Lesen was ich will!
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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Diana Bürgel
© S. Jae-Jones 2018
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Shadowsong« bei Wednesday Books, New York 2018
© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2019
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Für die Ungeheuer unter uns und für jene, die uns lieben.
Das erste Buch ist ein Traum, doch das zweite ist ein Albtraum. Wenn man sich die Danksagungen beinahe sämtlicher Autoren durchliest, die das Privileg (das Pech?) hatten, ein zweites Buch schreiben zu dürfen, dann findet man dort vermutlich zahlreiche Variationen desselben Themas:
SCHREIBEN IST SEHR, SEHR SCHWER.
Debütromane sind nicht immer auch die ersten Romane, die ein Autor verfasst hat; »Wintersong« war jedenfalls ganz sicher nicht mein erstes Buch. Aber ich betrachte »Shadowsong« als meinen ersten richtigen Roman – das erste Buch, das ich unter Vertrag und mit einer Deadline geschrieben habe, und das erste Buch, von dem ich wusste, dass es tatsächlich veröffentlicht werden würde und dass es außer mir noch andere lesen würden. »Wintersong« hat mich einem breiteren Publikum vorgestellt, aber »Shadowsong« hat mich zu einer echten Schriftstellerin gemacht.
Kein Buch wird jemals in einem Vakuum verfasst, und es wäre nachlässig von mir, wenn ich nicht im Geiste all den Menschen zunicken würde, die mir durch die merkwürdigen und wundersamen Prozesse der Veröffentlichung geholfen haben. Zuerst und vor allen anderen muss ich meiner Lektorin Eileen Rothschild danken. Eileen, mit dir zusammen zu sein ist, wie nach Hause zu kommen. Du kanntest mich als Freundin, als Peer und als Kollegin, lange bevor du mich als Autorin kennengelernt hast, und ich bin dankbar für deine Führung bei der Gestaltung dieses Manuskripts. Auf noch viele weitere!
Wie immer danke ich Katelyn Detweiler, Agentin und außergewöhnliche Autorin, sowie allen bei Jill Grinberg Literary Management, die dabei geholfen haben, »Wintersong« und »Shadowsong« in die Welt zu tragen: Cheryl Pientka, Denise St. Pierre und Jill Grinberg. Danke auch an Tiffany Shelton, Brittani Hilles, Karen Masnica, DJ Smyter und alle anderen, die bei St. Martin’s Press und Wednesday Books an meinen Büchern gearbeitet haben.
Kunst und Kommerz sind seltsame Bettgenossen; ein Gruß geht an all meine Autorenkollegen, die mir dabei geholfen haben, mich zwischen den Grenzen zu bewegen. Ich schulde Roshani Chokshi, Sarah Nicole Lemon und Renée Ahdieh Dank und einen Irish Coffee für die Karriereratschläge und ihre Anteilnahme, aber mehr noch dafür, dass sie mich auf dem Boden der Tatsachen und bei Verstand gehalten haben. Ihr wart meine Leuchttürme im Sturm. Marie Lu, Vicki Lame, Kelly Van Sant, Leigh Bardugo, Sabaa Tahir, Carrie Ryan, Beth Revis, allen Mitgliedern des Fight Me Club und all meinen Freunden bei Pub(lishing) Crawl schulde ich Umarmungen und Drinks für das Lachen, die Schultern zum Ausweinen und die dringend benötigte Portion Realität dann und wann.
Ein großer Dank mit Glitzer obendrauf geht an meine Leser – für alles. Es ist herrlich zu wissen, dass ich mit meiner Liebe für Goth und David Bowie nicht allein bin.
Last, but certainly not least: Meine ganze Liebe und Dankbarkeit gilt meiner Familie. Oma, Onkel Steve, Tante Robin und Scott, danke für eure Unterstützung und dafür, dass ihr so stolz auf meine Arbeit seid. Vielen Dank an meine Mutter, meinen Vater, meinen kleinen Bruder und an Halmeoni – ihr seid meine Felsen in der Brandung und meine Anker. Danke für das Geschenk meines Lebens.
Und danke an Bear. Danke, dass du mir gezeigt hast, dass man Ungeheuer lieben kann. Ich werde geliebt. Ich liebe dich.
Alle Bücher sind in gewisser Weise Spiegel des Autors, und Liesls Reise in die Unterwelt und zurück enthüllt vielleicht mehr über mich, als ich zunächst begriffen habe. Wenn »Wintersong« mein strahlender Spiegel war, in dem all meine Wunschträume darüber enthüllt wurden, dass meine Stimme gehört und wertgeschätzt wird, dann ist »Shadowsong« mein dunkler Spiegel, der mir zeigt, dass all die ungeheuerlichen Teile der Unterwelt in Wahrheit auch Facetten von mir sind.
Ich möchte etwas über den Inhalt vorwegnehmen: »Shadowsong« befasst sich mit Charakteren, die sich selbst verletzen, die mit Sucht zu kämpfen haben, die sich unverantwortlich verhalten und sich mit Selbstmordgedanken tragen. Sollten diese Themen Trigger für euch sein oder euch auf irgendeine Weise beunruhigen, dann seid bitte vorsichtig. Falls ihr mit dem Gedanken an Selbstmord kämpft, dann denkt bitte daran, dass ihr bei der Telefonseelsorge Hilfe finden könnt und Menschen, die euch unterstützen: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222. Bitte ruft an. Ihr seid nicht allein.
In vielerlei Hinsicht ist »Shadowsong« ein persönlicheres Werk als sein Vorgänger. Ich habe offen und aufrichtig darüber geschrieben, dass Liesl unter einer Bipolaren Störung leidet – ganz ähnlich wie ihre Schöpferin –, doch in »Wintersong« habe ich ihre Diagnose noch auf Armeslänge ferngehalten. Teilweise deshalb, weil man zu jener Zeit, in der Liesl lebt, die Diagnose Bipolare Störung noch nicht wirklich verstanden hat, teilweise aber auch, weil ich ihrer – und damit auch meiner eigenen – ganz bestimmten Form des Wahnsinns nicht ins Gesicht sehen wollte.
Wahnsinn ist ein merkwürdiges Wort, es umfasst jede Verhaltensform und jedes Gedankenmuster, das von der Norm abweicht, nicht nur Geisteskrankheiten. Genau wie Liesl bin ich ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft, aber unsere mentale Erkrankung macht uns zu Wahnsinnigen. Sie macht uns arrogant, launisch, selbstsüchtig und unvernünftig. Sie macht uns destruktiv, sowohl uns selbst als auch jenen gegenüber, die wir lieben. Es ist nicht leicht, uns zu lieben, Liesl und mich, und dieser hässlichen Wahrheit wollte ich mich nicht stellen.
Denn sie ist hässlich, diese Wahrheit. Liesl und Josef spiegeln sowohl die manischen als auch die melancholischen Seiten meiner selbst wider, und sie sind dunkel, grotesk, chaotisch und schmerzlich. Es mag Bücher geben, die hübschere Bilder entwerfen, Fenster in eine Welt, in der die Dinge heil und gesund sind, aber zu denen gehört »Shadowsong« nicht. In meinem ersten Buch habe ich die Monster noch zurückgedrängt, in meinem zweiten mache ich sie mir zu eigen.
