auch nicht«, murmelte Haydon.
»Ach ja, die Nachricht. Die um halb zwölf? In der du nur kurz gesagt hast: ›Bin bei Adam, bis morgen‹?«
»Immerhin habe ich Bescheid gesagt, oder?«
»Ja, aber trotzdem. Das war unverantwortlich. Halb elf ist halb elf, nicht halb zwölf oder halb sieben am nächsten Morgen … Du hättest um die Zeit nach Hause kommen sollen, um die wir dich gebeten haben. Das ist eine Sache des Respekts.«
Haydon murmelte leise etwas und sagte dann aufgebracht: »Himmel, Dad, komm mal runter. Adams Auto ist wieder liegen geblieben, und es war einfacher, bei ihm zu übernachten, als irgendeine Mitfahrgelegenheit hierher zu suchen. Ich bin siebzehn, nicht sieben, also behandele mich nicht wie ein dummes Kleinkind.«
»Dann benimm dich auch nicht so«, gab Simon zurück und spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten.
»Wenn ich Fahrstunden nehmen dürfte, könnten wir uns dieses Gespräch sparen.«
Simon schnaubte. »Und wie soll ich mir Fahrstunden leisten können?«
»Du hast das Geld für Georgies Chinareise aufgetrieben«, erwiderte Haydon, verschränkte die Arme und starrte seinen Vater wütend an. Simon sah die deutliche Ähnlichkeit zu Veronica – dasselbe kräftige Kinn, das entschiedene Auftreten.
»Das war etwas anderes.«
»Ja, natürlich. Ich bin nicht dein kleines Mädchen mit den blauen Augen. Das ist der Unterschied«, warf ihm der Junge vor und ließ Simon mit offenem Mund stehen.
»Haydon!«, brüllte er. Er hörte die aufgebrachten Schritte seines Sohnes im Obergeschoss.
»Haydon!«
Eine Zimmertür wurde zugeworfen.
Simon ergab sich in seine Niederlage. Er setzte Wasser auf und starrte durch das Küchenfenster in den Garten. Das Gras musste gemäht werden, am besten am kommenden Wochenende – was schwierig werden würde, da er Samstag und Sonntag arbeitete. Der Rasen bestand hauptsächlich aus Moos und Unkraut und sah so aus, wie er sich fühlte – alt, müde und ausgelaugt. Er zählte acht neue Hügel des hauseigenen Maulwurfs. Er könnte wetten, dass außer ihm sonst niemand in der Straße Maulwurfshügel hatte.
Beim Geräusch eines Hubschraubers über ihm knirschte er mit den Zähnen. Tony Hedge, der Multimillionär, war auf dem Weg zur Arbeit. Der hatte bestimmt auch keine Maulwurfshügel in seinem vier Hektar großen Garten. Simons Gedanken schweiften ab …
»Hi, ich bin Tony Hedge. Schön, Sie kennenzulernen«, sagt der Mann, der über den Zaun in Simons Garten späht. Simon geht zu ihm und schüttelt die angebotene Hand. Tony hat einen herzlichen, kräftigen Handschlag und ein warmes Lächeln. Er trägt ein ungeheuer hässliches Hawaiihemd zu blauen Shorts und Flipflops – nicht die übliche Gartenkluft, aber er bewegt sich sehr selbstbewusst darin. Das dichte, gewellte dunkle Haar ist schweißfeucht. Er reibt sich mit einer fleischigen Hand die Stirn.
»Was für ein widerliches Land! Entweder frieren wir uns hier die Eier ab oder zerfließen in der Feuchtigkeit. Heute ist ein elender Tag für Gartenarbeit. Ich hasse es«, beschwert er sich und deutet mit dem Daumen in Richtung seines Rasenmähers, der einsam und verlassen auf dem Gras steht. »Ich sollte wirklich alles zusammenpacken und nach Spanien ziehen oder besser noch nach Lanzarote – dort gibt es keinen Rasen, nur schwarzen Vulkansand und Kakteen.«
Simon teilt seine Meinung. Das T-Shirt klebt ihm in der schwülen Hitze am Rücken. Er wäre lieber im Haus, doch Veronica ist zum Einkaufen gefahren und hat ihn mit dem ganzen Unkraut und den vernachlässigten Blumenbeeten alleingelassen.
»Ich hoffe, Sie haben sich gut eingelebt. Schön, wieder Nachbarn zu haben. Das Haus stand viel zu lange leer. Hören Sie«, fügt Tony nach einem Moment hinzu, »warum kommen Sie nicht auf einen Sprung rüber? Meine Frau ist nicht daheim, und ich habe ein paar kalte Bierdosen im Hobbyschuppen. Ich erzähle Ihnen was über die anderen hier in der Gegend«, sagt er mit breiter werdendem Lächeln. »Mögen Sie eigentlich Golf?«
Simon nickt enthusiastisch. Mit diesem neuen Nachbarn wird er gut auskommen.
Achtzehn Monate später brummte Tonys Finanzberatungsfirma. Er hatte einige äußerst wohlhabende Klienten an Land ziehen können, die alle ihr Geld in Projekten anlegen wollten, die ihnen noch mehr Geld einbrachten. Quasi über Nacht wurde Tony reich. Er und seine Frau trennten sich, verkauften das Haus, und Tony zog auf das prunkvolle Anwesen am äußersten Dorfrand. Wegen seiner Arbeit sah Simon ihn immer seltener. Tony bewegte sich mittlerweile in ganz anderen sozialen Kreisen, und ihre Freundschaft wurde oberflächlicher. Simon seufzte wieder. Es war wirklich schade. Tony und er hatten sich richtig gut verstanden. Der gute alte Tony war so ein Glückspilz. Er hatte jetzt alles, was er sich gewünscht hatte – sogar eine Ferienvilla in Spanien, mit Vollzeitgärtner.
