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MARCEL HÄNGGI

NULL ÖL.
NULL GAS.
NULL KOHLE.

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WIE KLIMAPOLITIK
FUNKTIONIERT.

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Der Verlag dankt für die finanzielle

Kulturpark Zürich West

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für

© 2018 Rotpunktverlag, Zürich

eISBN 978-3-85869-853-7

3., aktualisierte Auflage 2019

INHALT

EINLEITUNG
ES WÄRE SO EINFACH

Apologie des Journalisten

Annäherung ans Thema I Bondo. Bangladesch. Barbuda

Annäherung ans Thema II Auspeitschen, menschenfreundlich

Annäherung ans Thema III Plötzlich sieht der Dino alt aus

TEIL I
GRUNDLAGEN

WISSEN

Konsens

Parallelwelt

Disruption

Lügen

Kritik

MACHT

Politik

Gerechtigkeit

Bevölkerung

Recht

WIRTSCHAFT

Nachhaltigkeit

Preise

Wachstum

Geld

FANTASIE

TEIL II
STRATEGIEN

REDUZIEREN

Energie

Effizienz

Substitution

Mobilität (ein Exkurs)

Suffizienz

Das Brunnenspiel

REPARIEREN

Senken

Atmosphärenwäsche

Wettermachen

INSTRUMENTE

Lenken

Handeln

»Kompensieren«

Verbieten

TEIL III
DIE GLETSCHER-INITIATIVE

Das Versprochene einfordern

Lohnt es sich?

»Wir sind schon gut«

Die Gletscher-Initiative

ANHANG

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

EINLEITUNG

ES WÄRE SO EINFACH

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Immer wieder ertappe ich mich bei der Frage, ob die Dinge wirklich so kommen könnten, wie ich sie hier dargestellt habe, ob das nicht alles weit hergeholt ist, ein wenig hysterisch. Ich klopfe die Argumente ab, ich vergleiche. Ich komme zu dem Schluss: nein, nicht hysterisch.

Wirklich glauben will ich es aber immer noch nicht.

Philipp Blom1

Es gibt Probleme, die sind schwer zu lösen, weil sie schwer zu lösen sind. Und es gibt Probleme, die sind schwer zu lösen, gerade weil ihre Lösung so einfach wäre, wenn man es sich nur eingestünde. Das Klimaproblem ist im Kern entwaffnend einfach: Es geht darum, keinen fossilen Kohlenstoff mehr zu verbrennen: Kein Erdöl. Kein Erdgas. Keine Kohle. Es geht darum, dass der fossile Kohlenstoff bleibt, wo er seit Jahrhundertmillionen ist: im Boden.

Für den Fall, dass Sie es ganz eilig haben, sage ich Ihnen jetzt, was eine gute Klimapolitik ist: Es geht nicht darum, mehr Windkraftwerke und Solarpanels aufzustellen. Es geht nicht darum, ineffiziente Glühbirnen zu verbieten. Und vergessen Sie »umweltfreundliche Autos« (das gibt es nämlich nicht). Es geht darum, den Kohlenstoff, der nicht als Kohlendioxid (CO2) in die Atmosphäre gelangen soll, vom Markt fernzuhalten. Fossiler Kohlenstoff gehört verboten. Dieser fossile Kohlenstoff – vor allem in der Form von Erdöl – ist zwar der wichtigste Rohstoff der Weltwirtschaft und die wichtigste Stütze geopolitischer Machtverhältnisse. Die Mächte, die sich auf fossilen Kohlenstoff stützen, verteidigen ihre Macht mit Zähnen und Klauen. Aber, auch das für Eilige: Nirgends steht geschrieben, dass das Leben in einer Welt ohne fossilen Kohlenstoff – ja vielleicht sogar ein Leben mit weniger Energie und weniger Wirtschaftsleistung – schlechter sein muss als das Leben in der gegenwärtigen Welt.

Für die weniger Eiligen: Ein bisschen komplizierter ist es doch.

Denn erstens gibt es neben dem CO2 auch andere Gase, die den Treibhauseffekt verstärken (Methan, Lachgas, synthetische Gase), und es gibt andere CO2-Quellen als die Verbrennung fossilen Kohlenstoffs (Abholzung, Bodenzerstörung, Zementproduktion). Das CO2 aus der Verbrennung von Öl, Kohle und Gas verantwortet aber zwei Drittel des menschgemachten Treibhauseffekts. Aus Erdöl, Erdgas und Kohle auszusteigen, reicht nicht, um die Erwärmung zu stoppen. Aber ohne diesen Ausstieg geht es nicht.

Zweitens ist, was einfach ist, nicht leicht. Als wichtigster Rohstoff der Weltwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert nährt fossiler Kohlenstoff das Wirtschaftswachstum. Die auf fossilem Kohlenstoff gebaute Wirtschaft hat Unzähligen materielle Sicherheit und Wohlstand beschert – gerade zu den Zeiten, in denen die wichtigsten Errungenschaften der Moderne sich verbreiteten: Menschenrechte, Demokratie, individuelle Freiheit. Wie sich diese Werte bewahren lassen in einer Welt, deren Wirtschaft aufhören muss, immer mehr leicht verfügbare Energie zu verbrauchen, ist eine offene Frage. Ohne fossilen Kohlenstoff zu wirtschaften, ist so leicht, wie es leicht ist, als Alkoholiker keinen Alkohol mehr zu trinken. Aber jeder Alkoholiker, der sich seine Sucht eingesteht, weiß, dass seine Lösung wenn nicht leicht, so doch einfach wäre: Null Bier. Null Wein. Null Schnaps.

Drittens blieben auch nach einem Emissionsstopp die Folgen der schon eingetretenen Erwärmung und mit ihnen Fragen wie: Wer entschädigt die Opfer des bisherigen Klimawandels? Wer trägt die Kosten der Anpassung an das veränderte Klima? Wer nimmt die Menschen auf, die durch den Klimawandel ihre Heimat verloren haben und noch verlieren werden?

