ISBN 978-3-8042-3063-7
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Es interessierte mich nicht nur das schriftstellerische Leben des hoch- und plattdeutsch schreibenden Dichters Klaus Groth, sondern auch die Beziehung zu seiner Frau und seinen Kindern. Mehrfach stellte ich fest, dass Ehefrauen von Schriftstellern selten beachtet wurden, aber oft diejenigen waren, die ihren Männern Rückendeckung, Kraft und Sicherheit gaben.
Im Klaus-Groth-Museum und im Heider Stadtarchiv habe ich mich auf Spurensuche begeben. Die dort verwahrten, unveröffentlichten Briefe von Doris Groth an Louise Petersen aus Garding, ‚Tante Louise‘ genannt, geben einen besonders intensiven und anschaulichen Einblick in das Denken und Fühlen der Ehefrau des Dichters. Louise Petersen war über Jahrzehnte eine Vertraute von Klaus und Doris Groth. Viele Vorkommnisse, die Doris ihr mitteilte, hat sie nicht einmal ihren drei Tagebüchern, die sich ebenfalls im Klaus-Groth-Nachlass in Heide befinden, anvertraut.
Weitere Briefe, an den Sohn Carl geschrieben, lassen uns mitfühlen, wie sich eine schwerkranke Mutter aus der Ferne um ihre Kinder sorgte. Die Briefe von Doris Groth, die ich im Archiv des Klaus-Groth-Museums gefunden habe, sind im Anhang dokumentiert. Von den insgesamt 74 Briefen und einem Zettel wurden hier 42 Briefe und ein Zettel verwendet, die sämtlich grau unterlegt und auch im Nachweis durch Unterlegung gekennzeichnet sind.
Wäre Klaus Groth, der fortwährend kränkelnde, zur Schwermut neigende Dichter ohne seine Doris das geworden, was er war und immer noch ist? Ohne die weltgewandte, musikalische Frau, die ihn zu nehmen verstand und oftmals anschubsen musste? Die selbst die Ehejahre hindurch mit Krankheiten und Kummer zu kämpfen hatte und mit dem geringen Einkommen auskommen musste?
Doris Groth hat ihren Mann geliebt, geachtet und unterstützt, wo sie nur konnte. Sie hat das Haus offen gehalten für Verwandte, Freunde und Künstler, die regelmäßig ein- und ausgingen und oftmals für mehrere Tage oder Wochen im Hause Groth wohnten. Sie, die trotz alledem nicht aufgab, verstarb viel zu früh im Alter von 48 Jahren. Sie ließ ihre Kinder zurück und einen trauernden Witwer, der seine geliebte Frau um zwanzig Jahre überlebte.
Aus Erinnerungen, Briefen, aus Tagebucheintragungen von Doris Groth und aus einigen Dokumenten aus der Zeit habe ich die nachstehende ‚Paarbiografie‘ erstellt, die im großen Mittelteil die Zeit „mit Doris“ zu beschreiben versucht, der Vollständigkeit halber am Anfang jedoch auch die Phase „vor Doris“ ebenfalls einbezieht. Dabei ist der leitende Gedanke, verständlich zu machen, wie Klaus Groth auf diese Verbindung vorbereitete war und wie er „nach Doris“ noch zwei Jahrzehnte ohne sie weiterleben konnte.
Wenn Doris Groth auch in ihrem Tagebuch schreibt: „Der Schmerz zieht mit uns durchs Leben“, so heißt es an anderer Stelle doch auch: „Wir waren trotz allem Schweren glückliche Menschen“.
Gunda Massaro
Groth: „… Ich bin Autodidakt in allem, was ich weiß und kann – wenn es noch erlaubt ist, in jetziger Zeit von Selbstbildung zu sprechen, da alle Hülfsmittel der Bildung so zugänglich gewesen sind wie niemals früher. Aber ich habe mir selbst die Ziele erkannt und gesteckt, schon frühzeitig darüber das Bewußtsein gehabt, habe die Wege mir dazu selbst gesucht und sie mit der eisernen Willenskraft eines Norddeutschen verfolgt und nie verlassen, bis ich es erreicht, was ich wollte …“ 2, S. 9
Claus Johann Groth
wurde am 24. April 1819 in Heide auf ‚Lüttenheid‘ (Kleinheide) geboren.
Erbaut wurde das Geburtshaus 1796 von Claus Reimer Groth aus Hägen (1765–26.03.1835), Landmann und Grützmüller, dem Großvater von Klaus Groth. Er war verheiratet mit Catharina Margaretha Klehn aus Heide (11.02.1878–22.09.1817).
Das Gebäude war Arbeitsstätte für die Grützmüllerei und landwirtschaftliches Gebäude mit einem von der Diele aus zugängigen Stall.
Die Eltern Groths waren der Grützmüller und Mühlenzimmermann Hartwig Groth (1791–1860) und Anna Christine Groth, geb. Lindemann (1792–1835). 1817 übernahm Hartwig Groth das Anwesen.
Getauft wurde Claus Johann Groth am 16. Mai 1819, seine Gevattern waren Claus Reimer Groth, Johann Lindemann, Antje Krug.