Aus dem Zimmer seines Sohnes drang gedämpfte Rockmusik. Simon trank seinen Tee aus und spülte die Tasse mit dem restlichen heißen Wasser aus dem Wasserkocher aus, um sie dann zum Trocknen neben das Spülbecken zu stellen. Veronica hasste herumstehendes schmutziges Geschirr. Er sollte sich für die Arbeit fertig machen. Diesen Monat brauchte er sechs Abschlüsse, um sein Umsatzziel zu erreichen. Er betrachtete die Maulwurfshügel. Einer bebte. Das kleine Mistvieh schob noch mehr Erde nach oben.
Bevor er nach draußen rennen und auf den Hügel einstampfen konnte, marschierte Veronica in die Küche, gefolgt von Ivan, der um ihre Beine herumstrich und auf Frühstück hoffte. Simon warf dem Kater einen bösen Blick zu.
»Was hast du zu Haydon gesagt? Seit er zu Hause ist, trampelt er in seinem Zimmer herum. Du hast ihm doch keine Vorwürfe gemacht, oder? Doch, das hast du, ich sehe es. Warum, Simon? Er hat uns gesagt, wo er war. Er hat diese Woche keine Schule, und er ist ein guter Junge. Du solltest im Moment nicht so streng zu ihm sein. Er macht sich solche Sorgen wegen der Abschlussprüfungen. In den Ferien hat er die ganze Zeit gelernt. Deshalb dachte ich, dass ihm ein freier Abend guttun würde. Er braucht nicht auch noch Druck von dir. Im Ernst, Simon, weißt du nicht mehr, wie es ist, jung zu sein? Nein, natürlich nicht. Du hast vergessen, was Spaß ist. Du wirst zu einem mürrischen alten Knacker«, sagte sie und betonte dabei das Wort »alt«. Sie warf ihm noch einen abfälligen Blick zu und öffnete dann den Küchenschrank, um Futter für den Kater herauszuholen, dessen klagendes Maunzen die Situation nicht gerade entspannte.
»Nun, es gibt ja auch nicht so viel, über das man sich freuen könnte, nicht wahr?«, gab er zurück.
Die Futterschüssel fiel klappernd zu Boden. Veronica wirbelte mit vor Wut verzerrtem Gesicht herum. »Für mich ist es auch nicht leicht. Hast du eine Ahnung, wie es ist, mit jemandem zusammenzuleben, der die ganze Zeit schlechte Laune hat und sich über jede Kleinigkeit beschwert? Du gehst zur Arbeit, während ich mich um die Kinder und ihre Sorgen kümmere, die Hausarbeit und alle anderen Probleme, und wenn du dann schlecht gelaunt heimkommst, muss ich für gute Stimmung sorgen und jeden Abend versuchen, dich wieder aufzumuntern. Es ist immer dasselbe. Mit deinen Beschwerden und Klagen entziehst du mir alle Energie, Simon. Du warst früher so viel … lebendiger. Das habe ich an dir geliebt – deine gute Laune, deinen Sinn für Komik, sogar deine albernen Witze. Mit dir konnte man immer lachen. Jetzt kommst du nach Hause, lässt dich in den Sessel fallen und schaffst es kaum, mit mir oder den Kindern zu reden.«
»Wenn ich nach Hause komme, bin ich …«
»Müde. Das weiß ich, Simon. Das sagst du ständig.« Sie lehnte sich gegen die Arbeitsfläche und seufzte. Die Wut war verraucht. Simon sah aus dem Fenster. Der Maulwurfshügel bebte wieder. Es war sinnlos, nach draußen zu rennen und zu versuchen, das Mistvieh zu erwischen. Es wäre schon längst weg, tief unter der Erde, auf der Suche nach Würmern. Die Küche wirkte plötzlich klaustrophobisch. Er musste weg, raus aus dieser feindlichen Atmosphäre.
»Ich muss mich für die Arbeit fertig machen. Ich fange heute früh an.« Er sagte es härter als beabsichtigt.
Veronica wandte den Blick ab. Sie hatte ihn verletzt. Sein Verstand weigerte sich zu akzeptieren, dass das Zusammenleben mit ihm wirklich so schwer war. Alles, was er tat, tat er für die Familie. Es war eine Schande, dass sie seine Anstrengungen nicht würdigten. Er hob den Futternapf auf und stellte ihn zögernd auf die Arbeitsfläche. Veronica sah weiterhin zur Seite und ignorierte ihn. Unter dem Tisch fixierten ihn zwei große gelb-grüne Augen mit bernsteinfarbenen Ringen. Schade, dass es dem Kater nicht gelungen war, ihn zu ersticken, dachte er. Das Leben hatte ja ohnehin nichts zu bieten.
Polly MacGregor war die ganze Woche lang ein Engel gewesen und hatte jede Sekunde davon gehasst. Nicht, dass sie ein schlechter Engel gewesen wäre, sie war nur einfach kein besonders guter. Im Moment stand sie in einem schweren Kostüm vor einer Wand an der Promenade der Playa de las Meloneras, dem weiten Sandstrand auf Gran Canaria, und posierte als eine der vielen lebenden Statuen, die versuchten, den vorbeilaufenden Touristen Geld zu entlocken. Es war ein gewaltiger Unterschied zu ihrer normalen Arbeit als Sporttherapeutin, und im Moment wäre sie lieber im grauen England und würde einen verletzten Schenkel oder eine Schulter massieren anstatt in der Hitze zu stehen und vor sich hin zu schmelzen. Sie rief sich in Erinnerung, warum sie hier war: wegen ihrer besten Freundin Kaitlin, die sich den Knöchel verstaucht hatte und das Geld dringend brauchte. Polly hatte angeboten, sie während ihres Besuchs auf der Insel zu vertreten. Mittlerweile bereute sie diese Entscheidung allerdings zutiefst.
