Inhalt

MEISTER DES WEIMARER KINOS
Joe May revisited

Hans-Michael Bock
JOE MAY
Stationen einer Karriere

Marie-Theres Arnbom
KEIN PHÖNIX AUS DER ASCHE
Joe Mays schillernde Familie

Thomas Brandlmeier
DIE HERRIN DER WELT UND DER »HERR DER WELTEN«
Joe May als Serien-Hersteller

Peter Lähn
VERITAS VINCIT! DIE WAHRHEIT SIEGT IM KINO
Die turbulente Zeit der Familie May im Zeichen der Ufa

Jürgen Kasten
GESCHICHTE EINER MESALLIANCE
Joe May und die Ufa 1918–1925

Werner Sudendorf
PRUNKFILM, GROSSFILM, MILLIONENFILM
Joe Mays Filmfabrik und seine Architekten

Catherine A. Surowiec
VON VORHÄNGEN UND SÄULEN ZU EPISCHEN SPEKTAKELN
Die Ausstattung der Welten bei Joe May

Evelyn Hampicke
VON KLEIDERN, UNIFORMEN, SCHMUCK UND PELZEN
Der Regisseur Joe May und die Kostüm-Frage

Michael Töteberg
DIE SENSIBLE DICHTERIN UND DER PRAKTIKER
Kollaborateure: Thea von Harbou und Fritz Lang

Maja Figge
ORIENTALISTISCHE VERSCHIEBUNGEN ZWISCHEN DEUTSCHLAND UND INDIEN
Fritz Langs Remakes DER TIGER VON ESCHNAPUR und DAS INDISCHE GRABMAL (1958/59)

Geoff Brown
DER HERR DER WELT?
Joe Mays Abenteuer in Großbritannien

Jan-Christopher Horak
IN DER HORROR-KÜCHE
Joe May bei Universal

Register

Dank

Autoren

Mit Unterstützung der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg sowie von Bundesarchiv, Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Berlin, und DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt und Wiesbaden

Abbildungen: Bundesarchiv (3); CineGraph, Hamburg (4); Cinémathèque française, Paris (1); Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Berlin (14); DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt und Wiesbaden (9); Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden (1); Geoff Brown, London (1); Maja Figge, Berlin (3); Theaterkunst GmbH, Berlin (5)

Übersetzung: Andrea Kirchhartz (Geoff Brown, Catherine Surowiec)

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Print ISBN 978-3-86916-863-0
E-ISBN 978-3-86916-865-4

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG
München 2019
Levelingstr. 6a
81673 München
www.etk-muenchen.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagentwurf: Thomas Scheer / Konzeption: Dieter Vollendorf
Umschlagabbildung: Veritas vincit (1918/19, Joe May) (DFF – Deutsches
Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt und Wiesbaden)

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Filmpionier und Mogul
Das Imperium des Joe May

Redaktion
Swenja Schiemann und Erika Wottrich

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Cover

MEISTER DES WEIMARER KINOS
Joe May revisited

»Joe May. Regisseur und Produzent« war der Titel des 1991 in der edition text + kritik erschienenen CineGraph Buchs zum 3. Internationalen Filmhistorischen Kongress »Agenten, Abenteuer und Amouren« im November 1990. Warum jetzt also wieder Joe May? Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch keineswegs um eine Neuauflage, sondern um eine Neubetrachtung.

In den vergangenen 28 Jahren hat sich in der filmhistorischen Forschung einiges getan. Neue Erkenntnisse wurden gewonnen, und Quellen sind – nicht nur durch die Digitalisierung – z.T. zugänglicher geworden. Aber die scheinbar leichte digitale Verfügbarkeit von einigen Filmen täuscht auch immer wieder über die Problematik hinweg, dass viele andere bereits verloren sind oder in Gefahr sind, verloren zu gehen. Dies betrifft oft die unbekannteren oder in Vergessenheit geratenen Titel. Und dazu gehören auch viele Filme von Joe May. Zwar wird er in Publikationen über das Weimarer Kino immer mal wieder nebenbei erwähnt, und einige wenige seiner Werke wie beispielsweise IHRE MAJESTÄT DIE LIEBE (1930/31) und ASPHALT (1928/29) laufen bisweilen in Retrospektiven, die Aufmerksamkeit der filmhistorischen Forschung entspricht aber in keiner Weise seiner Bedeutung für das Weimarer Kino.

Genau in dieser Ambivalenz begründete sich für uns die Notwendigkeit, die Person und das Werk von Joe May erneut in den Fokus zu nehmen. Ein weiterer Anlass war der 100. Jahrestag der Gründung der Weimarer Republik, fiel doch Mays bedeutendste Schaffensperiode in die Zeit der ersten deutschen Demokratie, und er steht sowohl als Person als auch mit seinen Filmen beispielhaft für diese vielfältige und äußerst kreative Ära der deutschen Kinematografie. In der Tradition von CineGraph, zu Unrecht vergessene Personen wieder ins Bewusstsein zu rücken und die Spirale des Vergessens, die durch den Nationalsozialismus und die Verdrängung vor allem jüdischer Künstler forciert wurde, zurückzudrehen, haben sich das X. cinefest – Festival des deutschen Film-Erbes und der 31. Internationale Filmhistorische Kongress mit dem Titel »Meister des Weimarer Kinos – Joe May und das wandernde Bild« dieser Aufgabe im November 2018 gestellt.1 Der vorliegende Band versammelt die (überarbeiteten) Vorträge, die beim Kongress gehalten wurden. Damit soll die Filmgeschichte weiter ausgeleuchtet, neue Erkenntnisse hinzugefügt werden.

Zur Einführung gibt Hans-Michael Bock im ersten Beitrag einen Überblick über das Leben und Schaffen Joe Mays und sein Umfeld, zu dem neben vielen Mitarbeitern2 auch seine Familie zählte. Seine Ehefrau Mia war nicht nur Hauptdarstellerin in vielen seiner Filme, sondern stand ihm auch in geschäftlichen Dingen zur Seite. Auch Tochter Eva war Schauspielerin.

