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Für meine Frau Sabine, die lange vor mir aufgehört hat, News zu konsumieren. Und für unsere Zwillinge Numa und Avi, die glücklicherweise noch zu jung sind dafür.
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Illustrationen: El Bocho
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotive: imago images / imagebroker
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Am 12. April 2013 lud mich die Redaktion der englischen Zeitung The Guardian ein, die Übersetzung meines damals gerade erschienenen Buchs Die Kunst des klaren Denkens vorzustellen. Jede Woche darf ein Autor kurz sein neues Buch präsentieren, und in jener Woche wurde mir die Ehre zuteil. Chefredakteur Alan Rusbridger trommelte die Redaktion zusammen. Langsam füllte sich der Raum. Etwa fünfzig Journalisten standen da, Morgenkaffee in der Hand, tuschelten und warteten darauf, dass Rusbridger endlich erklären möge, wer dieser in England komplett unbekannte Mensch sei. Meine Frau hatte mich begleitet. Meine Hand umklammerte die ihre – ein Versuch, meine Nervosität in Schach zu halten. Hier waren die besten Köpfe einer weltweit führenden Zeitung versammelt, und ich hatte das einmalige Privileg, ein paar meiner Aperçus aus der Welt der Kognitionswissenschaft zum Besten zu geben – in der Hoffnung, dass einer von ihnen über mein Buch schreiben würde. Nach einem Räuspern hob Rusbridger an und sagte trocken: »Ich war gerade auf Ihrer Webseite und habe Ihren frechen Artikel entdeckt. Sprechen Sie darüber, nicht über Ihr neues Buch.«
Darauf war ich nicht vorbereitet. Auf meiner Zunge lagen eingeübte, hoffentlich überzeugende, wohlformulierte Sätze zur Kunst des klaren Denkens, die idealerweise eins zu eins ihren Weg in den Guardian finden würden. Ich schluckte sie herunter. Der Artikel, den Rusbridger auf meiner Webseite entdeckt hatte, listete die wichtigsten Argumente gegen den Konsum von genau dem auf, was diese weltweit respektierten Profis Tag für Tag produzierten: News. Wohl oder übel legte ich los, tischte Grund um Grund auf, warum man auf das beliebteste Produkt einer ganzen Branche am besten verzichtet. Statt von zuvor fünfzig mir wohlgesinnten Menschen war ich jetzt von fünfzig Gegnern umzingelt. Ich versuchte, möglichst ruhig zu bleiben und das Kreuzfeuer ihrer Blicke auszuhalten. Nach zwanzig Minuten war ich mit meinen Argumenten am Ende und schloss mit dem Satz: »Seien wir ehrlich: Was Sie, meine Damen und Herren, hier betreiben, ist im Grunde Unterhaltung.«
Stille. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Rusbridger kniff die Augen zusammen, schaute sich um und sagte: »Ich möchte, dass wir Dobellis Argumente publizieren. Noch heute.« Er drehte sich um und verließ den Raum, ohne sich zu verabschieden. Die Journalisten folgten ihm. Keiner schaute mich an. Keiner wechselte auch nur ein Wort mit mir.
Vier Stunden später stand eine Kurzversion meines Artikels auf der Guardian-Webseite. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich 450 Leserkommentare angesammelt – das technische Maximum. Der Artikel »News is bad for you« wurde paradoxerweise zu einem der meistgelesenen Zeitungsartikel des Jahres.
Das Büchlein, das Sie in den Händen halten, basiert auf eben diesem »frechen« Artikel. Aber es enthält noch viel mehr: mehr Gründe gegen den News-Konsum, mehr Forschung, was News mit uns anstellen, und mehr Tipps, wie wir die Sucht danach in den Griff bekommen und überwinden. Durch die Digitalisierung haben sich News von einem harmlosen Unterhaltungsmedium in eine Massenvernichtungswaffe gegen den gesunden Menschenverstand verwandelt. Dieser Gefahr gilt es, aus dem Weg zu gehen.
Eins ist mir dabei sehr wichtig: Den News-Konsum einzuschränken bedeutet keinen bitteren Verzicht. Im Gegenteil: Sie werden reich beschenkt – mit viel Zeit und mit einem neuen Blick für das, was wirklich wesentlich ist und uns glücklich macht.
