SIEBEN
17. Juli 1789
Les Trois-Moutiers
Loiretal
„Mademoiselle?“
Aveline befand sich schon eine ganze Weile in jenem schwebenden Zustand zwischen Schlafen und Aufwachen, als schlagartig ein einzelnes Wort zu ihr durchdrang.
War dieses Wort von einer Männerstimme gesprochen worden? Bestimmt nicht! Sie musste sich getäuscht haben, denn falls sie eingeschlafen war, lag sie zweifellos in ihren Privatgemächern: einem Raum, zu dem kein männliches Wesen Zutritt hatte außer dem eigenen Ehemann, dem Vater oder möglicherweise noch einem Arzt.
Ihre Augenlider zuckten. Sie bemühte sich, sie zu öffnen und zu erkennen, was um sie herum geschah.
Wie lange sie bereits von einem unruhigen Schlaf umfangen war, konnte sie nicht sagen. Doch sie hatte schon einmal etwas Ähnliches erlebt, als sie als Kind eine gefährliche Halsentzündung gehabt hatte. Damals war sie aufgrund des hohen Fiebers völlig benommen gewesen und hatte sich später nicht mehr an alles erinnern können.
Der Schlaf, aus dem sie jetzt allmählich auftauchte, hatte sich genauso angefühlt: ein Schwanken zwischen drückender Hitze und beißender Kälte. Schmerzen, die alles Übrige erstickten und gelegentlich einer willkommenen Leere wichen. Ein kühles Tuch, das ihre Stirn berührte. Tröstende Worte von einer unbekannten Person, die sie ermutigten zu kämpfen: aufzuwachen, sich zu wehren und dann wieder auszuruhen, während die Schmerzen wie Wellen abebbten und wieder anschwollen.
Mit einem Mal erinnerte sich Aveline an die letzten Momente im Schloss: an den Glasregen und die Flammenmauer, den erdrückenden Griff der Angst, den es nur in Albträumen geben sollte, aber nie im wirklichen Leben. Sie sah wieder die prächtig geschmückten Räume vor sich mit ihren Marmorböden und den Fenstern aus Bleiglas.
Als sie jedoch die Augen aufschlug, erblickte sie einen Raum, der einen krassen Gegensatz dazu bildete. Statt hoher Zimmerdecken mit Stuckarbeiten sah sie über sich nur ein schlichtes Strohdach.
Elegante Möbel mit Schnitzereien, ein riesiger Kleiderschrank und ein vergoldetes Bett mit Brokatvorhängen, ein Schreibtisch und ein Teetisch für Tabletts mit feinem Porzellan und Pralinen – das alles war verschwunden und durch ein einfaches Bett und ein steifes Leinentuch, das auf ihrer Haut kratzte, ersetzt worden. An der Wand stand eine Kommode, auf der sich ein angeschlagener Krug und eine Wasserschüssel befanden. Das einzige Fenster im Raum war offen, dünne Vorhänge bauschten sich vom leichten Windhauch.
Verwundert betrachtete Aveline zwei Gegenstände, die nicht zu der Bescheidenheit dieser Umgebung passten: Der erste war ihre eigene Haarbürste aus Silber und Elfenbein; der dazugehörige Handspiegel fehlte jedoch. Der zweite war ihr an diesem Ort sonderbar anmutende Frisierhocker mit seinen kunstvoll geschwungenen Beinen und einem weichen Samtkissen in einem tiefen Amethystton. Das Violett war der einzige Farbklecks in dem sehr erdigen, kahlen Raum.
„Mademoiselle?“
Der Boden knarrte, als jemand sein Gewicht verlagerte.
Aveline wandte den Kopf. Da es sich eindeutig um eine Männerstimme handelte, musste sie unbedingt herausfinden, wem diese Stimme gehörte. Ihr Blick fiel auf eine männliche Gestalt, die sich auf der anderen Seite des Raumes befand.
Der Mann lehnte an einem gemauerten Kamin. Er stand schweigend da, die Arme fest vor seiner Brust verschränkt, unter den hochgekrempelten Manschetten eines weißen Leinenhemds schauten seine Handgelenke hervor. Seine dunklen Haare waren gepflegt, ordentlich gekämmt und im Nacken zusammengebunden. Hellbraune Augen begrüßten sie unter einer Stirn, die sich erleichtert zu entspannen schien.
Sein Anblick vertrieb ihre Benommenheit ein wenig. Natürlich erschrak sie zunächst, aber ihre Angst wich, als er keine Anstalten machte, sich ihr zu nähern.
„Bonjour, Mademoiselle“, sagte er mit einer respektvollen leichten Verbeugung.
Aveline wurde schlagartig bewusst, dass sie im Bett lag, und sie zog instinktiv die Decke bis ans Kinn. Ihr Körper reagierte auf diese Bewegung mit Schmerzen an den Händen.
Als sie vor Schmerz das Gesicht verzog, runzelte er die Stirn. Dann drehte er sich um.
„Du kannst heraufkommen! Sie ist wach!“, rief er eine Treppe hinab, die von einer Öffnung im Boden nach unten führte. Er trat ein paar Schritte zurück, griff nach einem Gefäß und reichte es jemandem, der auf der Treppe stand. „Hol noch mehr frisches Wasser! Sie wird es brauchen.“
Aveline lockerte den verkrampften Griff ihrer rechten Hand, die die Bettdecke umklammerte, blieb aber weiterhin zugedeckt liegen, wie es sich für eine Dame gehörte. Offenbar war sie also nicht allein mit diesem Mann. Zwar wusste sie immer noch nicht, wo sie sich befand, aber diese Feststellung genügte immerhin, um sie wieder ruhiger atmen zu lassen.
„Bitte stehen Sie nicht auf!“, wurde sie nun angewiesen.
„Warum?“ Ihre Stimme klang rau und in ihren Ohren so fremd, als sei dieses kurze Wort von einer anderen Person gesprochen worden.
„Das wäre nicht ratsam. Sie haben einen großen Schock erlitten.“
Mühsam setzte sie sich auf, obwohl sich in ihrem Kopf alles drehte. Sie lehnte sich an das hölzerne Kopfteil, um das Schwindelgefühl zu bekämpfen. „Es ist also wirklich passiert?“
„Ja. Es ist passiert.“ Sein Nicken bestätigte die düstere Wahrheit.
Jede weitere Erläuterung erübrigte sich, weil Aveline sofort begriff: Das Schloss war den Flammen zum Opfer gefallen und die Festgäste waren in alle Richtungen geflohen. Ihre ganze Welt war von einer Sekunde auf die andere auf den Kopf gestellt worden.
Seltsam, dass das alles mit einem so kurzen, scheinbar sachlichen Satz bestätigt werden konnte.
„Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen“, fuhr der Fremde fort und trat einen Schritt vor. „Sie sind hier bei uns in Sicherheit.“
Aveline nickte, doch ihre nächste Frage kam sofort: „Wo bin ich?“
„Wir werden Ihnen alles erklären.“ Der Mann nahm den Krug von der Kommode, schenkte Wasser in ein Glas und brachte es ihr. „Hier. Trinken Sie zuerst etwas, bevor Sie versuchen zu sprechen.“
Aveline wollte danach greifen, doch ihre Arme fühlten sich an, als gehörten sie zu einem fremden Körper. Schon die kleinste Bewegung jagte einen stechenden Schmerz durch ihren linken Arm. Sie kniff die Augen zu und verdrängte alles um sich herum, während sie tief Luft holte.
„Lassen Sie sich Zeit“, sagte der Mann beruhigend.
Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie, dass er mit dem Wasserglas in der Hand über ihr stand und wartete.
Sie nahm es – jede Bewegung war langsam, schmerzhaft, kräfteraubend – und trank. Das kühle Wasser war Balsam für ihren rauen Hals.
„Sie haben einen Schlag auf den Kopf bekommen. Und Sie müssen bei jeder Bewegung vorsichtig sein, bis Ihre Verbrennungen vollständig verheilt sind: an Ihrem Arm hinauf bis zu Ihrer Schulter und zu Ihrem Hals und an Ihrem Bein hinab bis zum Knöchel.“
Unter normalen Umständen wäre Aveline errötet, sobald ein Mann von den Knöcheln oder Beinen einer Dame gesprochen hätte. Doch während sie ihm das Wasserglas zurückgab, stellte sie fest, dass ihr Arm von der Schulter bis zum Handgelenk in Leinenstreifen gewickelt war. Das einzige Stück Haut, das sie sehen konnte, war rot und entzündet.
„Wir haben eine Frau, die Sie versorgt. Ihre Mutter war Heilerin. Sie weiß also, wie sie Ihre Verletzungen behandeln muss. Und seien Sie unbesorgt: Es wurde alles getan, um Ihnen den Respekt zu erweisen, der einer Dame Ihres Standes gebührt.“
In diesem Moment schien Avelines Körper zum Leben zu erwachen. Es war, als wollte ihr jede einzelne beschädigte Zelle ihres Körpers mitteilen, dass sie verletzt war. Die linke Seite ihres Gesichts, ihr Hals, ihr Arm und auch ihr Bein bis hinab zum Fuß – alles brannte, als wäre unter der Oberfläche eine Glut entfacht worden.
Jede Bewegung löste Folterqualen aus. Aveline hob ihre empfindlichen Fingerspitzen und strich damit über ihre Wange. Die Stelle, die ihre Zofe am Abend zuvor mit Puder und Rouge hätte betupfen sollen, fühlte sich jetzt fremd und fast rissig an. Die Haut auf ihrer Stirn spannte sich schmerzhaft, selbst wenn sie nur das Auge aufschlug oder schloss.
„Habe ich auch Verbrennungen im Gesicht?“ Sie wollte, dass die Schmerzen aufhörten, aber noch dringender wollte sie die Wahrheit wissen. „Wie schlimm ist es?“
„Versuchen Sie einfach, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Sie leben. Und Sie sind in Sicherheit. Das ist alles, was zählt.“
Er wiederholte noch einmal, dass sie in Sicherheit sei. Aber diesmal klang er nicht vollkommen überzeugt, als könne er sehen, dass sie von Angst übermannt wurde. Ihre linke Seite brannte zwar vor Schmerzen, doch der Rest ihres Körpers schien plötzlich von einer sonderbaren Energie erfüllt zu werden. Diese Energie wollte sie antreiben, aus dem Bett zu springen und die Treppe hinabzulaufen, wenn sie keine klaren Antworten bekam.
„Sie wurden verletzt, Mademoiselle. Schwer verletzt. Es ist zu Ihrem eigenen Besten, dass Sie vorerst hierbleiben“, sagte er und schaute sie mit sanften Augen an.
Dann stellte er das Wasserglas auf den Tisch neben dem Bett und trat ein Stück zurück, um ihr Raum zu geben. „Ich kann Ihnen nicht erlauben, dieses Bett zu verlassen. Haben Sie mich verstanden?“
Aveline erschrak. War sie eine Gefangene? Bevor sie sich jedoch mit dieser Möglichkeit befassen konnte, kehrten ihre Gedanken zu den letzten Ereignissen zurück, an die sie sich mit Klarheit erinnerte. „Was ist mit meiner Mutter, Monsieur? Ich möchte sie sehen!“
„Sie ist nicht hier. Wir haben sie rechtzeitig fortgebracht.“
„In den Wald, damit ihr nichts passiert?“ Aveline räusperte sich und drängte die Tränen zurück. Sie versuchte, stark zu klingen, obwohl sie innerlich zitterte.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, sie konnte auf der Straße Richtung Norden fliehen. Es war nicht leicht, aber wir haben inzwischen die Nachricht erhalten, dass sie in Sicherheit ist. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie so bald wie möglich wieder mit ihr zusammentreffen werden.“
„Das kann nicht sein. Meine Mutter würde das Loiretal nicht freiwillig verlassen. Nicht zu diesem Zeitpunkt.“
„Ich fürchte, dass ihr keine andere Wahl blieb.“
„Sowohl mein Vater als auch meine Schwester sind im Moment in Paris. Sie wollten zur Hochzeit ins Loiretal kommen. Aber … die Dinge haben sich geändert. Wird sich meine Mutter bei meinen Angehörigen in Paris aufhalten, bis ein neuer Termin für die Hochzeit festgelegt wird?“
„Mademoiselle, es tut mir leid, aber Ihre Hochzeitsfeier wird nicht wie geplant stattfinden. Zumindest vorerst nicht.“
„Wegen des Überfalls auf das Schloss, meinen Sie? Ist die Kapelle auch abgebrannt?“
„Nein. Sie blieb unbeschädigt. Aber die Hochzeit wurde verschoben.“ Er brach ab und räusperte sich hörbar. „Auf unbestimmte Zeit.“
In diesem Moment regte sich in Aveline eine weitere Erinnerung, die stärker glühte als ihre verbrannte Haut. Die Bilder von dem brennenden Schloss wichen etwas anderem: einer blauen Jacke mit einem aufgestickten goldenen Wappen auf dem Revers. Und einem Gesicht, das zu ihr hinabschaute, das sie aber nicht deutlich sehen konnte. Eine Stimme, die ihr einschärfte, dass sie nicht einschlafen dürfe.
Doch sie war trotzdem eingeschlafen. Was war in der Zwischenzeit passiert?
Mit einem Mal bohrte sich ein bedrückender Gedanke in ihr Herz: Ihr Verlobter war tot. Das war es, was dieser Mann ihr mitteilen wollte!
„Sie sind nicht Philippe.“
Aveline wusste es bereits, bevor er es mit einem leichten Kopfschütteln bestätigte. „Nein. Ich bin Robert. Der Vigneron, der Kellermeister des Duc de Vivay.“
Unwillkürlich drückte sie ihre Schultern zurück, während sie sich auf das Schlimmste einstellte. „Ist mein Verlobter tot?“
„Nein, Mademoiselle.“ Er schüttelte wieder den Kopf. Dabei flackerte in seinen Augen etwas auf, das sie nicht einordnen konnte.