Joe May war ein »Filmpionier« und wurde zu einer Zentralfigur des Weimarer Kinos, zu einem Mogul, der die Vielfalt kinematografischer Aktivitäten in sich vereinte; er war Regisseur, Autor, Produzent, Atelierbetreiber, Techniker und Visionär. Seit 1911 im Filmgeschäft tätig, baute er eine eigene Produktionsfirma auf, war schnell mit seriellen Formaten erfolgreich und hatte bereits Anfang der 1920er Jahre ein Imperium geschaffen, das ein Atelier in Berlin-Weißensee und ein Außengelände bei Woltersdorf umfasste. Dabei war ihm, der 1880 als Julius Otto Mandl geboren wurde, das Filmgeschäft nicht unbedingt in die Wiege gelegt, wie Marie-Theres Arnbom in ihrem Beitrag über die Familie Mandl / May aufzeigt.

Mit den seriellen Formaten, die von Detektiv-Serien um die Ermittler Joe Deebs und Stuart Webbs über die zumeist melodramatischen Mia May-Serien bis zur acht-teiligen Abenteuerserie DIE HERRIN DER WELT (1919) reichten, beschäftigt sich Thomas Brandlmeier in seinem Beitrag »Joe May als Serien-Hersteller«. Noch während des Kriegs wuchs schnell die Bedeutung der Produktionsfirma May-Film GmbH für den deutschen Filmmarkt und machte sie für die neu gegründete Ufa interessant. Die Verstrickungen der beiden Firmen stellen die Beiträge von Peter Lähn und Jürgen Kasten dar.

In seiner Filmfabrik entdeckte und beschäftigte Joe May vor und hinter den Kulissen eine große Anzahl an Mitarbeitern, deren Karrieren und Werk einer eigenen Betrachtung wert sind. Werner Sudendorf konzentriert sich in seinem Artikel auf die Architekten Erich Kettelhut und Martin Jacoby-Boy, während Catherine Surowiec Ausstattung und Design u.a. von Paul Leni genauer in Augenschein nimmt. Evelyn Hampicke widmet sich den häufig nur am Rande beachteten Kostümbildnern.

Im Gegensatz zu Joe May kennt heute jeder, der sich auch nur ein wenig mit Filmgeschichte beschäftigt, den Namen Fritz Lang. Paradox, denn sein Handwerk lernte Lang bei May. Diese ersten Filmarbeiten Langs stehen bei Michael Töteberg im Fokus. Maja Figge beleuchtet, wie prägend diese frühen Erfahrungen für Lang auch noch in den 1950er Jahren waren, als er von Artur Brauner engagiert wurde, die Remakes DER TIGER VON ESCHNAPUR und DAS INDISCHE GRABMAL zu drehen.

Joe Mays internationale Arbeiten erhielten auch von Zeitgenossen wenig Aufmerksamkeit. Geoff Brown zeichnet Mays »Abenteuer in Großbritannien« nach, indem er dessen fast unsichtbaren Spuren auf der britischen Insel folgt. Dabei skizziert Brown auch Mays Experimente im frühen Tonfilm und mit Synchronisationstechniken.

Bereits in den 1920er Jahren wurde in der Presse immer mal wieder spekuliert, dass Joe May nach Hollywood gehen würde. Doch erst die politischen Entwicklungen in den 1930er Jahren zwangen ihn zu diesem Schritt. Im November 1933 verließ er mit seiner Frau Europa. Die Hoffnungen, die er im Gepäck gehabt haben mag, wurden nicht erfüllt. Jan-Christopher Horak zeigt aber auch, inwieweit die Auffassung, Mays Schaffen im Exil sei ausschließlich vom Scheitern geprägt, eine einseitige Darstellung ist. Manche von Mays amerikanischen Filmen können durchaus als erfolgreich angesehen werden, wovon Joe May allerdings nicht profitieren konnte.

Auch mit diesem Band ist die Forschung um die May-Film-Produktionen nicht abgeschlossen. Es bleiben weiterhin große Lücken, die sich besonders offenbaren, wenn der patriarchale Blickwinkel auf die Geschichte und der Fokus auf die männlichen Protagonisten verlassen wird. Mia May und Eva May wurden in der Filmforschung bisher eher vernachlässigt. Wir hoffen, dass das vorliegende Buch über Joe May auch Anregungen zu einer weiteren Beschäftigung mit Mia und Eva May gibt, um damit weitere Personen aus der Spirale des Vergessens zu befreien.

Darüber hinaus wäre es wünschenswert, dass einige von Mays historisch wichtigen Filmen wie VERITAS VINCIT als erster deutscher Großfilm, das Drama TRAGÖDIE DER LIEBE (mit Marlene Dietrich in einer ihrer ersten Rollen), seine frühen Tonfilmkomödien IHRE MAJESTÄT DIE LIEBE und …UND DAS IST DIE HAUPTSACHE!? sowie die deutsche Version der »Joe May Produktion der Ufa« DIE LETZTE KOMPAGNIE (in der originalen Sprachfassung) restauriert und für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Swenja Schiemann, Erika Wottrich

Hamburg, im Sommer 2019

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München: edition text + kritik 1991

1 Zum Thema des Festivals erschienen im November 2018 bereits das cinefest-Katalogbuch »Meister des Weimarer Kinos. Joe May und das wandernde Bild« (ISBN: 978-3-86916-648-3), sowie im Juli 2019 die Blu-ray Disc und die DVD DAS INDISCHE GRABMAL (1921) (ASIN: B07N3RHJ1Y). — 2 Bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Substantiven und Pronomen wird in diesem Band die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe sind ausschließlich aufgrund besserer Lesbarkeit gewählt und gelten grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform beinhaltet keine Wertung.

Hans-Michael Bock

JOE MAY
Stationen einer Karriere

Julius Otto Mandl, Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie, wird am 7. November 1880 in Wien geboren. Er absolviert eine Ausbildung an der Handelshochschule Leipzig und der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin, verkauft Autos und betreibt einen Rennstall. 1911 geht er mit seiner Frau, der Operettendiva Mia May (Hermine Pfleger, geb. am 2. Juni 1884 in Wien), nach deren Künstlernamen er sich fortan Joe May nennt, nach Hamburg. Dort kommt er mit einem Filmakt für die Revue »Rund um die Alster« im Neuen Operetten-Theater zum Film.