»Was bist du überhaupt?«, fragte ein kleiner Junge mit kurz geschorenem Haar und Sommersprossen, der sie seit fünf Minuten anstarrte. Er trug ein ausgeblichenes Bart-Simpson-T-Shirt, auf dem stand: »Friss meine Shorts!« Polly ging gar nicht darauf ein. Sie würde der perfekte Engel sein. Sie wünschte ihm viel Spaß und behielt das bei, was sie für ein gütiges Lächeln und eine ebensolche Pose hielt. Das Kind musterte sie kritisch.
»Du bist eine Fee. Eine fette Fee.«
Polly wurde ärgerlich. »Ich bin keine Fee, sondern ein Engel«, zischte sie den Jungen an, der sie immer noch mit großen Augen anstarrte, ohne zu blinzeln. »Und«, fügte sie wider besseres Wissen hinzu, »ich bin nicht fett.«
»Du bist kein Engel. Engel leben auf Wolken im Himmel. Du bist eine Fee. Fette Fee, fette Fee, fette Fee«, sang der Junge auf einmal und deutete mit dem Finger auf sie.
Polly sah sich nach den Eltern um.
»Du hast dich bewegt. Das darfst du aber nicht. Du bist total schlecht als Fee«, sagte das Kind.
»Geh weg«, befahl sie ihm.
»Warum?«
»Weil ich zaubern kann, und ich verwandele dich in einen Frosch, wenn du nicht verschwindest.«
»Du kannst überhaupt nicht zaubern.«
»O doch.«
»Nein, kannst du nicht. Du hast keinen Zauberstab. Den haben echte Feen aber. Wenn du zaubern willst, brauchst du einen Stab wie … Harry Potter.« Er winkte in Richtung Strand. »Da drüben ist ein echter Zauberer. Er fliegt in der Luft. Echt cool. Kannst du fliegen?«, fragte er.
»Nein«, antwortete sie durch zusammengebissene Zähne. Sie wünschte, sie hätte das Kind von Anfang an einfach ignoriert. Der Junge schob seinen schmutzigen Zeigefinger ins linke Nasenloch und musterte sie kühl.
»Wenn du nicht wie eine echte Fee fliegen kannst, bist du dann die Zahnfee? Ich habe einen Wackelzahn. Willst du ihn sehen? Du kannst mir Geld dafür geben. Ich wackle so lange daran, bis er ausfällt.« Er schob den Zeigefinger in den Mund und stupste einen Vorderzahn an.
»Nein, mach das nicht. Ich bin nicht die Zahnfee. Du gehst jetzt besser. Ich glaube, deine Eltern rufen nach dir.«
»Nein, das tun sie nicht. Sie sind da drüben.« Das Kind nickte zu einem nahe gelegenen Café, vor dem ein Paar an einem Tisch saß, Bier trank und sich unterhielt. Polly stöhnte.
»Bitte. Verschwinde.«
Dem Jungen war egal, wie sehr er sie nervte, und fuhr fort: »Und da ist ein Pirat ohne Kopf. Auf ihm sitzen ganz viele Vögel. Wahrscheinlich kackt auch mal einer auf ihn.« Er kicherte. »Er ist cool. Ich mag den magischen Baum am liebsten. Er sieht aus wie ein echter Baum! Wenn man stehen bleibt und ihn ansieht, redet er. Er hat einen Mund! Meine Mum hat sich erschreckt. Mein Dad hat ein Foto von mir und dem Baum gemacht. Und der Baum hat mir Süßigkeiten geschenkt.« Das Kind musterte Polly von oben bis unten. »Wenn du nicht schweben kannst wie der Magier und auch nicht fliegen, was kannst du dann?«
»Ich stehe die meiste Zeit bewegungslos da, aber ich winke auch und gebe netten Leuten Lutscher, die Münzen in meinen Topf werfen«, erklärte sie. »Oder netten kleinen Jungs, die verschwinden und sich zu ihren Eltern setzen.«
»Gib mir einen.«
»Nur, wenn du Bitte sagst.«
»Gib mir einen Lutscher. Ich will einen haben.«
»Erst, wenn du höflich darum bittest.«
Der Junge starrte sie stirnrunzelnd an. Ohne Vorwarnung zitterte plötzlich seine Unterlippe, und er brach in lautes Weinen aus, das sich zu einem Heulen steigerte. Polly versuchte, ihn zu beruhigen und ihn zum Schweigen zu bringen. Er zog bereits die Blicke der Passanten auf sich sowie die Aufmerksamkeit seines Vaters, der wegen des Tumults aufstand. Polly sah seine muskulösen, tätowierten Arme und schluckte.
»Hier«, sagte sie, bückte sich und streckte dem Jungen einen kleinen Eimer entgegen. »Nimm dir einen.« Ein reißendes Geräusch ertönte irgendwo aus ihrem Kostüm, und Polly fluchte. Der Mann stapfte auf sie zu. Der Junge griff hastig in den Eimer und holte eine Handvoll Lollis heraus.
»Hey, nur einen. Leg die z-zurück«, stotterte sie.
Der Junge heulte wieder laut auf.