Plötzlich erinnerte sie sich an die schemenhafte Gestalt eines Mannes, der sich bemüht hatte, die Gäste im Ballsaal vor Feuer und Glasregen zu retten. „Habe ich Sie vielleicht während des Angriffs im Schloss gesehen? Waren Sie nicht der Mann, der unermüdlich hin und her gelaufen ist, um möglichst viele Menschen in Sicherheit zu bringen?“
„Ich habe nur getan, was in dieser Situation möglich war, und das war leider nicht besonders viel. Doch was Sie persönlich betrifft: Sie wurden zu Boden geworfen und waren unter einem herabstürzenden Balken eingeklemmt, bevor wir zu Ihnen gelangen konnten. Uns blieb keine andere Wahl, als Sie hierher in die Winzerhütte zu bringen. Sie befinden sich immer noch auf dem Land des Herzogs, aber Sie haben drei Tage lang geschlafen.“
„Der Brand im Schloss ist schon drei Tage her?“ Aveline konnte kaum glauben, was sie hörte. All das ergab einfach keinen Sinn: die Zersprengung ihrer Familie. Ein Überfall, der das Schloss in eine rauchende Ruine verwandelt hatte. Das gesichtslose Bild ihres Verlobten, der immer noch ein Geheimnis für sie war.
Und nun fehlten ihr auch noch drei Tage ihres Lebens, während ihre Mutter, ihr Vater und ihre Schwester möglicherweise in Gefahr waren.
„Ich will Sie nicht unnötig bekümmern, aber Sie müssen die Wahrheit erfahren. Sie sollten wissen, wie ernst die Lage ist. Hier und in Paris.“
„Was ist in Paris geschehen?“ Aveline riss entsetzt die Augen auf.
„Wir haben die Nachricht erhalten, dass die Bastille vor drei Tagen gestürmt wurde.“
„Die Bastille – das Pariser Staatsgefängnis? Wollen Sie damit sagen, dass dieses Gebäude angegriffen wurde?“
„Jawohl. Es wurde in derselben Nacht, in der der Überfall auf das Schloss stattfand, von der Bevölkerung gestürmt. Zwar waren dort zu diesem Zeitpunkt nur wenige Menschen inhaftiert, aber man hatte es auch auf die dort gelagerten Waffen abgesehen. Angesichts der Hungersnot war das wohl nur eine Frage der Zeit. Es wird befürchtet, dass die Herrschaft des Königs vor dem Ende steht. Das Volk hat angefangen, sich zu erheben. Und die Folgen davon werden wir sogar hier im Loiretal zu spüren bekommen. Es heißt, dass es jetzt unvermeidlich sei.“
„Was ist unvermeidlich?“
„Dass eine Revolution stattfinden wird.“
Aveline hob die rechte Hand – den einzigen Körperteil, der nicht zu schmerzen schien – und legte sie auf ihre Stirn. „Sie haben gesagt, dass meine Mutter in den Norden geflohen ist, nicht wahr?“
„So ist es.“
„Gut. Wir müssen ihr so bald wie möglich eine Nachricht schicken. Sie ist bestimmt völlig aufgewühlt und macht sich Sorgen, dass mich das gleiche Schicksal ereilt haben könnte wie Gérard.“
„Wie wen, Mademoiselle?“
Der Mann namens Robert wusste nicht, von wem sie sprach, aber Aveline hatte keine Zeit, es ihm zu erklären.
Zu viele Probleme forderten ihre Aufmerksamkeit. Gleichzeitig beeinträchtigten zu viele Ängste ihre Fähigkeit, vollständig zu erfassen, was die Ereignisse in Paris bedeuten konnten. Sie versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was im Moment wichtig war. Welche Maßnahmen mussten als Erstes getroffen werden und wie konnte sie dies alles von ihrem Bett aus veranlassen?
„Monsieur, es tut mir leid, aber Ihnen das zu erläutern, würde im Moment zu weit führen. Bitte sorgen Sie doch dafür, dass noch heute ein Kurier zu meinem Vater reitet, falls bisher noch niemand daran gedacht hat, ihn zu benachrichtigen. Er befindet sich in Paris und wird sicher auf eine Nachricht warten. Ich kann Ihnen die genaue Adresse geben.“
„Das habe ich bereits veranlasst. Ihr Vater dürfte inzwischen erfahren haben, was passiert ist, und wissen, dass Sie in Sicherheit sind. Wir erwarten seine Antwort Sie betreffend. Bis dahin werden wir Sie hier verstecken.“
Verstecken?
„Warum ist es nötig, mich zu verstecken?“
„Entschuldigen Sie, Mademoiselle, aber das lässt sich ebenfalls nicht so rasch erklären. Ich habe mir übrigens erlaubt, alles, was von Ihren Sachen noch gefunden werden konnte, hierherbringen zu lassen.“
Avelines Blick wanderte zu der fast leeren Oberfläche der Kommode. Von ihrer eher bescheidenen Aussteuer war also höchstwahrscheinlich nicht mehr viel übrig. Die Bücher, die sie mitgebracht hatte, und ihre hübschen Kleider waren vermutlich zu Asche verbrannt oder in dem Chaos verloren gegangen. Sie war bei Fremden zu Gast – ohne die tröstliche Anwesenheit ihrer vertrauten Besitztümer.
Sie fühlte sich deprimiert, weil alles so sinnlos erschien. Trotzdem versuchte sie, sich zusammenzureißen und praktisch zu denken.
„Sie sagen, dass ich dieses Bett nicht verlassen soll, und ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich das nicht tun werde. Aber ich muss darauf bestehen, dass Sie meine Bedingungen erfüllen. Ich weiß, dass Sie es nicht gewohnt sind, von einer Frau Befehle entgegenzunehmen. Aber ich nehme an, dass ungewöhnliche Maßnahmen gestattet sind, nachdem das Schloss des Herzogs in Schutt und Asche gelegt wurde. Und da ich das einzige Mitglied meiner Familie bin, das irgendwelche Entscheidungen treffen kann, möchte ich Sie um Ihre Unterstützung bitten.“
„Zu Ihren Diensten. Sagen Sie mir, was Sie brauchen, und ich sorge dafür, dass Sie es bekommen.“
Falls er dieses Angebot ernst meinte, war das höchst sonderbar, dachte Aveline erstaunt, bevor sie mit möglichst energischer Stimme fortfuhr: „Ich möchte meinen Verlobten sehen, damit ich alles mit ihm besprechen kann. Wir wurden uns offiziell noch nicht vorgestellt, aber darauf kann im Moment keine Rücksicht genommen werden.“
Aveline verlagerte ihr Gewicht im Bett und fühlte sich bei der Vorstellung, ihrem künftigen Gatten in dieser Verfassung begegnen zu müssen, äußerst unwohl. Doch Fragen der Eitelkeit mussten vorläufig in den Hintergrund treten.
