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Umschlagfoto: Henryk Niestrój
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook: 978-3-8042-3062-0
ISBN Printausgabe: ISBN 978-3-8042-1503-0
www.buecher-von-boyens.de
Für Marion,
Heiko und Silke.
- ERSTER TEIL -
- 1 -
„HERR REIMER ZUR Information. Herr Reimer bitte.“
Mit einem leisen Knacken verabschiedete sich die weibliche Stimme aus den Lautsprechern und machte wieder der typischen Berieselungsmusik Platz, die sie den ganzen Tag über spielten, bis der letzte Kunde Balkos Baumarkt mit einer Packung Dübel oder einem Sack Blumenende unter dem Arm verlassen hatte. Das war meist kurz nach zwanzig Uhr.
Bis dahin dauerte es allerdings noch. Wenn es nach Hannes ging, war das noch viel zu lange hin.
Hannes war Herr Reimer. Zumeist von halb acht in der Früh bis oftmals zwanzig Uhr am Abend. Danach wurde aus Herrn Reimer wieder Hannes. Ein ziemlich einfaches Prinzip, wenn man so wollte. Aber es war nicht immer einfach. Weder für Hannes noch für Herrn Reimer.
Die Durchsage hatte Annika gesprochen. Hannes versuchte schon seit geraumer Zeit, sie ins Bett zu bekommen. Aber sie zierte sich. Warum, wusste er nicht. Sie lebte allein. Vermutlich stand sie auf Frauen. Was für eine Vergeudung.
Seine Gedanken gingen durcheinander, als er sich in Bewegung setzte. Ein Kunde (älterer Mann mit Lesebrille, die ganz am Rand seiner Nasenspitze saß) versuchte ihn aufzuhalten. Der Kerl wollte sogar so weit gehen, ihn am Ärmel seines roten Baumarkt-Hemds zu zupfen, doch Hannes gelang es, einen Haken zu schlagen und dem Mann auszuweichen. Spießrutenlauf.
Auf halbem Weg kam ihm Kerstin entgegen. Ein halbes Jahr von ihrem Mann getrennt, zwei Kinder, von denen sie viel und oft erzählte und deren Namen sich Hannes vermutlich nie würde merken können. Er wusste nur, dass beide mit einem J anfingen.
„Nörgel-Seyfarth steht an der Info“, sagte sie im Vorbeigehen. Sie drehte sich um, ihre dunklen Korkenzieherlocken wirbelten durcheinander. „Der sieht aus, als würde er dich grillen wollen. Viel Spaß, Reimer.“
Sie drehte sich um und verschwand aus Hannes’ Leben. Für immer. Nur wusste er das da noch nicht. Im Grunde war es auch nicht weiter wichtig. Bloß eine Randnotiz mitten im Strudel der Ereignisse, die kurz bevorstanden.
Hannes schwitzte. Das leichte Kopfdrücken, mit dem er heute Morgen schon viel zu früh aufgewacht war, hatte sich zu einem Dröhnen entwickelt, das inzwischen mit der Härte eines Schlagbohrers auf ihn einhämmerte (Abteilung Elektrogeräte, zweiter Gang links. Danke.)
Drei Aspirin, die er kurz nach der Mittagspause mit einem Eiersalat-Sandwich zu sich genommen und mit kaltem Kaffee runtergespült hatte, waren wirkungslos in seinen Eingeweiden verpufft.
Aus einiger Entfernung erkannte er den Informationstresen. Daneben befand sich der Aktions-Aufsteller mit dem Grillzubehör. Spieße, Gabeln, Grillzangen, Anzünder (fest und flüssig), sowie die ganze Palette an Einweg-Plastikschrott und Papierservietten. Die Krönung der Sonderaktion war die lebensgroße Pappfigur, die Lutz Nagel ins Leben gerufen hatte und die deswegen auch Lutz Nagel zeigte, in alberner Grillschürze vor dem neusten Gas Grill, in der einen Hand eine Grillzange mit goldbrauner Thüringer und die andere mit nach oben zeigendem Daumen schön präsent in die Kamera gehalten. Dazu strahlten die Sonne und das Lächeln der penibel gepflegten und auf Hochglanz polierten Schneidezähne des Baumarkt-Leiters.
Als Hannes den Pappaufsteller das erste Mal gesehen hatte (das war vor drei Tagen gewesen, er hatte das verdammte Ding sogar auspacken und aufbauen müssen), da hatte er das erste Mal in seinem Leben gespürt, wie einem allein vom Anblick einer Sache übel werden konnte. Erst recht, wenn man unerwartet darauf traf.
Ähnlich erging es ihm jetzt mit Seyfarth. Dr. Gerd-Günther Seyfarth. Hannes kannte kaum mehr von ihm als den Namen auf seiner Kundenkarte, die Seyfarth jedes Mal gönnerhaft über die Kasse reichte, wenn es ans Bezahlen ging.
Gut, etwas mehr an Informationen war schon bisher zu ihm durchgedrungen. Der Mann war früher ein bekannter Mediziner gewesen, stammte aus Hamburg und hatte sich hier oben im Flensburger Raum ein schmuckes Haus an der Ostsee gekauft. Unverbaubarer Meerblick, bis hinüber zur dänischen Küste. Einwandfrei.
Um eben dieses Haus war es ihm gegangen, als er vor ein paar Wochen das erste Mal hier aufgetaucht war, um über sein neustes Projekt zu sprechen. Den Wintergarten.
Seyfarth war mit ziemlich konkreten Vorstellungen hier aufgetaucht, von denen sich die meisten jedoch als nicht realisierbar erwiesen hatten. Anfangs hatte Nagel den Mann selbst beraten, Chefsache, bis er den Auftrag an seinen Mitarbeiter Hannes Reimer abgegeben hatte. Hannes vermutete dahinter eine Art Racheakt seines Vorgesetzten.
Nun gab es Kunden, die mit sich reden ließen, die auf die jahrelange Erfahrung eines versierten Mitarbeiters vertrauten, wenn der ihnen beispielsweise zum Legen von Fundamentplatten in ordentlicher Qualität riet. Nicht so Dr. Seyfarth.