»Was ist denn hier los? Alles in Ordnung, Tyson?«, fragte der Vater und legte dem Jungen beschützend eine Hand auf den Kopf.
»Die fette Fee hat mir die Lollis gegeben und mich dann angeschrien«, schluchzte das Kind. »Sie hat mir Angst gemacht. Und sie hat ein böses Wort gesagt. Böse Wörter darf man nicht sagen.« Wieder heulte er auf. Polly verdrehte die Augen. Das Kind würde einen hervorragenden Schauspieler abgeben.
»Hat sie das wirklich? Sie sind mir ja eine schöne Fee. Sie sollten sich schämen. Diese billigen, alten Lutscher willst du nicht, Tyson. Die machen nur deine Zähne kaputt. Los, nehmen Sie sie zurück und schreien Sie ja meinen Jungen nicht mehr an, sonst breche ich Ihnen die Flügel. Und noch was – essen Sie nicht so viele von Ihren eigenen Lollis. Das Kostüm ist jetzt schon viel zu eng. Da scheint auch was gerissen zu sein. Gut, dass Sie nicht auf einer Weihnachtsbaumspitze sitzen. Der arme Baum würde sofort zusammenbrechen.« Er lachte und strich seinem Sohn mit seiner großen Hand über den Kopf.
»Na komm, Tiger, trink deine Limonade aus, und dann spielen wir Fußball am Strand.«
Der Junge sah zu Polly empor, warf die Lutscher auf den Boden und streckte ihr die Zunge heraus. Ohne nachzudenken tat sie es ihm nach, zusammen mit den entsprechenden Geräuschen. Der Junge ignorierte sie und trollte sich an der Hand seines Vaters zurück zum Tisch der Eltern. Ein älterer Mann, der sie beobachtet hatte, runzelte die Stirn. Sie seufzte und ließ sich gegen die Wand sinken.
Polly hatte es satt, ein Engel zu sein. Die meisten Menschen, die an ihr vorbeigingen, bemerkten sie nicht einmal. Niemandem fiel auf, wie sorgfältig und mit welcher Mühe sie sich zurechtgemacht hatte. Und mühevoll war es wirklich. Jeden Morgen, bevor die Touristen auf die Promenade kamen, musste sie sich das Gesicht mit Goldfarbe schminken, alle sichtbaren Hautstellen golden ansprühen und sich in das Kostüm zwängen, in dessen Reifrock man sich eigentlich ein wenig bewegen konnte, ohne dass es von außen zu sehen war. Dieser saß jedoch so fest auf Pollys breiten Hüften, dass er ihre Bewegungsfreiheit komplett einschränkte. Dann waren da noch die fürchterlich schweren Flügel, von denen ihr Rücken schmerzte. Schließlich musste sie völlig still vor einer Wand stehen, während die Sonne auf ihren Kopf brannte. Sie schwitzte, fühlte sich unwohl, und die Goldfarbe rann ihr in kleinen Strömen übers Gesicht.
Micky und Minnie Maus spazierten vorbei und winkten. Polly erwiderte den Gruß. Dieser Teil von Gran Canaria war das Touristenzentrum der Insel und zog daher alle möglichen Leute an, die etwas Geld verdienen wollten. Neben den lebenden Statuen gab es solche wie Micky, die sich verkleideten und sich mit den Touristen fotografieren ließen. Dann waren da noch die Puppenspieler und Sandskulpturenbauer. Meloneras war die angesagteste Feriengegend auf Gran Canaria. Trotzdem war Polly immer noch überrascht, wie viele Touristen sich hier aufhielten. Sie war allein schon vom Anblick der nie enden wollenden Menschenströme erschöpft, die zwischen den Dünen, Cafés und Hotels hin und her liefen.
Polly tupfte sich den Schweiß im Nacken ab. Sie hatte sich noch nie gern in der Sonne aufgehalten. Ihre blasse Haut war nie goldbraun geworden wie die ihrer Freundin Kaitlin. Sie nahm nur verschiedene Rottöne an und schälte sich schließlich. »Das ist ein Zeichen von Schönheit«, pflegte ihre Mutter zu sagen, wenn sie sich beschwerte. »Früher war Blässe vornehm und begehrt. Ärmere Menschen oder Arbeiter hatten dunklere, gebräunte Haut. Du bist wunderschön«, fügte sie dann hinzu und ignorierte den verärgerten Gesichtsausdruck ihrer Tochter.
Die Aufmunterungsversuche ihrer Mutter hatten Polly nicht getröstet. Sie lebte nicht im 18. Jahrhundert, und ihr teigiges Gesicht war nicht attraktiv. Kaitlin dagegen strahlte nach nur einer Stunde in der Sonne und sah jetzt, nachdem sie seit einem Jahr hier lebte, wie eine perfekte mediterrane Schönheit aus.
Das hier war wirklich die dämlichste Art, Geld zu verdienen, die ihr je begegnet war. Wie Kaitlin das jeden Tag schaffte, war ihr ein Rätsel. Gott sei Dank war der Knöchel ihrer Freundin fast verheilt. Polly ertrug das Engeldasein keine Sekunde länger. Zum Glück musste sie das auch nicht. Ein VW Bus kam mit quietschenden Bremsen auf dem Parkplatz in der Nähe zum Stehen. Ein durchtrainierter Mann mit Sonnenbrille und weißem T-Shirt, das seine tief gebräunte Haut betonte, sprang aus dem Wagen und eilte auf sie zu. Zwei junge Mädchen warfen ihm einen Blick zu, stießen sich gegenseitig an und kicherten, als er sie mit einem blendend weißen Lächeln bedachte. Dieses schwarzhaarige Sahneschnittchen mit dem festen Blick und selbstbewussten Gang eines Mannes, der mit sich und dem Leben zufrieden war, zog oft die Blicke der Frauen auf sich.