Sie ziehen daraufhin nach Berlin, wo Joe May für die neu gegründete Continental-Kunstfilm im November 1912 mit der Liebestragödie IN DER TIEFE DES SCHACHTES sein Kino-Debüt als Regisseur und Autor gibt. Star des Films ist Mia May, die damit von der Operette zum Kino wechselt. Joe May hat Erfolg mit Melodramen, Spionage- und Kriminalfilmen, sodass bereits 1913 von einer »Abteilung May« der Continental die Rede ist. Er konzipiert die Reihe »May’s Preisrätsel im Film«. Gleichzeitig kommt der erste Film mit dem Detektiv Stuart Webbs (dargestellt von Ernst Reicher) in die Lichtspielhäuser. Im folgenden Jahr gründen May und sein Star die Stuart Webbs Film-Company May & Reicher. Nach ersten Erfolgen (DAS PANZERGEWÖLBE, 1914) muss May in Wien seiner Wehrpflicht im Ersten Weltkrieg nachkommen, kann jedoch bald nach Berlin zurückkehren.

Nach dem Bruch mit Reicher eröffnet May im Mai 1915 in der Friedrichstraße das Büro der May-Film GmbH, für die der Maler und Filmmacher Paul Leni ein markantes Markenzeichen entwirft. Es entstehen neben einer Serie mit dem Gentleman-Detektiv Joe Deebs (u.a. gespielt von Max Landa, Harry Liedtke, Heinrich Schroth) die ersten Melodramen der Mia May-Serie. May sammelt um sich zahlreiche junge Talente als Autoren und Regisseure, denen er z.T. die Durchführung einzelner Serien-Werke überlässt. Dazu gehören Karl Gerhardt, Uwe Jens Krafft und Harry Piel sowie die Autoren Richard Hutter, Ruth Goetz, Fritz Lang und Thea von Harbou.

1918 übernimmt die im Vorjahr mit staatlicher Unterstützung gegründete Universum-Film AG (Ufa) die May-Film, die allerdings unter dem eigenen Namen weiterarbeitet. Im Sommer – noch während des Kriegs – entsteht die Monumental-Trilogie VERITAS VINCIT (DIE WAHRHEIT SIEGT!), mit acht Akten doppelt so lang wie die meisten anderen Filme der Zeit. In seiner Struktur mit drei Episoden – Altertum, Mittelalter, Gegenwart – lehnt sich der Film an D. W. Griffiths Meisterwerk INTOLERANCE (1916, USA) an, das allerdings erst 1924 in Deutschland herauskommt; May hat es vermutlich bei einem seiner Besuche im neutralen Kopenhagen gesehen. Der »Großfilm« bringt der Ufa – ebenso wie die meisten der anderen 14 Filme, die May für die Ufa produziert – Verluste ein. Daraufhin trennt May seine Firma im März 1919 wieder von der Ufa, mit der er allerdings für den Vertrieb und per Kredit mit Gewinnteilung weiterhin verbunden ist.

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Joe May (Mitte) und Mitarbeiter während der Dreharbeiten zu Die Herrin der Welt (1919, Joe May): Erich Kettelhut (obere Reihe, 3. von rechts), Otto Hunte (rechts darunter mit Uhrkette), Martin Jacoby-Boy (2. Reihe von unten, 2. von links), Mia May (rechts daneben)

Die May-Film arbeitet in Berlin-Weißensee in der kurz vor dem Krieg von Jules Greenbaum (Vitascope-Film) errichteten Atelier-Anlage (zwei Glashäuser, Kopierwerk, Werkstätten), die May 1922 ganz erwirbt. Er erweitert sein »Studio-Imperium«, indem er am Kalksee zwischen Woltersdorf und Rüdersdorf Ländereien erwirbt und unter Leitung des Designers und Architekten Martin Jacoby-Boy zum May-Film-Gelände mit z.T. massiven Außenbauten ausbauen lässt. Die abwechslungsreiche Landschaft mit See, sandigen Ebenen, Hügeln und Wald nutzt er für seine weltumspannende Abenteuerserie DIE HERRIN DER WELT, zu der die Dreharbeiten teilweise mit anderen Regisseuren (Uwe Jens Krafft, Karl Gerhardt) unter Mays Oberleitung Mitte 1919 beginnen. Die acht – in sich selbständigen und stilistisch unterschiedlichen – Teile über die Rache einer Frau an ihrem Schänder haben zur Jahreswende 1919/20 im Wochenabstand in Berlin Premiere.

Im Frühjahr 1921 wird mit amerikanischem Kapital die Europäische Film Allianz GmbH (EFA) als Konzern gegründet. Als wichtigste künstlerische Exponenten werden Ernst Lubitsch und Joe May engagiert. Im Frühjahr / Sommer 1921 entsteht für die EFA der aufwendige Zweiteiler DAS INDISCHE GRABMAL. Das Drehbuch haben die Karl May-Fans Thea von Harbou und Fritz Lang, die zu Joe Mays Mitarbeiterstab gehören, nach einem abenteuerlichen Roman Harbous verfasst. Neben Innenaufnahmen in den Jofa-Ateliers Berlin-Johannisthal und dem May-Atelier Weißensee werden die Außenaufnahmen vor den riesigen, wetterfesten Bauten auf dem May-Film-Gelände Woltersdorf gedreht. Für beeindruckende Naturaufnahmen reist ein Aufnahmeteam ins Tatra-Gebirge. Ein Besuch des Reichspräsidenten Friedrich Ebert am 25.8.1921 in Woltersdorf unterstreicht die Bedeutung von Joe Mays Unternehmen für die Weimarer Republik.

Im Spätherbst wird die Leitung der Firma neu gestaltet: May und Hermann Fellner wechseln aus der Direktion in den Aufsichtsrat, Mays Neffe Leo Mandl übernimmt die Geschäftsführung der May-Film. Auf die galoppierende Inflation und die Einführung der Rentenmark reagiert die Firma 1923 durch eine Umstrukturierung des Konzerns zur May-Film AG mit den Tochtergesellschaften May-Film GmbH, Fema-Film-Ateliers GmbH, May Kopieranstalt GmbH und Filmstadt Woltersdorf-Grundstücks-GmbH. Besitzer der GmbH-Anteile ist die May-Film AG. Die folgenden Produktionen werden durch wechselnde Firmen (National-Film, Ufa, Phoebus) vertrieben.