Weil man Bücher gleich zweimal hintereinander lesen sollte, damit man nichts vergisst, habe ich es Ihnen für den zweiten Durchgang leicht gemacht: Lesen Sie die Take-aways. Viel Vergnügen bei der Lektüre!
Rolf Dobelli, im April 2019
»Hallo, mein Name ist Rolf, und ich bin ein News-Junkie.« Gäbe es Selbsthilfegruppen für News-Süchtige, wie es sie zum Beispiel für Alkoholiker gibt, hätte ich mich mit diesem Satz in die Runde gesetzt und auf Verständnis gehofft. Das war vor über zehn Jahren.
Angefangen hatte alles ganz normal. Hineingeboren in eine wunderbare Mittelklassefamilie, wuchs ich mit der üblichen News-Routine auf, die Ihnen bekannt vorkommen wird, wenn Sie ebenfalls in den 70er-Jahren jung waren. Jeden Werktag um 6:30 Uhr hörte ich, wie der Bote die Zeitung durch den Schlitz in den Briefkasten schob. Kurz darauf öffnete meine Mutter die Haustür einen Spalt weit und zupfte die Zeitung mit einer geschickten Handbewegung aus dem Kasten, ohne dass sie einen Schritt nach draußen machen musste. Auf dem Weg zur Küche trennte sie die Zeitung in zwei Teile, legte einen Teil meinem Vater hin (sie bestimmte, welchen) und behielt den anderen Teil bei sich. Während wir alle unser Frühstück genossen, blätterten unsere Eltern die Zeitung durch, tauschten dann die beiden Zeitungsteile, blätterten weiter. Um Punkt 7 Uhr lauschten wir alle den Nachrichten im Schweizer Radio DRS. Kurz darauf machte sich mein Vater zur Arbeit auf und wir Kinder zur Schule. Um 12 Uhr versammelte sich die ganze Familie um den Mittagstisch. Nach dem Mittagessen, um 12:30 Uhr, hatte man ruhig zu sein: Zeit für die Nachrichten im Radio. Dito am Abend, um 18:30 Uhr. Um 19:30 Uhr dann der Höhepunkt des Abends: die Tagesschau des Schweizer Fernsehens.
News gehörten zu meinem Leben wie Ovomaltine zum Frühstück. Und doch hatte ich schon damals das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Es erstaunte mich, dass die Zeitung jeden Tag gleich dick und gleich aufgebaut war. Die lokale Zeitung, die meine Eltern abonniert hatten (Luzerner Neuste Nachrichten), bestand aus einem Auslandsteil von einer Seite, einem Wirtschaftsteil von einer Seite, einem Stadt-Luzern-Teil von immer zwei Seiten und so weiter. Dabei spielte es keine Rolle, ob am Vortrag viel oder wenig passiert war. Es gab damals noch keine Sonntagszeitungen auf dem Schweizer Markt. Selbst die Montagsausgabe hatte dieselbe Stärke (sechsunddreißig Seiten), obwohl sie die News von zwei Tagen – Samstag und Sonntag – enthielt. Ich fand das irgendwie seltsam. Aber das galt nicht nur für die Zeitung. Auch die Tagesschau dauerte immer genau gleich lang. Ich fand das merkwürdig. Denn es bedeutete: Was an einem ereignisarmen Tag als wichtig gilt und in die Berichterstattung aufgenommen wird, gilt an einem anderen, prallvollen Tag notgedrungen als unwichtig. »Geht halt nicht anders«, dachte ich – und nicht mehr weiter darüber nach.