„Leider ist das nicht möglich, Mademoiselle.“ Robert schaute sie an. Der sanfte Ausdruck in seinen Augen war verschwunden; sie wirkten plötzlich kühl.
Aveline war nicht sicher, ob sie den Grund für diese Veränderung wissen wollte. „Aber der Sohn des Duc de Vivay ist über diese missliche Lage doch sicherlich im Bilde, oder nicht?“
Robert schüttelte den Kopf, antwortete jedoch nicht. Er sah sie nur an.
„Bitte sagen Sie mir, was vorgefallen ist!“, bat Aveline, ihre Stimme klang drängend. „Welche Nachrichten Sie auch haben, sie können nicht schlimmer sein als das, was sich bereits zugetragen hat.“
„Es tut mir leid, aber Ihr Verlobter ist derzeit nicht auffindbar.“
Sie schluckte schwer. „Aber Sie haben doch gesagt, dass er lebt!“
„Ja, das stimmt.“
Das war zwar eine kleine Beruhigung, aber nicht genug. „Dann wurde er gefangen genommen?“
„Nein.“ Roberts Kinn schob sich vor. „Er ist geflohen.“
Diese kurze Antwort schnitt sich wie ein gezacktes Messer in Avelines Herz. Philippe ist geflohen? Er hat seine Familie, seine Gäste und mich einfach im Stich gelassen, während sein Schloss brannte?
Aveline weigerte sich zu akzeptieren, dass ihr Verlobter so feige gewesen sein konnte. „Sie sind ganz sicher, dass er lebt?“
Robert nickte. „Ja. Dank Gottes Gnade sind keine Menschenleben zu beklagen. Doch wir wurden erst kurz vor dem Angriff gewarnt. Die Zeit reichte nicht, um die Gäste wieder nach Hause zu schicken. Aber der Herzog und Ihr Verlobter wussten Bescheid und ritten während der ersten Angriffswelle davon. Sie wurden gesehen, als sie auf ihren Pferden flüchteten.“
„Wer will sie gesehen haben und behauptet etwas so Verleumderisches?“
„Ich.“
Voller Bestürzung dachte Aveline an die Brosche: Sie hatte gehofft, dieses Geschenk würde ihr einen Einblick in den Charakter des Mannes geben, von dem sie es bekommen hatte. Wie naiv sie gewesen war zu glauben, ein goldenes Schmuckstück könne die inneren Werte eines Menschen offenbaren!
„Sie irren sich!“, protestierte sie dennoch. „So kann sich unmöglich jemand verhalten, von dem mein Vater mir versichert hat, dass er ein Edelmann höchsten Ranges sei. Philippe ist ein Ehrenmann, aus einer Familie mit einem höchst angesehenen Namen.“
„Jemand, der sich so verhält, macht seinem Familiennamen jedenfalls keine Ehre.“
„Als Kellermeister ist Ihnen doch sicher bewusst, welche Charakterstärke erforderlich ist, um die Ländereien des Herzogs zu verwalten. Man muss sich um die Arbeiter in der Weinherstellung kümmern und um die Bauern, die das Land bearbeiten. Alle diese Menschen müssen Tag für Tag schwer arbeiten, und Philippe würde es gewiss nicht wagen, sie im Stich zu lassen.“
„Mir ist sehr wohl bewusst, unter welchen Umständen die Menschen hier leben.“
„Dann gibt es sicher eine Erklärung für das Verhalten meines Verlobten.“
„Wenn es eine gibt, würde ich sie gern hören.“
„Vielleicht hat ihn ein Unglück ereilt? Sonst wäre er doch vermutlich an Ihrer Stelle hier. Vielleicht wurden der Herzog und sein Sohn vom Pöbel überfallen, als sie Hilfe holen wollten? Vielleicht wurden sie nach Paris verschleppt?“
Er schloss einen Moment die Augen, als schmerze ihn etwas. „Bitte benutzen Sie dieses Wort nicht.“
„Welches Wort?“
„Pöbel. Das ist eine höchst abwertende Bezeichnung.“ Robert schüttelte den Kopf. „Es handelt sich um Menschen wie Sie und ich, deshalb sollten Sie sie nicht so nennen.“
„Ich bin durchaus über den dritten Stand informiert, Monsieur. Und mir ist das Problem der Besteuerung der breiten Bevölkerung sehr wohl bewusst. Ich weiß, was am 5. Mai dieses Jahres bei den Generalständen passiert ist. Daher brauchen Sie mich nicht über die Verwendung bestimmter Worte zu unterweisen.“
Robert zog, offensichtlich erstaunt, die Augenbrauen nach oben, als sie den Stand der Bürgerlichen erwähnte: all die schwer arbeitenden Menschen, die unter dem Klerus und dem Adel standen und in dieser Gesellschaft buchstäblich ums Überleben kämpfen mussten.
„Die Kosten für den Lebensunterhalt sind in manchen Gegenden enorm gestiegen“, fuhr Aveline fort, da sie sich nicht zügeln konnte, sobald dieses Thema zur Sprache kam. „Doch die Löhne der Arbeitenden wurden in den letzten Jahren kaum erhöht. Trotzdem sollen sie nun noch mehr Steuern an den König zahlen. Die armen Leute merken, dass König und Klerus sich ihrer extremen Umstände gar nicht bewusst sind, und die langen Entbehrungen durch die Missernten machen sie wütend. Das ist bis zu einem gewissen Punkt absolut verständlich.
Wenn Menschen jedoch das Haus eines unschuldigen Mannes in Brand stecken, bezeichne ich sie als Pöbel! So ein Verhalten lässt sich unter keinen Umständen rechtfertigen!“
Von Frauen wurde gewöhnlich erwartet, dass sie von Politik keine Ahnung hatten. Niemand rechnete damit, dass sie über die wirtschaftliche Lage des Landes Bescheid wussten oder sich mit den Nöten der armen Bevölkerung befassten. Wie oft war Aveline schon auf Verwirrung und Fassungslosigkeit gestoßen, sobald sie eine Bemerkung machte, die die Grenzen ihres Standes sprengte. Und die streng zugewiesene Rolle ihres Geschlechts.
Forschend blickte Robert sie an. Vielleicht suchte er nach einer Erwiderung angesichts der Tatsache, dass sie über einen funktionierenden Verstand verfügte und sich offenbar nicht nur mit der Frage beschäftigte, wie viele Paar Abendhandschuhe sie besaß.
„Sie sind sehr direkt, Mademoiselle.“
„Das muss ich sein. Es sind unsichere Zeiten. Direkt zu sein, ist die einzige Möglichkeit, damit umzugehen.“
„Dann will ich Ihnen die Höflichkeit erweisen, ebenso direkt zu sein: Da der Aufenthaltsort sowohl Ihres Verlobten als auch des Herzogs unbekannt ist, obliegt es uns, uns um Sie zu kümmern. Das werden wir tun, solange Sie unserer Fürsorge bedürfen.