Noch einmal möchte ich euch die Nummer der Telefonseelsorge ans Herz legen: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222. Ihr müsst nicht allein leiden. Ich sehe eure Ungeheuerlichkeit. Ich habe keine Angst. Ich habe mich meinen Dämonen gestellt, doch nicht allein. Ich hatte Hilfe.
0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222.
Gedenke mein, wenn ich fort bin dann,
Gegangen weit ins stille Land;
Wenn du mich nicht mehr halten kannst an meiner Hand,
Noch ich mich halb zum Gehen wenden kann,
Nur um zu bleiben und um dann,
Tag für Tag zu hören, was du für unsre Zukunft planst:
Gedenke mein, auch wenn du ahnst,
Dass kein Gebet mich mehr erreichen kann.
Doch wenn du mich vergisst für eine Zeit,
Sei nicht traurig, wenn du wieder an mich denkst,
Denn wenn du durch Dunkelheit und Trauer lenkst,
Auf eine Spur triffst von dem, was ich gewesen bin,
Lächle und vergiss und nimm es hin,
Gedenke mein, doch nicht in Traurigkeit.
Christina Rossetti, Gedenke mein
An Franz Josef Johannes Gottlieb Vogler
wohnhaft bei Meister Antonius
Paris
Mein liebster Sepperl,
man sagt, es habe geregnet an dem Tag, an dem Mozart starb.
Offenbar weint Gott, wenn ein Musiker zu Grabe getragen wird, denn es hat wie aus Eimern gegossen, als wir Papa auf dem Kirchfriedhof beerdigt haben. Der Priester hat seine Gebete mit unüblicher Eile über dem Leichnam unseres Vaters gesprochen, er hatte es eilig, fortzukommen von der Nässe, dem Schmutz und dem Schlamm. Außer der Familie waren nur Papas Freunde aus der Schenke anwesend, doch sobald sie erfuhren, dass es keinen Leichenschmaus geben würde, waren sie auch schon wieder fort.
Wo bist Du, mein Brüderchen? Wo bist Du?
Unser Vater hat uns ein gewaltiges Erbe hinterlassen, Sepp – die Musik, ja, aber vor allem Schulden. Mutter und ich müssen unsere Mittel immer wieder überziehen, während wir versuchen, das, was wir besitzen, und das, was wir verdienen können, zusammenzuhalten. Wir kämpfen darum, den Kopf über Wasser zu halten, um nicht zu ertrinken, während uns das Gasthaus langsam hinabzieht ins Vergessen. Unsere Grenzen sind eng, unsere Geldbeutel sogar noch enger.
Wenigstens ist es uns gelungen, genug zusammenzubekommen, um Papa einen anständigen Platz auf dem Kirchfriedhof kaufen zu können. Wenigstens werden Papas Gebeine an der Seite seiner Vorväter ruhen und nicht in einem Armengrab vor den Toren der Stadt. Wenigstens das, wenigstens das, wenigstens das.
Ich wünschte, Du wärst dort gewesen, Sepp. Du hättest dort sein sollen.
Warum dieses Schweigen? Sechs Monate sind vergangen und noch immer kein Wort von Dir. Kommen meine Briefe denn immer einen Tag, einen Ort, eine Stadt zu spät an? Nachdem Du wieder zum nächsten Auftritt auf deiner Rundreise aufgebrochen bist? Antwortest Du mir deswegen nicht? Weißt Du, dass Papa gestorben ist? Dass Käthe ihre Verlobung mit Hans gelöst hat? Dass Constanze mit jedem Tag seltsamer und exzentrischer wird? Dass Mutter – unsere stoische, standfeste, unsentimentale Mutter – weint, wenn sie glaubt, wir könnten es nicht hören? Schweigst Du, um mich für die Monate, die ich unerreichbar in der Unterwelt verbracht habe, zu bestrafen?
Es tut mir leid, mein Herz. Wenn ich tausend Lieder, tausend Wörter schreiben könnte, dann würde ich Dir mit jedem einzelnen davon sagen, wie leid es mir tut, dass ich mein Versprechen an Dich gebrochen habe. Wir haben uns geschworen, dass die Entfernung keinen Unterschied machen würde. Wir haben uns geschworen, einander zu schreiben. Wir haben uns geschworen, wir würden unsere Musik in Papier und Tinte und Blut miteinander teilen. Ich habe diese Versprechen gebrochen, und ich kann nur hoffen, dass Du mir verzeihst. Ich habe so viel zu geben, Sepp. So viel, von dem ich mir wünsche, dass Du es hörst.
Bitte schreib bald. Wir vermissen Dich. Mutter vermisst Dich, Käthe vermisst Dich, Constanze vermisst Dich. Aber ich bin es, die Dich am meisten von allen vermisst.
Deine Dich immer liebende Schwester,
Komponistin von »Der Erlkönig«
An Franz Josef Johannes Gottlieb Vogler
wohnhaft bei Meister Antonius
Paris
Mein liebes Brüderchen,
ein weiterer Tod, ein weiteres Begräbnis, ein weiterer Leichenschmaus. Frau Berchtold wurde letzte Woche tot im Bett gefunden, mit Frost um die Lippen und einer silbrigen Narbe über der Kehle. Erinnerst Du Dich an Frau Berchtold, Sepp? Sie hat immer mit uns geschimpft, weil wir die guten, gottesfürchtigen Kinder im Dorf mit unseren grässlichen Sagen von der Unterwelt verdorben haben.
Und nun ist sie fort.
Sie war die Dritte, die diesen Monat unter derartigen Umständen gestorben ist. Allmählich haben wir alle Angst vor der Seuche – wenn es denn eine Seuche ist. Falls ja, dann hat noch niemand bisher eine solche Krankheit je gesehen. Keine Pocken, keine Wundmale, kein Zeichen einer Erkrankung, nichts, was zu sehen wäre. Die Toten erscheinen unversehrt, unberührt, abgesehen von den Silberküssen um ihren Mund und am Hals. Niemand kann sich einen Reim darauf machen. Es sterben Alte und Junge, Männer und Frauen, Gesunde und Versehrte, Vernünftige und Unvernünftige gleichermaßen.
Schreibst Du deshalb nicht? Bist Du gesund, munter und heil? Lebst Du überhaupt noch? Oder wird der nächste Brief mit Deinem Namen darauf nichts als gebrochene Herzen bringen und eine weitere Beerdigung?
Die Alten im Dorf murmeln leise ihre düsteren Weissagungen. »Von den Elfen geholt«, sagen sie. »Von Kobolden gezeichnet. Das Handwerk des Teufels. Denkt an unsere Worte: Schon bald wird der Ärger beginnen.«
Von Kobolden gezeichnet. Silber an der Kehle. Frost auf den Lippen. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich habe einmal geglaubt, Liebe wäre genug, um die Welt sich weiter drehen zu lassen. Genug, um die alten Gesetze zu überwinden. Aber ich habe gesehen, wie sich Vernunft und Ordnung in unserem langweiligen, rückständigen kleinen Dorf nach und nach auflösen, das Zurückweisen aufgeklärter Ideen und das Zurückfallen in alte Muster. Salz auf jeder Türschwelle, vor jedem Eingang. Selbst der alte Dorfpfarrer hat die Tore der Kirche gegen das Böse geschützt. Ungebrochene weiße Linien, die dennoch die Grenzen zwischen Heiligkeit und Aberglaube verwischen.