2008 publizierte ich das Buch Wir Schwätzer im Treibhaus. Warum die Klimapolitik versagt. Ich schrieb es im Bewusstsein, dass die »gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems«, die es laut dem Uno-Rahmenabkommen zum Klimawandel aus dem Jahr 1992 abzuwenden gilt, eine Bedrohung der nahen Zukunft sei. Das vorliegende Buch schreibe ich im Bewusstsein, dass die Klimaerwärmung eine Realität der Gegenwart ist; dass die »Störung des Klimasystems« für Millionen Menschen längst die Stufe der Gefährlichkeit erreicht hat. Einiges übernehme ich aus meinem letzten Buch, anderes ist neu. Gleich bleibt die Kernaussage: Es wäre so einfach, wenn man es sich nur eingestünde.

Einfach, radikal

Neu ist gegenüber 2008 vor allem, dass sich die Uno-Mitgliedstaaten in einem Vertrag auf das Ziel geeinigt haben, die vom Menschen verursachte Erwärmung auf deutlich unter 2 und wenn möglich auf 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Man kann an diesem Übereinkommen von Paris vom Dezember 2015 vieles kritisieren; ich komme darauf zurück. Aber in Paris wurde der Kern der Sache richtig erkannt. So steht es in Artikel 4: Die Treibhausgasemissionen müssen aufhören. Zwar steht da auch, dass dies erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts erreicht werden solle. Das ist zu spät, um das Ziel des Abkommens zu erreichen. (Die Jahre 2015 bis 2017 waren 1,1, 1,3 respektive 1,2 Grad wärmer als das vorindustrielle Niveau. Schon bei einer Erwärmung um 1,5 Grad sterben beispielsweise 70 bis 90 Prozent der für die marine Biodiversität enorm wichtigen Korallenriffe ab; bei einer Erwärmung um 2 Grad wären es über 99 Prozent.2) Aber immerhin steht es da: Alles muss weg. Es geht nicht um eine Reduktion von 20 oder 50 oder 90 Prozent. Es geht um: null.

Das ist einfach, das ist radikal, und das haben die Uno-Mitglieder im Konsens ausgehandelt. Es ist radikal, weil da beschlossen wurde, dass man den wichtigsten Treiber der Weltwirtschaft aufgeben will, auch wenn es etwas umständlich formuliert ist (»Zum Erreichen des in Artikel 2 genannten langfristigen Temperaturziels sind die Vertragsparteien bestrebt, so bald wie möglich den weltweiten Scheitelpunkt der Emissionen von Treibhausgasen zu erreichen, wobei anerkannt wird, dass der zeitliche Rahmen für das Erreichen des Scheitelpunkts bei den Vertragsparteien, die Entwicklungsländer sind, größer sein wird, und danach rasche Reduktionen im Einklang mit den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen herbeizuführen, um in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ein Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher Gase durch Senken auf der Grundlage der Gerechtigkeit und im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung und der Bemühungen zur Beseitigung der Armut herzustellen«3). Einen vergleichbaren Beschluss gab es noch nie.

Aber man rettet die Welt nicht, indem man beschließt, sie dürfe nicht untergehen. Damit aus dem diplomatischen Erfolg von Paris ein tatsächlicher Erfolg wird, müssen die Bürgerinnen und Bürger ihre Regierungen nun auf das behaften, was sie da beschlossen haben. Wer das Übereinkommen von Paris ernst nimmt – wer die gegenwärtig wohl größte Bedrohung der menschlichen Zivilisation ernst nimmt –, muss das Verbrennen von Erdöl, Kohle und Erdgas verbieten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, sagt das Abkommen von Paris. Bis 2050, sagt der 1,5-Grad-Spezialbericht des Uno-Klimarats IPCC. Je schneller, desto besser, lautet die Folgerung aus allem, was wir wissen.

Aber viele, die »Paris« mit ausgehandelt haben, haben diese Radikalität und Einfachheit nicht verstanden. Die Klimapolitik hat in den letzten knapp drei Jahrzehnten zahlreiche Maßnahmen erfunden, die das Einfache kompliziert machen. Handelssysteme für Treibhausgasemissionen (das CO2-Handelssystem der Europäischen Union ist das komplexeste Umweltregelwerk aller Zeiten), Innovationsförderungsprogramme, steuerliche Anreize, Mindeststandards für Energieeffizienz oder Subventionen für Sinnvolles und Kontraproduktives; dazu kommen Hoffnungen auf Rettungstechniken (»Geoengineering«) … alles Mögliche, um die CO2-Emissionen zu senken, ohne die Kohlenstoffzufuhr zu drosseln.

Anzeichen dafür, dass die Staaten, die das Übereinkommen von Paris ausgehandelt haben, ihre Klimapolitik im Sinne der Klarheit, Einfachheit und Radikalität von Paragraph 4 dieses Abkommens umorientierten, gibt es bislang kaum.

Was dieses Buch auch von meinem ersten zum Thema von 2008 unterscheidet, ist ein konkreter Vorschlag, wie das Nötige politisch erreicht werden kann, am Beispiel der Schweiz: Wie von der Schweizer Regierung einzufordern ist, was sie mit ausgehandelt und unterzeichnet und was das Parlament ratifiziert hat – das von mir mitlancierte Volksbegehren »Gletscher-Initiative«.

APOLOGIE DES JOURNALISTEN

»Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.« Der Satz des 1995 verstorbenen Hajo Friedrichs gilt vielen Journalistinnen und Journalisten als Grundlage ihrer Berufsethik. Ich bin Journalist, und ich schreibe dieses Buch als Teil einer politischen Kampagne, die für die Schweiz eine konkrete Lösung vorschlägt: ein Volksbegehren (in der politischen Terminologie der Schweiz: eine Volksinitiative) für ein Verbot fossilen Kohlenstoffs ab 2051. Indem ich 2017 zusammen mit Mitstreitern an der Volksinitiative zu arbeiten begann, habe ich mich mit einer Sache gemein gemacht. Darf ich das?