Seine Geschwister waren:
– Johann Friedrich (22.12.1822–13.09.1859, Müllergeselle)
– Margaretha Friederica Catharina (22.01.1825–17.03.1891)
– Hartwig Nicolaus Christian (12.11.1826–10.03.1862, Landmann)
– Christian Diedrich, (05.11.1830–04.11.1877, Müller, übernahm später das väterliche Anwesen).
In dem kleinen Gebäude lebten Groths Eltern, sein Großvater, der ‚Obbe‘, Christine, die unverheiratete Schwester des Vaters, und die Geschwister von Klaus. Die Tante Christine, nach dem frühen Tod der Mutter, ‚meine zweite Mutter‘ genannt, wurde für Groth eine wichtige Bezugsperson. Sie verstarb 1837 im Alter von 27 Jahren.
Ein Jahr nach deren Tod heiratete Hartwig Groth Anna-Magdalena Catharina Repen (1796–1865). Aus dieser Ehe gingen noch zwei Kinder hervor.
– Heinrich Claus Reimer (29.09.1837–08.09.1915, Müller in Delve)
– Wiebke Margaretha Johanna (04.01.1841–06.11.1915) 12 – 1
Heide durfte sich seit 1870 ‚Stadt‘ nennen und hatte damals ca. 5000 Einwohner. Nach Nordwesten lag der gewerbetätige Flecken. Hier wohnten um den Marktplatz herum die königlichen Beamten und Geistlichen, die Herren und die Kaufleute. In den anderen Straßen wohnten die Handwerker und die kleinen Leute, vor allem auch die über hundert selbständigen Schuster. Nach Südosten zog sich mit seinen kleinen Häusern „Lüttenheid“, auch Kleinheide genannt, hin.
„… Ich bin geboren in Heide, dem Hauptflecken der Nordhälfte des Ländchens Dithmarschen. Meine Vorfahren sind von uralt freie Dithmarscher Bauern gewesen; ich vermute, daß ein Urahn wegen seiner Körpergröße einmal unsern Namen Groth (der Große) erhalten hat.
Mein Vater hatte einen kleinen Landbesitz, worauf wir gegen 10 Stück Kühe und Jungvieh weideten. Eigentlich hatte er das Müller-und Zimmerhandwerk gelernt, kam aber heim und faßte seines Vaters Besitz an, als seine Mutter 1817 starb.
Er betrieb aus dem Hause den Verkauf von Mehl und Grütze. Es herrschte eine gewisse Wohlhabenheit und gänzliche Unabhängigkeit bei uns. Wir hatten Überfluß am schönsten Mehl, Milch, Butter, Fleisch und Gemüse und lebten fröhlich dabei. War doch genug da, daß noch immer ein armes Kind nebenbei mit ins Haus genommen und durchgefüttert wurde.
Erst später kaufte er eine Windmühle, die, aus unserm Fenster sichtlich, einige hundert Schritte von unserm Hause ihm immer ins Auge gestochen. Ich hatte sie 1824 erbauen sehen, hatte dort manchen Tag gespielt.
Das Geschäft ging lebhaft und brachte Verkehr mit allen Menschenklassen übers ganze Land Dithmarschen und weiter hinaus.
… Er war heiter, humoristisch, und fast keinen Mittag saßen wir, damals 4 große Brüder und eine Schwester bei den Alten am Tisch, ohne daß eine Menge von drolligen Bemerkungen, Beobachtungen über Menschen, lebensvolle Mitteilungen aller Art unsere Mahlzeit zu einem Feste machten. Ich habe niemals wieder so klare, gesunde Urteile über Leute, so tiefe Blicke in ihr Treiben und Denken aussprechen hören wie damals.
… Eine gleiche Häuserreihe, eine gute Steinwurfbreite uns gegenüber, umgrenzte mit uns zum Teil einen großen Gemeindeplatz, de Lüttjeheid (Lüttenheid) genannt.
Der Platz lag unbenutzt, einige alte Bäume beschatteten hin und wieder die Sitze vor den Türen. Der Rasen, ein Fußsteig – der Jungfernstieg – ging quer durch, mit meistens trockenen Schutzgräben gegen Sturzregen an den Seiten, war der herrliche Tummelplatz für uns Knaben und Mädchen zum Ball- und Jäger- und Räuberspiel, zum Ringelreihen mit gemeinsamen Gesang.
… Meine Leidenschaft ging zunächst in den Besitz einer Flöte. Und hier berührte ich mich in meiner Musikschwärmerei mit Brahms, mit einem Brahms, nicht mit einem Johannes, noch nicht. Ein Vetter von ihm besaß eine Pickelflöte (Piccoloflöte). Mich erfaßte eine wahre Begier, sie ihm abzuhandeln, was mir nach langem Feilschen gelang, ich meine für fünf Schillinge (vier Groschen). Wir waren wohl beide acht Jahre alt.
Ich verdanke diesem Leben alles, zumal eine Gesundheit, die zähe genug war, wirklich unglaubliche geistige Anstrengungen zu ertragen, ehe sie sich beugte.
Das erweiterte Geschäft gab eine Reihe neuer Beziehungen und Verhältnisse zu Menschen und Dingen.