Constanze ist auch keine Hilfe. Sie redet in letzter Zeit nicht mehr viel; nicht, dass unsere Großmutter das jemals getan hätte. Doch in Wahrheit macht sie mir Sorgen. Sie verlässt ihr Zimmer nur noch selten, und wenn sie es tut, können wir nie wissen, welcher Version unserer Großmutter wir begegnen werden. Manchmal ist sie geistesgegenwärtig, scharfäugig und aufbrausend wie eh und je, doch manchmal scheint sie in einem anderen Jahr zu leben, in einer völlig anderen Zeit.
Käthe und ich stellen ihr pflichtbewusst jeden Abend ein Tablett mit Essen vor die Tür, aber an jedem Morgen steht es immer noch unberührt dort. Vielleicht fehlen ein paar Bissen Brot und Käse und ein paar Tropfen Milch sind über den Boden verteilt wie Feenspuren, doch Constanze scheint sich nur noch von Furcht und ihrem Glauben an den Erlkönig zu nähren.
Von Glauben allein kann man nicht leben.
Der Wahnsinn liegt ihr im Blut, sagt Mutter immer. Manie und Melancholie.
Wahnsinn.
Mutter sagt, unser Vater habe getrunken, um seine Dämonen zu vertreiben, um den Mahlstrom in seinem Inneren zu dämpfen. Sein Großvater, Constanzes Vater, ist darin ertrunken. Papa ist vorher im Schnaps ertrunken. Ich habe es nicht verstanden, bis auch ich die Dämonen kennengelernt habe.
Manchmal fürchte ich, dass auch in mir ein Mahlstrom wirbelt. Wahnsinn, Manie, Melancholie. Musik, Zauber, Erinnerungen. Ein Strudel, der um eine Wahrheit kreist, die ich nicht zugeben will. Ich schlafe nicht, weil ich mich vor den Zeichen und Wundern fürchte, die ich sehe, wenn ich erwache. Dornenranken winden sich um Zweige, das Klacken von unsichtbaren schwarzen Krallen, Blut, das zu einer Blume erblüht.
Ich wünschte, Du wärst hier. Du konntest meine umherstreifenden, rastlosen Gedanken immer in gerade Bahnen lenken und meine wilden Vorstellungen zu einem schönen Garten zähmen. Es liegt ein Schatten auf meiner Seele, Sepperl. Nicht nur die Toten sind von den Kobolden gezeichnet.
Hilf mir, Sepp. Hilf mir dabei, mich selbst zu verstehen.
Immer die Deine
Komponistin von »Der Erlkönig«
An Franz Josef Johannes Gottlieb Vogler
wohnhaft bei Meister Antonius
Paris
Mein liebster Bruder,
die Jahreszeiten wechseln und immer noch kein Wort von Dir. Der Winter ist vorbei, doch das Tauwetter lässt sich Zeit. Die Bäume zittern im Wind, an ihren Ästen wächst noch immer kein junges Laub. Die Luft riecht nicht mehr nach Eis und Schlaf, aber die Brise weht auch nicht den Duft von feuchtem Grün heran.
Seit dem Sommer habe ich den Koboldhain nicht mehr betreten und seit Papas Tod steht das Klavier in unserem Zimmer unberührt da.
Ich weiß nicht, was ich Dir erzählen soll, mein Brüderchen. Ich habe meine Versprechen an Dich zweimal gebrochen. Das erste Mal, indem ich unerreichbar für Dich war, das zweite Mal, indem ich Dir nicht geschrieben habe. Keine Worte, sondern Melodien. Harmonien. Akkorde. Die Hochzeitsnachtsonate ist unvollendet, der letzte Satz noch immer ungeschrieben. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht und die Welt hell ist, finde ich endlos viele Entschuldigungen dafür, dass ich nicht komponiere: in den staubigen Ecken, in den Rechnungsbüchern, in den Vorräten für Mehl, Hefe, Zucker und Butter, in den alltäglichen Details, wenn man ein Wirtshaus führt.
Im Dunkeln ist die Antwort jedoch eine andere. Zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen, den Stunden, wenn die Kobolde und Hödeken in den Wäldern ihren Schabernack treiben, dann gibt es nur einen Grund.
Den Koboldkönig.
Ich war nicht ehrlich zu Dir, Sepp. Ich habe Dir nicht die ganze Geschichte erzählt, weil ich geglaubt habe, ich könnte es von Angesicht zu Angesicht tun. Es ist keine Geschichte, die ich bloßen Worten anvertrauen wollte, denn Worte reichen dafür nicht aus. Aber ich werde es trotzdem versuchen.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das seine Musik für einen kleinen Jungen in den Wäldern spielte. Sie war die Tochter eines Schankwirts und er war der Herr des Unheils, doch keiner von beiden war ganz das, was sie zu sein schienen, denn nichts ist so einfach wie im Märchen.
Für die Dauer eines Jahres war ich die Braut des Koboldkönigs.
Das ist kein Märchen, mein Brüderchen, sondern die reine Wahrheit. Vor zwei Wintern hat der Erlkönig unsere Schwester gestohlen und ich bin in die Unterwelt gereist, um sie zu finden.
Stattdessen habe ich dort mich selbst gefunden.
Käthe weiß es. Käthe weiß besser als jeder andere, wie es ist, im Reich der Kobolde begraben zu sein. Aber unsere Schwester versteht nicht, was Du verstehen würdest: dass ich nicht im Gefängnis des Erlkönigs in der Falle saß, sondern aus freiem Willen die Königin der Kobolde geworden bin. Sie weiß nicht, dass jenes Monster, das sie geraubt hat, zugleich das Monster ist, das ich für mich beanspruche. Sie glaubt, ich sei den Fängen des Erlkönigs entkommen. Sie weiß nicht, dass er mich gehen ließ.
Er ließ mich gehen.
In all den Jahren, die wir zu Constanzes Füßen gesessen und ihren Geschichten gelauscht haben, hat sie uns nicht ein einziges Mal erzählt, was geschieht, nachdem einen die Kobolde entführt haben. Nicht ein Mal hat sie uns gesagt, dass sich die Unterwelt und die obere Welt zugleich so fern und so nah sind wie die zwei Seiten eines Spiegels, von denen jede die andere reflektiert. Ein Leben für das Leben. Sie hat uns nie gesagt, dass eine Jungfrau sterben muss, um das Land vom Tod zurückzuholen. Vom Winter in den Frühling zu führen.
Doch was sie uns hätte erzählen müssen, ist, dass es nicht das Leben ist, das die Welt sich weiterdrehen lässt, sondern die Liebe. Ich halte an dieser Liebe fest, denn sie ist das Versprechen, das mich dazu gebracht hat, die Unterwelt zu verlassen. Ihn zu verlassen. Den Koboldkönig.
Ich weiß nicht, wie die Geschichte enden wird.