Nach der Klimakonferenz in Paris schrieb ich für die Zürcher WOZ Die Wochenzeitung einen Leitartikel, der mit den Worten endete: »›Paris‹ ist ein immenses Versprechen, aber es erfüllt sich nicht von selbst. Jetzt gilt es, den Schwung zu nutzen und das Versprochene einzufordern. Jetzt beginnt eine große Arbeit.«4 Bald darauf wurde mir klar: Ich will mich nicht weiter auf die Rolle bescheiden, zu schreiben, was zu tun wäre.

Das Versprochene einfordern: Ich lebe in einem Land mit einer politischen Kultur der direkten Demokratie. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann, sofern er oder sie innert achtzehn Monaten 100 000 gültige Unterschriften sammelt, eine Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung beantragen. Weil weder von der schweizerischen Bundesregierung – dem Bundesrat – noch vom Parlament zu erwarten ist, dass sie das Übereinkommen von Paris in ihrer Radikalität verstanden haben und ernst nehmen, liegt es nahe, eine Volksinitiative zu lancieren.

Nochmals: Darf ich das – als Journalist? Eine ähnliche Diskussion läuft seit langem unter Klimawissenschaflterinnen und -wissenschaftlern: Müssen sie sich darauf bescheiden, wissenschaftlich festzustellen, was Sache ist, und hoffen, ihre alarmierenden Befunde würden gehört und richtig verstanden – oder dürfen, ja müssen sie sich in die politische Debatte einmischen? Eine, die dezidiert letztere Position vertritt, ist die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes. Sie hält es für eine moralische Verpflichtung der Wissenschaftsgemeinschaft, sich dafür einzusetzen, dass geschieht, was aus ihrer Sicht geschehen muss. Und sie hält es für falsch zu glauben, eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler gefährde dadurch seine Glaubwürdigkeit: Einige der größten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts wie Albert Einstein oder Niels Bohr hätten sich politisch engagiert. Ihr Ansehen habe nicht darunter gelitten.

Ich glaube, dass Friedrichs’ Leitsatz nicht absolut gelten kann. Erstens machen sich allzu viele Berufskollegen im Bestreben, sich mit keiner Sache gemein zu machen, »neutral« zu bleiben und »objektiv« zu berichten, letztlich zu Verbündeten der Meinung, die gerade dominiert. Zweitens kann es keine Außenposition geben, wenn das Überleben der menschlichen Zivilisation auf dem Spiel steht. Um es pathetisch zu sagen: Wenn die Sache die Rettung der Welt ist, will ich mich mit dieser Sache nicht nicht gemein machen.

ANNÄHERUNG ANS THEMA I

BONDO. BANGLADESCH. BARBUDA

Am 23. August 2017 löst sich eine Felsnase von der Nordflanke des Piz Cengalo auf der schweizerisch-italienischen Grenze. Drei Millionen Kubikmeter Fels stürzen auf den Cengalogletscher und bringen große Mengen Gletschereis zum Schmelzen. Das Gemisch aus Fels und Schmelzwasser rast als Murgang durch das unbewohnte Val Bondasca und begräbt acht Wanderer metertief unter sich, ergießt sich ins Haupttal des Bergells und zerstört Teile des Dorfs Bondo. Weil die Bewohner rechtzeitig evakuiert wurden, gibt es im Dorf keine Todesopfer, und der Schaden fällt nicht schlimmer aus, weil die Gemeinde einige Jahre zuvor ein Auffangbecken gebaut hat – gegen Widerstand wegen der hohen Kosten, doch in der reichen Schweiz konnte man es sich leisten.

Bergstürze gab es schon immer; 1618 begrub ein Bergsturz wenige Kilometer von Bondo entfernt ein ganzes Dorf unter sich. Immer spielen mehrere Ursachen zusammen. Im Falle von Bondo kamen aber zwei Faktoren dazu, die es nicht immer schon gab. Über 2400 Metern über Meer ist der Boden ganzjährig gefroren. Dieser sogenannte Permafrost zieht sich nun zurück, weil es wärmer wird. Und der Cengalogletscher schrumpft wie fast alle Alpengletscher. Er hat bisher die brüchige Felswand des Piz Cengalo gestützt.

Der Bergsturz von Bondo berührte mich besonders, weil ich geplant hatte, wenige Wochen später durch das Val Bondasca zu wandern. Die Weltmedien wurden im späten August 2017 aber von anderen Ereignissen dominiert. Über dem Golf von Mexiko braute sich der Hurrikan Harvey zusammen. Ein tropischer Sturm, nichts Außergewöhnliches in dieser Gegend. Aber weil das Wasser des Golfs von Mexiko wärmer geworden ist, werden Hurrikane tendenziell heftiger und die wärmere Luft nimmt mehr Wasser auf. Am 25. August traf Harvey bei Houston auf Festland – als hätte der Hurrikan mit Sinn für Symbolik gerade die Stadt gewählt, die wie kaum eine zweite für eine ressourcenverschwenderische Lebensweise steht: mit Erdölgeld in ein Sumpfgebiet gebaut, von Autobahnen durchzogen und mit riesigen Einfamilienhausquartieren ins Umland wuchernd, jeden entmutigend, der sich zu Fuß fortbewegen will. Teile der Küstenregion von Texas und Louisiana wurden von ungeheuren Regenmengen überflutet.

Und vielleicht deshalb, weil das Wetter in den USA gerade für Schlagzeilen sorgte, fiel der Blick der Weltmedien auch auf den indischen Subkontinent. Dort wütete ein außergewöhnlich heftiger Monsun. Bereits im Mai waren aus Sri Lanka Todesopfer gemeldet worden. Im August fielen den Überschwemmungen in Indien, Nepal, Pakistan und Bangladesch 2000 Menschen zum Opfer.

Wenig später braute sich der nächste Wirbelsturm im Atlantik zusammen: Irma, der heftigste Hurrikan über dem Atlantik seit Messbeginn. Er raste auf die Karibik zu; auf der kleinen Insel Barbuda zerstörte er über neunzig Prozent aller Gebäude. Aber die Augen der Weltmedien waren auf Florida gerichtet. Wettermodelle sagten vorher, zu welcher Stunde Irma dort auf Festland treffen würde. Die angekündigte Katastrophe wurde mittels Live-Berichterstattung zum Spektakel gemacht (und ging dann etwas glimpflicher aus als befürchtet). Auf Irma folgten im September noch zwei starke Hurrikane in der Region, die vor allem auf den Inseln der Antillen weitere Schäden anrichteten und Todesopfer forderten, Jose und Maria.

