Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Memories of the Ford Administration» 1992 bei Alfred A. Knopf, Inc. New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2019
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«Memories of the Ford Administration» Copyright © 1992 by John Updike
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ISBN Printausgabe 978-3-499-13753-2
ISBN E-Book 978-3-644-05671-8
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ISBN 978-3-644-05671-8
Überlegen Sie: wenn wir einer zweidimensionalen Welt angehörten, Wesen wären, die mit dem Bleistift auf ein Weltpapier gezeichnet sind, wie würden wir uns einen Begriff von der dritten Dimension machen? Indem wir zu angestrengten Metaphern greifen, wie ich es oben getan habe. Wenn wir Hunde wären, wie würden wir uns Mathematik vorstellen? Ein paar vage Ahnungen hätten wir immerhin – das diesige Gefühl, zum Beispiel, daß die beiden Pfoten, die wir für gewöhnlich sehen, nicht alle Pfoten sind, die wir haben, und daß zwei und zwei so etwas wie vier ergeben könnte. Es ist wichtig, zumal für den modernen Menschen in einer Zeit, da er an die Grenzen der Physik und der Astronomie stößt, zu erkennen, daß es über seine geistige Vorstellungskraft hinausreichende Phänomene geben kann – daß das Unbegreifbare als gültige Kategorie begriffen werden muß.
1816 in Philadelphias Neuem Theater installiert, ihr erster öffentlicher Auftritt in Amerika. Zum allerersten Mal traten sie zehn Jahre zuvor in Erscheinung, als David Melville in Newport, Rhode Island, kühn zu Gas griff, um sein Haus und die Straße unmittelbar vor seiner Tür zu beleuchten. Auf der anderen Seite des Ozeans führte London 1807 als erste Stadt Gas zu öffentlichen Zwecken ein, und Paris übernahm es 1818 als Straßenbeleuchtung.
Während ich dies schreibe, liebe Historikerkollegen in New Hampshire, ist eine junge Dame unseres Staates, die genauso alt war wie Ann Coleman bei ihrem Tod, nämlich dreiundzwanzig, eine gewisse Pamela Smart, Medienberaterin an der High-School, angeklagt und für schuldig befunden worden, mit Hilfe eines Videos von 9 ½ Wochen, in Halliwell's Film Guide beschrieben als «Crash-Kurs in verschärftem Sex für alle, die sich in diesem Fach vervollkommnen wollen», einen fünfzehnjährigen Schüler verführt und ihn und seine Schlägerkumpel zum Mord an ihrem Ehemann angestiftet zu haben. Sie ließ den Prozeß teilnahmslos über sich ergehen, aber als bei einer nachträglichen Vernehmung der trauernde Vater ihres verblichenen Mannes sie im Zeugenstand des längeren attackierte, sprang sie auf und rief mit ihrer mitreißenden jungen Stimme: «Hohes Gericht, ich halte das nicht aus!» Wir haben es alle im Fernsehen gesehen; man mußte sie lieben für diesen Ausruf. Er bringt mich so nah, wie es mir überhaupt möglich ist, an die Wahrheit von Ann Colemans gemutmaßtem und umstrittenem Selbstmord heran: Hohes Gericht, sie hat's nicht ausgehalten.
Im Nachruf heißt es «Anne», auf dem Grabstein aber steht «Ann». Ich habe mich für den in Stein gemeißelten Namen entschieden.
Major John Henry Eaton, später, während Jacksons Präsidentschaft, Kriegsminister, hatte sich in die Tochter eines Schankwirts verliebt, die über beträchtliche amouröse Erfahrungen verfügte, sogar schon bevor sie, sechzehnjährig, einen Zahlmeister der Navy heiratete, den auf See zu halten der verliebte Eaton, zum fraglichen Zeitpunkt Senator, all seinen Einfluß aufbot, damit er die einsame Braut trösten konnte; die auf Jacksons Rat erfolgte Eheschließung mit dieser Margaret O'Neale Timberlake hatte nicht den erhofften Effekt gehabt, nämlich die entrüsteten Washingtoner Klatschmäuler, vor allem jene der weiblichen Anhänger des Calhoun-Lagers, zum Schweigen zu bringen. Buchanan war mit der Frage bezüglich Adams' Ernennung zuerst zu Eaton gegangen, und der Major hatte ihn ziemlich schroff angewiesen, den General persönlich zu fragen. Was Buchanan dann tat.
George Kremer, Kongreßabgeordneter und Ingham-Gefolgsmann, behauptete im Januar nach Buchanans Unterredung mit Jackson in einem Brief an den Columbian Observer in Philadelphia, Clay habe angeboten, für jeden zu stimmen, der ihm das State Department gäbe; seine Forderung zum Duell zog Clay zurück, als man ihm sagte, Kremer habe vorgeschlagen, es mit Eichhörnchenflinten auszutragen. Jackson bezieht sich hier auf ein Gespräch, das Kremer vielleicht mit Buchanan geführt hat und in dessen Verlauf letzterer die epochale Unterredung vom 30. Dezember schilderte.
George Kremer, Kongreßabgeordneter und Ingham-Gefolgsmann, behauptete im Januar nach Buchanans Unterredung mit Jackson in einem Brief an den Columbian Observer in Philadelphia, Clay habe angeboten, für jeden zu stimmen, der ihm das State Department gäbe; seine Forderung zum Duell zog Clay zurück, als man ihm sagte, Kremer habe vorgeschlagen, es mit Eichhörnchenflinten auszutragen. Jackson bezieht sich hier auf ein Gespräch, das Kremer vielleicht mit Buchanan geführt hat und in dessen Verlauf letzterer die epochale Unterredung vom 30. Dezember schilderte.
Vermutlich fühlte ich mich daran erinnert, wie ich als Kind mit meiner Mutter unsere Fenster in Hayes geputzt hatte – das Herunterrinnen des nach Ammoniak riechenden Seifenwassers, das Quietschen des immer schwerer und glitschiger werdenden Lappens, der wachsende Schmerz im Unterarm, die sonnige Schärfe der Luft, die im nördlichen Vermont auch im August kühl sein kann. Ein Kind sieht keinen Unterschied zwischen sauberen und schmutzigen Scheiben, folglich war das Ritual, so wie manch anderes Erwachsenenverhalten, eine rein magische Handlung für mich, eine Qual, ersonnen, mich an die Seite meiner Mutter und unter ihre liebende Aufsicht zu bringen. Durch Genevieves mustergültig durchsichtige Scheiben gesehen, schien das Draußen sich näher herangeschlichen zu haben, wie ein Tier, das gleich zum Sprung ansetzt.