Zur ersten echten Auseinandersetzung zwischen Hannes Reimer und Dr. Seyfarth war es gekommen, als es um die Trägerkonstruktion des Wintergartens ging.
Seyfarth war ein Mann, der alles auf einmal wollte. Einer, der groß dachte und meinte, es ließe sich alles mit Geld bezahlen.
So hatte er die Idee mit den gigantischen Glaselementen aufgebracht, die ihm und seinen Gästen aus Übersee einen ungehinderten (und streifenfreien) Blick nach Dänemark bescheren sollten.
Hannes hatte sich die Maße angesehen und kurz das Gewicht der Glasscheiben ausgerechnet (das Seyfarth bis dahin nicht interessiert hatte).
So war Hannes zu dem Schluss gekommen, dass für die Konstruktion das sogenannte Pfosten-Riegel-System zur Anwendung kommen müsse, um für das ganze Ding eine höhere statische Sicherheit zu gewährleisten.
Das fand Seyfarth vom Grunde her (Gott, wie Hannes diese Formulierung hassen gelernt hatte) nicht verkehrt. Jedenfalls exakt so lange, bis Hannes ihm erklärt hatte, dass bei dieser Technik zusätzliche Bauelemente eingefügt würden, die meisten davon allerdings in Augenhöhe.
„Das ist ein No Go!“, war der zweite Satz gewesen, bei dem Hannes regelmäßig die Stirnader anschwoll, wenn Seyfarth ihn benutzte.
Nachdem sie sich über dieses Thema über eine halbe Stunde lang am Telefon angeschrien hatten und das Gespräch damit geendet hatte, dass Seyfarth seinen gesamten Auftrag zurückziehen wollte (das Fundament war zu diesem Zeitpunkt bereits gelegt), hatte Hannes schließlich eingelenkt und einer einfachen Rahmenbauweise zugestimmt. Etwas anderes war ihm nicht übrig geblieben, da Lutz Nagel nicht auf den Materialkosten für das Fundament sitzenbleiben wollte.
Das Ganze war jetzt zwei Wochen her, und der Wintergarten war vermutlich längst fertiggestellt. Bei Leuten wie Seyfarth konnte man allerdings nie wissen.
Als Hannes sich der Information näherte, drehte ihm der Doktor im Ruhestand den Rücken zu. In seiner linken Hand, die aus seinem beigefarbenen Sommerjackett herausragte, hielt er seine Kundenkarte, mit deren Kante er unablässig auf den Tresen klopfte, als würde er Achtelnoten auf der Snare Drum eines Schlagzeugs spielen.
Irgendwie wusste Hannes, dass etwas Unangenehmes bevorstand. Also tat er das, was er fast immer in solchen Situationen zu tun pflegte: Er stellte sich vor, wie es war, wenn er diese Situation hinter sich hatte. Wie es sein könnte, am Abend mit Niko und den anderen Jungs in Flensburg noch auf ein Pils an die Küste zu gehen. Dann würde er vielleicht noch einmal kurz an diese Situation denken, Seyfarth im Stillen zum Teufel wünschen und kurz über diese Angelegenheit lachen.
Allerdings würde dies alles nicht funktionieren. Nicht heute. Weil dies nicht Hannes’ Tag war und erst recht nicht seine Woche.
Nur war niemand da, um ihm das zu sagen.
Hannes bemühte sich nicht um ein freundliches Gesicht, wie er es bei den meisten anderen Kunden getan hätte. Seyfarth stand nicht auf Freundlichkeiten, also konnten sie sich diesen Quatsch gleich schenken.
Er trat auf die Information zu. Und als ob Seyfarth einen eingebauten sechsten Sinn hatte, drehte er sich genau in diesem Augenblick um.
Hannes erkannte die feuerrote Schramme, die schräg über die Stirn des Mannes und Teile seiner rechten Wange verlief.
Seine goldgeränderte Brille saß eine Spur schiefer als sonst auf seiner Nase, weil offenbar wenigstens einer der Bügel verbogen war.
Als Seyfarth sein Gegenüber erkannte, verengte er seine Augen unmerklich.
Hannes blieb vorsichtshalber stehen. Er verkniff es sich, dem Mann einen guten Tag zu wünschen. So wie Seyfarth aussah, war sein Tag bereits im Eimer, und er würde alles daran setzen, dass es Hannes genauso erging.
„Sie sind erledigt, Reimer“, presste der pensionierte Arzt über seine vollen Lippen. „Egal, wie gut Sie auch immer versichert sein mögen. Für diese Schweinerei mache ich Sie persönlich haftbar.“
Der Mann hatte leise gesprochen. So leise, dass nicht einmal der wartende Kunde hinter ihm von seinem Vortrag Notiz genommen hatte.
Hannes blinzelte.
„Was?“
Seyfarths Gesicht zeigte kaum eine Regung. Er trippelte zwei Schritte vor, so dass Hannes das Rasierwasser des Mannes riechen konnte.
„Glauben Sie ja nicht, dass Sie damit durchkommen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie hier rausfliegen. Ich bin nur gekommen, um Ihnen das persönlich zu sagen.“
Hannes spürte, wie sein rechter Mundwinkel zuckte. Das war etwas, das er nicht unter Kontrolle hatte. Etwas, dass sich einfach Bahn brach, wenn es mal wieder heißer herging.
„Vielleicht wären Sie so freundlich, mir erst mal zu erklären, was eigentlich passiert ist, bevor Sie mich öffentlich lynchen wollen.“
Auch Hannes war nach außen hin ruhig, aber er musste sich dazu zwingen. Was Mist war. Er wusste es, aber er konnte es nicht ändern.
Seyfarth tat etwas Unerwartetes. Er lächelte. Ein flüchtiges Lächeln, bis zum Rand gefüllt mit Ironie. Eines, das in Verbindung mit dem wissenden Ausdruck in Seyfarths Augen zu etwas Bedrohlichem wurde. Wie eine dunkle Wolke, die direkt über einer gerade ausgebreiteten Picknickdecke aufgezogen war.