Kein Wunder, dass Kaitlin sich sofort in ihn verliebt hatte. Kennengelernt hatten sie sich in London, wo er in einer Bar arbeitete …
»O Gott! Dreh dich nicht um, aber ich habe gerade den Vater meiner zukünftigen Kinder gesehen«, sagt Kaitlin atemlos.
»Wenn ich mich nicht umdrehen darf, musst du ihn mir beschreiben«, antwortet Polly und trinkt ihr Glas aus.
»Stell dir einen grüblerischen Joaquín Cortés mit dunklen, ernsten Augenbrauen und stechendem Blick vor.«
»Er wirbelt aber nicht mit schweißglänzendem, zerfurchtem Gesicht über die Tanzfläche, während ihn alle Frauen atemlos anstarren und ohnmächtig zu seinen Füßen zu Boden sinken, oder?«, scherzt Polly. Kaitlin ignoriert die Bemerkung und lässt den Mann nicht aus dem Blick.
»Außerdem hat er dichte schwarze Haare, durch die ich meine Finger gleiten lassen will – am liebsten, während er seine üppigen Lippen auf meine legt. Sein Körper ist durchtrainiert und sieht nackt sicher großartig aus. Vor allem sein Hintern.« Sie windet sich genießerisch und schließt die Augen. Ein ekstatisches Lächeln spielt um ihre Lippen, als sie sich ihrer Fantasie hingibt. »Polly, er ist es. Ich sehe es vor mir, wie wir ineinander verschlungen daliegen, nachdem wir uns hemmungslos geliebt haben, sein muskulöser Schenkel liegt über meinem …«
»Hallo, was darf es zu trinken sein?«, fragt der junge Mann. Seine honigweiche Stimme hat einen spanischen Akzent. »Oder lieber etwas anderes?«, fügt er hinzu, als Kaitlin die Augen aufreißt und ihn nur wie gelähmt anstarrt.
Polly fleht ihre Freundin stumm an, etwas zu sagen. Schließlich ergreift sie das Wort. »Zwei Gläser von eurem weißen Hauswein, bitte, trocken. Danke, äh, wie heißt du?«
»Miguel.«
»Danke, Miguel«, wiederholt sie.
»Es ist mir ein Vergnügen«, säuselt er und holt die Getränke.
Kaitlin kommt wieder zu sich. »Hat er mich gehört?«, flüstert sie.
»So, wie er lächelt, hat er dich gehört, verstanden und ist durchaus bereit, dein Angebot anzunehmen«, antwortet Polly.
»Hallo, Engel«, sagte Miguel. »Bist du fertig?«
»Hi, Miguel. Ich bin ja so froh, dich zu sehen! In diesem Kostüm zerfließt man. Kannst du mir raushelfen?«
Miguel zog die unhandlichen Flügel mühelos von ihrem Rücken und legte sie auf den Boden, dann hielt er ihr die Hand zur Unterstützung hin, während sie sich aus dem Kostüm schälte. Darunter trug sie nur einen Badeanzug, und weil sie sich ihrer Speckrollen nur zu bewusst war, zog sie hastig ein Paar Jeansshorts aus einer Tasche, die an der Wand neben ihr stand, wand sich hinein und schlüpfte in ein weites T-Shirt. Ihr langes Haar band sie mit einem hellgrünen Haargummi zu einem Pferdeschwanz und holte eine Cremedose hervor, um die Schminke von ihrem Gesicht zu entfernen. Miguel trat diskret ein paar Schritte zur Seite. Er war wirklich ein aufmerksamer Mann, dachte Polly. Es war ein Schock gewesen, als Kaitlin verkündet hatte, dass sie mit ihm ein neues Leben auf Gran Canaria anfangen wolle, aber Polly hätte ihre beste Freundin niemals davon abgehalten …
Die Number One Bar ist brechend voll mit Menschen, die den Beginn des Wochenendes feiern. Polly drängt sich an einer Gruppe von Bankern in Designeranzügen und weißen Hemden vorbei, die die Krawatten gelockert oder sie sogar in die Jacketttasche gestopft haben. Kaitlin sitzt auf einem Hocker an der Bar und sieht sehr elegant aus in ihrem schwarzen ärmellosen Kleid und den Slingback-Pumps. Um den Hals trägt sie eine Kette aus klobigen orangefarbenen Perlen, die einen lebendigen Kontrast zu ihrem Kleid bildet und zu ihrem Nagellack passt. Zwei Mojitos stehen vor ihr, und sie grinst über das ganze Gesicht, als sie Polly entdeckt. Vor Aufregung sind ihre Wangen gerötet.
»Hier«, sagt sie, bevor Polly sich in ihrer zu engen Jeans auf einen Barhocker quetschen kann. Kaitlin schiebt ihrer Freundin ein Glas zu und signalisiert dem Barkeeper mit zwei erhobenen Fingern die Nachschubwünsche, die dieser mit einem Nicken zur Kenntnis nimmt. Polly trinkt von ihrem Mojito, genießt den Geschmack nach Limette und Minze auf der Zunge. Sie lehnt sich zu Kaitlin. »Komm schon, spuck es aus«, sagt sie. Die Aufregung sprudelt aus ihrer Freundin heraus wie Champagner, den man zu schnell in ein Glas gegossen hat.
Kaitlins Grinsen wird noch breiter, wenn das überhaupt möglich ist. »Ich habe gekündigt.«
Pollys Lippen bilden ein perfektes O.