Historiker haben dies Zerkrümeln der Zigarre allgemein als Zeichen äußerster Betroffenheit gewertet: Nichols z.B. schreibt, daß die Senatoren den Präsidenten in einem Zustand großer Erregung sahen. Er stand am Kamin, zerdrückte eine Zigarre zwischen den zitternden Fingern und stammelte, daß diese Verlegung gegen seine politischen Grundsätze verstoße. Trescot aber macht sich die Mühe, in dem Satz, der die einzige Quelle für dies Detail ist, zu sagen, daß es eine Angewohnheit von Buchanan war, so unsäuberlich mit seiner Zigarre umzugehen: Der Präsident stand gegen den Kaminsims gelehnt und zerdrückte eine Zigarre in seiner Hand – eine Angewohnheit, die ich oft hei ihm beobachtet habe.
Zeichensetzung und Hervorhebungen in der Wiedergabe von Buchanans Äußerung variieren beträchtlich. Trescots ursprüngliche, hastig zu Papier gebrachte Erinnerung lautet: «Mein Gott kommt eine Katastrophe (oder ein Unglück, ich weiß nicht mehr was von beidem) denn nie allein. Gott ist mein Zeuge – Sie meine Herren wissen es besser als jeder andere – daß dies nicht nur ohne, sondern gegen meinen Befehl geschehen ist, es verstößt gegen meine politischen Grundsätze. »
Nevins putzt es mächtig heraus: «Mein Gott», jammerte [sic] Buchanan, der am Kaminsims lehnte und eine Zigarre in der Hand zerdrückte, «kommt ein Unglück denn nie allein ? Gott ist mein Zeuge, daß Sie, meine Herren, es besser wissen als jeder andere: dies ist nicht nur ohne, sondern gegen meinen Befehl geschehen. Es verstößt gegen meine politischen Grundsätze.»
Thurlow Weeds Bericht im Londoner Observer vom 9. Februar 1862 zufolge war Stantons Protest sogar noch ausführlicher und beziehungsreicher:
«Es wäre zweifellos ein Akt hochherziger Nachsicht irrenden Brüdern gegenüber, Mr. President, doch in einem Augenblick, da einer Ihrer Minister betrügerische Akzepte über mehrere Millionen Dollar in Umlauf gebracht hat und ein anderer – der selber gerade in South Carolina Unterricht in Rebellion erteilt – einen Angestellten auf einem Vertrauensposten beschäftigt, ** Eine Anspielung auf Godard Bailey vom Land Office und auf Innenminister Thompson, der sehr wohl anwesend war und – davon ganz abgesehen – sich in der Woche zuvor in North Carolina aufgehalten hatte, Abreise am 17. Dezember, Rückkehr nach Washington am 22., ungefähr dem Tag, als der Skandal wegen der Indianer-Obligationen losbrach. woselbst dieser soeben $900000 aus dem Indianer-Treuhandfonds gestohlen hat, könnte das Experiment, Major Anderson nach Fort Moultrie zurückzubeordern, gefährlich sein. Sollten Sie die Absicht haben, es dennoch zu wagen, so bitte ich Sie, mir vorher zu gestatten, daß ich zurücktrete.»
Daraufhin, wie es in Weeds inspirierter Rekonstruktion der Ereignisse heißt, bot auch Black seinen Rücktritt an, gefolgt von Holt und auch von Dix, der dem Kabinett erst ab Mitte des nächsten Monats angehörte – woran man sieht, daß mit diesen Erinnerern gelegentlich die Phantasie durchgeht und Geschichte auf Treibsand gebaut ist.
In der Schurkenrolle scheint er gleichwohl fehlbesetzt. Auf der Photographie Buchanans und seines Kabinetts, aufgenommen von W.H. Lowdermilk & Co., Washington, D. C, irgendwann zwischen dem Tod von Aaron Brown und dem Rücktritt von Howell Cobb, ist Thompson verwischt am äußersten linken Rand zu sehen, unerschütterlich und mit den kurzgeschnittenen Haaren und dem glattrasierten Gesicht eigenartig modern wirkend. Er war ein Selfmademan, ein armer Junge aus North Carolina, der, wie Nichols sagte, im jungen, aufstrebenden Staat Mississippi … politische Macht und ein Vermögen aufhäufte. Ein Grenzlandmann, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Tiefe Süden zum großen Teil Grenzland war, erschlossen durch die rapide Ausbreitung der Baumwolle, ein Terrain für Unternehmer und Arrivisten. Er hatte sich in eine arme Vierzehnjährige verliebt, sie geheiratet, ohne die Ehe zu vollziehen, und sie für vier Jahre nach Paris geschickt, um sie dort erziehen und unterrichten zu lassen. Dies Mädchen war Kate Thompson, später eine der gesellschaftlichen Zierden in Buchanans Washington, ein besonderer Liebling des alten Häuptlings und die Autorin lebendiger Briefe, die ein erhellendes Licht auf die Zeit und die Administration werfen. Als Thompson schließlich zurücktrat (Ich gehe, um das Schicksal Mississippis hinfort zu dem meinen zu machen), schrieb Buchanan ihm einen herzlichen Brief, in dem es hieß: Niemand hätte die vielfältigen & schwierigen Aufgaben des Innenministeriums fähiger, gewissenhafter & tüchtiger erfüllen können als Sie. … Ich bedaure zutiefst, daß die unruhigen Zeiten von uns verlangen, daß wir uns trennen. Ein solches Billetdoux noch zu einem so späten Zeitpunkt wie dem 11. Januar 1861!
Das eine hellbraun, das andere blau, sagt Nichols. Er gibt keine ophthalmologische Quelle an. Es ist schwer zu glauben, als Vorstellung jedoch wunderbar. Das Porträt von Jacob Eichholtz, entstanden ungefähr zu der Zeit, als Buchanan nach Rußland ging, gibt chromatisch keinen Aufschluß. Auf dem Bild von George P.A. Healy, das in der National Portrait Gallery hängt, sind beide Augen blau, wobei das linke ein wenig schielt. Dies Porträt ist abgebildet in The American Heritage Pictorial History of the Presidents, und der unsignierte Text auf der gegenüberliegenden Seite vermerkt in Klammern: ein Auge [war] kurzsichtig, das andere weitsichtig. Siehe Kierkegaard, Tagebücher, 10. Dezember 1837.