Ach, Sepp. Es ist schwer, so viel schwerer, als ich dachte, sich jedem Tag so zu stellen, wie ich bin: allein und unversehrt. Ich habe den Koboldhain seit einer Ewigkeit nicht mehr betreten, weil ich mich meiner Einsamkeit und Reue nicht stellen kann. Weil ich mich weigere, mich zu einem Halbleben bestehend aus Sehnsucht und Bedauern zu verdammen. Jede Erwähnung, jede Erinnerung an jene Stunden, die ich mit ihm in der Unterwelt verbracht habe, mit meinem Koboldkönig, ist eine Qual. Wie kann ich weitermachen, solange ich von Geistern verfolgt werde? Ich fühle ihn, Sepp. Ich fühle den Koboldkönig, wenn ich spiele, wenn ich an der Hochzeitsnachtsonate arbeite. Die Berührung seiner Hand auf meinem Haar. Den Druck seiner Lippen auf meiner Wange. Den Klang seiner Stimme, die meinen Namen flüstert.
Der Wahnsinn liegt uns im Blut.
Als ich Dir damals die Seiten der Hochzeitsnachsonate geschickt habe, dachte ich, Du würdest zwischen den Zeilen der Musik lesen und erkennen, was dahintersteht. Aber ich muss für meine Schuld einstehen. Ich bin gegangen, also ist es an mir, das Ende zu schreiben. Allein.
Ich möchte fort. Ich möchte entkommen. Ich möchte ein Leben, das ganz und gar gelebt wird – voller Erdbeeren und Schokoladentorte und Musik. Und Applaus. Akzeptanz. Das alles finde ich hier nicht.
Also richte ich den Blick auf Dich, Sepp. Nur Du kannst mich verstehen. Ich bete darum, dass Du verstehst. Lass nicht zu, dass ich mich dieser Dunkelheit allein stellen muss.
Bitte schreib. Bitte.
Bitte.
Die Deine in Musik und in Wahnsinn
Komponistin von »Der Erlkönig«
An Maria Elisabeth Ingeborg Vogler
Meister Antonius ist tot. Ich bin in Wien. Komm schnell.
Leben kann ich entweder nur ganz mit Dir oder gar nicht.
»Auf keinen Fall«, rief Constanze und ließ ihren Gehstock auf den Boden krachen. »Ich verbiete es!«
Wir hatten uns alle nach der Abendessenszeit in der Küche versammelt. Mutter wusch das Geschirr der Gäste ab, während Käthe ein schnelles Essen aus Spätzle und Röstzwiebeln für uns zubereitete. Josefs Brief lag offen auf dem Tisch. Mir hatte er Erlösung gebracht, meiner Großmutter Ärger.
Meister Antonius ist tot. Ich bin in Wien. Komm schnell.
Komm schnell. Eindrückliche und unverblümte Worte auf dem Blatt Papier, doch Constanze und ich konnten uns nicht darüber einig werden, was sie zu bedeuten hatten. Ich glaubte, sie wären ein Ruf. Meine Großmutter war anderer Meinung.
»Was willst du mir verbieten?«, gab ich zurück. »Josef zu antworten?«
»Deinen Bruder bei diesen Mätzchen auch noch zu unterstützen!« Anklagend deutete sie auf den Brief zwischen uns und machte dann mit dem Arm eine ausschweifende, vage Geste, die das Dunkel vor dem Fenster miteinschloss, das Unbekannte jenseits unserer Türschwelle. »Bei diesem … diesem Unsinn mit der Musik!«
»Unsinn?«, fragte Mutter scharf und hielt beim Schrubben der Töpfe und Pfannen inne. »Was für ein Unsinn, Constanze? Meinst du seine Karriere?«
Letztes Jahr hatte mein Bruder die ihm bekannte Welt hinter sich gelassen, um seinem Traum zu folgen – unserem Traum – und ein weltbekannter Violinist zu werden. Das Gasthaus sorgte bereits seit Generationen für das tägliche Brot unserer Familie, aber unsere Leidenschaft galt seit jeher der Musik. Papa war einst Hofmusikant in Salzburg gewesen, wo er auch Mutter kennengelernt hatte, die damals Sängerin in einer Musikertruppe gewesen war. Doch das war, bevor seine verschwenderische und lasterhafte Art ihn wieder in die tiefste Provinz der bayerischen Wälder zurückgetrieben hatte. Josef war der Beste und Strahlendste von uns, der am besten Ausgebildete, der Disziplinierteste, der Talentierteste, und ihm war gelungen, was wir anderen nie erreicht hatten: Er war entkommen.
»Das geht dich nichts an«, fauchte Constanze ihre Schwiegertochter an. »Halte deine spitze, zänkische Nase aus Angelegenheiten heraus, von denen du nichts verstehst.«
»Es geht mich sehr wohl etwas an.« Mutters Nasenflügel bebten. Normalerweise war sie immer kühl, ruhig und gefasst, doch Großmutter wusste, was ihr unter die Haut ging. »Josef ist mein Sohn.«
»Er gehört dem Erlkönig«, murmelte Constanze. In ihren dunklen Augen glühte fiebriger Glaube. »Nicht dir.«
Mutter rollte mit den Augen und fuhr mit dem Abwasch fort. »Genug jetzt mit den Kobolden und dem ganzen Geschwafel, du alte Hexe. Josef ist zu alt für Märchen und solchen Humbug.«
»Erzähl das der da!« Constanze deutete mit ihrem knotigen Finger auf mich und ich spürte die Wucht ihres Eifers wie einen Schlag auf die Brust. »Sie glaubt. Sie weiß. Sie trägt den Abdruck der Berührung des Koboldkönigs auf der Seele.«
Ein Schauer kroch mir den Rücken hinauf, eisige Fingerspitzen, die mir über die Haut strichen. Ich schwieg, fühlte jedoch Käthes neugierigen Blick. Früher hätte sie wie Mutter abfällig über das abergläubische Geplapper unserer Großmutter gelacht, aber meine Schwester hatte sich verändert.
Ich hatte mich verändert.
»Wir müssen an Josefs Zukunft denken«, sagte ich leise. »Daran, was er braucht.«
Aber was war es, was mein Bruder brauchte? Die Post war erst am Vortag eingetroffen, doch der Brief war von den vielen unausgesprochenen und unbeantworteten Fragen schon ganz zerlesen. Komm schnell. Was meinte er damit? Dass ich zu ihm kommen sollte? Wie? Warum?
»Was Josef braucht, ist sein Zuhause«, sagte Constanze.
»Und was gibt es hier für ihn, zu dem er nach Hause kommen kann?«, fragte Mutter und ging wütend auf die Rostflecken eines verbeulten Topfes los.
Käthe und ich tauschten einen Blick, hielten unsere Hände aber beschäftigt und den Mund geschlossen.
»Gar nichts gibt es hier«, fuhr sie bitter fort. »Nichts, außer einem langen, langsamen Abstieg ins Armenhaus.« Mit einem abrupten Klappern legte sie die Spülbürste beiseite und drückte sich Daumen und Zeigefinger ihrer seifigen Hand auf die Nasenwurzel. Seit Papas Tod war die Falte zwischen ihren Brauen wieder und wieder aufgetaucht, und mit jedem Tag, der verging, wurde sie tiefer.