… Ich war am liebsten auf der Geest, in Tellingstedt (dem ‚Jungsparadies‘), wo drei Onkel von mir wohnten (Geschwister seiner Mutter). Hier habe ich am Mühlbach, am Teich, im Schatten der Erlen die frohsten Spiele gespielt, die heitersten Träume geträumt. Aus Dank dafür spielen fast alle meine erzählenden Gedichte in Tellingstedt.
… Mein Obbe wiegte mich, seinen erstgeborenen Enkel, auf den Knien; er hielt mir seine große silberne Taschenuhr ans Ohr, die noch hier vor meiner Schreibmappe glänzt als Andenken an den teuren alten. Züge von ihm kommen im ‚Gewitter‘ und im ‚Sonntagmorgen‘ vor, in welchem letzteren mein Vater der Pockennarbige ist. Übrigens sprechen meine plattdeutschen Gedichte fast nie Selbsterlebtes in Goethescher Weise aus; man suche weder mich, noch andere in persona darin …“ 2, S. 10–17
In einem späteren Brief vom 7. Dezember 1853 bedankte sich Groth bei Otto Speckter (1807–1871, deutscher Zeichner und Radierer) für das schöne Bild seiner elterlichen Wohnstube, das ihm doch unter so vielen Gaben der Liebe gewiß das liebste war. Als Otto Speckter im Jahre 1853 für die Illustration des ‚Quickborn‘ durch Dithmarschen reiste, wohnte er im Elternhaus von Klaus Groth. Er erstellte Zeichnungen über Landschaften und Menschen, die dann im ‚Quickborn‘, sehr zur Zufriedenheit Groths, abgedruckt wurden:
… Sie wissen den Grund meines Schweigens. Ich brauche Ihnen nicht zu verhehlen, daß ich beim ersten Anblick des Bildes beinahe zu Boden gefallen wäre und lange vor Rührung nicht zu mir selbst kommen konnte. Merkwürdiger aber noch muß Ihnen als Künstler sein, daß der Komponist meiner Lieder, Herr Selle, der öfter mein Vaterhaus besucht hat, beim Erblicken so ins Zittern geriet, daß ihm beinahe die Zeichnung aus den Händen gefallen wäre. Solche Macht besitzt die wahre Kunst … 4–17
„… Mich kennt fast jeder Norderdithmarscher. Mein Vater wußte von Hunderten, wie es um Vermögen, Ruf, Zuverlässigkeit stand, da er mit halb Dithmarschen in Handelsverkehr stand. In unserer ganzen Feldmark kannte ich jedes Fleckchen Land, wem’s gehörte, was es wert sei, ob vernachlässigt, ausgepowert; jede Koppel hatte ein Gesicht und eine Geschichte. Wegebauten, Armenpflege, Prozesse, Familienangelegenheiten waren mir schon als Kind Sachen, an denen mein Herz teilnahm.
… Und wieder, wenn ich ihn mir vorstelle, wie er in seiner Mühle in der Tür lehnte, am Abend über den stillen Ort sah, so kenne ich kaum ein Bild größerer Ruhe und stillen Friedens als diese markige Männergestalt mit den wunderbaren blauen Augen.
… Meine Mutter war eine hübsche, rasche Frau, mehr noch als sie wirkte meines Vaters Schwester auf mich, eine große, schöne, sanfte Gestalt. Ich habe ihr in meinen ‚Hundert Blättern‘ 4 Sonette gewidmet. Sie beschütze mich gegen des Vaters härtere Welt. Strafe bekam ich freilich auch von ihm nie. Aber sein Blick und seine Vorwürfe waren mir schon schrecklich. In meiner Kindheit habe ich nur plattdeutsch gesprochen und das hochdeutsche erst später als Schulsprache kunstmäßig erlernt. Mein Vater sprach das Plattdeutsche sehr schön; er hielt strenge darauf, daß wir es rein und ordentlich sprächen. So war mir auch plattdeutsche Schrift nicht unbekannt, da mein Großvater mit Vorliebe unsere alten Dithmarscher Chroniken las.
… Von meinem Großvater lernte ich so früh lesen, schreiben und rechnen, daß ich mich nicht ohne diese Fertigkeiten denken kann, daß Bücher, Rechen- und Zeichentafel meine ältesten Begleiter gewesen Lernfreude, Leselust und wahre Rechenwut durch die ganze Jugendzeit meine Seele erfüllt haben. In den Klassen unserer Bürgerschule war ich oder wurde ich bald Primus, und wenn der Unterricht mir nichts Neues mehr bot, übersah der Lehrer es, daß ich die ganzen Tage rechnete, ja abends trieb mich der Vater zu Bett, sonst saß ich nach der Schulzeit, die durch Privatunterricht winters bis sieben währte und täglich neun Stunden dauerte, noch bis in die Nacht bei der Buchstabenrechnung, Algebra, Geometrie, Trigonometrie.
… Zur Schule ging ich mit solcher Lust und Leidenschaft, daß ich schon Jahre vor meinem Angange die Tage berechnete, die ich noch nach hatte, und ich zog oft traurig wieder einige Wochen ab, die verflossen waren. Ehrgeiz mag mit dabei gewesen sein, hauptsächlich war es Lern- und Spiellust.