Ungefähr zur selben Zeit forderte ein Erdrutsch nach außergewöhnlichen Regenfällen nahe Freetown in Sierra Leone Hunderte von Todesopfern. Auch in anderen Teilen Afrikas rutschte die Erde, derweil große Teile Südeuropas unter einer ungewöhnlichen Dürre litten und die landwirtschaftlichen Erträge dramatisch einbrachen. Und in Grönland hatte im Juli die Tundra gebrannt, wie man es in diesem Ausmaß noch nicht beobachtet hat. Auch hier war es ungewöhnlich heiß und trocken gewesen. Die brennende Vegetation setzte auch den ausgetrockneten Torfboden in Brand. Solche Brände sind ein Schulbuchbeispiel für einen sich selbst verstärkenden Rückkoppelungseffekt des Klimawandels: Weil es zu viele Treibhausgase in der Luft hat, wird es wärmer. Weil es wärmer wird, gibt es mehr Wald-, Busch- und Torfbrände. Diese Brände setzen CO2 frei, das als Treibhausgas wiederum die Erwärmung verstärkt.

Am Ende des Jahres wusste man: 2017 war das im globalen Durchschnitt zweitwärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Das wärmste war das Vorjahr gewesen.

Endspiel

Wenige Wochen vor all diesen Ereignissen publizierte das New York Magazine unter dem Titel »Unbewohnbare Erde« eine lange Recherche des Journalisten David Wallace-Wells, die weltweit große Beachtung fand. Wallace-Wells hatte mit zahlreichen Klimaforschern gesprochen. Sein Artikel beginnt mit den Worten »Ich verspreche, es ist schlimmer, als Sie denken.«5

Die Chance, dass die Erwärmung auf zwei Grad über vorindustriellem Niveau begrenzt werden kann, schätzt Michael Oppenheimer von der Princeton University, ein Pionier der Klimaforschung, im Interview mit Wallace-Wells auf zehn Prozent – vor der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten, so Oppenheimer, hätte seine Schätzung noch bei zwanzig Prozent gelegen. Als es auf der Erde das letzte Mal zwei Grad wärmer war, habe der Meeresspiegel sechs bis neun Meter höher gelegen als heute.6

Wenn aber die Treibhausgasemissionen wie bisher ungebremst weiter steigen, könnte sich das Klima laut wissenschaftlichen Modellen bis im Jahr 2100 auch um drei, vier oder fünf, nach Extremszenarien sogar um acht Grad erwärmen. Eine Klimaerwärmung um fünf Grad gab es schon einmal: vor 252 Millionen Jahren an der Perm-Trias-Grenze. Damals starben laut Schätzungen 90 bis 95 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten aus. Dabei erstreckte sich die damalige Erwärmung über einen viel längeren Zeitraum, verlief also viel langsamer als die gegenwärtige.7

Ich fragte mich nach der Lektüre von Wallace-Wells’ Artikel: Wie würde sich ein Science-Fiction-Autor das Endspiel ausmalen? Vielleicht so: Immer mehr und immer heftigere Extremwetter richten immer größere Schäden an und fordern immer mehr Todesopfer, riesige Waldflächen brennen; die landwirtschaftlichen Erträge brechen ein, Hungersnöte und Massenmigration sind die Folge. Die Katastrophen – zumindest jene in den reicheren Weltgegenden – werden medial flächendeckend begleitet, man sieht Fernsehreporter, sich an Fahnenstangen festklammernd, aus dem Innersten der Stürme berichten. Die Ursachen sind wissenschaftlich bestens erforscht, dennoch gibt es lange Debatten darüber, ob das nun bereits der Klimawandel sei – oder vielleicht doch noch nicht. Wer ungeschönt auf den Ernst der Lage verweist, gilt als Alarmist. In den Feuilletons fragen Kulturwissenschaftler in feingeistigen Essays, woher die Faszination des Apokalyptischen kommt, und mokieren sich über menschliche Kontrollfantasien, wenn jemand fordert, die Katastrophen nicht einfach hinzunehmen.

Wir sind mittendrin

Im späten August 2017 schien das Gedankenspiel Realität zu werden. In der Regierung jenes Landes, das von den Unwettern zwar nicht am heftigsten getroffen, über dessen Schäden aber weitaus am meisten berichtet wurde – der USA –, sitzen Leute in den wichtigsten Ämtern, die den vom Menschen verursachten Klimawandel leugnen. Eine Internetsuche, die ich am 4. September unternahm, fand zum Stichwort »Hurricane Harvey« 88 Millionen Treffer; nur in drei Prozent dieser Treffer kam auch der Begriff »Climate Change« vor, wobei hier der zuerst angezeigte Treffer den Titel trug »Der Klimawandel ist nicht für Hurrikan Harvey verantwortlich«.