»Sollen wir Josef denn einfach sich selbst überlassen?«, mischte ich mich ein. »Was soll er tun, so weit fort und ohne Freunde?«
Mutter biss sich auf die Lippe. »Was schlägst du vor?«
Darauf hatte ich keine Antwort. Wir hatten nicht die Mittel, um zu ihm zu reisen oder um ihn heimzuholen.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie entschlossen. »Es ist besser, wenn Josef in Wien bleibt. Wenn er dort sein Glück versucht und der Welt seinen Stempel aufdrückt, wie Gott es will.«
»Es spielt keine Rolle, was Gott will«, verkündete Constanze düster. »Sondern nur, was die alten Gesetze verlangen. Wenn man sie um ihr Opfer betrügt, müssen wir alle den Preis dafür zahlen. Die Jagd beginnt und mit ihr kommen Tod, Verderben und Zerstörung.«
Ein plötzliches, schmerzerfülltes Einatmen. Erschrocken sah ich auf, als Käthe rasch den Finger, in den sie sich mit dem Messer geschnitten hatte, in den Mund steckte. Hastig fuhr sie mit dem Kochen fort, doch ihre Hände zitterten, als sie begann, die Spätzle vom Brett zu schaben. Ich erhob mich, um ihr die Arbeit abzunehmen, woraufhin sie sich dankbar daranmachte, die Zwiebeln zu rösten.
Mutter gab ein angewidertes Schnauben von sich. »Nicht das schon wieder.« Constanze und sie gingen aufeinander los, solange ich mich erinnern konnte, und das Gezänk war ein ebenso beständiges Hintergrundgeräusch wie Josefs Tonleiterübungen. Nicht einmal Papa war in der Lage gewesen, Frieden zwischen ihnen zu stiften, da er seiner Mutter stets nachgab, obwohl er sich lieber auf die Seite seiner Frau gestellt hätte. »Wenn ich nicht vollkommen sicher wäre, dass dein Platz in der Hölle bereits auf dich wartet, du streitsüchtige alte Harpyie, dann würde ich für deine Seele beten.«
Constanze schlug mit der Hand auf den Tisch und wir zuckten zusammen. »Siehst du denn nicht, dass ich versuche, Josefs Seele zu retten?«, brüllte sie und Spucke flog ihr aus dem Mund.
Wir waren verblüfft. Trotz ihres reizbaren und jähzornigen Wesens verlor Constanze selten die Beherrschung. Auf ihre eigene Weise war sie so verlässlich wie ein Metronom, das beständig zwischen Zufriedenheit und Ärger hin- und herpendelte. Unsere Großmutter war Furcht einflößend, nicht furchtsam.
Dann hörte ich wieder die Stimme meines Bruders. Ich bin hier geboren worden. Ich bin dazu bestimmt, auch hier zu sterben.
Zerstreut ließ ich die Nudeln in den Topf gleiten und verbrannte mich an dem aufspritzenden kochend heißen Wasser. Ungebeten tauchte das Bild kohlschwarzer Augen in einem scharfzügigen Gesicht aus den Tiefen meiner Erinnerung auf.
»Mädchen«, krächzte Constanze und richtete den Blick ihrer dunklen Augen auf mich. »Du weißt, was er ist.«
Ich schwieg. Das Blubbern des kochenden Wassers und das Zischen der Zwiebeln in der Pfanne waren die einzigen Geräusche in der Küche.
»Was?«, fragte Mutter. »Was meinst du damit?«
Käthe warf mir einen Seitenblick zu, aber ich goss nur die Spätzle ab und gab sie in die Pfanne zu den Zwiebeln.
»Über was in aller Welt redet ihr da?«, verlangte Mutter zu wissen. Dann wandte sie sich mir zu. »Liesl?«
Ich gab Käthe ein Zeichen, mir die Teller zu bringen, und verteilte das Essen darauf.
»Nun?« Constanze grinste. »Was sagst du dazu, Mädchen?«
Du weißt, was er ist.
Ich dachte an die sorglosen Wünsche, die ich als Kind in die Dunkelheit gesagt hatte – Schönheit, Bestätigung, Anerkennung –, aber keiner dieser Wünsche war so inbrünstig und verzweifelt gewesen wie der in jener Nacht, in der ich das schwache Weinen meines Bruders gehört hatte. Käthe, Josef und ich hatten Scharlach bekommen, als wir noch klein gewesen waren. Käthe und ich waren damals schon Kinder, Josef dagegen nur ein Baby. An meiner Schwester und mir war das Schlimmste vorübergegangen, doch als mein Bruder von der Krankheit genesen war, war er ein anderer.
Ein Wechselbalg.
»Ich weiß genau, wer mein Bruder ist«, sagte ich leise, mehr zu mir selbst als zu meiner Großmutter. Ich stellte einen Teller mit einem Berg aus Spätzle und Zwiebeln vor sie hin. »Iss auf.«
»Dann weißt du auch, warum Josef zurückkehren muss«, sagte Constanze. »Warum er heimkehren und hier leben muss.«
Letztendlich kommen wir alle wieder zurück.
Ein Wechselbalg konnte sich nicht weit von der Unterwelt entfernen, sonst verblasste und verging er. Mein Bruder konnte nicht jenseits des Einflussbereichs des Erlkönigs leben, es sei denn aus der Kraft der Liebe. Meiner Liebe. Das war es, was ihn frei sein ließ.
Dann erinnerte ich mich an das Gefühl der Spinnenfinger, die über meine Haut krochen wie Brombeerranken; ein aus Händen geformtes Gesicht und tausend zischende Stimmen, die wisperten: Deine Liebe ist ein Käfig, Sterbliche.
Wieder betrachtete ich den Brief auf dem Tisch. Komm schnell.
»Isst du dein Abendessen?«, fragte ich und sah betont auf Constanzes vollen Teller.
Angewidert betrachtete sie die Spätzle und rümpfte die Nase. »Ich habe keinen Hunger.«
»Tja, etwas anderes bekommst du aber nicht, du undankbare Nervensäge.« Wütend stieß Mutter die Gabel in ihr Essen. »Wir können es uns nicht leisten, deinem besonderen Geschmack nachzukommen. Wir können es uns ja kaum leisten, satt zu werden.«
Ihre Worte schienen dröhnend nachzuhallen. Gerügt nahm Constanze ihre Gabel und begann zu essen, wobei sie auf dieser deprimierenden Verkündung herumzukauen schien. Obwohl wir nach Papas Tod all seine Schulden beglichen hatten, tauchte für jede bezahlte Rechnung nur wieder eine weitere offene auf. Das Abdichten von Lecks auf einem sinkenden Schiff.
Sobald wir mit dem Essen fertig waren, räumte Käthe die Teller ab und ich übernahm den Abwasch.
»Komm«, sagte Mutter und bot Constanze den Arm an. »Schaffen wir dich ins Bett.«
»Nein, nicht du«, antwortete meine Großmutter mit Abscheu. »Du bist nutzlos, das bist du. Das Mädchen kann mir nach oben helfen.«
»Das Mädchen hat einen Namen«, sagte ich, ohne sie anzusehen.
»Habe ich mit dir gesprochen, Elizabeth?«, fauchte Constanze.