Mit den Jahren entwickelte ich mich zu einem unersättlichen Zeitungsleser. Im Alter von siebzehn erreichte diese Begierde nach Nachrichten aus der großen weiten Welt einen ersten Höhepunkt. Damals blätterte ich jede Zeitung, die mir in die Finger kam, von vorne bis hinten durch. Nur den Sportteil ließ ich aus. Während meine Freunde sich im Wald, auf dem Fußballfeld, mit Modellflugzeugen oder mit Mädchen die Zeit vertrieben, verbrachte ich ganze Samstage im Lesesaal der Bibliothek in Luzern. Die Zeitungen waren in einen Holzstock eingeklemmt, damit die losen Seiten nicht auseinanderfielen und man die Zeitung an einem Haken aufhängen konnte. Die meisten Zeitungen waren damals so groß und umfangreich und der Stab so lang und schwer, dass das Handgelenk schon nach kurzer Zeit schmerzte, wenn man in einem der Lesesessel saß. Also setzte ich mich an einen der riesigen Arbeitstische und blätterte die Seiten um, wie ein Priester die Seiten der auf dem Altar liegenden Bibel wendet – nur dass ich jeweils aufstehen und mich über den Tisch bücken musste, um die Berichterstattung am weit entfernten oberen Zeitungsrand zu lesen.
Ich beobachtete, wie sich täglich zur selben Uhrzeit die immer gleichen älteren Herren (fast nie Frauen) in Anzug und Krawatte – was sich im erzkonservativen Luzern an Wochenenden noch gehörte – in der gleichen Weise an die Zeitungen machten. Diese Herren mit ihren Hornbrillen machten auf mich einen höchst intelligenten Eindruck – so klug und belesen wollte ich später auch einmal aussehen. Bei der Zeitungslektüre kam ich mir sogar schon so vor. Ich wähnte mich informiert, unbeeindruckt von den Kleinigkeiten des Alltags, intellektuell auf Flughöhe: Präsidenten, die sich die Hände gaben, Naturkatastrophen, Putschversuche. Das war die große Welt, die Welt, die wirklich zählte – und ich fühlte mich verschmolzen mit ihr.
Während des Studiums rutschte der News-Konsum in den Hintergrund, weil wir Studenten schlicht zu viele Bücher lesen mussten. Doch schon mit dem ersten Job nach der Uni war die Lust auf News wieder da. Als Finanz-Controller für die Swissair saß ich fast täglich in einem Flieger. Wenn die Stewardess mit dem Zeitungsstapel die Runde machte, stürzte ich mich gleich auf alle Titel. Was ich während des Flugs nicht »abarbeiten« konnte, stopfte ich in meinen Aktenkoffer (genau, so ein eckiges Modell mit Zahlenschlössern links und rechts, wie man sie heute nur noch in billigen Krimis zu sehen bekommt, wo damit Bündel von Dollarnoten transportiert werden), um die World-News später im Hotelzimmer fertig zu lesen. Weil jetzt auch die internationalen Zeitungen und Zeitschriften zu meiner Lektüre gehörten, fühlte ich mich euphorisch. Es kam mir vor, als hätte ich die Kraft, die Welt jeden Tag in all ihren Facetten zu durchleuchten. Ich war selig.
Aber es waren nicht nur die Zeitungen, die Zeitschriften, das Fernsehen und das Radio, deren Nachrichten es mir angetan hatten. In den 90er-Jahren kam das Internet auf, und plötzlich gab es noch mehr zu wissen, nein, alles – News aus allen Erdteilen, umfassend, sofort und kostenlos. Ich erinnere mich an den ersten Bildschirmschoner, der nicht irgendwelche langweiligen herumfliegenden Dreiecke zeigte, sondern die aktuellsten Headlines. Er hieß PointCast, und ich konnte stundenlang vor diesem genialen Screensaver sitzen: nonstop Schlagzeilen wie am Times Square in Manhattan, nur eben auf dem eigenen Bildschirm! Parallel dazu rüsteten die großen Zeitungen und Zeitschriften, später auch die Lokalzeitungen, ihre Webseiten auf. Wirklich fertig mit der News-Lektüre war man jetzt nie mehr – man konnte es nicht sein. Es gab immer noch eine Zeitung, deren Schlagzeilen man noch nicht gelesen hatte. Und inzwischen hatten die anderen bereits wieder neue.
Die zweite und dritte Generation der Internet-Browser erlaubten Push-Nachrichten und RSS-Feeds. Ich abonnierte sie alle. Die Zeitungen offerierten tägliche Newsletter. Ich abonnierte auch diese. News-Podcasts kamen auf. Keine Frage: Auch sie durfte ich nicht verpassen. Ich fühlte mich voll am Puls der Zeit, war begeistert, berauscht, betrunken. Es war wie Alkohol. Nur, so dachte ich, nicht verdummend, sondern verschlauend.