… Ich besuchte übrigens nur die Bürgerschule; die s.g. Rektorschule, wo etwas Latein und Französisch gelernt wurde, war meinem Vater zu teuer, auch lag sie außer unserm Stande, und das fürchtete er noch mehr, und dazu konnte man dort nicht im Sommer einige Monate fehlen, wo ich mit aufs Feld an die Arbeit mußte. Damals dankte ich ihm in meiner Lernwut nicht dafür; jetzt sei er aus tiefster Seele dafür gesegnet. Ich habe bei ihm auf dem Felde was Besseres gelernt. Für meinen Vater war leben und ein ordentlicher Mensch sein wichtiger als jede Art sozialen Ehrgeizes.
Da habe ich denn im Sonnenlicht Auge und Ohr vollgesogen in Gottes freier Welt, habe abends vor der Tür gesessen, müde, hungrig wartend aufs schöne Essen, Weisheit gehört vom Großvater, Kraft des Geistes und Körpers schätzen gelernt vom Vater, freier Männer freie Gesinnung empfunden. Ich las eine Reihe unserer Klassiker durch, besonders die älteren, die mir wegen ihrer reinen Sprache am durchsichtigsten waren; Psychologische, physikalische, naturphilosophische Bücher verdrängten alle leichtere Lektüre.
… Großvater erzählte mir beim Heuen oder beim Torf von Odysseus, Homer, Sokrates, Alexander, von Napoleon, von den Kämpfen der alten Dithmarscher, deren Schlachtfelder wir rund um uns sahen. Heldengedanken kamen dabei aber nicht in mir auf, ich war eine Mädchenseele. Ich habe geweint, wenn ich im Bette lag und draußen der Nachbar die Flöte blies. Die wahre Poesie ist immer das gemeinsame Werk eines Volkes, niemals das eines einzelnen Menschen.
… Schon früh hatte ich einen Spielkameraden, mit dem ich Freud und Leid, meine Zehrpfennige, mein alles teilte. Wir tummelten uns abends im Grase herum. Er hieß Johann. Er war nicht der Liebling, der mir bei der Entstehung des Liedes (Ik wull, wi werrn noch kleen Johann) im Sinne gelegen, sondern mein Bruder Johann. Diesen Bruder liebte ich vor allen mit wahrhafter Leidenschaft, und die Liebe hat angedauert durch alle Wechsel des Lebens.“ 2, S. 10–17
Min Jehann
Ick wull, wi weern noch kleen, Jehann,
Dor weer de Welt so groot
Wi seeten op den Steen, Jehann,
Weest noch, bi Naver‘s Soot?
An Heben seil de stille Maan,
Wi segen wo he leep
Un snacken, wo de Heben hoch
Un wo de Soot wull deep.
Weest noch wo still dat weer Jehann,
Dor röhr keen Blatt an‘n Boom
So is dat nu nich mehr, Jehann
As höchstens noch in‘n Droom
Och nee, wenn dor de Schäper süng
Alleen in‘t wiede Feld
Ni wohr, Jehann, dat weer een Ton
De eenzig op de Welt.
Mitünner in de Schummertied
Dor ward mi so to Moth
Denn löppt mi‘t langs de Rügg so hitt,
As dormols bi den Soot
Denn dreih ick mi so hastig üm
As weer ick nich alleen
Doch allens, wat ick finn, Jehann, –
Dat is, ick stah un ween. 6, S. 17
„… Ein wahrer Liebling wurde mir auch seit meinem 15. Jahre der Sohn eines Nachbars, mit dem ich seither in ungetrennter, niemals auch nur auf einen Augenblick gestörter Gemeinschaft fortgelebt habe, obgleich wir uns ferner gerückt sind. Er ist Theodor (Petersen), dem ich ein Sonett in meinen ‚Hundert Blättern‘ gewidmet habe. Wir durchlebten das Erwachen des Herzens und des Geistes miteinander; wir hatten kein Geheimnis vor einander. Fast ein volles Jahr waren wir von morgens 4 Uhr an, wo ich ihn weckte, bis abends 10 zusammen, immer in geistiger Beschäftigung. …“ 2, S. 24
1834 kam Groth durch seinen Lehrer Bakken in die Schreiberlehre beim Kirchspielvogt Dührsen. Er übersiedelte in die Kirchspielvogtei. Hier las Groth alles, was er in die Finger bekam. Hier brachte er sich selbst – mit Hilfe von Büchern – das Klavierspielen bei, und er lernte, Piccoloflöte zu spielen. Mathematische Übungen begeisterten ihn.
„… Also jetzt ging ich an das, was mir Bedürfnis war. Dahin gehörte zunächst eine schöne Handschrift. Die bildete ich mir in kurzer Zeit mit zäher Geduld aus, so daß die meinige im ganzen Lande berühmt war.
Ich hatte dort wenig zu tun, hauptsächlich die Visa in den Wanderbüchern der reisenden Handwerkergesellen zu besorgen, dann und wann eine Abschrift zu machen und über die Haushaltungsausgaben Rechnung zu führen, denn er war unverheiratet.“ 2, S. 14
„… Meine ersten Gedichte schrieb ich hochdeutsch von meinem 14.–16. Jahre. Ich bin Spätreifer, sang noch in meinem 20. Jahre mit mädchenhaftem Angesicht, obgleich eines Kopfes länger als mittelgroße Männer, einen ungebrochenen Knabendiskant. Um jene Zeit meines 16. Jahres sah ich ein, daß meine Verse sich nicht über die Mittelmäßigkeit erhoben; ich dachte klar und konsequent, damit sei niemand gedient, weil genug von Mittelgut da sei, und nahm mir fest vor, erst etwas Ordentliches zu lernen, nach allen Richtungen hin Verstand und Herz offen zu halten und nicht eher einen Vers wieder zu schreiben, als wenn ich’s durchaus nicht lassen könnte.