Aber ich versichere Ihnen eines: Falls Ihr Verlobter zurückkommt und es wagt, sein Gesicht den Menschen zu zeigen, die er im Stich gelassen hat, wird er meine Faust so kräftig zu spüren bekommen, dass er hinterher nicht einmal mehr weiß, wie er heißt!“
Aveline war sprachlos vor Überraschung. Dieser Mann wirkte äußerlich so ruhig und beherrscht, während offenbar eine enorme Wut in ihm kochte. Wie lange würde er seinen Zorn noch bändigen können?
„Entschuldigung, Monsieur Robert?“ Von der anderen Seite des Raums ertönte eine leise, sanfte Frauenstimme. „Ich habe Wasser für Mademoiselle gebracht.“
Aveline wandte rasch das Gesicht ab und biss sich auf die Unterlippe, um nicht vor Roberts Augen in Tränen auszubrechen. Seine Worte hatten sie sehr aufgewühlt. Wie sollte sie all diese schockierenden Nachrichten verarbeiten?
„Ich lasse Sie jetzt allein. Au revoir.“
Sein Abschied war kurz und knapp: eine leichte Verbeugung, dann drehte er sich um und ging. Die Treppenstufen ächzten unter seinen Schritten, bevor diese verhallten und eine Tür zugeschlagen wurde. Er hatte das Haus verlassen.
Aveline fühlte sich vollkommen überfordert: zum einen aufgrund der starken Schmerzen, die sie quälten, und zum anderen aufgrund der bitteren Erkenntnis, dass dem Duc de Vivay und seinem Sohn Feigheit vorgeworfen wurde.
Sie war froh, dass Robert gegangen war. Vielleicht würde sie im Beisein einer Frau klarer denken und wieder richtig durchatmen können. Vielleicht würde sie sogar dem Drang, in Tränen auszubrechen, nachgeben können und tröstenden Zuspruch erfahren.
Zögernd hob sie den Blick, um die Frau anzusehen, die jetzt auf sie zutrat. Als sie sie erkannte, weiteten sich ihre Augen vor Überraschung. „Fanetta?“
Die Angesprochene neigte ehrerbietig den Kopf. „Guten Tag, Mademoiselle.“
Fanetta wirkte niedergeschlagen. Ihre Augen waren gerötet und ihr kastanienbraunes Haar war nicht so korrekt frisiert, wie es sich für die Zofe einer adligen Dame gehörte. Sie trug auch keine formelle Dienstbotenkleidung, sondern ein schlichtes Leinenkleid in ausgebleichtem Indigoblau. Mit beiden Händen umklammerte sie einen Porzellankrug.
„Das verstehe ich nicht. Was machen Sie hier?“
„Wir haben Sie gerettet, Mademoiselle. Besser gesagt, Monsieur Robert hat Sie gerettet. Er hat Sie hierhergebracht, und wir haben Sie hier heimlich gepflegt.“ Fanetta stellte den Krug auf die Kommode, bevor sie ihren Blick wieder auf die Verletzte richtete. „Er hat auch nachgesehen, was aus Ihren Gemächern noch zu gebrauchen war, und diese Dinge hierhergeschafft. Aber er musste äußerst vorsichtig vorgehen, weil niemand wissen darf, wo Sie sind.“
„Wieso denn das? Warum muss ich heimlich versorgt werden? Robert hat davon gesprochen, dass ich mich verstecken müsse. Aber was kann mir noch geschehen, nachdem das Schloss niedergebrannt ist und mein Verlobter vermisst wird?“
Jetzt ließen sich die Tränen nicht länger zurückhalten, sie flossen ungehindert über Avelines Wangen. „Fanetta, Sie müssen ebenfalls schon vor dem Angriff im Bilde gewesen sein, denn Sie haben mir die Brosche und die Nachricht von meinem Verlobten gebracht. Sie wussten, was passieren würde, nicht wahr? Also: Warum darf niemand wissen, dass ich mich hier aufhalte? Was um Himmels willen ist noch übrig, das gestohlen oder vernichtet werden könnte?“
„Sie, Mademoiselle. La belle au bois dormant nennt man Sie. Dornröschen, wie in Perraults Märchen. Sie sind in den letzten Tagen zu einer Legende geworden, noch bevor sich die Rauchwolken über der Ruine verzogen haben. Der Herzog und sein Sohn konnten sich in Sicherheit bringen, während Sie einfach in die Nacht hinein verschwunden sind. Und in ihrer Wut auf den Adel haben sich einige Leute geschworen, alles zu tun, um Sie zu finden und dann an Ihnen ein Exempel zu statuieren.“
Avelines Blick raste zur Treppe, dem einzigen möglichen Fluchtweg aus dieser Dachkammer.
Sollte sie wie ihre Mutter Richtung Norden fliehen oder versuchen, sich allein nach Paris durchzuschlagen? Doch in ihrer augenblicklichen Verfassung würde sie nicht weit kommen; sie war zu schwer verletzt. Ohne eine Kutsche und ein Pferd war jeder Fluchtversuch ohnehin zwecklos. Selbst wenn es ihr gelänge, den Menschen zu entkommen, die sie hier gefangen hielten, würde es nicht lange dauern, bis sie zusammenbrechen oder gefasst werden würde.
Sie hatte keine Wahl: Sie musste ihr Leben in die Hände von Fremden legen, die zur selben Bevölkerungsschicht gehörten wie jene, die ihren Tod wünschten.
„Ein Exempel statuieren. Ich verstehe.“ Aveline holte tief Luft, während sie ein stilles Stoßgebet zum Himmel schickte. „Und was sagen Sie?“
Fanetta beugte sich über das Bett und nahm die Handfläche von Avelines unverletzter Hand in ihre. „Das Gleiche, was Monsieur Robert sagt: dass wir eher sterben würden, als Sie auszuliefern.“
Da war es wieder: Monsieur Robert. „Warum nennen Sie ihn so?“
Fanetta zuckte die Achseln, als würde sich die Antwort darauf von selbst verstehen. „Er ist der Kellermeister dieser Weinberge.“
„Ja, das hat er erwähnt. Aber ist das der Grund, warum Sie ihn so respektvoll ansprechen?“
„Nun, Monsieur Robert ist ein Mann des Volkes. Er arbeitet vorbildlich und wird von uns allen hier sehr geachtet, weil er sich unablässig für die armen Leute einsetzt. Als Ihr Verlobter geflohen ist, hat er, ohne zu zögern, die Verantwortung für Sie übernommen.
Vermutlich ist es ihm gar nicht in den Sinn gekommen, seinen Titel zu erwähnen. Ein Winzer hat normalerweise ja keinen Titel, es sei denn, er ist Kellermeister und verdient als der jüngere Sohn des Herzogs Respekt. Und als der Bruder Ihres Verlobten.“
ACHT
Heute
Les Trois-Moutiers
Loiretal
„Titus!“ Quinn rief den Namen seines Großvaters, sobald er das Weingut erreicht und den Motor seines Lieferwagens abgestellt hatte.