Verblüfft hob ich den Blick von dem schmutzigen Geschirr und sah, dass meine Großmutter Käthe anstarrte.
»Ich?«, fragte meine Schwester überrascht.
»Ja, du, Magda«, fuhr Constanze sie an. »Wer denn sonst?«
Magda? Ich sah erst Käthe an, dann Mutter, die genauso verblüfft schien wie wir. Geh schon, formte sie stumm mit den Lippen. Käthe sah nicht begeistert aus, bot Constanze aber dennoch den Arm an. Sie schnitt eine Grimasse, als unsere Großmutter mit gehässiger Kraft zupackte.
Mutter folgte den beiden mit dem Blick die Treppe hinauf, und nachdem sie verschwunden waren, sagte sie: »Ich schwöre es, sie wird mit jedem Tag verrückter.«
Ich kehrte zum Abwasch zurück. »Sie ist alt. Das ist vielleicht zu erwarten.«
Mutter schnaubte. »Meine Großmutter war bis zu dem Tag, an dem sie gestorben ist, bei klarem Verstand, und sie war viel älter als Constanze.«
Ich schwieg, während ich die Teller in einen Bottich mit klarem Wasser tauchte, bevor ich sie zum Trocknen an Mutter weiterreichte. »Am besten achten wir gar nicht darauf«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu mir. »Elfen. Die Wilde Jagd. Das Ende der Welt. Man könnte fast meinen, dass sie an diese Märchen wirklich glaubt.«
Ich fand einen sauberen Zipfel an meiner Schürze, griff nach einem Teller und half meiner Mutter beim Abtrocknen. »Sie ist alt«, wiederholte ich. »Dieser Aberglaube existiert hier schon ewig.«
»Ja, aber es sind trotzdem nur Geschichten«, gab sie ungeduldig zurück. »Niemand glaubt daran, dass sie wirklich wahr sind. Manchmal bin ich nicht sicher, ob Constanze weiß, ob wir in der Wirklichkeit leben oder in einem Märchen, das sie sich ausgedacht hat.«
Wieder sagte ich nichts. Mutter und ich räumten das saubere Geschirr ein, wischten die Arbeitsflächen ab und fegten den wenigen Schmutz auf dem Küchenboden zusammen, bevor wir auf getrenntem Weg zu unseren Zimmern gingen.
Trotz dem, was Mutter glaubte, lebten wir nicht in einem Märchen, das sich Constanze ausgedacht hatte, sondern in einer furchtbaren, grässlichen Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit der Opfer und des Handels. Einer Wirklichkeit, in der es Kobolde und Loreley gab, Mythen und Zauber und die Unterwelt. Ich war mit den Geschichten meiner Großmutter aufgewachsen. Ich, die ich die Braut des Koboldkönigs gewesen und wieder fortgegangen war, wusste besser als jeder andere, wozu es führte, wenn man die alten Gesetze missachtete, die über Leben und Tod regierten. Wahr und unwahr – diese Unterscheidung war ebenso unzuverlässig wie die Erinnerung, und ich lebte in dem Dazwischen, zwischen schöner Lüge und hässlicher Wahrheit. Aber ich sprach nicht davon. Ich konnte nicht davon sprechen.
Wenn Constanze verrückt wurde, dann wurde ich es auch.
Das Violinspiel des Jungen war magisch. Es wurde gemunkelt, dass selbst jene mit anspruchsvollem Geschmack und großem Vermögen vor dem Konzertsaal Schlange standen, um sich auf eine Reise ins Unbekannte mitnehmen zu lassen. Der Spielort war klein und intim, bestuhlt, aber nur für etwa zwanzig Personen. Trotzdem war es die größte Versammlung, vor der der Junge und sein Gefährte jemals gespielt hatten, und er war nervös.
Sein Meister war ein berühmter Violinist, ein italienisches Genie, doch Alter und Rheumatismus hatten die Finger des betagten Mannes schon längst zur Untätigkeit verdammt. Man sagte, in seiner Blütezeit habe Giovanni Antonius Rossi mit seinem Spiel selbst die Engel zu Tränen gerührt und die Teufel zum Tanzen gebracht, und die Konzertbesucher hofften, wenigstens einen Funken der vergangenen Gabe des Virtuosen in seinem geheimnisvollen Schüler wiederzufinden.
Ein Findelkind, ein Wechselbalg, flüsterten die Konzertbesucher. Aufgelesen am Straßenrand in den dunkelsten Wäldern Bayerns.
Der Junge hatte einen Namen, aber der war irgendwo zwischen den Gerüchten verloren gegangen. Meiser Antonius’ Schüler. Der goldhaarige Engel. Der schöne Junge. Sein Name war Josef, doch daran erinnerte sich niemand mehr, abgesehen von seinem Gefährten, seinem Begleiter, seinem Geliebten.
Auch der Gefährte hatte einen Namen, allerdings hielt niemand es für lohnenswert, ihn sich zu merken. Der dunkelhäutige Junge. Der Neger. Der Diener. Er hieß François, aber niemand nannte ihn so, außer Josef, der den Namen seines Geliebten auf den Lippen und im Herzen trug.
Das Konzert kennzeichnete Josefs Einführung in die kultivierte Gesellschaft Wiens. Seit die Adligen Frankreichs entweder geköpft oder davongejagt wurden, musste Meister Antonius feststellen, dass seine Geldschatullen in seinem Pariser Heim immer leerer wurden, da die reichen Mäzene ihre Mittel lieber Bonapartes Armee zukommen ließen. Also hatte der alte Virtuose die Stadt der Revolution verlassen und war in die Stadt seines größten Triumphes zurückgekehrt, in der Hoffnung, die Goldfische mit jüngeren, hübscheren Ködern wieder einzufangen. Zurzeit genossen sie die Gastfreundschaft der Baroness von Schenk, in deren Salon die Vorstellung stattfinden sollte.
»Enttäusche mich nicht, Junge«, sagte der Meister, als sie auf der Seitenbühne standen und auf ihren Auftritt warteten. »Unsere Lebensgrundlage hängt von dir ab.«
»Ja, Maestro«, sagte Josef, es klang heiser. In der Nacht zuvor hatte er schlecht geschlafen, sein Magen war vor Nervosität verkrampft, seine Träume waren von dem halb erinnerten Klang donnernder Hufschläge durchbrochen worden.
»Behalte einen kühlen Kopf«, sagte Meister Antonius warnend. »Kein Geheule und Gejammer wegen deines Zuhauses. Du bist jetzt ein Mann. Sei stark.«
Josef schluckte und sah François an. Der junge Mann nickte ihm kaum merklich zu, eine ermutigende Geste, die ihrem Lehrer nicht verborgen blieb.
»Genug«, knurrte Meister Antonius. »Du« – er deutete auf François – »hör auf, ihn zu verhätscheln. Und du« – er deutete auf Josef – »reiß dich zusammen. Wir können es uns nicht leisten, jetzt den Kopf zu verlieren. Wir werden mit ein paar Stücken beginnen, die ich komponiert habe, dann geht es wie geplant mit Mozart weiter, ça va?«
Josef duckte sich unter dem finsteren Blick seines Meisters. »Ja, Maestro«, flüsterte er.