„Meine Frau Susanne und ich hatten heute Freunde zum Tee eingeladen. Langjährige Freunde, die wir sehr schätzen und die uns das erste Mal an der Ostsee besucht haben.“
Hannes breitete seine Hände leicht auseinander.
Ja. Und?
„Meine Frau hatte gerade die Torte angeschnitten, als plötzlich das halbe Dach explodiert ist.“
„Explodiert.“ Hannes’ Stimme klang tonlos, vollkommen ohne Emotionen.
„Ja, explodiert!“, schrie Dr. Seyfarth mit einem Mal. Dabei riss er seinen Mund unnatürlich weit auf, so dass Hannes im Unterkiefer zwei goldene Backenzähne erkennen konnte. Das Gesicht des ehemaligen Hanseaten hatte sich von einer Sekunde auf die andere puterrot gefärbt, und die Schramme wirkte, als würde sie glühen.
„Mein Freund, Professor Linders, sagt, dass die Dachelemente viel zu sehr auf Spannung saßen! Deswegen ist uns heute alles um die Ohren geflogen. Seine Frau wurde von einem Glaselement an der Schulter getroffen. Ich habe noch eben abgewartet, bis der Notarzt eintraf. Dann bin ich sofort hierher.“
Seyfarth schloss den Mund, ganz kurz nur, um seinen schaumigen Speichel herunterzuschlucken.
„Und das alles ist ganz allein Ihre Schuld, Reimer!“
Hannes starrte auf die weißen Haarbüschel, die dem Arzt im Ruhestand aus den Ohren wucherten. Das hatte ihn im Verlauf ihrer letzten Gespräche zuverlässig davor bewahrt, Seyfarth an die Gurgel zu gehen. Ganz einfach, weil er sich jedes Mal fragte, ob alte Männer einen derartigen Haarwuchs für normal hielten und deswegen nichts dagegen unternahmen.
Als es vor einigen Wochen um die Statik des Wintergartens gegangen und Seyfarth das erste Mal rot angelaufen war, hatte sich Hannes vorgestellt, die sprießenden Büschel grün zu färben, dann hätten sie tatsächlich entfernte Ähnlichkeit mit Petersilie gehabt.
Hannes wusste allerdings, dass sie beide inzwischen eine Grenze überschritten hatten. Der Prozess war bereits im Gange und durch nichts mehr aufzuhalten.
„Sie sind dran, Reimer“, platzte es aus Seyfarth heraus. „Ich mache Sie fertig.“
Und dann tat der Mann etwas, von dem er nicht wissen konnte, dass Hannes es auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Seyfarth stupste Hannes mit den Fingerspitzen gegen die Rippen.
Das erste Mal ließ es Hannes noch kommentarlos über sich ergehen.
„Sie sagen ja gar nichts!“
Stups.
„Hat es Ihnen die Sprache verschlagen, Reimer?“
Stups.
„Ich habe Ihnen gesagt, dass das schiefgehen kann, wenn Sie keine zusätzlichen Elemente einbauen lassen wollen. Ich habe Ihnen gesagt, dass Ihre Fensterelemente viel zu schwer für die Konstruktion sind.“
„Einen Scheiß haben Sie!“, brüllte Seyfarth. „Sie hätten mich davor warnen müssen! Sie hätten mich darauf aufmerksam machen müssen, dass so etwas lebensgefährlich ist!“
Hannes registrierte aus den Augenwinkeln, dass sich der andere Kunde von der Information entfernt hatte.
Eine neue Kollegin, deren Name Hannes noch nicht geläufig war, blickte immer wieder unsicher zu ihnen herüber. Ihre rechte Hand lag bereits auf dem Hörer des Telefons.
„Lebensgefährlich!“, wiederholte Seyfarth und versetzte Hannes einen erneuten Stoß zwischen seine Rippen.
„Hören Sie auf, mich anzufassen“, sagte Hannes in ruhigem Tonfall. Gleichzeitig hob er abwehrend die Hände.
„Sie sind erledigt, Reimer“, verkündete Seyfarth lauthals. „Erledigt!“
Hannes blickte auf den Jackenkragen seines Gegenübers, in dem sich ein Krümel Sicherheitsglas verfangen hatte. Er funkelte im hellen Licht der Baumarkt Strahler wie ein kleiner, geschliffener Diamant.
„Dilettant!“, setzte Seyfarth weiter nach. Seine rechte Hand fand ihren Weg durch Hannes’ vernachlässigte Deckung. Ein oder zwei Finger bohrten sich in die Stelle kurz oberhalb seiner Herzgegend, trafen direkt auf eine Rippe und erzeugten einen hohlen Ton in seinem Brustkasten. Den Schmerz spürte Hannes nur entfernt, wie in einem anderen Universum.
Was jetzt kam, hatte er nicht mehr unter Kontrolle.
Seine rechte Hand schnellte nach vorne und verkrallte sich im Jackett des Dr. Weißohr.
Hannes packte sein Gegenüber und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen den Aktionsaufsteller.
Seyfarths Mund schnappte wie ein Fischmaul, als er rückwärts katapultiert wurde und den falschen Lutz Nagel mit sich riss, in der Mitte faltete und dann unter sich begrub.
Grillbesteck und Plastikteller flogen in hohem Bogen durch den Informationsbereich und regneten prasselnd auf den Steinboden.
Flaschen mit Flüssiggrillanzünder rollten bis in die benachbarten Gänge. Ein schwarzer Kugelgrill bekam Übergewicht und krachte scheppernd auf die Seite.
Hannes setzte blitzschnell nach und hinderte Seyfarth am Aufstehen. Er drückte ihn mit dem Absatz seines rechten Schuhs zurück in das Chaos am Fußboden.
Währenddessen wurden Stimmen laut, die unverständliches Zeug durcheinander schrien. Wie aus weiter Ferne drang ein fröhlicher Baumarkt Jingle über die Lautsprecher.