Nein, um ehrlich zu sein, es war nicht so, daß ich von Popmusik überhaupt nichts mitbekommen hätte. Während der Ford-Ära war's, daß Pachelbels Kanon in C Einzug in die Charts hielt; ich weiß das, weil die Melodie mit ihrem leisen, langsamen, tröpfelnden Thema unendlicher Vorausempfindung für Genevieve und mich zu so etwas wie unserer Liebeshymne geworden war, zusammen mit The Divine Miss M, einer Kassette, die ich ihr zum ersten Weihnachtsfest unserer Affäre geschenkt hatte, wegen des phantastischen Eins-zwei-Schlags von «Do You Want to Dance?», gefolgt von Midiers Ding-Dong-Schmetterschlag «Chapel of Love». Going to get ma-a-arried …
Von James Buchanan, dessen Amtszeit von 1857–1861 dauerte, heißt es, er habe eine ordentlichere Handschrift gehabt als jeder andere Präsident. Dieses Lob stammt aus Facts and Fun About the Presidents von George Sullivan, mit Illustrationen von George Roper (New York: Scholastic, Inc., 1987). Dieselbe nützliche Quelle spendet uns die Information, daß Drei amerikanische Präsidenten Linkshänder [waren]: James Garfield, Harry Truman und Gerald Ford. Seit 1987 haben die Wähler für zwei weitere gesorgt.
Natürlich aus der herzlosen Passage in Emersons Essay «Erfahrung» übernommen, in der es heißt: Ich habe gelernt, daß ich über anderer Leute Tatsachen nicht entscheiden kann … Ein mitfühlender Mensch befindet sich im Dilemma eines Schwimmers inmitten von Ertrinkenden, die alle nach ihm greifen, und wenn er zuläßt, daß sie sein Bein oder auch nur einen Finger packen, werden sie ihn in die Tiefe ziehen.
In einem Brief vom 21. Oktober 1865 erwiderte er einem Mr. Faulkner, der angenommen hatte, der vormalige Präsident könnte, rückblickend, ein paar Fehler einräumen: Ich muß Ihnen sagen, daß Sie sich irren. Ich habe vom Anfang bis zum Ende eine stetige, konsequente politische Linie eingehalten; & wenn ich auf meine Amtsführung zurückblicke, stoße ich auf keine Maßnahme, die ich gern rückgängig machen würde, auch dann nicht, wenn dies in meiner Macht stünde. In dieser Gewißheit lebend, erfreue ich mich eines ausgeglichenen, heiteren Gemüts, ungeachtet der Verunglimpfungen, denen ich ausgesetzt war.
Mir ist wohl bewußt, daß der Leser nicht nach Belehrung verlangt, doch ich kann nicht anders, ich muß sie ihm erteilen.
Rousseau, Bekenntnisse
Der Mensch ist in seinem Wesen das Gedächtnis des Seins, aber des Seins
Heidegger, Zur Seinsfrage
Von: Alfred L. Clayton, Bachelor of Arts 1958, Ph. 1962
An: Northern New England Association of American Historians, Putney, Vermont
Betr.: Erbetene Erinnerungen und Impressionen aus der Regierungszeit des Gerald R. Ford (1974–1977) für das Schriftliche Symposion über denselben, das in Rückblick, der Dreivierteljahres-Zeitschrift der NNEAAH, erscheinen soll
Ich erinnere mich, daß ich mit meinen verlassenen Kindern vor dem Fernseher saß, als Nixon zurücktrat. Meine Frau war ausgegangen, zu einer Verabredung, und hatte mich gebeten, auf die Kinder aufzupassen. Wir lebten seit Juni getrennt, seit zwei Monaten, der Rücktritt fand ja im August statt. Nixon, mit seinem verbeulten Gesicht und seiner beängstigenden, ausgerasteten Art, sah aus, als werde er gleich weinen. Die Kinder und ich hatten noch nie einen Präsidenten zurücktreten sehen. Niemand in der Geschichte der Vereinigten Staaten hatte das je gesehen.
Unsere Eindrücke – nun ja, wer weiß schon, was für Eindrücke Kinder haben? Andrew war fünfzehn, Buzzy gerade dreizehn, Daphne pummelige, verletzliche elf. Für sie, deren geschichtliches Bewußtsein seit höchstens zehn Jahren bestand, war dieser Rücktritt vielleicht nicht so epochal. Die späten Sechziger und frühen Siebziger hatten so viel an bizarren Schlagzeilen und absonderlichem Fernsehen hervorgebracht, daß meine Kinder vermutlich weniger beeindruckt waren als ich. Nicht allzu lange zuvor hatte auch Spiro Agnew seinen Hut nehmen müssen, und so war Gerald Ford unser einziger nicht gewählter Präsident, wenn man von Joe Tumulty absieht, der nach Wilsons Schlaganfall einsprang, oder von James G. Blaine während des Sommers, da der arme Garfield nach und nach von der medizinischen Wissenschaft des Jahres 1881 hingemordet wurde, indes Chester Arthur (der als korrupt galt, obschon er ein exzellenter Angler war und meterweise, mit perfektem schottischen Akzent, Robert Burns vortragen konnte) sich in New York City vor dem erhabenen Amt verbarg, das er schließlich doch antreten sollte. Wären meine Kinder wie ich, hätte es sie getröstet, daß ein landesweiter Skandal uns von jenem ablenkte, der wie ein großer klammer Frosch, den Schlammgeruch unwiderruflichen Verlustes ausdünstend, im Schoß unserer Familie hockte: mein Treubruch, meine Abwesenheit im täglichen Leben, nachdem ich all die Jahre ihres kurzen Daseins mit meiner Anwesenheit bestimmt hatte, mit meinem Kommen und vorübergehenden Verschwinden, meinem Auf- und Untergehen, meinem Trösten und Strafen; ich hatte sie im Auto zur Schule und ins Sommercamp gebracht, an den Strand und in die Berge, nach Maine und Massachusetts, war ihrer Mutter bei ihren zerzausten Pflichten zwischen Frühstück und Schlafenszeit zur Hand gegangen, hatte Windeln gewechselt und, vor kurzem erst, nervös auf dem Beifahrersitz gesessen, als Andrew von seinem neuerworbenen Führerschein Gebrauch machte. Ich war das einsame einzige Kind eines ältlichen republikanischen Ehepaars, und Vater zu sein war ein Wunder für mich gewesen, ein erstaunliches Vergnügen; mein Stundenplan am Wayward Junior College, damals ein reines Mädchen-College am einst lieblichen Wayward River hier im südlichsten Zipfel New Hampshires, gestattete mir ein nahezu ständiges Vatersein, oder, vielleicht treffender, ein Brudersein – eine locker-heitere Kumpelhaftigkeit, eher die eines älteren Bruders denn die eines Erzeugers. Aufgewachsen ohne Geschwister, hatte ich mir, mit beiläufiger Zustimmung meiner Frau, welche erschaffen. 