»Ich bin raus bei Henderson’s Bank«, verdeutlicht Kaitlin, »weg von all den langweiligen Kollegen. Und von Mr Schmierig.« Damit meint sie einen ihrer Vorgesetzten, der sie nie in Ruhe lässt. »Prost!«, ruft sie und stößt mit Polly an.
»Und was jetzt?«, fragt Polly.
»Eine Flasche Champagner?«, antwortet Kaitlin und greift nach den frisch gemixten Mojitos, die der Barkeeper vor ihr abgestellt hat.
»Nein, Dummerchen. Wie geht es für dich weiter? Hast du schon einen neuen Job?«
Kaitlin ähnelt immer noch der Grinsekatze aus Alice im Wunderland, sieht aber gleichzeitig schuldbewusst aus.
»Ich gehe mit Miguel zusammen nach Gran Canaria. Er hasst das Klima hier, und er will nicht sein Leben lang Barkeeper bleiben. Das Leben auf den Kanarischen Inseln ist so viel entspannter als hier. Ich mag das englische Klima auch nicht, und ich hasse meinen Job. Er hat dort Freunde und Familie, deshalb finden wir bestimmt leicht eine Arbeit.« Sie sprudelt die Neuigkeiten so schnell heraus, dass Polly kaum alles versteht.
»Ich werde schreiben. Das wollte ich schon immer. Ich werde mir einen einfachen Job suchen, irgendwo bedienen, und in meiner Freizeit schreibe ich Romane. Wir brauchen dort nicht viel. O Polly! Wir werden frei sein! Müssen nicht mehr jeden Tag die verdammte U-Bahn erwischen, unter den stinkenden Achselhöhlen von Mitfahrern stehen, im strömenden Regen ins Büro hetzen. Wir werden frei sein von Regeln, Vorschriften, Deadlines, Zielvereinbarungen – allem!« Sie verstummt und nimmt Pollys Hand. »Nicht allem, nein. Dich meine ich nicht. Ich bin ganz schön blöd, nicht wahr? Führe mich wie ein albernes Schulmädchen auf und tue so, als wäre alles perfekt. Doch das ist es nicht. Ich gehe weg von dir. Aber warum kommst du eigentlich nicht mit? Du kannst auch auf Gran Canaria arbeiten.«
Polly denkt einen Moment nach. »Zu viel Sonne mag ich nicht, und außerdem ist da noch Mike. Ich kann nicht einfach meinen Freund zurücklassen. Die Kanaren sind ja nicht auf dem Mars, wir können skypen oder mailen oder übers Handy chatten. Ich glaube, es gibt da auch diese großen Metallvögel, die fliegen können – wie heißen sie noch? Flugzeuge?«
Kaitlin kichert. »Komm schon, begleite uns. Das wird ein tolles Abenteuer!«
»Nein, das geht nicht. Ich möchte wirklich lieber hierbleiben. Das Geschäft läuft gut, und außerdem habe ich ja noch Dignity.«
Kaitlin nickt. »Sie ist wirklich toll. Schön, dass sie im Behandlungsraum neben deinem arbeitet. Sie ist immer so gelassen. Ich werde sie auch vermissen. Aber nicht so sehr wie dich. Wir bleiben in Kontakt, ja? Und du kommst uns besuchen?«
Polly nickt beruhigend und hätte so gern die Freude ihrer besten Freundin geteilt, doch innerlich fühlt sie sich leer. Ein wichtiger Teil ihres Lebens wird wegbrechen, und sie hofft, dass sie ohne ihn überleben kann.
Miguel kam zu ihr zurück, als sie ihre Tasche über die Schulter schlang. »Das reicht, bis ich geduscht habe. Ich stinke bestimmt ganz fürchterlich.«
Miguel schnüffelte und verzog das Gesicht, dann grinste er. Sie erwiderte das Lächeln und boxte ihm leicht gegen den Arm. Fröhlich rieb er die Stelle.
»Für einen Engel bist du ganz schön stark.«
Seine Worte erinnerten sie an den kleinen Jungen und seinen Vater, und einen Moment schien das Gewicht der ganzen Welt auf ihr zu lasten. Miguel bemerkte ihren Stimmungsumschwung nicht und sah in den Topf auf dem Boden.