Hannes bückte sich und griff sich eine der herumliegenden Grillzangen.
Noch ehe Seyfarth reagieren konnte, hatte Hannes dessen rechtes Ohr am Wickel.
Der Mann vom Baumarkt drückte sofort zu und sah, wie das fleischige Ohrläppchen des Wintergarten-Fans doppelt bis dreimal so breit wurde.
Dr. Seyfarth schrie kreischend auf, während er vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
Hannes ließ ihm nicht die Spur einer Chance, sondern bewegte seine Hand um eine halbe Drehung.
Das Ohr des Mannes wurde in die Länge gezogen und riss am Ohrläppchen ein. Ein dicker, roter Tropfen quoll daraus hervor und klatschte im nächsten Moment auf den Boden.
„Na, wer hat jetzt recht?“, rief Hannes, der sich ein Stück weit zu dem sich am Boden windenden Mann herunter beugte. „Große Glasflächen sind vom Grunde her ganz in Ordnung, richtig?“
Seyfarth schrie auf, als Hannes den Druck verstärkte.
„Ist das richtig?“, wiederholte Hannes, dieses Mal etwas lauter.
„Ja. Jaaa!“
Hannes nickte mehrfach. Er bückte sich noch tiefer zu Seyfarth, der es irgendwie geschafft hatte, auf seinen Knien zu landen. Dort hockte er wie ein Opferlamm, das nicht fähig war, sich zu rühren.
„Aber für Ihre Pläne waren sie einfach ein No Go!“
Die Worte hallten durch den Baumarkt. Irgendjemand hatte inzwischen die Berieselungsmusik abgestellt. Im Bereich rund um die Information und im Eingang hatte sich eine größere Menschenmenge angesammelt.
Seyfarth schluchzte und wimmerte am Boden. Der Kragen seines Jacketts war mit Blut getränkt. Noch immer sickerte es aus dem eingerissenen Ohr.
„Was waren sie?“, rief Hannes und hielt sich dabei demonstrativ eine Hand an sein Ohr.
„Ein No Go!“, brüllte Seyfarth. „Sie … sie waren ein No Go!“
Irgendjemand in der Menge der Schaulustigen lachte dreckig und meckernd, verstummte allerdings sofort wieder.
Hannes löste die Zange vom Ohr des Kunden und warf sie achtlos zu Boden.
Seyfarth schien es nicht mal bemerkt zu haben, denn er jammerte und winselte noch immer in derselben Haltung wie zuvor. Seine Stirn berührte dabei den Fußboden, als würde er Richtung Mekka beten wollen.
Als Hannes sich umdrehte, erblickte er seinen Chef Lutz Nagel, der ihn mit geweiteten Augen und mit offenem Mund anstarrte. Dieses Mal war es der echte Nagel, wenn auch ohne schmückendes Beiwerk wie die gegrillte Thüringer oder das Grillbesteck.
Außerdem lächelte er nicht.
- 2 -
„ICH WEISS EINFACH nicht, was in dich gefahren ist.“
Lutz Nagel stand mit hochgekrempelten Hemdsärmeln vor dem Fenster seines Büros und fingerte an dem Lamellenvorhang herum, zwischen den er immer wieder hindurch blickte, in den Markt hinunter, wo einige Angestellte noch immer damit beschäftigt waren, Grillanzünder und Servietten wegzuräumen.
Der Rettungswagen hatte Dr. Seyfarth mitgenommen, und nach und nach war wieder Ruhe eingekehrt. Zumindest unten im Baumarkt.
Hannes Reimer saß auf einem einfachen Klappstuhl aus dem Camping Sortiment (bequem im Sitz und kinderleicht verstaubar). Er starrte auf die Auslegeware im Büro, verfolgte das Muster darauf und zählte die Anzahl der eingedruckten Firmenlogos bis zur Kommode hinüber, auf der die Kaffeemaschine und ein Teller mit pappigen Keksen standen.
„Was hast du dir bloß dabei gedacht?“
Lutz Nagel hatte sich umgedreht, die Hände in seine schmalen Hüften oberhalb seiner Designerjeans gestemmt.
„Dir ist doch klar, dass der Kerl uns verklagt?“
„Mich verklagt“, stellte Hannes richtig.
Nagel schien kurz über den Sinn dieser beiden Worte nachzudenken, dann schüttelte er energisch den Kopf.
„Das spielt überhaupt keine Rolle mehr. Die Geschichte wird spätestens morgen ganz groß im Tageblatt stehen. Wenn wir Pech haben, hat jemand sogar ein Handyvideo gemacht, wie du Seyfarth …“ Nagel biss sich auf die Unterlippe. Wieder ein Kopfschütteln.
„Mit einer Grillzange! Menschenskind, was ist denn bloß los mit dir?“
„Ich hab’ ihm gesagt, dass das so nicht funktioniert, was er da vorhat.“
Auf Nagels Gesicht entstand ein ungläubiger Ausdruck.
„Darum geht es hier doch überhaupt nicht! Der Kerl wird uns auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagen, dass es nur so kracht! Dir ist hoffentlich klar, dass ich jede Schuld … jegliche Schuld … weit von mir weisen muss. Von der Firma meine ich.“
„Klar“, sagte Hannes trocken.
„Mann, damit hast du dir ein echtes Problem eingehandelt. In deiner Haut möchte ich nicht stecken.“
„War das alles, weswegen du mich hier hoch bestellt hast?“
Hannes hatte den Kopf gehoben und sah seinem Chef in die Augen.
Nagel senkte den Blick und trat an seinen Schreibtisch. Er nahm seine Brille ab und warf sie auf die Unterlage.
„Ich kann dich unter diesen Umständen nicht mehr länger hier beschäftigen. Du … du kannst direkt gehen und brauchst nicht wiederkommen. Ich lasse dir das Gehalt für diesen Monat noch in voller Höhe überweisen. Und danach will ich nichts mehr von dir hören.“
Hannes kratzte sich am Kinn und starrte für einen Moment gegen die Decke. Nachdem er das getan hatte, breitete er die Hände aus und erhob sich.