Nachdem May 1922/23 mit TRAGÖDIE DER LIEBE, einem mehrteiligen Gesellschafts-Krimi zwischen Ballsaal und Unterwelt mit Mia May und Emil Jannings, einen Erfolg feiert, gehört im Winter 1923/24 zu den ersten Produktionen der May AG die Rokoko-Komödie DER GEHEIME AGENT unter der Regie von Erich Schönfelder. Es ist der letzte Film der Tochter Eva May (geb. 29. Juni 1902 in Wien als Eva Maria Pfleger), die sich am 10. September 1924 mit 22 Jahren nach einer kurzen, bewegten Karriere mit 30 Filmen und drei geschiedenen Ehen (mit den Regisseuren Manfred Liebenau, Lothar Mendes und Manfred Noa) in Baden bei Wien erschießt. Darauf beendet Mia May ihre Filmkarriere.

Auf den internationalen Markt zielt Mays Ufa-Produktion DER FARMER AUS TEXAS. Die Gesellschaftssatire nach dem Bühnenstück »Kolportage« (1924) von Georg Kaiser entsteht 1924/25 im Atelier Weißensee und in Schweden. Danach gerät die May-Film in finanzielle Turbulenzen. Im Juni 1926 übernimmt Manfred Liebenau, Eva Mays Ex-Gatte und Inhaber der Ring-Film, die Fabrikationsleitung der May-Film. Für die Phoebus-Film entstehen mehrere Gesellschaftsfilme, Joe May inszeniert DAGFIN u.a. in der Schweiz und an der Riviera. Im Herbst 1926 schwirren Gerüchte durch die Fachpresse, May wolle nach Hollywood gehen. Anfang 1927 wird Joe May in Rom von Mussolini empfangen, um über eine Intensivierung der deutsch-italienischen Film-Zusammenarbeit zu verhandeln.

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Heimkehr (1928, Joe May): Joe May instruiert Gustav Fröhlich

Während die May-Film AG 1927–29 offiziell ruht, übernimmt Joe May im Sommer 1927 die Leitung der Deutsche Lichtspiel-Syndikat AG (D.L.S.), einer genossenschaftlichen Vereinigung der Kinobesitzer als Gegengewicht zur Ufa. Im Winter 1927/28 ist May bei der unabhängigen Nero-Film AG Produktionsleiter des Hanns Schwarz-Films DIE DURCHGÄNGERIN. Im Dezember 1927 engagiert der Produzent Erich Pommer – den die neue Ufa-Direktion aus Hollywood zurückgeholt hat – Joe May als Regisseur für das erste Projekt der Herstellungsgruppe »Erich-Pommer-Produktion der Ufa«: HEIMKEHR, ein kammerspielartiges Zeitstück nach der aktuellen Kriegsheimkehrer-Erzählung »Karl und Anna« des Bestsellerautors Leonhard Frank. Mitte 1928 verlängert die Ufa den Pachtvertrag für das Atelier in Weißensee nicht, May muss Grundstück und Gebäude an die »Wäscherei und Färberei H. Ihde Nachf.« verkaufen.

May, der Hollywood besucht hat, um sich über die neue Tonfilm-Technik zu informieren, dreht Ende 1928 in den Ufa-Ateliers Neubabelsberg seinen letzten Stummfilm, ASPHALT, für den u.a. eine großstädtische Straßenkreuzung im Studio gebaut wird. Die Drehbücher seiner Ufa-Filme schreibt May unter dem Pseudonym Fred Majo, wie auch (zusammen mit Hans Székely) für Hanns Schwarz’ UNGARISCHE RHAPSODIE, der zugleich als erster Film der Pommer-Ufa-Produktion in einer Tonfassung herauskommt.

1928/29 beschäftigt sich May, der sich stets auch für die technische Entwicklung interessiert, in Zusammenarbeit mit den Ingenieuren Dénes von Mihaly und Dr. Stille mit der Fernseh-Technik und der elektrischen Bildaufzeichnung auf Stahldraht. Nach Informationsbesuchen 1929/30 in London und Paris äußert sich May über die Perspektive des Tonfilms auf europäischer Ebene: entweder Synchronisation oder Mehrsprachen-Versionen. Für die Synchronisation wird zu der Zeit oft das »Czerny-May-Verfahren« benutzt, an dessen Patent Joe May beteiligt ist. Im Winter 1929 entstehen – jeweils als »Tonfilm der Joe May-Produktion der Ufa« – Gustav Ucickys Operette DER UNSTERBLICHE LUMP und Kurt Bernhardts Preußen-Ballade DIE LETZTE KOMPAGNIE, von denen auch englische Synchronfassungen hergestellt werden.

Seinen ersten eigenen Tonfilm dreht May im Herbst 1930 für die D.L.S.: IHRE MAJESTÄT DIE LIEBE, auch in französischer Sprachversion. Die turbulente Zeitkomödie entsteht unter Einsatz von zwei technischen Neuerungen: einer geräuschlos arbeitenden Kamera, die es ermöglicht, genauso beweglich zu arbeiten wie beim Stummfilm, und einem geräuschlosen Lichtwagen für Freiaufnahmen. Im November 1931 hat HER MAJESTY LOVE in New York Premiere, eine von William / Wilhelm Dieterle für Warner Bros.-First National in Hollywood gedrehte englische Version von IHRE MAJESTÄT DIE LIEBE, mit W. C. Fields in einer Hauptrolle.

Nach seiner zweiten Tonfilm-Komödie … UND DAS IST DIE HAUPTSACHE!?, die für die Ufa entsteht, dreht May im August bis Oktober 1931 in den Studios Pathé-Natan Paris-Joinville in französischer und deutscher Version PARISMÉDITERRANÉE / ZWEI IN EINEM AUTO, die letzten Produktionen der May-Film AG. Diese wird am 16.2.1932 auf Beschluss der Generalversammlung aufgelöst. Die Premiere von Joe Mays EIN LIED FÜR DICH, einer Cine-Allianz-Produktion für die Ufa, mit dem polnischen Startenor Jan Kiepura in der Hauptrolle, findet im April 1933 in Berlin statt. Co-Regisseur bei der französischen Version TOUT POUR L’AMOUR ist Henri-Georges Clouzot.