1936 im Norden Vermonts geboren, wo die Berge flacher werden und sich nach Kanada hinfläzen, bekam ich von meinen standhaften Eltern den Namen des einnehmenden, aber erfolglosen Kandidaten, der in jenem Jahr gegen Roosevelt angetreten war, und wurde Vater im zarten Alter von zweiundzwanzig, während meines ersten Universitätsjahrs nach dem Bachelor of Arts. Die Geburtshelferin, eine stämmige Frau mit hellgrüner, enganliegender Chirurgenmütze auf dem Kopf, tauchte aus den Tiefen des Cambridge City Hospital auf, wischte sich, wie ein Schlachter an seiner blutigen Schürze, die Hände am Kittel ab und streckte sie mir hin mit den strengen Worten: «Sie haben einen Sohn.» Buzzy folgte, als ich fünfundzwanzig war und noch nicht promoviert hatte, und die liebe Daphne – die kleinste bei der Geburt, ganze dreitausendeinhundert Gramm, und die mit den strahlendsten Augen, damals und immer – wiederum zwei Jahre später, 1963, im Herbst, als Kennedy erschossen wurde und das zweite Halbjahr meiner ersten Dozentur begonnen hatte, im grünen, frostigen Dartmouth. Tage der Jugend, der Ahnungslosigkeit! Tage des ungetrübten, unangekränkelten Sichentfaltens! Ich war mit allen Insignien der Männlichkeit versehen, nur nicht mit der Einstellung, dem Verhalten eines erwachsenen Mannes. Meine Königin, meine blaß sommersprossige, rothaarige Braut, hatte noch ihre Taille, ihre geschmeidigen, milchhellen Beine und war von einer trägen Bereitwilligkeit, alles auszuprobieren. Dann brachen Lyndon Johnsons aufgeladene Sechziger wie ein psychedelisches Gewitter über uns herein. Wir zügelten unsere Fruchtbarkeit und kuschelten uns zusammen zum Glücklichsein.
[Rückblick-Redaktion, zerhacken Sie meine Absätze nicht in mechanische Zehnzeiler. Ich nehme Ihr Symposion ernst, manche Gedanken ziehen sich lang hin wie Flüsse bei Tauwetter, andere brechen ab wie Eiszapfen. Überlassen Sie das Abbrechen bitte mir.]
So saß ich da bei meinen drei Kindern weniger als Schurke denn als viertes Opfer, ein weiteres Kind der beschädigten, führerlosen Nation und der hereinbrechenden Dunkelheit (warum hatte Nixon mit seinem Rücktritt bis zum Abend gewartet? Um nicht wie eine von den tagsüber gesendeten Seifenopern zu wirken?). Diese Pose, daß ich auch nur ein unglücklicher Teilhaber unseres familiären Elends war und nicht vielmehr sein Urheber, war in der Tat praktisch für uns alle: meinen Kindern war so die Möglichkeit gegeben, mich weiterhin gern zu haben und sich zu freuen, wenn ich zu Besuch kam, mal herauskroch aus meiner asketischen kleinen Junggesellenbude auf der anderen Seite des Flusses, in Adams, dem Inbegriff eines darniederliegenden Industriestandorts – einem Flecken, in dem sich ausschließlich Textilfabriken angesiedelt hatten und der 1797 zu Ehren des geplagten zweiten Präsidenten, gewissermaßen eines Jungen aus der Nachbarschaft, umbenannt worden war –, und, so gut sie es vermochten, ihre Aufenthalte bei mir und die mageren Vergnügungen zu genießen, die Adams zu bieten hatte: eine Bowlingbahn, ein Strand aus aufgeschüttetem Sand am Seeufer, ein chinesisches Restaurant, in dem Daphne einmal ein Wahrsageplätzchen ohne Wahrsagezettel bekommen hatte und in Tränen ausgebrochen war, weil sie dachte, das bedeute, daß sie sterben müsse, und ein einziges überlebendes Lichtspieltheater im menschenleeren Zentrum, eines von denen mit Vordach, viel Plüsch und rokokohafter Eingangshalle, die überall in den kleinen Städten rasch verschwanden, mit Brettern vernagelt und mit Graffiti beschmiert untergingen, nachdem sie vorher noch eine düster-reißerische Phase als jugendgefährdende Sexfilmkinos gehabt hatten. (Sex stand während der Ford-Administration noch in einem guten Ruf. Betty Ford war eine muntere, von keinen Zwängen geplagte Tänzerin bei Martha Graham gewesen und verkündete zu Beginn der Amtszeit, daß sie und Gerald beabsichtigten, weiterhin im selben Bett zu schlafen. Ihre Kinder tauchten gelegentlich in den Schlagzeilen auf mit Geschichten aus ihrem Leben, das ebenso ungeeignet für die Öffentlichkeit war wie das anderer junger Erwachsener. In jenen Jahren gab es One-night stands, Saunen, Sex-shops in Hülle und Fülle. Geschlechtskrankheiten waren eine leicht zu behebende Panne. Syphilis, Tripper – kein Problem. Die Filzläuse, die pfiffigen kleinen Plagegeister der Matratzenlager in den Sechzigern, hatten sich verzogen, als die Mieten in den Städten stiegen, und die Herpesbläschen mit ihrem intimen Brennen hatten ihren Siegeszug noch nicht angetreten. Das Paradies des Fleisches war in Reichweite. Was unter Eisenhower undenkbar gewesen war und unter Kennedy gewagt, war unter Ford nahezu obligatorisch geworden. Nur daß die Leute langsam verrückt wurden, wie die Bürger damals im alten Rom, die einen von zuviel Sex, die anderen vom Blei in den Leitungsrohren. Ford, früher ein stattlicher Brocken, reizte Frauen auf eine Weise, wie Nixon das nicht getan hatte. Ich meine mich zu erinnern, daß zweimal innerhalb weniger Wochen ein weibliches Wesen mit einem Schießeisen auf ihn losging. Squeaky Fromme war zu high, um abzudrücken, und Sara Jane Moore schoß aus nächster Nähe daneben. [Rückblick-Red.: Fakten eventuell nachprüfen? Die gesamte Parenthese kann gestrichen werden, falls es Platzprobleme gibt. Aber Sie wollten Impressionen.] Ich hatte keinen Fernseher in meiner kargen Behausung im dritten Stock – ein schmales Zimmer, wo ich mir aus zwei Aktenschränken und einem Türblatt einen Schreibtisch gebaut hatte, und eine quadratische Kammer, die fast ganz von einem Doppelbett ausgefüllt wurde, beide Räume mit je einem Fenster, das auf eine enge Seitenstraße im Schatten einer stillgelegten Spinnerei hinausging –, und war, was Nachrichten betraf, auf die stündlichen Zusammenfassungen und seltenen Extrameldungen des WADM angewiesen, des einzigen Senders in der Region, der klassische Musik brachte; hinzu kamen die Schlagzeilen in anderer Leute Zeitungen und überholte Magazine in den Wartezimmern von Zahnärzten, Rechtsanwälten, Optikern etc., die ich in den neunundzwanzig Monaten der Ford-Administration konsultierte.) In jenem lieben sterbenden Lichtspieltheater namens Rialto, mit den blankgewetzten Plüschsesseln und den abblätternden vergoldeten Putten, sahen meine drei strubbelköpfigen Putten und ich den Paten, Teil II, und den Weißen Hai. Beide machten Daphne und mir angst, auch wenn die Jungen die Nase über uns rümpften. Zur Zeit des Weißen Hais war Andrew groß genug, mit Führerschein, um es demütigend zu finden, mit seinem Vater ins Kino zu gehen. Und obwohl Der weiße Hai das Publikum in Scharen anlockte, bis auf die erhöhten Logenplätze und den steilen Balkon hinauf, war das Schicksal des Rialto besiegelt; wenige Monate später wurde es ein Softpornokino.