»Mindestens vierzig Euro«, sagte er. »Nicht schlecht.«
»Du machst Witze. Seit halb neun stehe ich hier, das heißt, das sind gerade mal etwas über vier Euro die Stunde. Ich bin froh, wenn ich die Flügel morgen an den Nagel hängen kann.«
»Kaitlin auch. Sie will unbedingt wieder arbeiten.«
»Ach ja? Wie schafft sie das jeden Tag?«
»Sie hat Spaß daran. Sie meditiert viel, während sie posiert. Sie liebt auch – wie nennt sie es – das ›Leutesehen‹.«
»Leuteschauen«, verbesserte Polly ihn. »Ja, das mochte sie schon immer. Sie hat aufgeschrieben, was sie auf der Promenade sieht und hört, und will daraus ein Buch machen – die Beobachtungen eines Engels.«
»Ja, das sagt sie mir.«
»Gesagt. Das hat sie mir gesagt.«
»Ah ja, danke. Blöder Fehler.«
»Du sprichst besser Englisch als viele Engländer. Ich wünschte, mein Spanisch wäre so gut wie dein Englisch.«
»Wenn du länger hier wärst, könntest du es lernen.«
»Alles hat ein Ende, und ich muss zurück«, sagte sie seufzend. »Vielen Dank fürs Mitnehmen, Miguel. Wann triffst du dich mit der Band?«
»Um halb acht. Ich fahre dich erst zur Wohnung und hole dann die anderen ab. Wir haben gestern den ganzen Tag geprobt, deshalb müssen wir heute vor der Show nicht noch mal alles durchgehen. Jessica und Maria sind wirklich gut geworden. Sie singen sehr schön und sehen wunderhübsch aus – wie die Frauen von ABBA. Ich dagegen bin nicht so gut«, meinte er lächelnd. »Das Outfit ist unbequem, ich komme mir sehr dumm vor. Matías auch. Er hasst die Perücke, weil er sich dauernd kratzen muss.«
»Ihr seid eine der besten Coverbands, die ich kenne. Einem Urlauberpublikum ist es egal, wenn ihr eine falsche Bewegung macht oder nicht ganz exakt wie die Originale ausseht. Singt, lächelt und tanzt, und alle sind glücklich. Ich wette, die Leute werden begeistert sein. Jeder kennt und liebt ABBA und ihre großen Hits.«
Polly lockerte ihre Nackenmuskeln. Was würde sie jetzt für eine Massage geben. Sie war total verspannt, weil sie den Kopf den ganzen Tag kaum bewegt hatte, und ihre Schultern schmerzten von den Flügeln. Wie schade, dass ihre Kollegin Dignity jetzt nicht hier war. Sie könnte die Verspannungen wegzaubern. Polly lächelte, als sie sich an ihre erste Begegnung mit Dignity erinnerte …
Ein leises Klopfen an der Tür kündigt Pollys nächsten Kunden an. Sie sieht auf ihre blaue Swatch-Uhr. Er ist früh dran.
»Kommen Sie rein, Joe«, ruft sie und erwartet, gleich das rote Gesicht ihres kräftigen Rugbyspielerpatienten zu sehen, den sie gerade wegen einer Leistenzerrung behandelt.
Stattdessen wird ein kleines herzförmiges Gesicht im Türspalt sichtbar, das einer Frau in den Zwanzigern gehört, mit feinen Zügen und großen graublauen Augen, die sie ernst ansehen. Sie lächelt schüchtern und entblößt dabei gerade weiße Zähne. Ihr ungeschminktes Gesicht strahlt Frische und Gesundheit aus.
»Hi, ich bin nicht Joe, sondern Dignity. Ich habe den anderen Behandlungsraum gemietet. Ich wollte mich nur kurz vorstellen. Hoffentlich störe ich nicht.«
Polly bittet sie herein. Zögernd tritt Dignity näher und bringt den Geruch nach Räucherwerk mit in den Raum. Ihr hellbraunes Haar fällt über ihre geraden Schultern nach unten. Sie trägt einen langen, weiten Rock, der beim Gehen leise raschelt, dazu eine hübsche, mit Perlen bestickte Bluse, was ihr das Aussehen einer exotischen Tänzerin verleiht. Dieser Eindruck wird noch durch die leichten Schritte ihrer winzigen Füße, die in Ballerinas stecken, verstärkt. An jedem schmalen Fußknöchel trägt sie ein geflochtenes Band.
»Schön, dich kennenzulernen, Dignity. Ich bin Polly. Bist du auch Sporttherapeutin?«
»Ich beschäftige mich eher mit ganzheitlicher Heilung. Am besten zeige ich es dir. Warum kommst du nicht später bei mir vorbei, wenn du Zeit hast?«
»Ich bin um vier fertig.«
»Das ist perfekt. Ich muss den Raum noch einrichten. Bis später«, antwortet Dignity und schwebt wieder nach draußen.
Lieber wäre Polly nach der Arbeit gleich nach Hause zu ihrem Freund Mike gefahren. Er beschwert sich oft, dass sie nie Zeit für ihn hat. Die Kluft zwischen ihnen wird immer größer, und sie weiß, dass sie diejenige sein wird, die an der Beziehung arbeiten muss. Doch sie ist immer noch verletzt darüber, was er heute Morgen über ihr Gewicht gesagt hat. Er kann warten. Erst will sie mehr über Dignity herausfinden.
Die Behandlung ist eine Offenbarung. Polly liegt angekleidet auf einer Liege und fühlt sich so ruhig und gelassen wie schon lange nicht mehr. Dignity hält nur ihre Hände dicht über Polly und lässt ihre eigene Körperwärme in sie hineinfließen, was unheimlich entspannend ist. Als Dignity ihre Hände über Pollys Kehle hält, fühlt es sich allerdings an, als würden Sonnenstrahlen die Haut verbrennen. Fast schreit sie auf, doch da nimmt Dignity die Hände bereits wieder weg, und das Gefühl lässt nach.
Nach der Behandlung schenkt Dignity ihr ein Glas kaltes Wasser ein. Wenn sie spricht, klingen ihre Worte wie sanft fallender Regen.
»Du hast eine herrlich starke Aura«, sagt sie, den Kopf zur Seite gelegt, den Blick auf Polly gerichtet. »Aber du bist verletzt und musst heilen. Hier war es vielleicht etwas heiß«, fährt sie fort und berührt leicht die Stelle unterhalb ihrer Kehle. Polly nickt. »Das sagt mir, dass du Angst hast, dich zu öffnen und deine Sorgen zu verbalisieren. Du leidest, Polly. Etwas oder jemand nagt an deiner Aura. Du musst herausfinden, was es ist, und es in Ordnung bringen, bevor du schwer verletzt wirst.«
»Findest du das wirklich?«, sagte Miguel, schob sich das Kostüm unter den Arm, als wöge es nichts, und ging auf den alten VW Bus zu, der hinter dem Leuchtturm parkte.