Das hielt ich wenigstens bis zu meinem 24. Jahre; nicht einmal ein Gelegenheitsgedicht habe ich gemacht; niemand hat geahnt (bis zuletzt ein paar Freunde), als mein Quickborn in meinem 33. Jahre erschien, daß ich einen Reim machen könnte. Dennoch habe ich nie den Gedanken aus dem Herzen verloren, einmal meinem Volke ein Dichter zu werden; der ihm seine Geheimnisse offenbare, ihm den Spiegel vorhalte.
… Den Liebreiz des Weibes entzog ich mich beharrlich, oft mit Schmerzen. Schon früh war ich der Vertraute der verschiedenartigsten Leute aus den verschiedensten Ständen, auch in Herzensangelegenheiten. Ich hatte eine Menge Liebesbriefe für Nachbarstöchter geschrieben, auch wenn sie selbst zur Not schreiben konnten. In meiner unmittelbaren Gegenwart spannen sich mehrere Liebesromane an und ab, mehrere zu einem tragischen Ende. Man hatte eigentümlicherweise kein Hehl vor mir; ich habe während ihrem Gekose studiert, habe ihren Klagen ein williges Ohr geliehen, ihren Streit geschlichtet. Sie wußten nicht, wie mein Herz oft dabei vor Sehnsucht schlug; aber ich bändigte es. Doch muß ich nach und nach davon das Gepräge des Ernstes und des Gleichmuts bekommen haben. …“ 2, S. 26
Schwer zu schaffen machte es dem kindlichen Groth, dass kurz hintereinander sein Obbe (26.03.1835), seine geliebte Mutter (27.10.1835) und die von ihm so hoch geschätzte Tante Christine (31.08.1837) verstarben.
An meine Tante Christine
Wenn des Herzens unbefriedigt Sehnen
Schwer und dumpf die Seele mir erdrückt,
Wenn das Auge ruh= und trostlos blickt
Und sich füllt mit heißen Schmerzenstränen:
Könnt ich wieder dann an dich mich lehnen,
die du tröstend sonst mir zugenickt:
Allem Erdenstaube leicht entrückt,
Selig=mild wie du, würde ich mich wähnen.
An den Busen legt ich dir das Haupt,
Und du faßtest sorgend meine Hände,
Höbest sanft empor die Seelenbürde.
Ach! Und immer hätt ich dir geglaubt
Und gefühlt, wie sich der Kummer wende,
Wenn du sagtest, daß es besser würde. 6a, S. 69
„… Meine Mutter starb in meinem 17. Jahre, dann bald darauf meine unendlich geliebte Tante. Ich sah die feste Gestalt meines Vaters sich beugen unter den Schlägen des Schicksals; ich sah meine 4 Geschwister verwaisen und fast verwildern. Ich selbst war lange wie vernichtet. Die Mutter meines Theodor zwang mich zuerst wieder durch vernünftiges Zureden, ordentlich zu essen; ich hatte es fast verlernt und vergessen. Damals litt auch meine Gesundheit den ersten Stoß. Dann kam eine andere Mutter ins Haus; sie war gut, sie war notwendig. Aber ich habe eigentliche ungebrochene Jugendlust nicht wieder empfunden. …“ 2, S. 25
Groth beschloss, Schullehrer zu werden. Nach einer erfolgreichen Aufnahmeprüfung für einen Studienplatz am Lehrerseminar zog er 1838 nach Tondern, im westlichen Nordschleswig. Die Auslagen für einen dreijährigen Kursus auf dem vielbesuchten Seminar hoffte der Vater bestreiten zu können.
„… Ich studierte mit einem Eifer, einer Freude, einer Selbstvergessenheit daran, wie ich sie nie gekannt, nie wieder empfunden und geübt.
Bei meinen Lehrern und Mitschülern galt ich für nichts Besonderes, höchstens für einen scharfen, klaren Kopf.
Ich lebte ganz meinen Studien und hatte nicht einmal Kraft und Frische zu etwas anderem übergehabt, da ich nach meiner Gewohnheit wenigstens im Sommer mich um 4 Uhr von einem Bäckerjungen an einem Band aus dem Bette ziehen ließ und sogleich an die Arbeit ging.“ 2, S. 23
„Was das Seminar mir bot, war nicht wenig, und ich bin noch dankbar dafür.