Ellie, die ihm bis hierher gefolgt war, zog die Handbremse ihres Mietwagens an. Interessiert spähte sie nun durch die Windschutzscheibe und ließ den Anblick, der sich ihr bot, auf sich wirken. Was sie im Internet gelesen hatte, war keine Übertreibung gewesen: Sie befand sich vor einem typisch französischen Gutshaus. Quinn Foleys Argument, er hätte während der Ernte keinen Platz für Gäste, war einfach lächerlich!
Das dreistöckige Gebäude aus verwitterten Steinen war romantischer als ein Landhaus und so groß, dass das Rathaus von Marquette mühelos hineingepasst hätte. Doch die Größe tat seinem Charme keinen Abbruch: Mehrere Dachgauben versprühten einen altmodischen Reiz. Ellie sah einen runden steinernen Torbogen, schwere Holztüren und schmiedeeiserne Wandleuchter, deren Flammen in den letzten Schatten des Morgens flackerten.
Aber Quinn schien diese Umgebung mit anderen Augen zu betrachten: Die malerische Kulisse konnte seinen Ärger offenbar nicht beschwichtigen. Er stürmte über den Hof und war gleich darauf hinter der Eingangstür verschwunden.
Sosehr sie dieser Inbegriff des französischen Landlebens fasziniert hatte – spätestens jetzt war der Bann gebrochen. Ellie beeilte sich, nach ihrer Handtasche und ihrem Smartphone zu greifen. Sie wollte sich nicht geschlagen geben müssen, nur weil sie bei der Auseinandersetzung zwischen dem Hausbesitzer und seinem Enkel nicht anwesend gewesen war. Um ihren Standpunkt zu verteidigen, musste sie ins Haus gehen.
Also atmete sie tief ein und eilte hinter Quinn her.
Bevor sie das Gebäude betrat, hielt sie jedoch noch einmal kurz inne und ließ ihren Blick über den Hof und die Fassade wandern: Efeu rankte sich an den Mauern hinauf und ergab zusammen mit den Steinen und dem Bleiglas der Fenster ein wunderbares Bild. Im Erdgeschoss standen einige Fenster offen; sie luden die kühle Morgenluft ein, ins Innere zu strömen.
Gleichzeitig drang der Duft von gekochtem Essen in den Hof, als ob er müde Reisende begrüßen wollte. Ellie nahm den unverkennbaren Geruch von frisch gebackenem Brot wahr. Und von brutzelndem Speck? Außerdem roch es verführerisch nach frisch aufgebrühtem französischem Kaffee.
Sehnsüchtig schloss sie die Augen und sog dieses köstliche Aroma in sich auf. Gleich darauf blinzelte sie allerdings erschrocken und riss sich selbst aus ihren Gedanken. Sie durfte auf keinen Fall den Anschluss verlieren! Rasch öffnete sie die Tür, hinter der Quinn soeben verschwunden war.
Er schenkte der Eingangshalle – dem Inbegriff von ruhigem, ländlichem Charme – keine Beachtung, sondern marschierte, ohne zu zögern, weiter. Doch Ellie verlangsamte ihre Schritte, damit ihre Stiefel nicht auf dem Schieferboden klapperten, und betrachtete die großzügig geschwungene Treppe, die am anderen Ende des Raumes nach oben führte.
Die hintere Wand war von mehreren Fenstern durchbrochen; das malerische Außenpanorama wurde nicht durch Vorhänge ausgesperrt. Über terrassenförmig angelegten Weinbergen erhob sich draußen eine Steinveranda, die einen herrlichen Blick auf grüne und goldene Herbsttöne bot.
Cremefarbene Wände, kostbare Vertäfelungen und antike Möbel – mit alldem hatte Ellie beinahe gerechnet, noch bevor sie das Haus betreten hatte. Aber nun fesselte sie etwas völlig Unerwartetes: ein riesiger Kamin, der wohl schon von mehreren Generationen benutzt worden und im Laufe der Zeit ein wenig rissig geworden war. Ebenso beeindruckend war das Gemälde einer Frau in einem Kleid aus dem 18. Jahrhundert, das rechts davon prangte.
Ellie holte tief Luft. „So sieht also ‚Zuhause im Glück‘ auf Französisch aus“, murmelte sie.
Sie wäre gern stehen geblieben, aber Quinn trat durch einen Türbogen und stürmte weiter vorwärts. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Vom Ende eines Flurs drang Musik – eine leise Instrumentalmelodie – zu ihr her. Gleichzeitig erklang ein sympathisches Lachen, dann redete jemand auf Französisch.
Fasziniert lauschte Ellie diesen Gesprächsfetzen, von denen sie kein Wort verstand. Und mit einem Mal hatte sie merkwürdigerweise das Gefühl, sie sei nach Hause gekommen. Dieses Gutshaus, das so französisch, aber absolut nicht überheblich wirkte, schien sie nicht wie eine Fremde zu begrüßen. Es kam Ellie vielmehr so vor, als wäre sie schon früher durch diese Flure gegangen. Die Mauern um sie herum strahlten eine Ruhe aus, die die moderne Welt mit all ihrer Hektik nicht erschüttern konnte.
Am Ende des Korridors befand sich offenbar eine Küche; die Tür stand offen. Quinn marschierte geradewegs hinein, doch Ellie zögerte. Zwar konnte sie eine Reservierung vorweisen, aber sie war kein Mitglied der Familie, sondern nur ein Gast. Quinns Ansicht nach sogar ein ungebetener. Deshalb blieb sie lieber im Türrahmen stehen und wartete erst einmal ab.
Quinn ging auf einen grauhaarigen, sonnengebräunten alten Mann zu, der an der Stirnseite eines Bauerntisches saß. Direkt hinter ihm hingen einige Kräuter- und Lavendelbüschel an einem Holzregal; sie wurden vom Sonnenschein, der durch ein offenes Fenster drang, in ein warmes Licht getaucht.
„Titus?“ Quinn machte sich nicht die Mühe, seinen Tonfall abzumildern. „Qu’as-tu fait?“
Wenn ich mich nur erinnern könnte, was das heißt!
Der alte Mann trug eine Leinenjacke und ein einfaches weißes Hemd, das am Kragen nicht zugeknöpft war und dessen Ärmel ungleichmäßig hochgekrempelt waren. Die Lachfältchen in seinen Augenwinkeln verrieten, dass er das Leben lieber mit Humor nahm, als sich zu ärgern. Er nippte an einem Glas Wein und legte nun in aller Ruhe eine Zeitung zusammen.
Außer dem älteren Herrn befanden sich noch zwei Frauen in der Küche, die ein wenig erstaunt wirkten. Beide hatten silbergraue Haarknoten im Nacken; die eine trug ein Kleid in unterschiedlichen Blau-, Rost- und Cremetönen, die andere ein steifes, gebügeltes Chambraykleid. Über ihre Kleider waren lange Schürzen gebunden.