Absatz.
Während ich dasaß und zusah, wie Nixon zurücktrat, hatte ich die Illusion, daß das Haus, in dem wir uns befanden, eine große viktorianische Villa mit Mansarddach und ausgebautem zweiten Stock, von dessen Fenstern man die gelben Ziegelschornsteine des College-Heizwerks sah, noch immer meines war; die Bücher, eine Sammlung, deren Grundstock unsere College-Lehrbücher bildeten, kamen mir vor, als seien sie meine, und die Einrichtung, ein von Kindern malträtiertes buntes Durcheinander aus Schaumstoffsofas und Leinengurtstühlen, wackligen dänischen Lampentischchen und chrombeinigen niedrigen Sesseln mit Paisleytüchern und troddelbesetzten Schals über den durchgescheuerten Lehnen, kam mir auch so vor, als gehörte sie noch mir, mitsamt den Katzenhaaren auf den Polstern und den Staubflocken unterm Sofa, den fast leeren Spirituosenflaschen in der Speisekammer und den Ballons aus Japanpapier, die hier und da als Lampenschirme herhielten – alles in unserem Ehestil, einem Unisexstil, zu dem meine Frau und ich leichthändig, vom Universitätsleben der späten Fünfziger geprägt, den Grundstein gelegt hatten und der dann in der Hitze und den Mühen des «Sympathisantentums» der Sechziger ausgeschmückt wurde und der Verwitterung anheimfiel. Ich hatte meine Frau verlassen, nicht aber unsere Ehe, die Struktur unserer Ehe, unsere Denkart, und ich war weit davon entfernt, mir klarzumachen, daß dies Haus für mich verloren war, dies fusselige, fransige Nest, das sie und ich Zweig für Zweig zusammengetragen hatten, nicht zu reden von den drei Vögelchen, die so vertrauensvoll und hilflos und still neben mir im flackernden Licht der explodierenden Ambitionen und Träume eines einzelnen Mannes hockten (er trete zum Wohle der Nation zurück, erklärte Nixon, und nicht etwa aus irgendwelchen persönlichen Neigungen und Motiven: «Ich bin nie ein Drückeberger gewesen», sagte er mit zittriger Stimme und finsterem Blick. «Das Amt niederzulegen, bevor meine Zeit um ist, widerstrebt jeder Faser in mir») – daß dies Haus für mich dahin war, aufgegeben, meinem Leben ebenso unwiederbringlich verloren wie das Zuhause meiner Kindheit im Dörfchen Hayes, meine Studentenbude in Middlebury, unsere Doktoranden-Unterkünfte in Cambridge, in einem backsteinernen Apartmentgebäude an der Kirkland Street unweit des damaligen Germanischen Museums, oder das kleine apfelgrüne Cape-Cod-Cottage, unser erstes richtiges Haus, mit Garten, Keller und Briefschlitz, das die Universität uns in Hanover gleich hinter der Route 120, einen Steinwurf von den Orozco-Wandmalereien entfernt, vermietet hatte. In diesem Wohnzimmer war ich in Wahrheit nichts wesentlich anderes als ein Fernsehbild – ein flüchtiger Gast, ein Epiphänomenon.
[Rückblick: Ich bitte um Entschuldigung für all den Dekor. Aber Dekor ist Teil des Lebens, ist unauflöslich unseren Erinnerungen und Impressionen eingewoben. Als mich die freundliche und schmeichelhafte Aufforderung der NNEAAH erreichte, zu ihrem Schriftlichen Symposion etwas beizusteuern, ging ich auf gut Glück in die Bücherei und blätterte einige Nachschlagewerke durch, die Art von Instantgeschichte, die man erhält, wenn man alte Schlagzeilen zusammenträgt, und war verblüfft, welch hohen Nachrichtenanteil der Tod ausmacht, pur und schnörkellos. In diesen Übergangsmonaten von 1974, wer starb da nicht alles : Chet Huntley und Georges Pompidou, Juan Perón und Earl Warren, Duke Ellington und die Mutter von Martin Luther King jr., Walter Lippmann und Jack Benny, Generalissimo Franco war ernsthaft leidend und Evel Knievel alles andere als wohlauf. Evel Knievel wollte mit einer Rakete über einen Canyon in Idaho fliegen, was ihm mißlang; von Pompidou wurde der Ausspruch wiedergegeben : «Jeder Politiker (Tous les politiciens) hat seine Probleme (ont leurs problèmes). Nixon hat Watergate (Nixon a Watergate), und ich werde sterben (et je vais mourir).» Ich weiß schon, Rückblick-Redaktion, Sie wollen dies Zeug nicht, das jeder Student im dritten Semester, der Zugang zu einem intakten Mikrofilm-Lesegerät hat, Ihnen zusammensuchen kann. Sie wollen lebendige Erinnerungen und Impressionen: das unverfälschte Zeugnis derer unter uns, die, anders als die eben genannten, das Glück hatten, die Ford-Administration zu überleben. Neulich abend habe ich mit tiefer Rührung einen verzappelten Schwarzweißfilm aus dem Jahr 1913 gesehen: die Überlebenden der Pickett-Attacke, die sich fünfzig Jahre später, als alte Männer, auf dem Schlachtfeld von Gettysburg trafen. Die Südstaatler taten so, als griffen sie wieder an, und humpelten, auf ihre Krückstöcke gestützt, vorwärts, und die Nordstaatler hinkten hinter der Steinmauer auf dem Cemetery Ridge hervor und umarmten sie. Tränen, Gelächter. Junge Totschläger, aus denen liebe alte Männer geworden waren. Es muß nur genügend Zeit verstreichen, und wir sind alle Geschichte, nicht wahr? Wenn Sie sich mal richtig elend fühlen möchten, liebe NNEAAH, denken Sie an die Zeit, die immer weiter verstreichen wird, wenn Sie schon tot sind. Wenn wir tot sind, sollte ich sagen. Wenn ich den mir zugewiesenen Platz falsch eingeschätzt habe, stutzen Sie diesen Text bitte so weit zurecht, daß er Ihren redaktionellen Erfordernissen entspricht.]