In Tondern ging all meine Sehnsucht in Heimweh über; das erhielt mich. Denn zum Schluß meiner Vorbereitung aufs Lehrfach dachte ich mit schwerem Herzen an die Zukunft. Mich lockte nichts, mir winkte nichts. Amt und Heirat lockten mich nicht; ich hatte ein ganz anderes Ideal eines schönen Erdendaseins mit mir getragen, dessen Verwirklichung ich wieder auf 10 Jahre hinausschob. …“ 2, S. 26, 27
„… Neben demjenigen, was die Anstalt bot und von ihm forderte, ging er seinen Bildungsweg selbständig weiter. Er las Französisch, Dänisch, Schwedisch, und mit denjenigen, die ebenfalls vorher eine Gymnasialbildung genossen hatten, Latein und etwas Griechisch, wozu später in Heide Englisch, Italienisch, Altdeutsch und Isländisch, sowie auf Fehmarn noch das Spanische kam. Auch die Naturwissenschaften und die Mathematik, welche später in den Mittelpunkt seiner Studien traten, sowie die Philosophie wurden eifrig betrieben.
Groth kannte alles, was hierzulande auf Feld, Wald, Wiese und Moor wuchs. Zoologie, die Philosophie, beider Reiche, Physik, Chemie. …“ 5–1
Zu seinem Seminarfreund Leonhard Selle (Lehrer und Organist, 1816–1888), Bruder von Gustav Selle (Organist und schon Groths Lehrer in Heide, 1808–1864), hielt Groth schon alte Beziehungen. Leonhard hatte eine Gymnasialausbildung. Ihn hatte es statt auf die Universität auf das Seminar in Tondern verschlagen. Er wurde 1843 Organist, Lehrer und Kirchspielschreiber in Landkirchen auf Fehmarn, später ging er als Musiklehrer nach Rendsburg.
1841 kam Groth, nachdem er die Abgangsprüfung mit sehr rühmlicher Auszeichnung bestanden hatte, nach Heide zurück, als zweiter Lehrer an die Mädchenschule, bei 43 Stunden in der Woche für 300,00 Mark jährlich. Die Stelle musste er sich mit dem elf Jahre älteren ersten Mädchenlehrer Gustav Selle, dem Bruder von Leonhard, teilen.
Ihm wurde eine Dienstwohnung zugewiesen, die Groth vermietete, da er wieder in das Elternhaus nach Lüttenheid gezogen war.
Das Lehrersein befriedigte Groth nicht. Seine neuen pädagogischen Ideen wurden nicht anerkannt. Man nannte ihn ‚Den verrückten Schulmeister‘, jedoch war er bei seinen Schülerinnen sehr beliebt.
Des Öfteren überlässt Groth seine Schülerinnen sich selbst, um draußen in der Natur seine Forschungen über Flora und Fauna zu treiben, auch fehlte er oft wegen fortgesetzter Kränklichkeit. Das verärgerte die Schulbehörde.
Groth war Mitbegründer eines Bürgervereins, in dem er eine Reihe von Vorträgen, meistens naturwissenschaftlichen oder philosophischen Inhalts, hielt; er war Wortführer einer Liedertafel und half eine Spritzenkompanie errichten. Er war Mitglied eines landwirtschaftlichen Vereins, und er belebte das ‚Hahnbeer‘ (ein altes traditionelles Fest zur Faßnachtszeit) wieder neu. Nach 2, S.28
1843 kaufte Hartwig Groth eine Bockmühle, einen ‚Galerie-Holländer‘ von Johann Friedrich Köster. Die Geschwister Groths, vor allem Johann und später Christian und Heinrich, mussten tatkräftig in der Mühle mithelfen.
Windmoel
Ole Modder grau
Steit alle Nacht in Dau,
Se itt keen Fleesch, itt keen Brot
Un deit doch alle Menschen got. 6.1, S. 297
In den Sommermonaten wanderte Groth stets einige Wochen über die Grenzen Dithmarschens hinaus durch Holstein, Schleswig, Lauenburg, Hamburg, Lübeck. 1845 erweiterte er seine Tour zu einer Reise über Berlin, Dresden, durch Böhmen, den Main und Rhein hinunter.
Seit 1845 hatte er wieder Gedichte, und zwar hochdeutsche, geschrieben. Einige von den ältesten stehen in seinen ‚Hundert Blättern‘.
„… Einmal sagte mein Vater, kurz bevor ich wirklich zusammenbrach: „Klaus, das geht nicht, mein Sohn. Du bringst dich um. So’n Arbeiten ohne Erholung, kann kein Mensch ertragen.“ Ich antwortete ihm: „Lieber Vater, es mag wahr sein. Aber ich bin wie ein Mann, der über einen Graben springen will. Ich nehme just den Anlauf und will eben den Springstock ansetzen, da rufst Du mir zu: Halt an! Das geht nicht. – Hinüber komm’ ich vielleicht tot, aber das muss seinen Willen haben.“ Kopfschüttelnd antwortete er mir. „Du musst es wissen! …“ 11, S. 81
Als Groth sich (1846) unsterblich in Mathilde Ottens, Tochter des Landschreibers, verliebte und ihr Briefe und kleine Gedichte schrieb, musste er schmerzlich erfahren, dass Mathilde, die sich anfänglich wohl geschmeichelt gefühlt haben mag, mit ihm keine Bindung eingehen wollte oder durft.