»Wenn du gut bist – aber nur, wenn du gut bist –, dann darfst du als Zugabe Vivaldi spielen.« Der alte Virtuose durchbohrte seinen Schüler mit Blicken. »Und komm mir nicht mit diesem ›Erlkönig‹-Unsinn. Unser Publikum ist an die Musik der Großen gewöhnt. Beleidige ihre Ohren nicht mit dieser Monstrosität.«
»Ja, Maestro.« Josefs Stimme war kaum hörbar.
François sah die geröteten Wangen und die angespannten Kiefermuskeln des Jungen und legte seine warme Hand um die geballte Faust seines Geliebten. Hab Geduld, mon cœur, schien die Berührung zu sagen.
Aber Josef antwortete nicht.
Meister Antonius teilte die Vorhänge und die jungen Männer traten hinaus in den höflichen Applaus des Publikums. François setzte sich an das Pianoforte und Josef machte seine Violine bereit. Sie teilten einen Blick, einen Moment, ein Gefühl, eine Frage.
Das Konzert begann wie geplant. Der Schüler spielte eine Auswahl der Stücke, die sein Meister komponiert hatte, begleitet von dem anderen Jungen am Klavier. Doch das Publikum war alt, und es erinnerte sich noch daran, wie göttlich das Spiel des Meisters gewesen war, wie tragend der Klang. Dieser Junge war gut: Die Noten waren klar, die Bogensetzung elegant. Doch vielleicht fehlte noch etwas – die Seele, ein Funke. Es war, als hörte man die Worte eines geliebten Dichters in eine fremde Sprache übersetzt.
Vielleicht hatten sie zu viel erwartet. Talent war immerhin unbeständig, und jene, die am hellsten strahlten, hielten oft nicht lange durch.
Die Engel werden Meister Antonius holen, wenn der Teufel nicht schneller ist, hatte man einst über den alten Virtuosen gesagt. Eine solche Gabe war nicht für sterbliche Ohren bestimmt.
Schließlich war es das Alter gewesen, das Meister Antonius noch vor Gott und dem Teufel bekommen hatte, aber es schien nicht so, als wäre sein Schüler mit demselben himmlischen Funken gesegnet. Pflichtschuldig applaudierte das Publikum nach jedem Stück, und alle fanden sich damit ab, einen langen Abend ohne viel Bedeutung vor sich zu haben, während der Virtuose auf der Seitenbühne angesichts des sinkenden Werts seines Schülers vor Wut schäumte.
Von der gegenüberliegenden Seitenbühne aus folgte noch ein anderes Augenpaar der Vorstellung. Es waren verblüffende Augen. Grün wie Smaragde oder die tiefen Wasser eines Sommersees glommen sie im Dunkeln.
Nachdem die Stücke des Meisters beendet waren, fuhren Josef und François mit einer Sonate Mozarts fort. Stille senkte sich über den Saal, dumpf und erfüllt von der unaufmerksamen Reglosigkeit vornehmer Langeweile. Hinten im Saal erhob sich leises Schnarchen und Meister Antonius wütete stumm vor sich hin. Doch immer noch musterten die grünen Augen die beiden Jungen aus den Schatten. Abwartend. Begehrlich.
Als das Konzert vorüber war, erhob sich das Publikum applaudierend von den Stühlen und verlangte pflichtschuldig nach einer Zugabe. Josef und François verbeugten sich und Meister Antonius schloss die Faust um seine Perücke, woraufhin weißer Puder in die Luft stob. Vivaldi, rette uns, dachte er. Roter Priester, erhöre mein Flehen. Ein weiteres Mal verbeugten sich Josef und François und tauschten erneut einen intimen Blick, die Antwort auf eine unausgesprochene Frage.
François setzte sich wieder ans Klavier. Dunkle Hände und weiße Spitzenärmel über schwarzen scharfen Tönen und natürlichen Elfenbeinklängen. Josef setzte die Geige ans Kinn und hob den Bogen. Das Rosshaar bebte erwartungsvoll. Josef gab das Tempo vor und François antwortete ihm, sodass sich zwischen ihnen ein Klangteppich entspann.
Es war nicht Vivaldi.
Die Konzertbesucher richteten sich auf ihren Stühlen auf, die Verwirrung schärfte ihre Aufmerksamkeit. So ein Spiel hatten sie noch nie zuvor gehört. So eine Musik hatten sie noch nie zuvor gehört
Es war »Der Erlkönig«.
Auf der Seitenbühne ließ Meister Antonius verzweifelt den Kopf in die Hände sinken. Die grünen Augen auf der anderen Seite der Bühne glommen auf.
Ein Eishauch schien durch den Saal zu streifen, obwohl keine Brise die Spitzensäume und den Federschmuck der Gäste durchfuhr. Der Geruch nach Erde und Lehm, nach Orten der Tiefe stieg empor, eine Kaverne aus Klang und Empfindung. War das ein Wassertropfen, der auf Stein fiel? Oder das ferne Rumpeln einer wilden Flucht? In den Winkeln des Sichtfelds begannen sich die Schatten zu regen, die engelsgesichtigen Putten und kunstvoll gehauenen Blumen an den Säulen des Saals hatten auf einmal etwas Finsteres. Die Zuhörer sahen nicht zu genau hin, aus Angst davor, dass sich die Engel und Wasserspeier in Dämonen und Kobolde verwandelt hatten.
Nur einer der Zuhörer tat es.
Die lebhaft grünen Augen betrachteten die Verwandlung, welche die Musik brachte, dann verschwanden sie in der Dunkelheit.
Nachdem die Zugabe geendet hatte, folgte ein Moment der Stille, als würde die Welt vor Anbruch eines Sturms den Atem anhalten. Dann brach ein Donner aus rauen Rufen und tosendem Applaus los, denn die Zuhörer mussten jubeln, um nicht angesichts der wirren Angst und Freude, die sie alle erfüllte, in Tränen auszubrechen. Angewidert riss sich Meister Antonius die Perücke vom Kopf und verließ schnaubend die Bühne.
Auf dem Weg kam er an einer schönen, grünäugigen Frau vorbei, die eine silberne Saliera in Form eines Schwans trug. Sie nickten einander im Vorbeigehen zu, woraufhin sich der alte Virtuose in seine Gemächer zurückzog und die Frau auf den Saal zuhumpelte. Er sah nicht, wie sie eine Salzlinie auf die Schwelle zum Konzertsaal streute. Er hörte nichts von den Lobpreisungen, die auf seinen Schüler niederregneten und er verpasste den Boten, der eine Nachricht für ihn hatte.
»Meister Antonius?«, fragte der Postbote, als ihm die grünäugige Frau die Tür öffnete. Sie hatte sich eine hellrote Mohnblume ans Mieder gesteckt.
»Er hat sich bereits für den Abend zurückgezogen«, sagte sie. »Wie kann ich Euch helfen?«
»Diese Briefe sind für seinen Schüler, einen Herr Vogler?« Der Postbote griff in seine Tasche und holte ein Bündel Briefe hervor, jeder davon in derselben verzweifelten Handschrift geschrieben. »Sie wurden an seine frühere Adresse in Paris geschickt, aber wir konnte ihn erst jetzt hier in Wien finden.«
»Ich verstehe«, sagte die Frau. »Ich werde dafür sorgen, dass sie an den Richtigen weitergegeben werden.« Sie gab dem Postboten eine Goldmünze, woraufhin er sich an den Hut tippte und wieder in die Nacht davonritt.