Erinnerung ist von einer Fleckigkeit, als sei der Film in die Entwicklerflüssigkeit nicht eingetaucht, sondern nur mit ihr besprenkelt worden. Und das Auge macht dann, wie bei einer optischen Täuschung, das ihm Mögliche aus den Flecken. Die Königin der Unordnung kam, sagen wir, gegen Mitternacht zurück. Es war August, ein schwüler Monat in unserem Flußtal, aber der Sommer rollte sich an den Rändern schon ein, die Rasenflächen waren ausgedörrt und die Zikaden auf dem Höhepunkt ihres Gezirps. Sie muß ein kleines blaßgeblümtes Baumwollkleid auf ihrem üppigen, aber immer noch geschmeidigen Körper getragen haben, mit schnürsenkeldünnen Achselträgern, und mir muß der Gedanke durch den Kopf geschossen sein, daß sie dies Kleid an diesem Abend ausgezogen und später wieder angezogen hatte, um nach Haus zu gehen. Nach Haus – sie hatte ein paar Verluste erlitten, aber dies Wort, diese Wirklichkeit waren ihr geblieben. «Wie ging's mit den Kindern?» wird sie gefragt haben.
«Gut. Sie waren süß. Wir haben Nixon zugesehen und versucht, Mille Bornes zu spielen, bis Daphne quengelig wurde.»
Daphnes Mutter schüttelte einen kleinen, locker gestrickten weißen Pullover ab, den sie sich wie ein Cape umgehängt hatte. Die Sommersprossen auf ihren nackten Schultern waren so dicht, daß sie wie Sonnenbräune aussahen. Schräg zur Decke hinaufsehend, als hätte dort plötzlich ein Spinnengewebe ihre Aufmerksamkeit gefesselt, fragte sie, ein wenig schüchtern: «Haben sie was gesagt?»
«Nein», sagte ich.
«Auch nicht, als Daphne im Bett war? Die Jungen?»
«Nein, Norma. Was hätten sie denn sagen sollen. Sie haben sich mit mir Hawaii Five-O angesehen, und dann habe ich sie zu Bett geschickt. Ich habe mit Daphne gebetet, aber die Jungen haben mir gesagt, du hättest das Beten abgeschafft.»
«Hab ich das?» fragte sie, wandte den Kopf und äugte zu einem anderen Spinnengewebe hinauf. Ihr Haar hatte die Farbe einer getrockneten – einer geschwefelten, sagen die Reformhäuser – Aprikose, die ins Licht gehalten wird, und war so wellig, daß sie auch damals, als ganz glattes Haar in Mode war, zusammen mit Sandelholzperlen und schmutzigen bloßen Füßen, immer wuschelköpfig ausgesehen hatte. Ich stellte mir ihr Haar ausgebreitet auf einem Kissen vor wie eine herausgequollene Polsterfüllung und die fleischigen Hände ihres Freundes, die sich in diesen Überfluß gruben. Ein Überfluß an Haar auch unten, ingwerfarben, kribbelnd, und in ihren Achselhöhlen in jenen Barfußjahren, als es schick war, es nicht wegzurasieren. Ihre Schienbeine hatten damals gekratzt wie ein Männerkinn. Ich hatte mir einen Bart wachsen lassen, der dünn und bocksartig geraten war. Wir fuhren mit unseren Freunden immer zum Nacktbaden an einen See nördlich von Hanover, und einmal war ich so stoned gewesen, daß ich mich transparent fühlte wie eine Qualle und mir einbildete, wir seien alle eine große glückliche Familie; ich hatte mich einer Frau zugewandt, die neben mir im Sand lag, und irgendwie muß ich um ein Lob für Normas üppige Figur gebeten haben, denn ich erinnere mich, wie die trockene sarkastische Stimme dieser anderen Frau sich durch meine schimmernden Quallenwände schnitt: Es freut mich ja so für dich, Alf. «Es kam mir so heuchlerisch vor», sagte meine Königin der Unordnung, «so wie wir leben. Nichts ist mehr heilig und überhaupt.»
«Wie war's denn mit Ben?» Sie hatte sich mit Benjamin Wadleigh getroffen. Dem Dekan der Musikabteilung, Leiter der Chorgemeinschaft, einem hochgewachsenen, kopflastigen Mann mit großen gedunsenen weißen Händen, die stampfend, knetend in Klaviertasten wühlten wie in Schlamm. Er lebte seit kurzem getrennt von seiner kleinen Frau Wendy und war ein Langzeit-Anbeter meiner buschigen, milchhäutigen, großbrüstigen Ehegefährtin. «Wo macht ihr beiden es eigentlich, um elf in der Nacht?»
«Wir nehmen den Wald», sagte sie, in einem Ton, der mich im unklaren ließ, ob sie Spaß machte. «Oder den Rücksitz seines Kombis. In der Not frißt der Teufel und so weiter. Möchtest du einen Drink?» Sie schlenderte Richtung Speisekammer, wo all die fast leeren Flaschen standen. Die beiden Katzen waren beim Klang ihrer Stimme aus den Ecken hervorgekommen, in denen sie sich vor mir versteckt hatten, und strichen ihr in einem schnurrenden Zopf, einer pelzigen Doppelhelix der Zuneigung, um die Beine. Ich war allergisch gegen Katzenhaar und neigte dazu, nach den Tieren zu treten, wenn sie mir zu nahe kamen. Ihr Schnurren brachte mir wieder den im Hintergrund pulsenden Zikadengesang zum Bewußtsein – ein Geräusch wie kein anderes, das das Gehirn radioartig ein- und ausblenden kann.