„Dann bin ich wohl mal weg.“
Nagel wandte sich ab und trat wieder an den Lamellenvorhang.
„Ich lasse dir deine Papiere zuschicken. Ach ja, und vergiss bitte nicht, den Schlüssel von deinem Spint bei der Information abzugeben, wenn du gehst. Und nimm’ vorher deine Sachen raus.“
Hannes wandte sich zur Tür und öffnete sie.
„Mensch, Reimer“, sagte Lutz Nagel ohne sich noch einmal umzudrehen, „ich möchte wirklich bloß mal wissen, was in dich gefahren ist.“
- 3 -
DIE BUNT BEDRUCKTEN Glastüren von Balkos Baumarkt schlossen sich zum letzten Mal hinter ihm.
Draußen spiegelte sich die Sonne in den vielen Wagendächern und Außenspiegeln der abgestellten Autos auf dem Parkplatz.
Hannes fingerte seine Sonnenbrille aus der Hemdtasche und setzte sie auf.
„Ey, Reimer! Geile Show vorhin!“
Hannes sah nach rechts, zum Imbisswagen hinüber, wo Günther „Günni“ Warnke gerade Currywurst/Pommes, rot-weiß, über den Verkaufstresen reichte.
Hannes hob die rechte Hand, machte das Victory-Zeichen und ging weiter.
Er sah und spürte, wie man ihm nachstarrte, unverhohlen, teilweise mit offenen Mündern, tuschelnd. Hannes genoss das Gefühl, diesen Laden mit all seinen verklemmten Gestalten und ihren Befindlichkeiten hinter sich zu lassen. Selbst wenn er noch nicht wusste, was die Zukunft bringen würde. Es würde sich etwas ergeben. Es ging doch immer irgendwie weiter, oder etwa nicht?
Mitten auf dem Parkplatz fiel ihm auf, dass er noch immer das rote Hemd von Balkos Baumarkt trug. Umkehren? Nein, auf gar keinen Fall! Er würde Nagel das verschwitzte Ding einpacken und per Post zusenden. Ein letzter Gruß. Danke für nichts.
Aus der Tasche seiner verwaschenen Jeansjacke zog er den Wagenschlüssel, der zu dem dunklen Dodge Ram 1500 passte, den er vor zwei Jahren gebraucht gekauft und aus den Staaten hatte überführen lassen. Yee-haw!
Miriam war der Wagen seit jeher ein Dorn im Auge. Vielleicht weil er sie jeden Tag daran erinnerte, in welche finanziellen Schwierigkeiten sie dadurch geraten waren.
Hannes entriegele die Tür und ließ sich hinter das Lenkrad fallen. Der Dodge war derart aufgeheizt, dass ihm sofort der Schweiß aus allen Poren drang.
Hannes startete und lenkte den Wagen vom Parkplatz herunter. In Wees fuhr er bis an die Ampel heran, wartete auf Grün und bog dann auf die B199, auch Nordstraße genannt, Richtung Langballig.
Er hielt an der Tankstelle und zog sich aus dem Kühlschrank ein Sixpack Flensburger Pilsener.
Kurz darauf befand er sich damit auf dem Heimweg. Wenige Minuten nur und ein paar Kilometer auf der Fördestraße, bis rauf nach Westerholz. Der Dodge jagte den Haffberg hinauf und ließ dabei die Ostsee auf der linken Seite liegen. Das Wasser erschien von hier oben tiefblau. Draußen auf der Förde waren unzählige Segelboote unterwegs. Touristen und Ausflügler, die das gute Wetter nutzten, bevor es in den nächsten Tagen laut den gängigen Vorhersagen wieder umschlagen sollte.
Kaum hatte er den Anstieg genommen, legte Hannes den Blinker und bog nach links ein.
Zu den Lücken hieß die Straße, in der sich einige verträumte Einfamilienhäuser befanden, die in scheinbar friedlichem Schlummer vor sich hin existierten.
Die asphaltierte Straße ging in einen Sandweg über. Hier schloss sich eine idyllische Landschaft an, bestehend aus Raps- und Getreidefeldern, sowie grünem, hügeligem Weideland.
Zur linken Seite erstreckte sich die Steilküste, hinter der zwischen den Knicks und Buchenbeständen immer wieder das blaue Wasser der Ostsee hindurch blinkte.
Hannes und Miriam hatten sich hier vor drei Jahren einen Resthof gekauft und waren seitdem dabei, ihn aus- und umzubauen.
Miriams Traum war eine eigene kleine Pferdezucht. Finanzieren wollte sie das durch das Vermieten der angeschlossenen Ferienwohnung. Die musste allerdings erst noch renoviert werden. Seit drei Jahren.
Hannes lenkte den Dodge auf den Hofplatz und zog den Schlüssel ab.
Miriams kleiner Daihatsu war nirgends zu sehen. Vermutlich war sie noch einmal weggefahren, überlegte Hannes. Er war nicht böse darum.
Für einen Augenblick saß er einfach da und ließ die absolute Stille auf sich wirken. Und die Kühle der Klimaanlage, die gerade erst angefangen hatte, ihre Wirkung zu tun.
Hannes legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Der Motor des Dodge tickte leise vor sich hin.
Augenblicklich überkam den Mann hinter dem Steuer die Müdigkeit. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Das verzerrte Gesicht von Dr. Seyfarth, der umgeknickte Pappaufsteller, der nie wieder so sein würde wie früher und letztlich Lutz Nagel in seinem stickigen Büro, der sich jetzt vermutlich daran machte, eine Stellenausschreibung zu formulieren.
Jedes Ende war auch gleichzeitig der Anfang von etwas Neuem, dachte Hannes. Für einen Moment sinnierte er tatsächlich über diesen Spruch und fand Gefallen an der Vorstellung, dass sein Leben jetzt, mit Mitte Vierzig, vielleicht nochmal eine ganz andere Wendung nehmen würde.
Hannes gab sich einen Ruck, schnappte sich das Bier vom Beifahrersitz und stieg aus.