„… Wäre ich gesund geblieben, so hätte ich wahrscheinlich meine wissenschaftlichen Arbeiten bis zu einem selbständigen Resultat verfolgt. Leider unterlag meine starke Natur. Ich blieb an Heide hängen, teils aus Liebe zu meiner Familie, in die ich ein höheres Bildungselement trug und tragen konnte, teils aus Liebe zu einem jungen Mädchen. Lange kämpfte ich mit dieser Neigung, die ich als unvernünftig erkannte; mich selbst zu lösen, vermochte ich nicht. Als ich endlich mich entschloß, auf einige Jahre nach Berlin für wissenschaftliche Zwecke zu gehen, war Mut und Kraft und Lebenslust dahin. Wie ein Wrack brach ich zusammen …“ 2, S. 41
1847 schied Groth aus dem Schuldienst aus. Vielleicht waren die unglückliche Liebe zu Mathilde Ottens, der ungeheure, große Lerneifer Groths, der Ärger im Beruf und die Sorge um die Zukunft ausschlaggebend dafür, dass er – wie man heute sagen würde – eine Depression oder einen Burn-Out hatte.
Groth ging für mehrere Wochen zur Erholung zu seinen Verwandten ‚in sein Jungsparadies‘ nach Tellingstedt.
Sein Freund aus Tondener Zeiten, Leonhard Selle (1818–1888, Kantor, Organist, Lehrer in Landkirchen/Fehmarn), besuchte ihn dort und nahm ihn dann mit nach Landkirchen auf der Insel Fehmarn. Groth wollte sechs Wochen bleiben, es wurden aber sechs Jahre daraus. Doch bevor die Insel erreicht wurde, lag er wieder für vier Wochen krank in Preetz. Von Landkirchen aus verzichtete er auf seine Stelle als Lehrer.
1849 wurde ihm bis Ostern 1853 eine kleine Pension von 300 Mark zugesprochen.
Die Ostseeinsel Fehmarn war ca. 186 Quadratkilometer groß und hatte um die 8590 Einwohner. Sie gehörte politisch zum Herzogtum Schleswig. Das Dorf Landkirchen hatte etwa 400 Einwohner.
Groth, der sich ein Zimmer mit seinem Studienfreund Selle teilte, kränkelte weiterhin. Es verschlimmerte sich sein Befinden, da er sich nicht dazu verstehen konnte, brach zu liegen, wie die Ärzte ihm geraten hatten, sondern immer von neuem zu arbeiten begann, sooft er sich etwas freier fühlte. Ja er glaubte sein Übel durch körperliche und geistige Anstrengung bekämpfen zu müssen. Nach 5–1
Briefe von der Familie waren voller Sorge um seine Gesundheit, und Groths Briefe an die Familie erzählten vom Leben auf der Insel. Erst im Frühling 1848 war er soweit gekräftigt, dass er einen Band von Goethe aufschlagen und zeilenweise lesen konnte. Er nahm sein Selbststudium wieder auf und verfasste im Sommer die ersten Gedichte seines später erscheinenden ‚Quickborn‘.
Als er nun daran ging, plattdeutsch zu schreiben, sah er mit Schrecken, dass er das Schema der hochdeutschen Bildung nicht loswerden konnte. Reime, Wendungen, grammatische Formen wurden unwillkürlich hochdeutsch, auch mit plattdeutschen Worten, auch bei plattdeutschem Denken.
Hier aber fand er, trotz seiner Krankheiten, seine wirkliche Berufung: Das Schreiben von niederdeutscher Literatur. Nach 2, S. 43
Oft besuchte ihn sein Bruder Johann. Zeitweilig blieb er fünf Wochen und länger. Aus einem langen Brief an den Bruder Hartwig vom 7. März 1851, der hier als einziger Brief aus der Zeit auszugsweise wiedergegen wird, kann man Groths Gemütslage erlesen:
… Ich habe im vorigen Jahr eine Wagenladung Reisebeschreibungen durch Afrika, Asien, Amerika gelesen und bin dort noch gerade ganz zu Hause. Dann habe ich Gewerbe studiert: Bierbrauen, Brennen, Gaslicht-, Glasmachen, Seifensieden, Stearinlichter ziehen, Vitriolöl machen, Kohlenbrennen, Lampen machen, Salz gewinnen, Kalkbrennen, Zement machen usw.
Du siehst, an Beschäftigung fehlt mir’s nicht. Ich beneide auch keinen Menschen um sein Amt. Ich möchte weder Prediger noch Arzt, noch Kirchenspielvogt sein. Ich bin gar zu bange, wieder etwas auf dem Gewissen zu haben. Und wenn ich nun soviel gelernt habe, daß ich als Schriftsteller durchkommen kann, will ich nichts anderes. Denn Lernen ist mein Leben, und das kann ich bei keinem Amt.
Es freut mich innig, daß Vater so gesund ist. Wenn er sich nur recht ein bißchen in acht nehmen wollte! Er wird älter. Da muß man sich schonen. Er muß sich etwas überwinden. Ich weiß wohl, daß es schwer ist und Arbeit der beste Zeitvertreib ist. Allein er muß auch an uns denken, namentlich auch an mich. Mir würde ja die Welt ganz gleichgültig werden, wenn er nicht mehr darin wäre. Er muß auch noch einmal recht Freude an mir haben. Hab’ ich ihm auch keinen Kummer gemacht, er hat ihn doch über mich gehabt. Aber es wird noch alles einmal gut.