«Bloß nicht», sagte ich und erhob mich aus meinem dänischen Sessel. Die eine Teaklehne war kaputt – als ich hier noch wohnte, hatte ich sie immer wieder geleimt. Ich versuchte, mir hartnäckig haftende Katzenhaare von der Sitzfläche meiner Hose zu streichen. Ich war neue Verpflichtungen eingegangen: meine dunkeläugige Geliebte beobachtete meine ehelichen Besuche wie ein Habicht und erwartete minuziös genaue Berichterstattung. «Ich gebe mir Mühe, ein geregeltes Leben zu führen», erklärte ich, nicht ohne Reumütigkeit.
«Ist es das wirklich?» In der Hand hielt sie zwei Zoll silbrig blaßgrünen Wermuts, der Farbe ihrer Augen sehr ähnlich, in einem verschmierten Orangensaftglas, das sie unabgewaschen aus der Spülmaschine gefischt hatte. Sie neigte mir Gesicht und Stimme zu und sagte: «Alf, du mußt mit ihnen reden, sie sind durcheinander und verletzt und bedrängen mich mit Fragen – ‹Was hat ihm an uns denn nicht gefallen?›, ‹Ist sie denn wirklich so toll?›, ‹Bringt er das wohl je hinter sich und kommt zu uns zurück?›»
Ich nahm es ihr übel, daß sie versuchte, mit weiblicher Redseligkeit das männliche Schweigen zu zerreißen, das glatte Narbengewebe, das die Jungen und ich über meine Fahnenflucht hatten wachsen lassen.
«Vor allem die Jungen», fuhr sie fort. «Daphne ist die robusteste, sie ist so offen und noch so kindlich. Aber die Jungen – ich weiß nicht, was in ihren Köpfen vorgeht. Sie sind sehr, sehr rücksichtsvoll mit mir, gehen auf Zehenspitzen herum, als ob ich krank wäre, werfen mir nicht vor, daß ich so dumm war, dich zu verlieren, geben sich Mühe, all die vielen kleinen Sachen im Haus zu erledigen, um die du dich früher gekümmert hast …»
Meist ließ sie ihre Sätze dahinwehen, eine Aufforderung für ihren Gesprächspartner, sich etwas einfallen zu lassen. Ihre Bilder, wenn sie Zeit zum Malen fand, blieben immer unvollendet, wie die von Cézanne. Immer gab es ein, zwei leere Stellen. Auch ihr Gesicht blieb für gewöhnlich leer, nicht einmal Lippenstift benutzte sie. Wenn sie es mal mit Mascara versuchte, sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das sich als Hexe zurechtgemacht hat. In den törichten Sechzigern hatte sie eine Vorliebe für Zöpfe, und um auf Parties einen besonderen Effekt zu erzielen, flocht sie sich manchmal die eine Hälfte ihres Haars streng zusammen und ließ die andere Hälfte bauschig abstehen. Ihr Haar– habe ich das klar ausgedrückt? – war nicht gelockt, es war schlangenlinienförmig gewellt, und der orangefarbene Ton war nicht exakt der einer gedörrten Aprikose, sondern blasser, so daß ihr Schamhaar sich nicht allzusehr von ihrer Haut abhob, sondern deren Farbe eher in einer leicht abgewandelten Schattierung zu wiederholen schien. Jetzt, da Bens lebendige Säfte noch in ihr schwammen, brachte sie mir – das trüb schwarzweiße, hohle, gespenstische Gefühl, mit dem ich Nixon im Fernsehen zugeschaut hatte, mit Farbe ausfüllend – die Empfindung von Scham mit, Scham als ein bodenloser innerer Tiefdruck, eine spürbare Gashülle, die einem die Glieder verlangsamt und verdickt, wie es die Schwerkraft auf dem Saturn tun würde, Scham, mein neuer Planet, seit meiner Fahnenflucht, die mein Haus hohl und (dies alte angelsächsische Wort von trostlosem Gewicht) hlafordleas, gattenlos, gemacht hatte. Aber wie bei vielen ihrer Handlungen hatte Norma auch hier für Vollständigkeit nichts übrig. Nachdem sie mich dahin gebracht hatte, daß ich die Treppe hinaufkriechen, meine Kinder wecken und sie um Vergebung bitten wollte, sah sie auf die zerschrammte, oft geleimte Lehne des Sessels herunter, aus dem ich aufgestanden war, und fragte zerstreut: «Was hast du gerade gelesen?»
Ich hatte ein Buch aufgeschlagen auf der Lehne liegenlassen. Es war Verteidigung der Sklaverei: Die Ansichten des alten Südens, herausgegeben von Eric L. McKitrick. «Eine Sammlung von positiven Meinungen über die Sklaverei vor dem Bürgerkrieg», sagte ich. «Einige der Argumente sind sehr aufrichtig und mitfühlend. Die Sklavenhalter waren nicht nur übel.»
«Sklavenhalter halten sich nie für übel», sagte sie. Ich spürte in ihrer Erwiderung einen feministischen Stachel, der durch mein schlechtes und typisch männliches Verhalten neu gespitzt worden war. Sie milderte ihn ab: «Geht es immer noch um Buchanan?»
Während der letzten zehn Jahre unseres gemeinsamen Lebens hatte ich in meiner freien Zeit und in den Ferien versucht, ein biographisches Werk zu schreiben, etwas Historisch-Psychologisches, Lyrisch-Elegisches – in der Art, wie Jonathan Spence es mit den Chinesen macht – über James Buchanan, den fünfzehnten Präsidenten der Vereinigten Staaten. New Hampshires Sohn Franklin Pierce war der vierzehnte gewesen, aber mein Interesse hatte sich auf seinen Gesandten in England und späteren Nachfolger auf dem präsidialen heißen Stuhl konzentriert. Der einzige unverheiratete Präsident, der älteste bis Eisenhower, der letzte, der einen Stehkragen trug, und der letzte der Doughfaces, der dem Süden zugetanen Kompromißler, bevor der Nord-Süd-Krieg alle Kompromisse hinwegfegte. Ein großer Kerl, ein Meter achtzig, mit schielenden Augen, schiefgeneigtem Kopf und einer linkischen Höflichkeit, die mein Herz einnahm. Er vermittelte eine gewisse dunstige Vorurteilslosigkeit, die Weitherzigkeit der Ambivalenz, wohingegen Pierce vom engeren New-England-Zuschnitt war, trüb wie eine alte Pfeilspitze aus Feuerstein. Die Leute beklagten sich, daß Buchanan so entschlußlos sei – mir gefiel das. Es liegt ein zivilisierter Heroismus in Entschlußlosigkeit – «den Besten mangelt es an jeglicher Überzeugung» etc. Er und seine Nichte Harriet Lane führten das eleganteste Weiße Haus seit Dolley Madison, und auch das gefiel mir. Mir wurde leichter zumut, wenn ich an ihn dachte. Der alte Gent war so ritterlich-tapfer im flackernden Schatten des Bürgerkriegs. Sie wissen, wie das ist, Historikerkollegen – man sucht nach einem kleinen Fleck, nicht zu festgetreten von anderen Füßen, wo man vielleicht ein paar Wicken ziehen kann. Meine Bemühungen, die ohne Ende waren, weil eine Recherche die nächste nach sich zog und immer so weiter und alle Recherchen zusammen ins Vergessen mündeten und in die definitive Erkenntnis, daß historische Wahrheit auf immer schwer zu fassen ist, hatten kurz nach Daphnes großäugiger Ankunft in dieser Welt begonnen, als wir um der Kinder und um unserer selbst willen beschlossen, daß wir nun vollzählig seien. Das war eine weise Entscheidung, aber auch ein Jammer, denn Norma und ich hatten ein natürliches Talent zur Herstellung von Kindern; unsere Spermien und Eizellen klickten, im Gegensatz zu unserer Libido, glatt ineinander, und das Geschäft von Schwangerschaft, Geburt, Säuglingspflege und Kleinkinderziehung gab uns beiden das Gefühl, ein gesundes Unternehmen zu sein.