Kaum war Quinn in die Küche gestürmt, hatten die beiden Frauen ihre Tätigkeit an der Arbeitsinsel in der Mitte des Raumes unterbrochen. Anstatt weiter Teig zu kneten, blickten sie ihn mit großen Augen an.
Ellie wünschte, sie hätte ihr Französischbuch aus der siebten Klasse zur Hand.
Quinn redete so schnell, dass sie nur hin und wieder ein Wort aufschnappte, das ihr bekannt vorkam. Es gebe difficultés, also Schwierigkeiten, schien er seinem Großvater zu erklären. Außerdem erwähnte er argent, Geld. Und Américaine.
Letzteres hatte sie genau verstanden, und ihr entging auch nicht, wie Quinn dieses Wort sagte: als wäre es alles andere als ein Kompliment, dass sie Amerikanerin war.
Aufgrund ihres vorhergegangenen Wortwechsels konnte Ellie sich den Rest des Gesprächs gut vorstellen: Diese Touristin würde darauf beharren, dass sie eine Reservierung vorgenommen und schon für zwei, vielleicht auch drei Wochen Aufenthalt gezahlt habe, was ihm überhaupt nicht gefiel. Zweifellos versuchte Quinn, den alten Mann dazu zu bewegen, sein Scheckbuch zu holen und diesen Fehler rückgängig zu machen, damit sie Ellie so schnell wie möglich wieder loswerden konnten.
Titus Vivay antwortete ruhig und beherrscht und tat die Aufregung seines Enkels mit einer selbstsicheren Handbewegung ab. „Tu t’inquiètes trop.“
„Ich mache mir nicht zu viele Sorgen! Wenn du vernünftig wärst, würdest du begreifen, was ich meine!“ Quinn wirkte frustriert und schimpfte – aus welchem Grund auch immer – plötzlich auf Englisch weiter. „Wenn du mich nicht lässt, kann ich dir nicht helfen. Ich bin nicht hierhergekommen, damit du mir bei jedem Schritt Knüppel zwischen die Beine wirfst.“
Anschließend fügte er noch sehr leise etwas auf Französisch hinzu. Ellie hatte keine Ahnung, was er sagte, doch plötzlich schien die Temperatur im Raum um mehrere Grad abzusinken.
Das Geplauder der beiden Frauen war längst verstummt und man hörte nur noch die Musik im Hintergrund. Der alte Mann schien Ellie erst jetzt zu bemerken, denn er richtete seine zusammengekniffenen Augen zur Tür. Anstatt sie höflich lächelnd willkommen zu heißen, verhärtete sich jedoch seine Miene.
Quinn drehte sich ebenfalls zu ihr herum. Obwohl ihm diese ganze Szene anscheinend ein wenig leidtat, sprach aus seinem unrasierten Gesicht immer noch eine feste Entschlossenheit.
Noch nie zuvor hatte sich Ellie so sehr gewünscht, sie könnte im Erdboden versinken. Sie hatte gehofft, an diesem Ort als Gast aufgenommen zu werden, aber offensichtlich war sie hier keineswegs willkommen.
Sie sollte das Foto vergessen und ihre Absicht, das geheimnisvolle Schloss zu finden, aufgeben, schoss es ihr durch den Kopf. Wie hatte sie nur so zuversichtlich und selbstsicher sein können, nur weil sie einen Ozean überquert hatte, um eine alte Geschichte auszugraben?
Für einen Moment erwog sie tatsächlich, alles hinzuwerfen und umzukehren. Doch dann ließ sie den Gedanken genauso schnell wieder fallen, wie er gekommen war, und zwar aus einem einzigen Grund: Sie hatte wieder ihre Großmutter vor Augen, die unablässig am Fenster stand und wartete. Allein. Voller Unruhe.
Ellie musste unbedingt herausfinden, auf wen Oma Viola wartete. Und irgendetwas sagte ihr, dass die Antwort auf diese Frage ganz in der Nähe zu finden sein könnte. Vielleicht wusste sogar der Mann, der hier vor ihr saß, etwas, das ihr weiterhelfen würde.
Falls sie ihren Stolz opfern musste, um dieses Geheimnis zu lüften, ließ sich das eben nicht vermeiden.
„Hello.“
Du bist in Frankreich, Ellie!
Sie schüttelte den Kopf. „Ähm, bonjour …“ Mit einem höflichen Lächeln trat sie einen Schritt vor. „Ich bin Ellison Carver, Ellie, aus den USA. Aus Michigan, genauer gesagt. Ich weiß nicht, ob Sie ein Wort von dem, was ich sage, verstehen können, aber ich habe reserviert. Ein Zimmer. Hier auf diesem Weingut.“
Eine der Frauen, anscheinend die ältere der beiden, warf einen Blick auf Titus. Doch er erwiderte ihren Blick nicht. Stattdessen starrte er, ohne eine Miene zu verziehen, weiterhin in Ellies Richtung.
Unwillkürlich hielt sie ihr Smartphone hoch, da ihr die Mail einfiel, mit der ihre Reservierung bestätigt worden war. Doch dann senkte sie es rasch wieder, damit diese Leute nicht etwa auf die Idee kamen, sie würde Handys verkaufen. Ohne WLAN konnte sie ihre Mail sowieso nicht abrufen. Und sie wollte schließlich nicht für noch mehr Verwirrung sorgen.
„Ich habe letzte Woche ein Zimmer für zwei Wochen gebucht. Ihr Enkel hat mich auf der Straße aufgegabelt, weil ich ein wenig die Orientierung verloren hatte. Er war so freundlich, mir zu helfen, das Gutshaus zu finden.“ Ellie deutete mit dem Kopf hinter sich. „Ihr Haus ist übrigens sehr schön. Ähm … C’est belle. Une belle maison.“
Vielleicht genügte das als Erklärung und der Hausherr würde ihr das reservierte Zimmer geben. Immerhin hatten sie einen Vertrag abgeschlossen. Er konnte ihre Buchung doch nicht einfach in letzter Minute stornieren, oder? Er würde ihr sicher nicht zumuten, auf dem Absatz wieder umzukehren und zur nächsten Stadt zu fahren, obwohl sie bereits den vollen Preis im Voraus gezahlt hatte.
Falls er das tun sollte, würde sie ihm jedenfalls deutlich die Meinung sagen. Aber so hatte sie ihre Nachforschungen eigentlich nicht beginnen wollen.
Titus Vivay sagte vorerst allerdings noch überhaupt nichts. Er atmete nur tief aus und schob langsam seinen Stuhl vom Tisch. Dann stand er auf und griff nach einem geschnitzten Holzstock, der an der Tischplatte lehnte. Während er sich mit einer Hand darauf stützte, nahm er mit der anderen sein Weinglas und leerte es in einem langen Schluck. Anschließend durchquerte er mit kleinen, vorsichtigen Schritten die Küche und blieb erst stehen, als er seinem Enkel direkt gegenüberstand.