In Deutschland war der Klimawandel in der einzigen Fernsehdebatte zwischen den beiden Spitzenkandidaten der Bundestagswahlen 2017, Angela Merkel und Martin Schulz, im September kein Thema. In Schweizer Zeitungen erschienen Kommentare, die mahnten, die Ereignisse von Bondo bis Houston seien keine Beweise des Klimawandels. So schrieb der Zürcher Tages-Anzeiger, unter Laien gelte es »längst als ausgemacht, dass die Ereignisse in Bondo und Houston Folge des menschengemachten Klimawandels sind«. Fachleute seien »vorsichtiger: Einen direkten Zusammenhang mag kaum einer herstellen. Naturkatastrophen gab es schon lange, bevor wir CO2 in die Luft zu blasen begannen.«8

Natürlich gab es Naturkatastrophen schon immer, aber mag tatsächlich kaum eine Fachperson einen Zusammenhang zwischen den Katastrophen und dem Klimawandel herstellen, wie der Kommentator behauptet? Nein. Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung teilte mit, Hurrikan Harvey sei zwar nicht vom Klimawandel ausgelöst worden, aber seine verheerenden Folgen seien »sehr wahrscheinlich« mit dem Klimawandel zu erklären. Zum Extrem-Monsun in Südasien schrieb das selbe Institut: »Computersimulationen (…) erfahren nun eine traurige Bestätigung durch die gegenwärtigen verheerenden Niederschläge.« »Künftige Zunahmen der Niederschlagsextreme während des Monsuns in Ost-, Süd- und Südostasien sind sehr wahrscheinlich«, hatte das Uno-Expertenpanel für den Klimawandel IPCC in seinem letzten umfassenden Bericht von 2013 geschrieben.9 »Aufgrund des auftauenden Permafrosts ist vermehrt mit Murgängen und der Destabilisierung der Fundamente touristischer Infrastrukturen im Hochgebirge zu rechnen«, warnt ein Bericht des schweizerischen Bundesamts für Umwelt von 2012.10 Dass es zwischen Extremwettern und dem Klimawandel keinen Zusammenhang gebe, ist Unsinn. Es gibt kein vom Klimawandel unbeeinflusstes Wetter mehr.

Und es gibt kaum mehr ein Thema der großen Politik, das nicht mit globalen Umweltveränderungen interferiert. Die vielen Menschen, die vor allem 2015 aus Syrien nach Europa flüchteten, flüchteten nicht vor dem Klimawandel, sondern vor Krieg und Gewalt, aber dass die Region vor 2011 von der schlimmsten Dürre seit dem Beginn der systematischen Aufzeichnungen vor über hundert Jahren heimgesucht wurde, trug zum Ausbruch des Bürgerkriegs bei. Das Klima ist kein Thema, um das sich die Politik dann auch mal noch kümmern sollte, wenn die Wirtschaft angekurbelt und der Terror bekämpft ist. Die »gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems« ist keine in Zukunft drohende Gefahr. Wir sind mittendrin.

ANNÄHERUNG ANS THEMA II

AUSPEITSCHEN, MENSCHENFREUNDLICH

Der Kern der Lösung des Klimaproblems ist einfach, aber nicht leicht. Es gibt Beispiele in der Geschichte, in denen Gesellschaften taten, was sie für richtig hielten, auch wenn es nicht leicht war. Ein Beispiel ist die Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert. Sie hat sehr lange gedauert und Formen der Sklaverei gibt es bis heute; gleichwohl: Das System der Sklavenhaltergesellschaften wurde erfolgreich beendet. Was wäre herausgekommen, hätten die Menschenfreunde von damals gehandelt wie die Klimapolitik heute?

Ein Gedankenspiel.11

Am Anfang stand ein wachsendes Unbehagen. Die Wirtschaft florierte. Der Wohlstand zeigte sich vor allem im rasanten Anstieg der Zucker- und der Baumwollproduktion. Einst Statussymbol der Reichen, konnten sich zunehmend auch Normalbürger Süßspeisen und Baumwollkleider leisten – und oft einen Haussklaven dazu. Luxusgüter wurden demokratisiert: Ausdruck einer egalitäreren Gesellschaft.

Doch mit der Zucker- und der Baumwollproduktion wuchs die Sklavenwirtschaft, denn der Wirtschaftsaufschwung basierte auf der Produktion der Plantagen, die von Sklaven bewirtschaftet wurden. Das mochte nicht recht zu den egalitären Idealen passen. Schließlich wuchs mit dem Wohlstand auch das Freiheitsbewusstsein der Menschen.

Gewiss: Es gab Leute, die rundweg bestritten, dass Sklaverei unmenschlich sei: Sie nannten sich »Sklavenskeptiker«. Es waren wenige, aber sie wurden von der Sklavenlobby mit viel Geld alimentiert, und in Ländern, deren Medien mit der Plantagenwirtschaft eng verbandelt waren, konnte man mit solchen Positionen Wahlen gewinnen. Doch wer einigermaßen informiert war, anerkannte die Tatsachen.

Das Bewusstsein für die Misere der Sklaven existierte, ja es lag im Trend. »Menschenfreundlichkeit« wurde zum Modebegriff und Marketingargument. Man konnte menschenfreundliche Baumwolle (»Libero-Baumwolle«) und menschenfreundlichen Zucker (mit Labels wie »Esclavo fidelio« oder »Slave Stewardship Council SSC«) kaufen. Wissenschaftler entwickelten Hightech-Materialien, um die Peitschen der Sklaventreiber menschenfreundlicher zu machen. Schön gestaltete Menschenfreundlichkeitsmagazine (Menschenliebe, Die Freiheit) boomten. Marktsoziologen schufen einen eigenen Begriff für Leute, die solche Magazine lasen und solche Produkte konsumierten: die Lopaf (»Lifestyle of Philanthropy and Feelgoodness«)I – eine umworbene, da kaufkräftige Kundschaft.

Einige Weltfremde wollten die Sklaverei abschaffen, doch die meisten blieben realistisch. Nicht nur hätte eine Abschaffung unabsehbare wirtschaftliche Auswirkungen: Es war einfach klar, dass niemand auf billigen Zucker und billige Baumwolle verzichten wollte! Die Sklaverei und der Aufschwung der Wirtschaft seien derart miteinander verzahnt, schrieb ein Ökonom, dass er es »nur als überflüssig erachten könne, ein Wort über die Veränderung des bestehenden Systems zu verlieren«. Und die Liverpool Chronicle and European Times rechnete ihren Lesern vor, dass die Preise der Baumwolle ohne Sklaverei um 100 bis 200 Prozent steigen würden – mit schrecklichen Folgen für alle!II Der Lebensstil stand nicht zur Debatte, so weit war man sich einig.III Und nicht zuletzt sprachen moralische Argumente gegen überstürzte Radikallösungen: Gerade jetzt, wo sich auch die Menschen ärmerer Länder Zucker, Baumwolle und Haussklaven leisten konnten, sollte man sie verbieten? Es gab ein Recht auf nachholende Entwicklung, und es machte sich schlecht, wenn Leute in eleganten Baumwollkostümen forderten, den Gürtel enger zu schnallen.