Joe May, der zur Zeit des Machtantritts der Nazis im europäischen Ausland arbeitet, muss im Oktober 1933 in London die Regie von TWO HEARTS IN WALTZ TIME an Carmine Gallone abgeben, um in Paris DACTYLO SE MARIE zusammen mit René Pujol zu inszenieren.

Am 29.11.1933 reisen Joe und Mia May mit der »Majestic« von Cherbourg nach New York. Es ist der Beginn ihres Exils in den USA. Erich Pommer – inzwischen Produzent für die Fox Film Corp. – bietet May 1934 an, das Musical »Music in the Air« zu verfilmen. Der gleichnamige Film – nach einem Drehbuch u.a. von Billy Wilder und Robert Liebmann – ist der erste Hollywood-Film unter maßgeblicher Beteiligung von Emigranten aus Nazi-Deutschland. Mays Gerichtsmelodram CONFESSION für Warner Bros. ist 1937 das – z.T. bildgetreue – Remake von Willi Forsts deutschem Pola Negri-Film MAZURKA (1935).

Joe May, von seiner Position im Weimarer Kino gewohnt, der »allmächtige Boss« zu sein, hat Probleme, sich in das arbeitsteilige und hierarchisch gegliederte Studio-System in Hollywood einzuordnen. 1938–41 verlegt er sich auf die routinierte Inszenierung von Horror- und B-Filmen für Universal Pictures, die zu seinen erfolgreichsten Exil-Filmen werden. THE HOUSE OF FEAR (1939) ist ein Ton-Remake von THE LAST WARNING, den Mays ehemaliger Szenenbildner Paul Leni 1928 in Hollywood gedreht hat. Für die Thriller THE INVISIBLE MAN RETURNS (den May selbst inszeniert) und THE INVISIBLE WOMAN (1940, A. Edward Sutherland) entwickelt er mit dem deutschen Fantasy-Spezialisten Kurt Siodmak die Stories. Im Herbst 1943 wird May beim Anti-Nazi-Film THE STRANGE DEATH OF ADOLF HITLER nach zwei Wochen Drehzeit durch James P. Hogan als Regisseur ersetzt. Im Winter 1943/44 ist die Kriegs-Komödie JOHNNY DOESNT LIVE HERE ANYMORE Mays letzte Film-Regie. Für Raoul Walshs antifaschisten Kriegsfilm UNCERTAIN GLORY (1944) liefert er mit László Vadnay für Warner Bros.-First National die Story. 1948 inszeniert May noch kurze Pilotfilme für »Retribution«, eine geplante TV-Krimiserie, die jedoch nicht gesendet wird. In Zusammenarbeit mit Samuel R. Golding ist die Story für das Piraten-Musical BUCCANEERS GIRL 1949 Mays letzte Arbeit für den Film.

Das Ehepaar May eröffnet in Los Angeles – finanziert von Kollegen wie Billy Wilder – das ›Wiener‹ Restaurant »The Blue Danube«, das jedoch nach wenigen Wochen schließen muss. Danach sind Joe und Mia May finanziell auf die Unterstützung von Freunden angewiesen. Am 29. April 1954 stirbt Joe May in Hollywood, wo Mia May bis zu ihrem Tod am 28. November 1980 lebt.

Marie-Theres Arnbom

KEIN PHÖNIX AUS DER ASCHE
Joe Mays schillernde Familie

Eine teilweise Übersiedelung in die Großstadt erfolgt, das Geschlecht verzweigt sich weiter, verschwägert sich vielfach in oft vorteilhafter Weise; Bankiers, Offiziere, Gelehrte, Landwirte gehen aus ihm hervor; auch an Originalen fehlt es nicht, in denen der Typus des jüdischen Patriarchen und des Aristokraten, des Agenten und des Kavaliers sich eigenartig vermischen; manche der jüngeren und jüngsten Sprosse unterscheiden sich von den Abkömmlingen altadeliger Geschlechter höchstens durch ein Mehr an Witz und die rasseeigentümliche Neigung zur Selbstironie; auch unter den Frauen und Mädchen – neben solchen, die in Aussehen und Gehaben ihren Ursprung nicht verleugnen wollen oder können – erscheint das Sportfräulein und die Modedame; und es versteht sich von selbst, daß in den Regionen, an denen ich hier, den Jahrzehnten vorauseilend, flüchtig vorüberstreife, der Snobismus, die Weltkrankheit unserer Epoche, ausnehmend günstige Entwicklungen finden mußte.

Arthur Schnitzler1

Arthur Schnitzler, der mit der Familie Mandl verwandt war, hält die Fäden in der Hand. Niemand schildert die Atmosphäre, das Leben, die Gespräche, die Gedanken des wiener jüdischen Großbürgertums so treffend, so pointiert, so anschaulich wie er. Kein Wunder, stammt er doch aus demselben Milieu, hat doch seine Familie dieselbe Entwicklung durchgemacht.

Das Schicksal der Familien jüdischen Ursprungs verlief in vielen Punkten parallel – nicht zuletzt bedingt durch äußere Umstände, vor allem eine Gesetzgebung, die der jüdischen Bevölkerung seit der Regierung von Joseph II. immer größere Zugeständnisse gewährte und 1867 endlich zur vollen bürgerlichen Gleichstellung führte. Plötzlich standen alle Studienrichtungen und die verschiedensten Berufe offen. Neben industriellen Pioniertaten und Erfindungen ermöglichten diese Veranstaltungen eine intensive Hinwendung zu Kultur und Wissenschaft – in Zeiten des anwachsenden Antisemitismus boten gerade Literatur und Kunst Wirkungsbereiche, die zumindest auf den ersten Blick von der katholischen Tradition losgelöst waren.