Quinn reagierte schnell und hielt seinem Großvater den Arm hin. Titus tastete danach, legte seine Fingerspitzen auf Quinns Unterarm und klammerte sich daran.
„Oh!“, entfuhr es Ellie, der in diesem Moment die Augen aufgingen.
Der alte Mann war blind oder nahezu blind. Er hatte zwar in ihre Richtung geschaut, aber nicht, weil er sie sehen konnte. Sondern wegen irgendetwas, das Quinn gesagt hatte. Und später vermutlich, weil er ihre Stimme gehört hatte.
Das löste eine Flut von neuen Fragen aus.
Titus Vivay hob nun sein Kinn und sagte etwas auf Französisch zu seinem Enkel. Er schien es sehr ernst zu meinen und sein fehlendes Augenlicht konnte seine Autorität nicht mindern. Er unterstrich seine Worte mit einem strengen Fingerdeuten auf den Boden.
Zu Ellies Überraschung seufzte Quinn und gab sich mit einem „D’accord“ geschlagen.
Worin auch immer diese Meinungsverschiedenheit nun genau bestanden hatte, sie endete definitiv mit dem Machtwort des Hausherrn.
Titus Vivay ging langsam zur Tür. Er blieb kurz stehen, um Ellie leicht zuzunicken, dann verließ er die Küche. Sie beobachtete, wie er sich mit einer Hand an der Wandvertäfelung entlangtastete, bis er im Flur verschwand.
Ellie musste sich eingestehen, dass dieser ältere Herr einen starken Eindruck hinterlassen hatte. Allerdings war sie nicht sicher, wie sie seinen Abgang deuten sollte. Er wirkte nicht unfreundlich, nur resolut – trotz seines fortgeschrittenen Alters und seines Handicaps. Wenn er das Oberhaupt der Familie oder des Betriebs verkörperte, war er seiner Rolle jedenfalls perfekt gerecht geworden: Er hatte den Widerspruch seines Enkels mit wenigen Worten im Keim erstickt.
„Entschuldigen Sie bitte“, wandte sich Quinn nun an sie. Er rieb sich den Nacken. „Mein Großvater kann manchmal sehr stur sein.“
Ellie schaute automatisch zum Flur. „Was hat er gesagt?“
„Dass Ihre Reservierung gilt und dass Sie selbstverständlich hierbleiben können.“
„Wirklich?“ Ellie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. Der Besitzer des Weinguts hatte sich auf ihre Seite gestellt. Damit stand es eins zu null für sie, auch wenn sie diesen Sieg nicht selbst errungen hatte.
„Danke. Ich hoffe, ich störe Sie nicht, wenn ich bleibe, aber ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Ich würde mich bei Ihrem Großvater gern persönlich bedanken. Kommt er bald zurück?“
Quinn schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Seiten. „Nein, denn ich fahre ihn nachher in die Stadt, so wie jeden Morgen.“
Er warf einen Blick hinter sich, als würde ihm erst jetzt bewusst werden, dass sie immer noch ein Publikum hatten. Mit einem strahlenden Lächeln trat er auf die beiden Frauen zu, dann drückte er jeder einen Kuss auf die Wange. Sie genossen seine Aufmerksamkeit und benahmen sich wie Glucken gegenüber einem Küken – einem sehr großen, attraktiven Küken.
Titus mochte gegen Quinns Charme immun sein, aber diese Frauen waren es offensichtlich keineswegs.
„Da Sie nun hierbleiben, sollte ich Ihre Taschen in Ihr Zimmer bringen“, wandte sich Quinn wieder an Ellie. „Es ist die Tür oben an der Treppe. Kann ich Ihren Autoschlüssel haben?“
Ellie kramte die Schlüssel des Mietwagens aus ihrer Handtasche und ließ sie in seine ausgestreckte Hand fallen. „Danke.“
„Gut. Dann … fühlen Sie sich wie zu Hause.“
„Warten Sie! Sie lassen mich hier einfach stehen?“ Ellie schaute ihn verblüfft an. Erwartete er tatsächlich, dass sie sich mit zwei Frauen unterhielt, die kein Wort Englisch sprachen? „Aber ich kann kein Französisch. Wie soll ich mich mit diesen beiden Damen verständigen?“
„Keine Sorge! Diese zwei beherrschen die Sprache des Essens. Ich hoffe nur, dass Sie Hunger haben.“ Mit einem verschmitzten Lächeln beugte er sich ein Stück vor und fügte hinzu: „Diese Sprache werden Sie auf jeden Fall im Handumdrehen lernen. Dafür werden die beiden sorgen, das werden Sie bald sehen.“
Im selben Augenblick schien jede Spannung aus dem Raum zu verschwinden und einer unbeschwerten Freude Platz zu machen. Genussvoll atmete Ellie die köstliche Mischung aus kühler Morgenluft und dem Geruch nach frisch gebackenem Brot ein, als Quinn ihr seine Großmutter, Helene, und Tante Claire, die Schwester seines Großvaters, vorstellte. Die beiden Köchinnen des Weinguts waren freundliche Gastgeberinnen, die sich weder durch mürrische Männer noch durch Sprachbarrieren zurückhalten ließen.
Sie luden die fremde junge Frau in ihre Küche ein und begrüßten sie voller Herzlichkeit. Ellie war gerührt, als Helene sich das Mehl von den Händen klopfte, Ellies Gesicht in ihre Hände nahm und sie auf beide Wangen küsste.
Tante Claire zog einen Stuhl vom Tisch, bedeutete ihr, sich zu setzen, und forderte sie auf: „Mangez! Mangez!“ Dann belud sie einen Teller mit Croissants und Pain au chocolat, Joghurt und frischem Obst.
Ellie wurde mit Aufmerksamkeit überschüttet, was ihr nach diesem anstrengenden Morgen unglaublich guttat. Diese Frauen waren im wahrsten Sinn des Wortes ein Licht an einem bereits goldenen Ort. Jedes Gutshaus, das etwas auf sich hielt, sollte über lächelnde Köchinnen mit mehlbestäubten Schürzen verfügen, fand sie.
Und ganz gleich, ob sie zwei Wochen oder zwei Monate blieb – an den Geschmack dieses Lebens könnte sie sich gewöhnen. Sie hatte sogar beinahe vergessen, warum sie an diesen Ort gekommen war.
Doch plötzlich fiel ihr ein, was sie noch hatte fragen wollen. „Mr Foley?“
Quinn blieb an der Tür stehen und drehte sich wieder zu ihr um. „Ja, Miss Carver?“
„Hat er eigentlich noch etwas anderes gesagt? Ich meine – ihr Großvater, bevor er die Küche verlassen hat?“
„Nun, ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber er hat gesagt, dass Sie auch für einen Fremdenführer bezahlt haben. Und dass Sie einen bekommen werden.“
„Ach wirklich? Und wer wird das sein?“
Quinn Foley seufzte, während er Ellies Autoschlüssel von einer Hand in die andere warf. „Ich.“