Menschenfreundlichkeitsabkommen

Die internationale Politik beschritt deshalb pragmatische Wege. In einem ersten Menschenfreundlichkeitsabkommen verpflichteten sich die reicheren Länder, die Zahl der Peitschenhiebe (PH – das Maß, das sich zur Bemessung der Sklaverei durchsetzte) gegenüber einem Stichdatum um einen gewissen Prozentsatz zu senken. Damit das Abkommen seinen Unterzeichnerstaaten kein allzu enges Korsett anlegte, sah es einen »Mechanismus der freiheitlichen Entwicklung« (Free Development Mechanism, FDM) vor: Statt selber weniger Sklaven auszupeitschen, konnten die Vertragsstaaten Peitschenhiebe in anderen Staaten kompensieren.IV

Aus ökonomischer Sicht war das eine erfreuliche Einrichtung, ließen sich in ärmeren Ländern mit gleich viel Geld doch wesentlich mehr Peitschenhiebe einsparen, als es in den reichen Ländern möglich gewesen wäre. Und wer nicht auf seinen sklavengestützten Lebensstil verzichten wollte, konnte auch als Einzelperson PH-Kompensationen erwerben. Zwar führte der FDM zu einigen unerwünschten Resultaten: So entstanden neue Plantagenwirtschaften mit dem einzigen Ziel, die Sklaven etwas weniger als üblich auszupeitschen und diese Differenz auf dem FDM-Markt zu verkaufen. Aber das waren Anfangsprobleme des Systems, die es in Kauf zu nehmen galt.

Manche Staaten setzten zur Erreichung ihrer Ziele auf einen ausgeklügelten internen PH-Markt. Unternehmen mussten PH-Rechte erwerben, die sie weiterverkaufen durften. Weil allerdings befürchtet wurde, besonders sklavenintensive Betriebe würden durch diese neue Regelung zu sehr belastet, verschenkte der Staat einen Teil der PH-Rechte. Weil man sich dabei verkalkulierte, fiel der Preis in sich zusammen. Man hätte die PH-Rechte nur wieder zu verknappen brauchen, doch dagegen wehrte sich die Lobby der Sklavenhalter, die noch immer in fast allen Ländern einen guten Draht zu den Regierungen hatte.

Man muss also einräumen, dass die PH-Märkte schlecht funktionierten und das internationale PH-Abkommen zu schwach war. Die ganzen Bemühungen trugen aber gleichwohl dazu bei, das Thema ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit und auf die Agenda der Weltpolitik zu heben.

Wirtschaftszweige, die auf das neue Freiheitsbewusstsein setzten, florierten (wenn sie auch bei weitem nicht die Bedeutung der Plantagenwirtschaft erreichten). Die Humane-Tech-Industrie entwickelte bessere Pflückwerkzeuge für Baumwolle und züchtete gentechnisch verändertes Zuckerrohr, das beim Ernten weniger in die Hände schnitt; es gab ausgeklügelte Peitschenhieb-Managementsysteme, Peitschen mit einstellbarer Hiebstärke für ein sogenanntes Precision Slaving und so weiter; die Innovationskraft war eine wahre Freude.

Steigende Peitschenhiebeffizienz

Nörgler wiesen darauf hin, dass all das nichts gebracht habe: Während der Laufzeit des ersten PH-Abkommens hatte die Zahl der weltweit eingesetzten Peitschenhiebe nicht nur zugenommen, die Zunahme hatte sich gar beschleunigt. Staaten, deren Politiker sich für Menschenfreundlichkeit stark machten, trieben gleichzeitig die Erschließung neuer Sklavenquellen voran.V Doch wiesen Ökonomen darauf hin, dass zumindest in den reicheren Ländern, die als Vorreiter für die ärmeren galten, die Zahl der Peitschenhiebe stagnierte oder doch langsamer zunahm als die Produktion, das heisst: Die Zahl der Peitschenhiebe im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung sank – die PH-Effizienz stieg. Man sprach von einer Entkoppelung der Produktion vom Peitscheneinsatz. Würde diese Entkoppelung nur genügend unterstützt, erledigte sich das Problem eines Tages ganz von selbst.

Zugegeben: Es ist ungewiss, ob dieser Weg zum Ziel führt. Der größte Sklavenhalterstaat hat das erste Menschenfreundlichkeitsabkommen nie ratifiziert. An der Aushandlung des Nachfolgeabkommens hat er sich zwar konstruktiv beteiligt und hat das Abkommen auch ratifiziert, nach einem Regierungswechsel aber angekündigt, aus dem Abkommen wieder aussteigen zu wollen – sein neuer Präsident glaubt nicht an die Schädlichkeit von Peitschenhieben. Die Weltwirtschaft kriselt. Einbrüche am Zucker- und Baumwollmarkt haben alle alarmiert; einige der größten Plantagenbetreiber mussten mit staatlichen Notkrediten gerettet werden. Das politische Ziel der Menschenfreundlichkeit ist darob etwas in den Hintergrund geraten, die Politik investiert all ihre Energie in die Ankurbelung der Zuckerund Baumwollproduktion, aber schließlich kann nur eine Gesellschaft, deren Wirtschaft gut läuft, ihre Menschenfreundlichskeitspolitik auch finanzieren.

Und die ganze Situation befördert die Innovation! Wo sie es können, haben die Sklaven begonnen, selber Sklaven zu halten oder Sklavenhalter-Anteilscheine zu kaufen. Nachbarn und Freunde peitschen sich gegenseitig aus, wobei die Peitschenhiebe dank der in vielen Schichten übereinander getragenen Baumwollkleider kaum mehr spürbar sind. Die Seminare zur Steigerung der eigenen PH-Effizienz sind ausgebucht.