In Wahrheit sind News so gefährlich wie Alkohol. Eigentlich noch gefährlicher, denn die Hürde, die Sie als Alkoholtrinker nehmen müssen, ist viel höher. Genauer gesagt: Beim Alkohol ist die Hürde größer als null, bei den News kleiner als null. Sie müssen sich bemühen, Alkohol zu kaufen, es kostet Sie Zeit und Geld. Alkohol wird Ihnen nicht frei Haus geliefert. Und falls Sie tatsächlich Alkoholiker sind und (noch) in einer Beziehung leben, müssen Sie die Flaschen verstecken und die leeren Flaschen so schnell wie möglich loswerden. Das bedeutet Aufwand. Bei den News hingegen haben Sie diesen Aufwand nicht. Nachrichten sind überall, sie sind zum größten Teil kostenlos, und sie schlüpfen automatisch in Ihr Bewusstsein. Sie müssen sie nicht lagern, und es gibt nichts zu entsorgen. Wegen dieser »negativen Hürde« sind News so heimtückisch. Nur bemerkte ich das erst viel später – erst als ich mir nach Zehntausenden von Nachrichtenstunden diese zwei Fragen stellte: Verstehst du die Welt nun besser? Und: Triffst du nun bessere Entscheidungen? Die Antwort war in beiden Fällen: nein.
Trotzdem spürte ich eine nie nachlassende Faszination für das überwältigende, grelle News-Gewitter. Und dies, obwohl es mich offensichtlich nervös machte. Ständig schoben sich Bruchteile von News-Meldungen vor die Realität, die mich umgab, und ich hatte plötzlich Mühe, längere Texte am Stück zu lesen. Es war, als hätte jemand meine Aufmerksamkeit in winzige Stücke zerschnitten. Ich verfiel in Panik, dass ich meine Aufmerksamkeit nie mehr heilen, dass ich diese Fetzen nie mehr zu einem Ganzen würde zusammenfügen können. Langsam begann ich, mich vom News-Theater zu verabschieden. Ich löschte die Newsletter, die RSS-Feeds und versuchte, mich auf ausgewählte Webseiten zu beschränken (NZZ, Spiegel, New York Times, Financial Times, Wall Street Journal). Doch selbst das war noch zu viel. Also reduzierte ich weiter – von fünf auf vier, auf drei, auf zwei Quellen – und erlaubte mir höchstens drei News-Besuche pro Tag. Auch das funktionierte nicht. Ich hangelte mich wie ein Affe von News-Link zu News-Link und verlor mich bald wieder im endlosen Nachrichtendschungel. Es musste eine radikale Lösung her. Und zwar dringend. Sie lautete: Schluss mit News. Komplett. Radikal. Sofort. Und siehe: Das funktionierte!
Mich von der News-Sucht zu befreien brauchte einiges an Zeit, Experimentierfreudigkeit und Willenskraft. Vor allem suchte ich Antworten auf die folgenden Fragen: Was sind News? Was macht sie so unwiderstehlich? Was passiert im Hirn, wenn wir News konsumieren? Warum sind wir so gut informiert und wissen doch so wenig?
Der radikale Abschied von den News fiel mir doppelt schwer, weil viele meiner Freunde Journalisten sind. Sie gehören zu den intelligentesten, witzigsten und gebildetsten Menschen, die ich kenne. Mehr als das. Sie haben ihren Beruf vorwiegend aus moralischen Gründen gewählt – um die Welt ein Stück gerechter zu machen und den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Dummerweise sind sie heute in einer Industrie gefangen, die mit echtem Journalismus kaum mehr etwas zu tun hat. Das Jonglieren von News ist sinnleer geworden.
Heute bin ich »clean«. Seit 2010 lebe ich gänzlich ohne News und kann die Auswirkungen dieser Freiheit sehen, spüren und aus erster Hand schildern: höhere Lebensqualität, klareres Denken, wertvollere Einsichten, weniger Nervosität, bessere Entscheidungen und viel mehr Zeit. Seit 2010 habe ich keine Tageszeitung mehr abonniert, keine Tagesschau mehr gesehen, keine Nachrichten im Radio mehr gehört, mich von keinen Online-News mehr berieseln lassen. Was als Selbstversuch begonnen hatte, ist zu einer Lebensphilosophie geworden. Ich kann Ihnen den News-Verzicht mit gutem Gewissen ans Herz legen. Sie werden bessere Entscheidungen treffen. Sie werden ein besseres Leben haben. Und glauben Sie mir: Sie werden nichts Wichtiges verpassen.