Die Symbiose zwischen Wirtschafts- und Bildungsbürgern wurde geradezu perfekt. Die Kinder der Aufsteiger, die, aus Böhmen und Mähren nach Wien zugewandert, faktisch aus dem Nichts ungeheure Vermögen schufen und maßgeblich an der industriellen und wirtschaftlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts beteiligt waren, diese Kinder verfügten einerseits über die nötigen finanziellen Mittel, sich ausgiebig mit Kultur und Wissenschaft zu befassen. Andererseits nutzten sie intensiv das breite Angebot an Bildungsmöglichkeiten, das die Haupt- und Residenzstadt Wien bot. Dies beschränkte sich bei weitem nicht nur auf die herkömmliche Schul- und Universitätsbildung; vor allem das enorme Angebot an Musik, Theater, Literatur, Museen, die lebendige Diskussion über Kunst und Kultur, die wohlsortierten Bibliotheken der mit Kunstschätzen ausgestatteten Haushalte bildeten ein Umfeld, das den Blick schärfte, den Horizont erweiterte und für Kunst und Kultur sensibilisierte.

»Einzig gegenüber der Kunst fühlten in Wien alle ein gleiches Recht, weil Liebe zur Kunst in Wien als gemeinsame Pflicht galt, und unermeßlich ist der Anteil, den die jüdische Bourgeoisie durch ihre mithelfende und fördernde Art an der Wiener Kultur genommen. Sie waren das eigentliche Publikum, sie füllten die Theater, die Konzerte, sie kauften die Bücher, die Bilder, sie besuchten die Ausstellungen und wurden mit ihrem beweglicheren, von Tradition weniger belasteten Verständnis überall die Förderer und Vorkämpfer alles Neuen. Fast alle großen Kunstsammlungen des neunzehnten Jahrhunderts waren von ihnen geformt, fast alle künstlerischen Versuche nur durch sie ermöglicht; ohne das unablässige stimulierende Interesse der jüdischen Bourgeoisie wäre Wien dank der Indolenz des Hofes, der Aristokratie und der christlichen Millionäre, die sich lieber Rennställe und Jagden hielten als die Kunst zu fördern, in gleichem Maße künstlerisch hinter Berlin zurückgeblieben wie Österreich politisch hinter dem Deutschen Reich. Wer in Wien etwas Neues durchsetzen wollte, wer als Gast von außen in Wien Verständnis suchte, war auf diese jüdische Bourgeoisie angewiesen.« So weit Stefan Zweig in »Die Welt von Gestern«,2 der hier ohne Zweifel genau den Punkt trifft. Dennoch zeigt seine Sicht der Dinge nicht alle Facetten, nicht alle Details, die wir aus unserer zeitlich distanzierteren Position vielleicht besser zu erkennen und miteinander in Verbindung zu bringen vermögen.

Der Begriff der »jüdischen Bourgeoisie« ist überaus diffizil. Worauf gründet sich diese Zuordnung? Auf die Religion? Ein Bruchteil der zweiten und dritten Generation war wirklich noch religiös. Auf die Abstammung? Dies wäre eine Übernahme der nationalsozialistischen Diktion, derer ich mich klarerweise nicht bedienen möchte. Auf die Selbsteinschätzung? Sie kann wohl nur von Familie zu Familie, von Generation zu Generation, ja von Person zu Person bestimmt werden und bietet ebenfalls keinen Anhaltspunkt zur Verallgemeinerung.

Die Familie Mandl,3 der auch Joe und Mia May angehören, fällt in vielerlei Hinsicht aus dem »typischen« Bild der aufstrebenden jüdischen Familien heraus, stammt sie doch aus einer alteingesessenen Rabbiner-Dynastie im ungarischen Pressburg und nimmt von dort aus den Weg in verschiedene Teile der Habsburger-Monarchie, typisch für die geografische Mobilität und das daraus resultierende europaweite familiäre Netzwerk.

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Börse für landwirtschaftliche Produkte in Wien, um 1900

Leopold Mandl: Von Triesch nach Wien

Der Arzt Leopold Mandl wurde 1796 in Triesch in Mähren geboren, praktizierte als Arzt zuerst einige Jahre im ungarischen Veszprém, nördlich des Plattensees gelegen, und dann im damals ebenfalls ungarischen Schlaining, heute österreichisches Burgenland, das zu den bedeutenden jüdisch geprägten Orten dieser Region zählt. 1870 starb er in Wien – drei Jahre, nachdem die Juden endlich volle und gleiche Bürgerrechte erhalten hatten – der Höhepunkt des liberalen Zeitalters war erreicht. Mit seiner Frau Julie Sterk hatte er sechs Kinder: Zwei seiner Söhne studierten ebenfalls Medizin – ihre Lebenswege gestalteten sich aber so unterschiedlich, dass man kaum glauben möchte, sie waren Brüder: Ferdinand und Ignaz. Drei weitere Söhne – Ludwig, Bernhard, Sigmund – wurden Kaufleute, wobei diese Bezeichnung nicht nur ungenau ist, sondern auch nicht besonders viel über die Branche und die Art der Waren aussagt.

Die Berufswahl der Söhne Leopolds ist signifikant für die jüdische Assimilation in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Wie sich gezeigt hat, wurden auch viele andere notwendige Voraussetzungen erfüllt: die Übersiedlung aus der Provinz in die Haupt- und Residenzstadt Wien, die Ehe mit einer Jüdin aus vermögendem Hause, die Ausübung eines kaufmännischen oder freien Berufs und die Eingliederung in die Gesellschaft. Wien galt zur damaligen Zeit als Anziehungspunkt für Bürger aus Ungarn und den Kronländern, unter ihnen natürlich auch viele Juden. Besonders in den östlichen Kronländern war für Juden eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation schwer zu erreichen. Sie strebten in die Metropole und waren bald ein wichtiger Teil des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens. Leopolds Kinder sind dafür das beste Beispiel.

Die Kaufleute Ludwig, Bernhard und Sigmund Mandl

Die kaufmännisch tätigen Söhne hielten zusammen. Ludwig und der fünf Jahre jüngere Bernhard gründeten 1854 gemeinsam eine Getreidegroßhandlung mit Sitz in der Leopoldstadt, dem 2. Wiener Gemeindebezirk. In erster Linie wurde mit Hafer und Mais gehandelt, doch auch Roggen und Weizen gehörten zu ihren Produkten. Das Geschäft weitete sich aus: Sowohl Ludwig als auch Bernhard haben ihren Familien ein Vermögen von jeweils über 2 Millionen Kronen hinterlassen – ein Zeichen für großen Erfolg.