«Immer noch», mußte ich zugeben. Mein Versuch, unsere Familie um ein strammes Buch zu erweitern, hatte sich als schmerzlich langwierig und bis dahin als vergeblich erwiesen. Möglicherweise war Buchanan der Grund für unsere Trennung : ich hoffte, daß eine Lebensveränderung den saumseligen, schwach sich regenden alten Fötus, den ich seit einem Jahrzehnt in mir trug, vielleicht in Bewegung bringen könnte.
«Vielleicht solltest du ihn aufgeben und es mit jemand anderem versuchen», schlug meine Königin der Unordnung boshaft, wenn auch schüchtern vor. «Er ist so langweilig.»
«Er ist nicht langweilig», beharrte ich monogam, «ich liebe ihn.»
Aus irgendeinem Grund – ich wußte, daß es so kommen würde – traf sie das ; auf ihren Wangen zeigte sich ein leichtes Rosa im matten, troddelumhangenen Lampenlicht des Zimmers. Die zarte Röte ließ ihre Augen grüner erscheinen. In ihrer Verletztheit nippte sie am funkelnden Wermut. Ich überlegte, ob es als Spaß gemeint war, was sie über sich und Ben gesagt hatte. Sie dünstete den schwachen Heuduft aus, den Frauen im Sommer haben.
«Schade, daß du Nixons Rücktrittsrede nicht mitbekommen hast, du hast was verpaßt», sagte ich.
«Wir haben einen Teil davon im Autoradio gehört.»
Auf dem Weg in den Wald oder wo auch immer. Ben wohnte in einem der Mädchenwohnheime von Wayward, wo nach zweiundzwanzig Uhr keine Gäste mehr geduldet wurden. «Wir haben's uns alle zusammen angesehen», sagte ich, eine häusliche Harmonie beschwörend, die so nicht bestanden hatte. «Es war traurig.»
«Warum?» Norma war eine unbeirrbare Liberale. «Das einzig Traurige ist, daß jetzt dieser Idiot Ford ans Ruder kommt.»
«Sagt Ben, daß Ford ein Idiot ist?»
«Ich sage das.»
«Weißt du, Liebling», sagte ich, «du solltest dich vorsehen im Wald. Da gibt es Giftsumach, ganz zu schweigen von Schlangen.»
Sie schob sich einen Kringel ihres unordentlichen welligen Haars aus der Stirn und blies hinauf, als ob ihn das an seinem Platz halten könnte. Sie sah wieder schräg zur Decke, aber diesmal mit einem anderen, weniger interessierten Blick; ich kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie sich von dieser Heimkehr nichts mehr versprach. Sie war müde und wollte ins Bett. Sie kippte den Rest des Wermuts hinunter und sagte : «Sieh du dich auch vor. Da draußen sind jede Menge Männerjägerinnen unterwegs.»
Nichts, das sie sagte, hätte jemals nicht irgendwie gestimmt. Eine meiner Erinnerungen an die Ford-Jahre – in der Tat die zweitwichtigste in diesem Bericht, so wie sie sich nach vorn drängt – gilt einer feuchten Möse, die unten an meinem Rücken leckte, als eine nackte Frau sich rittlings auf mich setzte, um mir, angeblich zur Entspannung, die Schultern zu massieren. Die Massage war als eine Art Belohnung, als therapeutisches Zwischenspiel bei unserer Zweipersonenorgie gedacht, aber ich habe Massagen nie wirklich gemocht, nie recht die dahintersteckende chiropraktische Theorie geglaubt, und das Gefühl – wie ein großer Zungenkuß gleich oberhalb der Furche meines Hinterns – ließ mich innerlich schaudern. Die Schuld liegt bei mir, bei meiner prüden Generation. Männer, die nach der Truman-Administration geboren sind und von früher Jugend an mit Aktphotos in überregionalen Magazinen gelebt haben und mit Dokumentarfilmen über die menschliche Geburt, die dem Fernsehzuschauer keine Wehenkontraktion ersparen, können sich unsere von den Vätern und Vorvätern ererbte Unschuld hinsichtlich der weiblichen Genitalien vermutlich kaum vorstellen. Diese zwei Paar Lippen, die großen und die kleinen. Das Gerüschte, das sie haben, und wie sie in einer kleinen wulstigen Schwellung um die Klitoris zusammenlaufen. Ihre fahle, austernhafte, kaum zu ertragende Kompliziertheit, deren Anblick man sich ersparte; man überließ ihn, ebenso wie die optische Qual der Entbindung, gern den Gynäkologen. Augen zu und ran, hieß die Devise in jenen Tagen, und: Verzieh dich vom Schauplatz so schnell wie's nur geht. Neun Monate später begann dann die verantwortungsvolle Vaterschaft. Sie haben einen Sohn. Das waren dunkle Zeiten damals, in denen man alles im Dunkeln tat, wie Spermatozoen sich blind den Eileiter hinauf zum Ei schlängeln. Vorbei jetzt: die Möse ist keine fellgesäumte Abwesenheit mehr, die in binärer Opposition zur phallischen Anwesenheit steht, sie hat jetzt eine deutliche Präsenz, mit einer eigenen aggressiven Anatomie. Wenn sie gut genug ist, das Drängen einer Erektion in sich aufzunehmen, dann ist sie erst recht gut genug, ein eisiges bißchen Schleim auf der liebesheißen Haut des Verführers zu hinterlegen.
WADM