Was genau sind News? Die einfachste Definition: »Kurznachrichten aus aller Welt«. Ein Busunglück in Australien. Ein Erdbeben in Guatemala. Staatspräsident A trifft Staatspräsident B. Schauspielerin C hat sich von D getrennt. Regierungsumbildung in Italien. Raketenstart in Nordkorea. Eine App, die alle Rekorde bricht. Ein Mann aus Texas verspeist fünf Kilo lebende Würmer. Ein Weltkonzern feuert seinen CEO. Der Tweet eines Politikers. Ein neuer UNO-Generalsekretär. Ein Mann sticht seine Großmutter nieder. Die Nobelpreiskandidaten. Ein Friedensabkommen. Ein Hai beißt einem Taucher die Beine ab. China baut einen neuen Flugzeugträger. Ein Bestechungsskandal. Die EZB warnt vor einer Rezession. Gipfeltreffen der G7, G8, G20, G87, G123. Argentinien ist zahlungsunfähig. Ein Unternehmer wandert ins Gefängnis. Eine Regierung dankt ab. Ein Putsch. Ein Schiffsunglück. Der Schlusskurs des Dow Jones.
Manchmal nennen die Medien diese Kurznachrichten großspurig Breaking News oder Top World Headlines. Das ändert aber nichts daran, dass sie für Ihre persönliche Welt größtenteils irrelevant sind. Ja, Sie können getrost davon ausgehen: je mehr »breaking«, desto belangloser.
»News« sind – verglichen mit Büchern – eine junge Erfindung. Das Format ist gerade mal 350 Jahre alt. Die erste Tageszeitung kam 1650 auf den Markt – die Einkommende Zeitung in Leipzig. Wenige Jahrzehnte später gab es Hunderte von Tageszeitungen in Europa. Nachrichten waren endgültig zu einem Geschäft geworden. Alles, was das Interesse der Leser schürte und so den Verkauf der Zeitungen förderte, bezeichneten die Herausgeber fortan als »berichtenswert« – egal ob wichtig oder unwichtig. An diesem fundamentalen Betrug – das Neue wird als das Relevante verkauft – hat sich bis heute nichts verändert. Es bleibt das dominante Modell, egal ob gedruckte Zeitung, Online-News, Social-Media-News, Radio oder Tagesschau im Fernsehen.
Was sich seit der ersten Zeitung verschärft hat, ist die Unverfrorenheit, die Vehemenz, die Lautstärke, mit der das Neue als das Relevante angepriesen wird. In den letzten zwanzig Jahren, mit der Etablierung des Internets und des Smartphones, hat sich die Sucht nach News zu einer gefährlichen Manie entwickelt. Man kann den News kaum mehr entfliehen. Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Einstellung zur News-Flut überdenken. Es ist höchste Zeit, dass wir die Auswirkungen des News-Konsums erkennen und eine Detox-Kur einleiten.
Das Gegenprogramm zu den »News« sind die langen Formate: lange Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Essays, Features, Reportagen, Dokumentarsendungen und Bücher. Viele dieser Inhalte sind wertvoll, liefern neue Erkenntnisse und Hintergrundinformationen. Doch Vorsicht: Diese Formate sind noch lange keine Garantie für Relevanz. Solange sie in Medien erscheinen, die sich hauptsächlich über Werbung finanzieren, bleibt die Gefahr bestehen, dass sie den Neuigkeitswert über die Relevanz stellen. Weil ich mir nicht jedes Mal den Kopf darüber zerbrechen will, ob ein langer Artikel als wertvoll oder wertlos zu bewerten ist, verzichte ich gänzlich auf die Lektüre von Zeitungen (Print und Online), auf Radio und Fernsehen. Hinzu kommt, dass viele dieser langen Qualitätsformate ohnehin von einem Konfetti-Regen aus gehaltlosen Kurznachrichten umgeben sind. Mit anderen Worten: Sie sind oft news-verseucht. Und ich mag nicht aus verseuchten Quellen trinken. Zugegeben, ein radikaler Weg. In den nächsten Kapiteln zeige ich Ihnen, wie auch Sie ihn beschreiten können, um sich von den toxischen News zu befreien.