Ludwig Mandl war ein typisches Kind seiner Zeit – eine Branche war nicht genug, neue Herausforderungen wurden gesucht und gefunden. In seinem Fall war es das Munitionsgeschäft. Gemeinsam mit seinem jüngsten Bruder Sigmund trat er als offener Gesellschafter in die Fabrik von Berthold Bass in Wien-Hernals ein – hergestellt wurden Patronen. Diese Beteiligung im Jahre 1883 legte den Grundstein für den sagenhaften Aufstieg der Familie Mandl im Munitionsgeschäft bis weit ins 20. Jahrhundert.

Julius Mandl aka Filmproduzent Joe May

Ludwigs Bruder Bernhard hatte drei Kinder: Louis, Irene und Julius. Letztgenannter war auf den ersten Blick betrachtet ein typisches Kind reicher Eltern, studierte dies und das, besaß zuerst, wie das – auch auf Selbstauskünften beruhende – »Lexikon des Films« von Kurt Mühsam und Egon Jacobsohn aus dem Jahr 1926 berichtet, ein Blusengeschäft, war Automobil-Vertreter und Rennstallbesitzer, galt als Playboy in der wiener Gesellschaft und brachte das väterliche Vermögen durch. Daraufhin ging er nach Italien und war dort als Vertreter für Feuerzeuge tätig.

Mit 22 Jahren, 1902, nahm sein Leben jedoch eine Wendung. Er lernte die Operetten-Soubrette Hermine Pfleger kennen, im selben Jahr wurde seine Tochter Eva geboren. Pfleger, ihr Künstlername war bisher Herma Angelot, nannte sich nun Mia May, auch ihr Mann nahm einen Künstlernamen an, und so wurde aus Julius Mandl Joe May. Die offizielle Namensänderung erfolgte erst 1921.

Die Mays gingen nach Hamburg, wo Mia in Revuen auftrat und Joe sich 1911 mit einem Kurzfilm für den Zwischenakt der Operette »Rund um die Alster« erste Sporen als Filmregisseur verdiente. Und als solcher wurde er einer der bedeutendsten Filmmacher im Deutschland vor 1933. Er kreierte die Detektivfigur des Stuart Webbs, die den Beginn einer erfolgreichen Serie darstellte. Bereits 1915 gründete Joe May in Berlin eine eigene Produktionsfirma. 1916 wurde er beim Filmen in einem Schützengraben verwundet.

Die May-Film wurde zu einer Schmiede für neue Talente: Thea von Harbou, Fritz Lang und Ewald André Dupont begannen hier ihre Weltkarrieren. Joes Neffe Leo Mandl war ebenfalls im Filmgeschäft tätig – zunächst als Verwaltungsrat der Sascha-Film in Wien. Ab Dezember 1922 leitete er die May-Film, die unter ihm in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde.

Private Schicksalsschläge trafen Joe und Mia – 1924 beging ihre Tochter Eva, die ebenfalls Filmschauspielerin war und in einigen Filmen ihres Vaters mitgewirkt hatte, im Alter von 22 Jahren Selbstmord, nachdem ihre dritte Ehe gescheitert war. Eva May wird uns später im Zusammenhang mit ihrem Cousin Fritz Mandl nochmals begegnen.

Der letzte Film, bei dem Joe May in Deutschland Regie führte, war EIN LIED FÜR DICH (1932/33) mit dem legendären Opernsänger Jan Kiepura. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten gingen Joe und Mia May zunächst nach London, dann Paris und 1934 nach Amerika, doch ließ sich dort an den Erfolg in Deutschland nicht mehr anknüpfen. Joe war zwar in Hollywood beschäftigt, wo er 1934 bei Erich Pommers Produktion MUSIC IN THE AIR Regie führte und u.a. mit Billy Wilder für das Drehbuch verantwortlich war, doch an seine großen Erfolge reichte er nicht mehr heran. 1943 entwickelte er gemeinsam mit Fritz Kortner den Film THE STRANGE DEATH OF ADOLF HITLER, allerdings wurde Joe May schon nach zwei Wochen als Regisseur durch James P. Hogan ersetzt. Nach dem Ende des Krieges gerieten Joe und Mia in eine prekäre finanzielle Situation, der Versuch, ein Restaurant zu führen, scheiterte, sie waren von der finanziellen Unterstützung wohlmeinender Freunde abhängig. 1954 starb Joe May in Hollywood.

Der Aufdecker Ignaz

Joes Onkel Ignaz, geboren 1833 in Veszprém, spielte für die Entwicklung des politischen Radikalismus eine unrühmliche Rolle. Da er trotz abgeschlossenen Medizinstudiums den Arztberuf nicht ausüben wollte, nahm er eine Stellung als Hofmeister bei der Familie Todesco an – einer wichtigen und einflussreichen Familie der jüdisch-großbürgerlichen Finanzaristokratie Wiens.

Ignaz Mandl galt als »Aufdecker«, »Enthüller« und als Lehrer und Mentor des Bürgermeisters Karl Lueger. Er kann als Volksagitator großen Stils bezeichnet werden, der lange Zeit für Lueger einen der wichtigsten und einflussreichsten Mitstreiter darstellte. Cajetan von Felder schätzt in einem Nachruf 1907 die Bedeutung Mandls für die politische Entwicklung hoch ein: »Der Aufstieg Karl Luegers wäre unmöglich gewesen, hätte er nicht dem ältern Freunde und Lehrmeister das System entlehnt. (…) Mandl war Luegers Lehrer; Mandls Einfluß war es zuzuschreiben, daß sich Dr. Lueger von der Mittelpartei losgesagt hat und den Demokraten zuwandte; Mandl zeigte ihm den Weg zur Agitation im großen Stile; Mandl enthüllte ihm das innere Getriebe der Kommunalverwaltung; Mandl war der erste, der den Gegensatz zwischen der damaligen Majorität und dem ›kleinen Mann‹ mit aller Schärfe hervorhob.«4

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Karikatur zu Ignaz Mandl in Die Bombe, 29.10.1876

Ignaz gründet den Verein »Eintracht« – wobei der Name wohl nicht den dort vorherrschenden Ton symbolisieren dürfte. Im Gegenteil: Er war berüchtigt dafür, mit seiner lautstarken Rhetorik gegen den doch noch gewahrten Salonton im politischen Leben der 1870er Jahre zu verstoßen. Bürgermeister Cajetan Felder beschrieb Ignaz als »kleines, schmächtiges Männchen, mit nervös-bewegten Gesichtszügen, funkelnden Augen und heftiger Sprache und Gestikulation.«5

Er wurde für Felder zum Feind Nummer eins. Die »Inkarnation des bösen Prinzips«, ein »unzurechnungsfähiger Manikus«, ein »habitueller Dämon« sind nur einige der Ausdrücke, mit denen er Ignaz Mandl belegte.6 Vielleicht in manchem überzeichnet, doch äußerten sich auch andere Zeitgenossen in derselben Art und Weise.