Er schloss auf und tauchte in die angenehme Kühle des zu düster geratenen Hausflurs. Seine Jeansjacke warf er auf die kleine Kommode unter der Treppe und riss sich das verhasste Hemd vom Leib. Achtlos warf er es in die Richtung des Hauswirtschaftsraums, wo es vergammeln konnte, wenn es nach ihm ging.
Hannes durchquerte den Flur und betrat das Wohnzimmer. Dort ließ er sich in seinen Sessel fallen, riss das erste Bier aus dem Sixpack und öffnete mit einem charakteristischen Plopp die erste der Bügelverschlussflaschen.
Hannes leerte sie mit einem Zug bis zur Hälfte.
Stumpfsinnig starrte er geradeaus, in Richtung des Flachbildfernsehers. Er sah zur Uhr. Es war gerade mal kurz vor vier. Bis zum Abend konnte er noch ein paar Folgen von Game of Thrones abarbeiten. Die aktuelle Scheibe müsste sogar noch im Player sein, falls sich Miriam nicht wieder zwischendurch irgendeine Schnulze mit Hugh Grant oder Jennifer Aniston oder beiden angesehen hatte.
Hannes griff nach der Fernbedienung, die auf dem Couchtisch lag, als seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde.
Auf dem Zweiersofa gegenüber (Miriams Wohlfühlzone, ausgestattet mit niemals weniger als zwei Wolldecken, selbst im Hochsommer), lag das Laptop seiner Frau. Es war nur halb zugeklappt. Wenn Hannes sich leicht vornüber beugte, was er gerade tat, konnte er erkennen, dass es eingeschaltet war. Auf dem Monitor kreierte der Bildschirmschoner immer neue Fantasiegebilde. Bunte Linien, die sich auf alle erdenklichen Arten ineinander verschlangen und kurz darauf wieder auflösten.
Hannes hatte mal eine geschlagene Stunde lang darauf gestarrt, als Miriam ihm wegen der geplatzten Kreditrate einen Vortrag gehalten hatte. Ihr Gespräch hatte damit geendet, dass sie ihr Laptop wütend zugeklappt hatte und damit nach oben ins Schlafzimmer verschwunden war. Hannes hatte in der Nacht auf der Couch geschlafen, nachdem er die erste Staffel seiner damaligen Lieblingsserie Fargo nahezu in einem Rutsch durchgesehen hatte.
Er ließ die Fernbedienung für Fernseher und Blue-Ray-Player sinken und legte sie auf den Tisch zurück.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Miriams Laptop hier unten herumlag. Sie beschäftigte sich oft mit dem Kasten, wenn sie abends zusammen im Wohnzimmer saßen und der Gesprächsstoff versiegt war, was an manchen Tagen schnell passierte. Ungewöhnlich hingegen war, dass das Gerät eingeschaltet war und Miriam das Haus anscheinend Hals über Kopf verlassen hatte. Oder kam ihm das nur so vor?
Hannes leerte seine Bierflasche und stellte sie neben seinem Sessel auf den Boden.
In der gleichen Bewegung zog er eine volle Flasche mit herauf und ließ sie geräuschvoll aufploppen. Er versuchte, seinen Blick vom Laptop zu lösen, doch sobald er sich vergaß, starrte er wieder in diese Richtung.
Wo, zum Teufel, steckte Miriam denn eigentlich?
Hannes wollte die Bierflasche an seine Lippen setzen, doch er führte die Bewegung nicht zu Ende. Er stellte die Flasche auf den Tisch (wo sie einen Rand hinterlassen würde) und setzte sich aufrecht.
Dann erhob er sich mit einem Ruck, trat an das Sofa heran und setzte sich. Vorsichtig hob er das Laptop auf seine Beine und klappte es weiter auf. Sein linker Daumen wischte dabei über das Touchpad, und der Bildschirmschoner verschwand von einer Sekunde auf die andere.
Wenn Miriam mitbekam, was er hier tat, würde es Ärger geben. Richtigen Ärger. In solchen Dingen verstand sie keinen Spaß. Sie ließ es nicht mal zu, dass er im Vorbeigehen auf ihr Handydisplay sah.
Es gab Momente, in denen sich Hannes fragte, warum sie sich dabei so anstellte. Als ob es ihn interessierte, mit wem sie sich schrieb oder …
Aber genau genommen interessierte es ihn eben doch. Vor allem jetzt, da er auf ihr geöffnetes E-Mail-Postfach blickte.
Hannes horchte auf, weil er glaubte, von draußen ein Geräusch gehört zu haben. Kurz darauf bellte in der Ferne ein Hund. Vermutlich nur Spaziergänger, die den Schleichweg durch das kleine Wäldchen zum Strand hinunter gefunden hatten.
Hannes befeuchtete seine Lippen. Ein wenig kam er sich wie ein Verräter vor. Aber eben nur ein wenig.
Auf dem Monitor war eine aktuelle E-Mail geöffnet. Hannes fühlte einen handfesten Stich in seiner Herzgegend, als sein Blick auf den Absender fiel.
Burkhard Jäger. Miriams Ex-Freund. Sie war mit ihm fast zwölf Jahre zusammen gewesen, quasi von ihrer Jugend an, bis sie nach zwei Jahren Singledasein Hannes kennengelernt hatte.
Er hatte immer angenommen, dass der Kerl irgendwo beruflich in Süddeutschland abgetaucht war. Vielleicht war das auch noch aktuell, möglicherweise hatte sich inzwischen aber auch etwas anderes ereignet.
Hannes überflog die wenigen Worte, die der Kerl seiner Frau zuletzt geschrieben hatte.
Gerne wieder!
Es folgten zwei Smileys, ein lachendes und eines, das zwinkerte. Dieser Schelm.
Hannes bewegte den Cursor und ließ das Mailfenster weiter nach oben laufen. Mehr Text wurde sichtbar. Die Ursprungsmail, die Miriam heute erst an Jäger verschickt hatte. Hannes sah auf die Uhr. Verdammt, das war erst vor zwei Stunden gewesen. Kurz nachdem der Eklat im Baumarkt passiert war, von dem Miriam natürlich noch keine Ahnung hatte.