Unbestreitbar bleibt: Das Kurzfutter der täglichen News ist nicht nur komplett wertlos, sondern sogar schädlich. In den letzten Jahrzehnten haben wir viele Gefahren erkannt, die mit falscher Ernährung einhergehen: Insulinresistenz, Übergewicht, Anfälligkeit für Entzündungen und Müdigkeit. All das kann bis zu einem verfrühten Tod führen. Wir haben unsere Ernährung umgestellt und gelernt, den verführerischen Reizen von Zucker und anderen einfachen Kohlenhydraten zu widerstehen. In Bezug auf News sind wir heute an dem Punkt, wo wir in Bezug auf Zucker und Fast Food vor zwanzig Jahren standen, denn: News sind für den Geist, was Zucker für den Körper ist. News sind appetitlich, leicht verdaulich und gleichzeitig höchst schädlich. Die Medien füttern uns mit kleinen Häppchen trivialer Geschichten, mit Leckerbissen, die unseren Hunger nach Wissen aber keineswegs stillen. Anders als bei Büchern und langen, gut recherchierten Artikeln stellt sich beim News-Konsum keine Sättigung ein. Wir können unbegrenzte Mengen von Nachrichten verschlingen – und doch bleiben sie billige Zuckerbonbons. Die Nebenwirkungen zeigen sich – wie beim Zucker, Alkohol, Fast Food oder Rauchen – erst mit Verzögerung.
Eine gesunde Ernährung ist wichtig für den Körper, aber ebenso wichtig ist eine gesunde geistige Ernährung. Dieses Manifest soll ein Gegenprogramm zum All-you-can-eat-Menü der täglichen News sein. Und übrigens: Wenn Sie es schaffen, dieses Buch zu Ende zu lesen, können Sie sich glücklich schätzen. Denn dann gehören Sie noch nicht zu den News-Junkies, die so viel von dem Kurzfutter konsumiert haben, dass sie ihre Konzentrationsfähigkeit verloren haben. Halten Sie also durch. Entzugstherapien sind immer hart. Doch sie lohnen sich.
Habe ich Sie schon wachgerüttelt? Falls ja, dann können Sie sich den Rest dieses Büchleins sparen. Was Sie jetzt sofort tun sollten: Verbannen Sie die News aus Ihrem Leben. Klinken Sie sich aus. Radikal. Erschweren Sie sich den Zugang zu all den Nachrichtenportalen, so gut es geht. Melden Sie sich von allen Nachrichten-Newslettern ab. Löschen Sie jetzt gleich die News-Apps auf Ihrem Smartphone und Ihrem iPad. Verkaufen Sie Ihren Fernseher (tun Sie auch das gleich jetzt, denn allzu lange werden die Leute keine Fernseher mehr kaufen). Löschen Sie alle News-Seiten aus der Favoriten- und Lesezeichenliste Ihres Browsers. Wählen Sie als Startseite Ihres Browsers kein News-Portal. Entscheiden Sie sich stattdessen für eine Seite, die sich nie ändert; je unspektakulärer, desto besser. Meine ist Wikipedia.
Haben Sie auf Ihren Reisen immer genügend gute Bücher dabei – in gedruckter oder elektronischer Form. Wenn Sie in der Bahn oder im Flughafen sitzen und irgendwo eine Zeitung erspähen, lassen Sie sie liegen. Sie gewinnen nichts, wenn Sie sie durchblättern. Lenken Sie Ihren Blick bewusst weg von den Schlagzeilen – und hin zu ergiebigeren Dingen. Jawohl, lassen Sie die Zeitung oder die Zeitschrift einfach da, wo sie ist, so verführerisch sie auch vor Ihnen liegt.