Ignaz wiederum widmete sein Leben dem Kampf gegen Felder. Am 5.5.1907 war in einem Nachruf in der Neuen Freien Presse zu lesen: »Keine politische oder soziale, ethische oder wirtschaftliche Anschauung war der Leitstern seines Tuns oder Lassens, sondern persönlicher Haß und Erbitterung. (…) Es war ein grausamer Guerillakrieg.«

Es kam zu Anschuldigungen und Denunziationen, die unhaltbar und unbeweisbar waren. Die von Ignaz Mandl gegründete Zeitschrift Fortschritt bot das Forum, diese Vorwürfe auszuwalzen. Letztendlich ging es um den Konflikt zwischen den gerade noch an der Macht befindlichen Liberalen, vertreten durch Cajetan von Felder, und den aufkommenden Massenparteien und dem Populismus im Besonderen, den Lueger zu einer ersten Vollendung brachte. Allerdings, ohne seinen »Lehrer« Mandl wäre Lueger wahrscheinlich in seiner Rhetorik nicht so weit gekommen. Doch Undank ist der Welt Lohn – unter dieses Motto kann man das spätere Zerwürfnis zwischen Lueger und Mandl stellen. Die Entscheidung zwischen dem alten Mitstreiter und der Möglichkeit, durch offenen Antisemitismus Stimmen zu gewinnen, war wohl keine schwere.

Auch die alten Weggenossen Ignaz Mandls wurden seiner überdrüssig. Bei den Reichsrats- und Gemeinderatswahlen des Jahres 1889 erlitt er eine empfindliche Niederlage und schied aus der Politik aus, seine 15-jährige politische Tätigkeit ging zu Ende.

Die Nachwirkungen, seine Rhetorik, seine zum Teil nicht bewiesenen Vorwürfe sind wohl bis heute in der politischen Sprache und in der politischen Aktion zu verspüren.

Der blinde Arzt Ferdinand

Ignaz’ Bruder Ferdinand, geboren 1829 in Veszprém, war einige Jahre lang als Arzt in Jassy [Iaşi] tätig. Jassy, im Nordosten Rumäniens gelegen, ist eine traditionsreiche und einflussreiche Stadt, in der im 19. Jahrhundert wichtige Kulturinstitutionen gegründet wurden, so 1835 die erste rumänischsprachige Hochschule in der Geschichte des Landes und 1849 das bedeutende und lange Zeit tonangebende Nationaltheater. Ferdinand Mandl lebte in dieser Zeit des kulturellen Aufbruchs in der Stadt und lernte wohl dort auch seine Frau Friederike Schorr kennen – sie stammte aus dem angrenzenden Bessarabien.

In der Mitte der 1860er Jahre übersiedelte Ferdinand mit seiner Familie nach Wien. Bei einer medizinischen Untersuchung infizierte er sich mit einer eitrigen Bindehautentzündung und erblindete innerhalb weniger Tage. Der berühmte Augenarzt Ferdinand Arlt ließ, nachdem die Diagnose endgültig war, ein Fläschchen mit Gift neben dem Patienten stehen. Doch der erblindete Arzt »entschied sich«, wie Arthur Schnitzler berichtet, »nach schwerem innerem Kampf dafür, seiner Familie und seinem Beruf weiterzuleben. Sein Gebrechen aber, fern davon, ihm in der Praxis Abbruch zu tun, verschaffte ihm vielmehr almälig besonders unter seinen Landsleuten und Glaubensgenossen, den Ruf eines Wundermannes. Das an Anbetung grenzende Vertrauen, das ihm von den Hilfesuchenden, die zärtliche Liebe, die ihm von den Seinen, die Ehrfurcht, die ihm auch von Fernstehenden entgegengebracht wurde, half gewiß mit, ihn sein Schicksal mit Ergebung und Würde, ja vielleicht wie ein gottgesandtes tragen zu lassen, dazu bestimmt, im unergründlichen Zusammenhang der Dinge andern Leidenden zum Heile zu gereichen. Jedenfalls ging von seinem edlen Antlitz, über dessen einem Auge er stets eine schwarze Binde trug, mit dem wallenden grauen Haupthaar und dem Patriarchenbart ein so milder, gleichsam priesterlicher Schein aus, daß auch Schwerkranke hoffen durften, in seiner Nähe, wenn auch nicht gerade Heilung ihrer Leiden, so doch ein nachahmungswürdig hohes Beispiel seelischer Gefaßtheit zu finden.«7

Fritz Mandl und der Aufstieg der Hirtenberger Patronenfabrik

Ferdinands ältester Sohn Alexander, 1861 geboren, trat 1893 nach dem Tod seines Onkels Ludwig in die Hirtenberger Patronenfabrik ein und war federführend an deren weiterer Entwicklung beteiligt.

Der Mitarbeiterstand der Hirtenberger Patronenfabrik pendelte in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts der Rüstungskonjunktur entsprechend zwischen 500 und 2000 Arbeitnehmern im Jahre 1913 und nahm natürlich im Laufe des Ersten Weltkriegs noch zu: Der Höchststand von 4188 Beschäftigten wurde 1916 erreicht. Nach Kriegsende kam es zu Auftragseinbrüchen und in der Folge zu Massenentlassungen. Die Lage wurde zusätzlich noch dadurch verschärft, dass die Alliierten Österreich nur eine einzige als »Staatsfabrik« deklarierte Rüstungsfertigung erlaubten. Die Munitionsfabriken waren somit gezwungen, sehr schnell auf zivile Produktion umzustellen und die Rüstungsfertigung ins Ausland zu verlegen. Das gelang der Hirtenberger Patronenfabrik durch die Konzentration auf Jagdmunition.

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