In absehbarer Zukunft dürften bis auf wenige Verweigerer alle Bürger der entwickelten Gesellschaften selber Sklaven sein, und doch wird man mit Stolz feststellen, dass die Gesellschaft noch nie so frei war: Nie zuvor wurden so viele Tonnen Zucker und Baumwolle mit so wenig kPH (Kilopeitschenhieb) produziert. Nie war das Freiheitssozialprodukt höher!

ANNÄHERUNG ANS THEMA III

PLÖTZLICH SIEHT DER DINO ALT AUS

Wer sich mit dem Zustand der Umwelt befasst, hat selten genug etwas zu lachen, deshalb will ich hier einen Witz erzählen: Fragt der Museumsbesucher den Aufseher, wie alt die ausgestellten Dinosaurierknochen seien. »56 000 012 Jahre«, antwortet dieser. – »Woher wissen Sie das so genau?« – »Als ich eingestellt wurde, waren die Knochen 56 Millionen Jahre alt, und ich arbeite jetzt seit zwölf Jahren hier.«

Dem Witz bin ich in einer wissenschaftlichen Fachpublikation zur Umweltökonomie begegnet.12 Seine Pointe schöpft er daraus, dass der Museumsaufseher die zeitlichen Größenordnungen durcheinanderbringt. Der Witz kam mir in den Sinn, als die Erdwissenschaftler vor einiger Zeit über den Begriff des »Anthropozäns« diskutierten. So soll eine neue erdgeschichtliche Epoche heißen, die das Holozän, das rund 11 000 Jahre gedauert hat, ablöst und dessen prägendstes Merkmal die von den Menschen (griechisch: anthropos) verursachten Umweltveränderungen sind. Der niederländische Chemiker Paul Crutzen hat den Begriff vor einigen Jahren vorgeschlagen.

Die Erdgeschichte wird in Epochen eingeteilt aufgrund von Merkmalen der geologischen Sedimentschichten. Um das neue Zeitalter zu bestimmen, versuchten die Erdwissenschaftler, mit dem Blick eines Erdwissenschaftlers der Zukunft auf unsere Gegenwart zurückzublicken: Wann wäre die Zeit, in der sich in den Sedimentschichten ein bedeutender Wandel feststellen ließe? Zuletzt einigte man sich am Internationalen Geologischen Kongress 2016 darauf, das Anthropozän Mitte des 20. Jahrhunderts beginnen zu lassen. Die Mehrheit bevorzugte das Jahr 1950; ein starker Kandidat war auch 1945, das Jahr der ersten Atombomben.

Ebenfalls an den Dinosaurierwitz dachte ich, als ich im selben Jahr einen Vortrag einer Trendforscherin hörte. Sie hatte den Auftrag, Aussagen über das Jahr 2035 zu machen. Ohne sich allzu sehr festzulegen, sagte sie: 2035, das ist ungefähr zwei Jahrzehnte von heute entfernt. Schauen wir also zwei Jahrzehnte zurück – und wir erkennen die Größenordnung des Wandels: Der war überschaubar. Es gab vor zwanzig Jahren zwar keine Smartphones und das Internet war noch nicht sehr bedeutend. Aber wir nutzten Computer, bewegten uns in Autos fort, hatten einen ähnlichen Lebensstandard wie heute und dieselben politischen Institutionen. Für die nächsten zwanzig Jahre ist ein Wandel in ähnlichem Ausmaß zu erwarten.

Auf den ersten Blick gleichen die Erdwissenschaftler dem Museumsaufseher des Witzes: Man lässt Erdzeitalter nicht an einem bestimmten Datum beginnen. Dagegen macht die Trendforscherin alles richtig, wenn sie zwanzig Jahre Zukunft mit zwanzig Jahren Vergangenheit vergleicht.

Auf den zweiten Blick ist das weniger klar. Aussagen über die Zukunft machen zu wollen, indem man die Vergangenheit extrapoliert, war immer schon fragwürdig. Man stelle sich vor, jemand hätte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur schon die nächsten paar Monate aufgrund von Erfahrungswerten voraussagen wollen. Oder man stelle sich vor, die Trendforscherin lebte in einer chinesischen Stadt, die in den letzten zwanzig Jahren vom Provinznest zur Millionenstadt anwuchs: Sie würde kaum sagen, dass in zwanzig Jahren keine allzu großen Veränderungen zu erwarten seien.

Die globalen Umweltveränderungen unserer Zeit machen das Extrapolieren historischer Erfahrung aber noch in grundsätzlicherer Weise unsinnig, als es das immer schon war. Vom Menschen ausgelöste Umweltveränderungen lassen sich bis in die Jungsteinzeit zurückverfolgen, aber im 20. Jahrhundert haben sie sich derart beschleunigt, dass harmlos erscheint, was vorher war. Der Berner Umwelthistoriker Christian Pfister hat diese Beschleunigung vor allem auf die 1950er-Jahre datiert – also auf die Zeit, die nun als Beginn des Anthropozäns definiert wurde – und dafür den Begriff des »1950er Syndroms« geprägt; andere sprechen von der damals einsetzenden »Großen Beschleunigung«.13 Das war die Zeit, als die Industrialisierung den Alltag vieler Leute zu verändern begann. Eisenbahnen, Autos, Flugzeuge, Zentralheizungen, Waschmaschinen oder Fernsehen gab es zwar schon länger, aber erst in den 1950er-Jahren begannen große Bevölkerungskreise, diese technischen Errungenschaften in ihrem Alltag zu nutzen. Blickt man auf eine Grafik des Pro-Kopf-Energieverbrauchs, erkennt man diese Entwicklung an einem scharfen Knick der Kurve nach oben.

Und die Beschleunigung geht weiter. Seit 1990 hat die Menschheit ungefähr so viel CO2 aus fossilen Quellen in die Atmosphäre geblasen wie in ihrer gesamten Geschichte zuvor. Nehme ich den CO2-Gehalt der Atmosphäre als Kriterium, so war die Welt, in die ich vor einem knappen halben Jahrhundert geboren wurde, dem Mittelalter oder der Römerzeit oder auch der Steinzeit ähnlicher als der Gegenwart.