Flughäfen stellen oft riesige Ständer mit Dutzenden von Gratiszeitschriften in den Terminals auf. Spazieren Sie einfach daran vorbei. Die meisten dieser Zeitschriften sind inhaltslose Werbeschleudern. Wenn Sie am Gate auf Ihren Flug warten, setzen Sie sich abseits von den Bildschirmen, die News in das Terminal pumpen. Irgendwelche »Talking Heads« auf CNN, CNBC, FOX oder Bloomberg sind das Letzte, was Ihr Hirn braucht. Am besten, Sie arbeiten, lesen ein Buch oder schauen sich in aller Ruhe den Flughafenbetrieb an und lassen Ihre Gedanken schweifen.
Viele Airlines ermöglichen Ihnen, kostenlos Zeitungen und Zeitschriften (keine Ahnung, warum nicht Bücher oder Hörbücher) auf Ihren iPad herunterzuladen. Hüten Sie sich davor. Die Medien werten damit bloß die Leserstatistik auf, damit sie ihr Werbe-Inventar teurer verkaufen können. Und natürlich lehnen Sie ab, wenn die Flugbegleiterin mit dem Zeitungsstapel vorbeikommt.
Wenn Sie ein Hotelzimmer betreten, werden Sie möglicherweise von einem lärmenden Bildschirm begrüßt, der Ihren Namen zeigt. Schalten Sie ihn aus, bevor Sie in Versuchung geraten, durch die Sender zu zappen. Am besten ziehen Sie gleich den Stecker – dann ist sicher Ruhe. Auf dem Tischchen des Hotelzimmers – dort, wo Sie eigentlich Ihren Laptop aufklappen und in Ruhe arbeiten wollten – versperrt Ihnen ziemlich sicher ein Stapel Zeitschriften den Platz. Auch das sind wieder reine Werbeschleudern. Verbannen Sie sie in den Schrank. Leider müssen Sie dieses Prozedere täglich wiederholen, denn die regeltreuen Housekeeping-Angestellten werden sie immer wieder aus dem Schrank ziehen und damit den ohnehin winzigen Arbeitsplatz zudecken. Am besten, Sie werfen die Hotelmagazine unter das Bett. Dort werden sie nicht gleich wieder entdeckt. Und selbstverständlich ordern Sie keine Tageszeitung, die am Morgen vor Ihrer Türe liegen soll. So weit die Tipps zum Reisen.
Wenn Sie die Illusion aufrechterhalten möchten, »nichts Wichtiges in der Welt zu verpassen«, schlage ich vor, dass Sie die wöchentliche Doppelseite »The world this week« mit den Zusammenfassungen des Economist überfliegen. Kostet Sie genau fünf Minuten pro Woche. So mach ich’s. Und oft verzichte ich selbst darauf.
Vor allem: Lesen Sie Zeitschriften und Bücher, die nicht davor zurückschrecken, die Komplexität der Welt darzustellen und die die Ressourcen dafür haben. In meinem Fall sind dies The New Yorker, MIT Technology Review, Foreign Affairs und die Wissenschaftsbeilagen des Economist. Wertvoll sind auch sogenannte Autorenblätter, also Zeitungen und Zeitschriften, die hauptsächlich Beiträge von Fachleuten versammeln. Geben Sie auch den neuen langformatigen Publikationen eine Chance: Krautreporter (Deutschland), Die Republik (Schweiz), De Correspondent (Holland und USA), Civil.co (USA) und viele andere. Die Welt ist nun mal komplex. Versuchen Sie, ein Buch pro Woche anzulesen. Wenn es Ihre Weltsicht nach zwanzig Seiten nicht erweitert oder verändert oder Sie anderweitig zu fesseln vermag, legen Sie es zur Seite. Wenn Sie hingegen ein Buch gefunden haben, das auf jeder zweiten Seite neue Erkenntnisse liefert, lesen Sie es zu Ende. Und lesen Sie’s gleich doppelt, sofort nacheinander, ohne ein anderes Buch dazwischen. Der Wirkungsgrad beim Zweimallesen ist nicht doppelt so hoch wie beim einmaligen Lesen, sondern meiner Erfahrung nach rund zehnmal so hoch. Die Empfehlung, etwas zweimal zu lesen, gilt natürlich auch für lange Artikel.