Die grünäugige Frau trat über die Salzspur in den Saal, wobei sie darauf achtete, die Schutzlinie nicht mit dem Rock zu verwischen. Als sie wieder im Schatten stand, überflog sie die Briefe auf der Suche nach einer Signatur.
Komponistin von »Der Erlkönig«.
Lächelnd steckte sie sich die Briefe ins Mieder, bevor sie auf die Bühne hinaushumpelte, um dem Jungen und seinem schwarzen Freund zu gratulieren. Oben wälzte sich Meister Antonius in seinem Bett hin und her und versuchte, den Klang von Hufen und heulenden Hunden auszublenden, während er sich fragte, ob der Teufel nun doch noch gekommen war, um ihn zu holen.
Am nächsten Morgen warf man die Küchenmagd hinaus, weil sie Salz gestohlen hatte, und der alte Meister wurde tot in seinen Gemächern aufgefunden. Mit blauen Lippen und einem merkwürdigen silbernen Streifen über der Kehle.
Der nächste Tag dämmerte hell und bitter herauf, als ich zum Klang von Mutters und Constanzes Streitereien aufwachte. Ihre Stimmen trugen von Constanzes Zimmer bis hinunter in Josefs Kammer, in der ich schlief. Wenn ich die beiden in diesem fernen Winkel des Hauses hören konnte, dann hörten sie auch die Gäste.
»Guten Morgen, Liesl«, rief meine Schwester, als ich aus der Küche in den Wirtsraum trat. Ein paar Gäste hatten sich bereits dort versammelt, einige, um zu essen, andere, um sich wegen des Lärms zu beschweren. »Ist das Frühstück bald fertig?«
Käthes Stimme klang betont fröhlich und sie hatte ein auffälliges Lächeln aufgesetzt. Hinter ihr sah ich die mürrischen Gesichter der Gäste. Wenn Papa noch am Leben gewesen wäre, hätte er die Spannung vertrieben, indem er ein lustiges Stück auf der Geige gespielt hätte. Wenn Papa noch am Leben und nüchtern gewesen wäre, jedenfalls. Wenn er denn jemals nüchtern gewesen war.
»Was soll das heißen?« Mutters Worte waren klar und scharf wie Glassplitter. »Schau mich an, Constanze. Schau mich an, wenn ich mit dir spreche!«
»Ahaha«, kicherte ich nervös und versuchte, es meiner Schwester gleichzutun und ebenfalls zu lächeln, aber es fühlte sich schief auf meinem Gesicht an. »Gleich. Das Frühstück ist gleich fertig. Ich muss nur … Ich, äh, ich muss, ähm, Mutter noch etwas fragen.«
Käthe funkelte mich an, ohne dass ihr hübsches Lächeln dabei verblasste. Ich drückte ihre Hand und entzog mich geschickt ihrem Griff. Dann eilte ich hinauf in die Höhle des Löwen.
Die Tür zu Constanzes Zimmer war geschlossen, aber Mutters Zorn war klar und deutlich zu verstehen. Sie war immerhin Sängerin gewesen und hatte ihre Stimmgewalt nie verloren. Sie wusste, wie sie ihre Stimme zu einer nicht zu unterschätzenden Waffe machen konnte. Ich hielt mich nicht mit Klopfen auf, sondern drehte stattdessen gleich den Türknauf, wobei ich mich wappnete.
Die Tür gab nicht nach.
Stirnrunzelnd rüttelte ich am Knauf und versuchte es ein weiteres Mal. Die Tür rührte sich nicht, so als würde sie irgendetwas blockieren. Was auch immer es war, es schien von der anderen Seite dagegengeschoben worden zu sein. Ich drückte mit der Schulter gegen das Holz.
»Constanze?«, rief ich und versuchte dabei, nicht allzu laut zu sein, damit die Gäste mich nicht hörten. »Constanze, ich bin’s, Liesl.« Ich klopfte und drückte energischer gegen die Tür. »Mutter? Lasst mich rein!«
Es gab kein Anzeichen dafür, dass mich auch nur eine der beiden hörte. Ich gab der Tür einen weiteren Schubs und auf einmal gab sie begleitet von einem unerwarteten Kratzgeräusch ein Stück nach. Ich strengte mich an, legte immer mehr Kraft in meinen Kampf gegen den unsichtbaren Gegner. Endlich hatte ich die Tür weit genug aufgedrückt, um mich durch den Spalt zwängen zu können.
Sofort stolperte ich über einen Berg aus Erde, Zweigen und Blättern, ich fiel hin und schürfte mir die Knie auf. »Was in aller Welt …«
Meine Hände versanken in weichem, von Steinchen und Geröll durchsetztem Lehm. Ich sah auf. Constanzes Zimmer war ein Trümmerfeld, jeder Winkel bedeckt von Schmutz und Geröll aus den Wäldern draußen. Einen kurzen Moment lang hatte ich den verwirrenden Eindruck, mich nicht im Haus zu befinden, sondern in einem Winterwald, dessen Boden mit einer dünnen Schneeschicht überpudert war. Dann blinzelte ich und die Welt rückte wieder an ihren richtigen Platz.
Es war kein Schnee. Es war Salz.
»Weißt du, wie teuer Salz ist?«, fluchte Mutter. »Weißt du, was uns das hier kostet? Wie konntest du das tun, Constanze?«
Meine Großmutter verschränkte die Arme. »Zum Schutz«, gab sie trotzig zurück.
»Schutz? Wovor? Vor Kobolden?« Mutter lachte bitter auf. »Was ist mit dem Schuldturm, Constanze? Warum beschützt du uns nicht davor?«
Mir sank das Herz, als ich sah, dass Constanze irgendwie in der vorangegangenen Nacht Säcke voller Salz aus dem Keller heraufgeschafft und ausgeleert hatte. Mehrere Pfund – der Vorrat für mehrere Monate. Das war mehr als die Linien vor jeder Türschwelle und jedem Eingang, die wir während der letzten Nächte des Jahres zusammen gezogen hatten. Meine Großmutter hatte das Salz nicht als Vorsichtsmaßnahme verschüttet, sondern als Garantie.
Da sah mich Mutter bei der Tür. »Ach, Liesl«, sagte sie heiser. »Ich habe gar nicht gehört, dass du reingekommen bist.« Sie senkte den Kopf und suchte in der Tasche ihrer Schürze nach etwas, das ich nicht sehen konnte. Erst als das Licht der Morgensonne auf ihre Wange fiel, erkannte ich, dass sie weinte.
Ich war wie vom Donner gerührt. Mutter, die mehr als zwanzig Jahre unter den Schikanen und verbalen Angriffen von Constanze gelitten hatte, weinte niemals vor den Augen ihrer Kinder oder ihrer Schwiegermutter. Es war eine Frage des Stolzes für sie, auch die schlimmsten Exzesse meines Vaters und meiner Großmutter stoisch zu ertragen, aber das hier hatte sie gebrochen. Sie schluchzte wegen des verschütteten Salzes. Tränen der Qual und der Angst.