Hannes las ihre Zeilen. Er las sie langsam. Er las sie zweimal. Und er spürte, wie etwas in ihm aufwallte. Das gleiche Gefühl, das ihn veranlasst hatte, Dr. Seyfarth die Vorzüge der Belasco-Edelstahl-Grillzange näher zu bringen.
Es war so schön, dich wiederzusehen. Dich zu spüren. Gut zu wissen, dass du in den Jahren nichts verlernt hast. Küsschen. M.
Hannes führte seinen linken Daumen zum Mund und knibbelte abwesend mit den Zähnen an seinem Nagel herum. Was, um alles in der Welt, lief denn hier ab?
Hatte sie sich wirklich mit ihm getroffen? Mit ihm? Mit Jäger?
Es war so schön, dich wiederzusehen.
Fast undenkbar. Und doch …
Dich zu spüren.
Was hatte sie denn da hinter seinem Rücken getrieben?
Hannes ballte seine rechte Hand zur Faust. Für einen Moment war er versucht, das Laptop mit voller Wucht gegen die Wand zu knallen. Etwas in ihm sehnte sich danach, das knirschende Geräusch von Metall und Plastik zu hören.
Aber wäre das klug gewesen? Vermutlich nicht. Nein, er korrigierte sich. Das wäre hirnverbrannt gewesen. Ein No Go!
Er zwang sich zur Ruhe, was ihm alles andere als leicht fiel. Er musste jetzt ganz genau überlegen, wie es weitergehen sollte. Und was er wollte.
Miriam wusste nicht, was er wusste. Noch nicht. Und er würde dafür sorgen, dass es so blieb. Er könnte ihr Verhalten in den nächsten Tagen beobachten. Immerhin hatte er ja jetzt Zeit im Überfluss. Aber praktikabel wäre das auch nicht.
Und plötzlich war sie da, diese Idee. Sie kam aus dem Nichts heraus, wie vermutlich viele gute Ideen. Möglicherweise waren auch einige der besten auf diese Weise geboren worden.
Hannes wandte sich wieder dem Laptop zu und klickte auf den Button mit der Aufschrift Neue Nachricht.
Dann lockerte er seine Finger und begann in das weiße Textfeld zu schreiben:
Hey! Wäre sehr für eine Wiederholung unseres Treffens. Hast du morgen Abend Zeit? Würde mich freuen, wenn du mich abholst. Küsschen. M.
Hannes kopierte Jägers Mail-Adresse in das Feld des Empfängers, fügte noch den Betreff Kuckuck hinzu und drückte auf Senden.
Aus dem Lautsprecher des Laptops war das Geräusch eines vorbeizischenden Düsenjets zu hören, als die Nachricht verschickt wurde.
Sofort schoss Hannes ein Gedanke durch den Kopf. Er erwischte ihn siedend heiß. Was war, wenn Miriam jetzt im Augenblick gerade bei ihm war? Dann wäre sein Schwindel sofort aufgeflogen. Verdammt noch mal, wieso hatte er nicht gründlicher nachgedacht?
Hannes beugte sich vornüber und angelte mit seinen ausgestreckten Fingern nach der angebrochenen Bierflasche. Er bekam sie am Hals zu fassen und trank gierig einen großen Schluck.
In diesem Augenblick gab der Kasten auf seinen Knien einen neuen Signalton von sich. Eine alte Hupe war zu hören, die Hannes sehr stark an das Geräusch der Zeichentrickfigur Roadrunner erinnerte.
Als er auf den Monitor blickte, war eine neue Nachricht eingegangen. Sie stammte von Jäger.
Hannes öffnete sie.
Hallo Schnuckel. Sehr gerne. Passt es dir um 18 Uhr? Freue mich total auf dich! Big hug! Burki
PS: Hat dein Mann morgen wieder Ausgang?
„Kleiner Scheißer“, murmelte Hannes und rammte seinen Zeigefinger auf das Touchpad, so dass es bereits verdächtig knirschte. Er stellte die Bierflasche ab und überlegte einen kurzen Augenblick. Dann huschten seine Finger über die filigrane Tastatur.
Hannes zieht morgen mit seinen Kumpels von einer Küstenkneipe in die nächste (seufz). Wir haben also sturmfrei (freu).
Senden.
Hannes überlegte kurz, ob er zu dick aufgetragen hatte, kam dann aber zu dem Schluss, dass er Miriams Stil recht gut getroffen hatte.
Wieder dauerte es nur wenige Sekunden, bis Roadrunner sich zurückmeldete.
Ein Traum wird wahr! Bis morgen!
Hannes löschte mit flinken Bewegungen sowohl die beiden zuletzt eingegangenen Nachrichten als auch die beiden von ihm verfassten aus dem Ausgangsordner. Dann stand er auf und legte das Laptop wieder auf die Position, auf der er es vorgefunden hatte. Das Monitorteil war natürlich in exakt demselben Winkel zugeklappt. In fünf oder zehn Minuten, höchstens fünfzehn, würde der Bildschirmschoner wieder anspringen und alles war wieder gut.
Als Hannes aufstand, spürte er sein Blut pulsieren. Die lähmende Müdigkeit war verschwunden. Er war hellwach, nach einem gehörigen Adrenalinschub.
Er hob die Bierflasche an seine Lippen und trank sie bis auf den letzten Rest aus.
Er wartete zwei Sekunden, bis das Kohlensäure-Gasgemisch seine Speiseröhre hinaufgeschossen war und sich geräuschvoll durch seinen Rachen Bahn gebrochen hatte.
Ein Traum wird wahr! Bis morgen!
Um Hannes’ Lippen spielte ein Lächeln. Er blickte auf das Laptop hinunter und tippte sich zum Gruß an die Stirn.