Polly riss sich aus ihren Erinnerungen und kehrte zu dem Gespräch über Miguels Band zurück.
»Ja, auf jeden Fall. Mach dir keine Sorgen. Das Hotel wird euch bestimmt wieder buchen, du wirst schon sehen. Sie werden euch lieben.«
»Danke. Du bist sehr freundlich. Ein regelmäßiges Engagement im Grande Vista würde uns wirklich helfen. Es ist eines der besten Hotels auf der Insel, und die Gäste kommen jedes Jahr wieder wegen des Unterhaltungsprogramms. Es wäre großartig, zu den festen Acts zu gehören, und würde unserem Ruf guttun. Vielleicht könnten wir dann genug Geld verdienen, um unsere anderen Jobs aufzugeben.«
»Wer weiß? Ich drücke euch jedenfalls die Daumen.«
»Morgen reist du also ab«, sagte Miguel auf der Fahrt zurück zu Kaitlins Wohnung. »Freust du dich auf zu Hause?«
Polly riss ihren Blick vom türkisfarbenen Meer los, auf dessen Oberfläche die Spätnachmittagssonne glitzerte. Vor ihnen loderten die Hügel in verschiedenen Rot- und Gelbtönen.
»Ja und nein. Im Moment eher nein. Ich muss mich zu Hause um viel kümmern. Viele … Probleme lösen«, erwiderte sie, ohne dabei zu sehr ins Detail zu gehen. »Ich bin hier, um Kaitlin zu helfen, aber auch … weil ich fliehen wollte. Es sind einige schlimme Dinge passiert, und jetzt muss ich zurück.« Sie kaute an ihrer Unterlippe. Miguel konzentrierte sich auf die Straße. Ein Mann auf einem Motorroller mit einer großen Kiste auf dem Schoß fuhr vor ihnen Schlangenlinien.
»Du besuchst uns doch wieder?«, fragte er.
»Natürlich. Ich weiß nur noch nicht, wann ich es schaffe.«
Zufrieden mit ihrer Antwort fuhr Miguel schweigend weiter, während Polly ihren Gedanken nachhing. Sie wünschte, sie könnte sich für immer auf Gran Canaria verstecken. Doch das war unmöglich, denn auch wenn Kaitlin mit sehr wenig Geld auskam, Polly könnte es nicht. Vierzig Euro würden bei ihr keine fünf Minuten reichen, geschweige denn eine ganze Woche.
Miguel parkte vor dem Wohnblock und bestand darauf, das Kostüm nach oben zu tragen. Gut aussehend und ein Gentleman – kein Wunder, dass Kaitlin ihren Job in England aufgegeben hatte, um mit diesem Mann zusammenzuleben. Polly dachte an ihre eigene gescheiterte Beziehung, die letzte in einer langen Reihe wirklich schlechter Entscheidungen. Niemals würde ein Mann wie Miguel sie lieben. Frauen wie sie fanden niemals ihren Ritter in der glänzenden Rüstung, und wenn sie ehrlich war, machte ihr die Aussicht aufs Singledasein auch nichts mehr aus. Im Moment war es völlig in Ordnung. Beziehungen waren sowieso nicht das Wichtigste für Frauen, die mit einem Bein im Gefängnis standen …
Simon hielt vor einem kleinen Backsteinbungalow. Zwei Dachziegel lagen zerbrochen auf der Straße. Er hob sie auf und legte sie neben die Eingangstür. Dann holte er einen Schlüssel unter einem Blumentopf hervor und öffnete die Tür.
Er besuchte Eric mindestens alle zwei Wochen, wenn nicht sogar öfter. Sie waren lange Jahre Kollegen im Autohaus Tideswell gewesen und trotz ihrer Gegensätzlichkeit Freunde geworden. Eric war Mechaniker – in Simons Augen einer der besten. Simon respektierte und mochte den zurückhaltenden Mann, der immer Zeit für ihn hatte. Bei Rückschlägen oder wenn Simon einen schlechten Tag hatte, war er immer in die Werkstatt gegangen, um bei Eric Dampf abzulassen. Seine Ruhe half Simon regelmäßig, die Fassung wiederzugewinnen. Der verwitwete Eric und seine Schwägerin Jackie waren irgendwann zu einem Teil von Simons Familie geworden und feierten Geburtstage und Weihnachten mit ihnen. Er und Eric hatten so viele Mittagspausen miteinander verbracht und über Gott und die Welt geredet, dass Simon Eric nach seiner Pensionierung immer noch besuchte und ihn mit dem neuesten Klatsch aus dem Autohaus versorgte.
»Eric, bist du wach?«, rief er.
»Natürlich! Seit halb fünf bin ich auf. Hier drin, Simon«, ertönte die Antwort.
Simon sah ins Wohnzimmer. »Guten Morgen, Eric. Ich habe dir Milch mitgebracht, Brot, Käse … und ein paar deiner Lieblinge«, fügte er hinzu und hielt eine Tüte mit Guinness-Dosen in die Höhe.
»Ah, du weißt, wie du mich verwöhnen kannst«, antwortete Eric. Seine altersfleckigen Händen mit den vergrößerten Knöcheln umklammerten die Griffe eines Gehgestells. Sein Grinsen entblößte zwei Reihen leuchtend weißer Zähne, die ganz bestimmt nicht seine eigenen waren. Mit schlurfenden Schritten kam er mühsam auf Simon zu.
»Ach, das ist doch nicht viel. Bleib da, ich stelle Wasser auf und mache dir eine Tasse Tee. Wie geht es dir?«