Lesen Sie ab und zu Lehrbücher, sogenannte Textbooks. Es gibt keine bessere geistige Nahrung. Ein Textbook ist so intensiv und nahrhaft wie ein Bachelor-Studium. Sie brauchen eine Basis, um die Welt zu verstehen. Und dafür eignen sich Lehrbücher ganz besonders. Klingt unsexy, ist aber so. Wir verstehen nur das, was wir in Beziehung setzen können zu etwas, was wir schon verstanden haben.
Jawohl, googeln ist erlaubt! Das Internet ist voller erstklassiger Wissensquellen. Ab und zu werden Sie bei Ihrer Suche leider auf einer News-Seite landen. Das ist keine Tragödie. Nur müssen Sie aufpassen, dass Sie nicht vom Strudel der anderen News-Meldungen erfasst werden, die dort ebenfalls um Ihre Aufmerksamkeit buhlen. Sie müssen bestimmen, was Sie suchen. Sie müssen den Pfad vorgeben. Lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit nicht durch die News-Medien diktieren.
Seit zehn Jahren ziehe ich den News-Verzicht konsequent durch. Die Auswirkung auf die Lebensqualität und die Qualität meiner Entscheidungen sind eindrücklich. Probieren Sie’s. Sie haben nichts zu verlieren. Nur zu gewinnen.
Die erste Woche Ihrer News-Abstinenz wird die schlimmste sein. Die News nicht abzurufen erfordert Disziplin. Am Anfang leben Sie in der schwirrenden Erwartung, dass jeden Moment etwas Schlimmes über die Welt hereinbrechen wird. Sie werden ein Kribbeln spüren, eine Nervosität, weil Sie denken, Sie seien auf die nächste Katastrophe nicht vorbereitet. Sie glauben, Sie seien im Nachteil und alle anderen Menschen im Vorteil. Sie werden sich ausgeschlossen oder sogar sozial isoliert fühlen. Sie werden jede Stunde in Versuchung geraten, einen Blick auf Ihre liebsten News-Portale zu werfen. Widerstehen Sie der Versuchung. Halten Sie an Ihrem Plan einer radikalen News-Abstinenz fest. Leben Sie dreißig Tage ohne News. Sagen Sie sich: »Nach dreißig Tagen steht es mir frei, wieder zum alten Leben zurückzukehren. Aber diese dreißig Tage halte ich durch.« Warum dreißig Tage? Weil Sie dann ein erstes Gefühl von Gelassenheit und innerer Ruhe verspüren werden. Sie werden feststellen, dass Sie viel mehr Zeit haben, konzentrierter sind und die Welt besser verstehen.
Dreißig Tage sind eine wichtige Schwelle. Nach dreißig Tagen erkennen Sie, dass Sie trotz News-Abstinenz weder relevante Fakten verpasst haben noch welche verpassen werden. Wenn eine Information wirklich wichtig ist, werden Sie früh genug davon erfahren – aus der Fachpresse, von Ihren Freunden, Ihrer Schwiegermutter oder von jemand anderem, mit dem Sie sich unterhalten. Wenn Sie Ihre Freunde treffen, fragen Sie sie, ob etwas Wichtiges in der Welt geschehen sei. Die Frage ist ein idealer Gesprächsbeginn. Die Antwort lautet zumeist: »Eigentlich nicht.«
Nach dreißig Tagen dürfen Sie entscheiden, ob Sie zum alten, news-verseuchten Leben zurückkehren möchten. Falls Sie zurückkehren und später die News-Diät wieder in Angriff nehmen möchten, müssen Sie zurück auf Feld 1 und die ersten dreißig harten Tage wieder durchstehen. Die meisten Menschen, denen ich die News-Diät persönlich empfohlen habe, folgen ihr aber bis heute – weil die Vorteile des neuen Lebensgefühls die Nachteile um das Hundertfache überwiegen.
Sollten Sie die ersten dreißig Tage schon hinter sich haben, weil Sie vielleicht schon vor der Lektüre dieses Buchs damit begonnen haben: Herzlichen Glückwunsch. Sie haben soeben neunzig Minuten pro Tag gewonnen. Das entspricht einem Arbeitstag pro Woche. Selbst konservativ gerechnet, ist das mehr als ein Monat pro Jahr. Ihr Jahr hat nun endlich wieder zwölf Monate, nicht elf wie früher.