„Bis morgen, Arschloch.“
- 4 -
„HÄ?“
„Na ja“, antwortete Hannes, „ich hab’s dir doch gerade erklärt.“
Sie saßen an diesem Abend in der Silbermöwe, einem gemütlichen Lokal am Strand von Langballigau. In den Schankraum hatten sich ein paar Touristen vom benachbarten Campingplatz verlaufen. Nebenan im Gastraum aßen einige vereinzelte Gäste zu Abend. Kutterscholle oder frisch gefangene Heringe mit Pellkartoffeln und Sour Creme.
Hannes schob die Reste seines Jägerschnitzels beiseite und nickte der Bedienung zu, als diese es mit einem Augenzwinkern vom Tresen abräumte.
Neben Hannes saß Niko. Niko Schott. Ein paar Jahre jünger als sein Kumpel, aber mit derselben Vorliebe für alte Autos ausgestattet, mit denen er nahezu jede freie Minute verbrachte.
Niko nahm das kleine Schnapsglas in die Hand und kippte den eisgekühlten Korn seine Kehle hinunter. Er senkte den Kopf kurz, wartete zwei Sekunden und stellte das Glas dann auf den Tresen zurück.
„Du hast Miriam also dabei erwischt, wie sie dich betrügt?“
„Nein, Mann“, antwortete Hannes. „Ich hab’ dir doch von der E-Mail erzählt. Sie hat hinter meinem Rücken wieder was mit ihrem Ex angefangen.“
„Krass.“ Niko gab der Bedienung ein kurzes Handzeichen.
„Aber ich kapiere noch nicht so ganz, was du von dem Typen willst.“
Hannes drehte das Whiskyglas in seinen Händen.
„Ich kann die Sache doch nicht einfach kommentarlos hinnehmen, oder?“
„Auf keinen Fall, Mann.“
„Mh“, machte Hannes. „Siehst du? Deswegen habe ich beschlossen, dem Kerl eine kleine Abreibung zu verpassen.“
„Eine Abreibung?“
„Ja. Einen Denkzettel. Deswegen habe ich ihn morgen zu mir nach Hause bestellt. Morgen Abend.“
„Und Miriam? Was machst du mit ihr?“
Hannes lächelte und nahm einen Schluck von seinem Whisky.
„Um die muss ich mich zum Glück gar nicht kümmern. Sie ist jeden Freitagabend bei ihrer Freundin Esther.“
Niko blickte auf. „Diese Öko-Tante, der der Kerl weggelaufen ist?“
„Ja, die. Die kochen immer was zusammen, immer komplett fleischlos. Und dabei unterhalten sie sich dann über Gott und die Welt. Manchmal sind sie auch zu dritt oder mehr.“
„Jeden Freitag?“
„Mädelsabend“, erklärte Hannes.
Niko machte ein wichtiges Gesicht.
„Und sag’ mal, hast du denn keinen Schiss davor, dass sie ihn vorher anruft? Per Handy oder so? Dann würde dein ganzer Plan auffliegen.“
„Klar ist ein gewisses Risiko bei der Sache. Aber Miriams Handy kriegt gerade in Flensburg ein neues Display, nachdem es ihr das dritte Mal runtergefallen ist.“
„Autsch.“
„Mh-hm. Und deswegen denke ich mir, ist das Risiko wiederum nicht so groß, dass die beiden vorher noch auf anderem Wege Kontakt haben.“
Niko grinste, wurde aber gleich darauf wieder ernst.
„Und diese Abreibung oder wie du sie nennst, was hast du dir darunter vorgestellt? Willst du ihm eine reinhauen?“
Der ehemalige Baumarkt-Mitarbeiter zuckte mit den breiten Schultern. „Erst mal will ich ihm einen gehörigen Schrecken einjagen. Ich bin einfach auf sein Gesicht gespannt, wenn er morgen nicht Miriam im Haus antrifft, sondern mich. Und dann schauen wir mal, wie sich der Abend noch so entwickelt.“
Niko gab der Bedienung ein Zeichen, dass er zahlen wollte.
„Du bist echt ein durchgeknallter Typ, Hannes. Kommst du morgen Abend noch mit an die Küste? Das heißt natürlich, wenn du nicht zu beschäftigt bist?“
„Kommt drauf an“, gab Hannes zurück. „Denke schon.“
Niko bekam seinen Getränke Bon und fummelte einen Zehner aus seinem Portemonnaie, den er sorgsam neben seine beiden leeren Schnapsgläser legte und noch einmal glattstrich.
Der Kfz-Mechatroniker stand vom Barhocker auf und klopfte Hannes im Gehen auf die Schulter.
„Man sieht sich. Und viel Erfolg morgen Abend.“
„Ich werde dir erzählen, wie es ausgegangen ist“, antwortete Hannes und nahm den letzten Schluck aus seinem Glas.
Er sah auf die Uhr. Allmählich war es Zeit, nach Hause zu fahren.
Vielleicht wartete Miriam auf ihn. Wahrscheinlich aber eher nicht.
- 5 -
ALS ER HEIMKAM, beschlich ihn ein seltsames Gefühl, das er zunächst nicht ergründen konnte. Etwas fühlte sich falsch an.
Vielleicht war es auch nur das Fehlen dieser Vertrautheit, die man nur innerhalb der eigenen Wände verspürte. Es schien, als sei ihm dieses Gefühl irgendwie abhandengekommen.
Hannes blieb für einen Augenblick im Hausflur stehen, um abzuwarten, ob es sich wieder einstellte. Das war nicht der Fall.
Also hängte er seine Jeansjacke an die Garderobe, zweiter Haken von links, wie immer.
Im Wohnzimmer lief leise Musik aus der Stereoanlage. Im ganzen Haus roch es danach, als hätte jemand ausgiebig gebadet.
Hannes trat näher, bis an die angelehnte Tür heran. Er drückte sie vorsichtig einen Spalt auf und lehnte sich gegen den Türpfosten.
Miriam saß auf ihrem Sofa, in ihrem langen Strickpullover, das Haar dunkel und noch nass, zurückgekämmt, dass es ihr bis auf ihre Schultern reichte.