Damit droht historische Erfahrung obsolet zu werden. Wenn es plötzlich einen Unterschied macht, ob ein Dinosaurier 56 000 000 Jahre alt ist oder 56 000 012, ist das beängstigend.

Aber ein klein wenig macht es auch frei. Denn wenn alles anders wird, ist vieles möglich. Man müsste sich die Freiheit nehmen, alle Trendforscher zu verlachen wie den Museumsaufseher aus dem Witz. Und darauf pfeifen, wenn wieder eine Agentur vorhersagt, dass der Energieverbrauch, der Verkehr, der Fleischkonsum weiter ungebremst zunehmen werden und dass die Welt in zwanzig Jahren nicht viel anders sein könne als vor zwanzig Jahren. Es gibt immer Alternativen. Nur wenn man glaubt, es gebe keine, und sich nach diesem Glauben verhält, wird dieser Glaube zur selbsterfüllenden Prophezeiung.

IIn der Akronym-verliebten Marketingsprache heißen die (kaufkräftigen) Konsumenten, die einen »Lifestyle of Health and Sustainability« (Lebensstil der Gesundheit und Nachhaltigkeit) pflegen, »Lohas«, nicht zu verwechseln mit den »Lovos« (»Lifestyle of voluntary simplicity« – Lebensstil der freiwilligen Einfachheit).

IIDas Zitat des Ökonomen ist authentisch; John Towne Danson äußerte es 1857. Sein Zitat sowie die Aussage aus der Liverpool Chronicle and European Times, Original aus dem Jahr 1849, zitiere ich nach Beckert 2014, Seiten 93 f. resp. 119.

III»The American way of life is not up for negotiation«, sagte der damalige US-Präsident George Bush 1992 am Uno-Erdgipfel in Rio de Janeiro, an dem der Rahmenvertrag zum Klimawandel ausgehandelt wurde.

IVDas Kioto-Protokoll von 1995 sah einen »Clean Development Mechanism« vor, der es den Vertragsstaaten erlaubte, ihre Reduktionsverpflichtungen durch sogenannte Kompensationen im Ausland zu erfüllen. Das Übereinkommen von Paris sieht einen »Mechanismus« vor, der im Vertragstext keinen Namen hat, aber »Sustainable Development Mechanism« genannt wird; vgl. Kapitel »Kompensieren«.

VDie USA stiegen unter der Präsidentschaft von Barack Obama zum größten Erdölförderer der Welt auf. Obama gilt als Good guy der Klimapolitik, und im Vergleich zu seinem Nachfolger Trump war er das gewiss. Aber auch Obama brüstete sich – je nach Publikum – mit dem Ausbau der Förderung fossiler Energien. So sagte er am 22. März 2012 in Cushing, Oklahoma: »Heute, unter meiner Regierung, produziert Amerika mehr Öl als je zuvor in den letzten acht Jahren. [Applaus.] Das ist wichtig zu wissen. In den letzten drei Jahren habe ich meine Regierung angewiesen, Millionen von Acres in 23 Bundesstaaten für die Suche nach Öl und Gas freizugeben. Wir haben die Zahl der Bohranlagen vervierfacht. Wir haben so viele Öl- und Gaspipelines neu gebaut, dass man damit die Erde umrunden könnte.« (Obama 2012).

TEIL I

GRUNDLAGEN

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WISSEN

Wie die Lösung des Klimaproblems im Kern einfach ist, ist es auch die Ursache der gegenwärtigen Klimaerwärmung. Will man indes die Details kennen, wird es schnell sehr komplex, und vieles versteht die Wissenschaft bis heute schlecht. Das liefert denen, die die Glaubwürdigkeit der Klimaforschung untergraben wollen, Munition. Aber nichts von dem, was unverstanden ist, stellt den Kern des Problems infrage.

Das Einfache: das ist der (seit dem 19. Jahrhundert bekannte) Treibhauseffekt. Die Sonne scheint auf die Erde. Ein Teil des Sonnenlichts wird von der Erdoberfläche und den Meeren reflektiert und fällt zurück ins Weltall. Der Rest wird absorbiert und von der Erde als Wärme wieder abgestrahlt. Die Treibhausgase absorbieren diese Wärme: Die Energie bleibt in der Atmosphäre hängen. Gäbe es diesen Effekt nicht, wäre es auf der Erde 33 Grad kälter. Es gäbe kein Leben.

Das heutige Problem ist nicht der Treibhauseffekt an sich, sondern seine Verstärkung durch menschliche Aktivitäten. Und das ist zur Hauptsache ein Kohlenstoff-Problem. Pflanzen entziehen der Atmosphäre Kohlenstoff in der Form des energiearmen Kohlendioxids (CO2), um daraus mithilfe der Sonnenstrahlung energiereiche Kohlenwasserstoff-Verbindungen aufzubauen; Pflanzen und Tiere verbrennen diese Verbindungen wieder zu CO2 und Wasserdampf, um Energie zu gewinnen. Ein kleiner Teil des Kohlenstoffs wird in Gärungsprozessen zu Methan (CH4), einem energiereichen und im Vergleich zu CO2 kurzlebigen Gas, das aber als Treibhausgas viel stärker wirkt als CO2.

Ein kleiner Teil des Kohlenstoffs verschwindet aus diesem Kreislauf, wenn Gesteinsablagerungen organisches Material zudecken. Über sehr lange Zeit entsteht daraus Kohle, Erdöl oder Erdgas. Der CO2-Gehalt der Atmosphäre sinkt, es wird kühler. Dieser Prozess verläuft so langsam, dass er in historischen Zeiträumen nicht spürbar ist. Mehrmals in der Erdgeschichte wurden derart dem natürlichen Kreislauf entzogene fossile Kohlenstoffe aber relativ plötzlich (in geologischen Dimensionen heißt das: innert Jahrzehntausenden) wieder freigesetzt. Ursachen waren tektonische Verschiebungen, Meteoriteneinschläge oder Vulkaneruptionen. Dadurch erwärmte sich das Klima mitunter um mehrere Grad, es kam zu Massenaussterben.