Mit meinen Gedichten hat es noch nicht so recht wollen. Die Zeiten waren zu ungünstig. Meine Zeit kommt gewiß. Denn eine solche Lernbegier ist zu selten, als daß nicht etwas herauskäme. Wäre ich bloß erst recht gesund! Es geht so schrecklich langsam. Ich bin manchmal förmlich voller Sehnsucht und denke: Könntest du morgen einmal so wieder aufstehen, wie in der besten Zeit in Heide, ganz frisch, ganz ausgeschlafen, ganz heiter. Denn scheint mir, das wird nie so. Und doch muß es ja. Denn meine Natur ist zu gut. Es geht alles regelrecht in meinem Körper zu, nur tut oftmals alles weh. Es ist indessen gar nichts gegen früher, nur kann ich nie den letzten Trumpf bekommen, gerade dann schlagen die Karten um. – … Ich möchte Euch allen gern so recht einmal sagen, wie lieb und teuer Ihr mir seid, und es kommt doch eigentlich nichts heraus. Es war freilich auch nicht Mode in unserm Hause, uns viel zu beteuern, und das ist gut. Allein in der Ferne und auf dem Papier möchte man’s doch einmal los sein. Ich werde den Druck der Hand nicht vergessen, als ich nach Tondern Vater adieu sagte, und guten Tag, als ich wiederkam. Aber Ihr dachtet wohl nicht, als ich von Tellingstedt ging, daß es so kommen würde. Ich wußte es, ich fühlte den Tod in mir und habe oft zu Madame Selle gesagt, wenn es wieder werden sollte, so müßten Jahre vergehen. Nun ist denn ja das Schlimmste überstanden. Hoffen wir also. Aber Ihr, lieber Bruder, müßt nicht versäumen, dann und wann zu schreiben, es tut mir zu gut, auch die Kleinen können es mitunter. Hörst Du, Heinrich? Und Wite sag vielen Dank. Aber sie muß sich noch recht im Schreiben üben. Was lernen muß man in der Welt, je mehr, je besser. Das zuviel hat bei den wenigsten Gefahr. –
Dir, liebes Gretchen, werde ich bald mal recht viel schreiben. Für jetzt mußt du mit eingucken. … Und nun ade! Hofft mit mir und denkt, daß ich meistens nicht den Kopf hängen lasse, sondern ziemlich unbekümmert meinen Weg verfolge, nun seit 16 Jahren immer denselben, und daß er zum Ziele führen muß, mir und Euch zur Ehre, so gewiß wie ich bin
Euer treuer Bruder Klaus … 4–6
„… Auf Fehmarn lebte und arbeitete ich in der Einsamkeit einer Insel 5 Jahre; oft war ich in 5–7 Monaten nicht aus dem Schlafrock und Pantoffeln. Unter dem Donner der Kanonen schrieb ich mein Buch, oft wenn mir das Herz bebte; aber ich sagte mir, ich könne nichts besseres für mein Vaterland tun. …“ 2, S. 44
Im Jahr 1848 begann der erste Schleswig-Holsteinische Krieg: Die ‚Schleswig-Holsteinische Erhebung‘ gegen die Dänische Zentralgewalt. Die Erhebung war eine von der Mehrheit der Staaten des Deutschen Bundes unterstützte politische und militärische Auseinandersetzung der deutschen Nationalbewegung in den Herzogtümern Schleswig und Holstein mit dem Königreich Dänemark. Es siegte Dänemark. Friedensschluss: Londoner Protokoll 1852.
Mit der Schlacht bei Idstedt war schon alles verloren. Der Kampf bei Friedrichstadt war, wie wenigstens jedes Marschkind wußte, wie das Hineintreiben in den Sumpf. Zwei Brüder Groths dienten im Heer. Nach 7, S. 72
„… Von meinen Vorgängern in plattdeutschen Dichtungen, habe ich nichts gelernt, als was man vermeiden muß; sie alle schreiben kein Plattdeutsch, oder wo sie es treffen, da ist es in der Sphäre der niederen Komik, während es mir vor allen Dingen darauf ankam, die Ehre meiner Muttersprache, d.h. die Ehre des Volksgemütes, aus dem sie entsprungen, zu retten. Daher habe ich absichtlich die Ader des Humors, die auch mir am leichtesten sprudelt, nur mäßig strömen lassen, damit mein Buch, das ich ‚Quickborn‘ zu nennen dreist genug war, nicht eine Quelle der gemeinen Lachlust, sondern ein Born aus der Tiefe norddeutschen Gemütslebens werden möge. …“ 2, S. 43
Groths Überlegungen, dem Buch den Titel: ‚Sassenspegel‘ zu geben, oder ‚Marktsteen‘ und ‚En Mundvull Platt‘ wurden von ihm zugunsten des ‚Quickborn‘ verworfen. Nach 8, S. 112
Quickborn nannte man Orte an perennierenden Quellen (über das ganze Jahr hin ausdauernd). Es bedeutet also eigentlich einen lebendigen Born, eine aufsteigende Quelle, einen Jungbrunnen. Nach 7, S. 132
Gegen Ende 1851 las Groth in Georg Gottfried Gervinus’ (1805–18.03.1871, deutscher Historiker und nationalliberaler Politiker) ‚Geschichte der deutschen Literatur‘ und war stark beeindruckt von dem erstaunlich bahnbrechenden Werk. Daraufhin schickte er am 27. Dezember sein Manuskript an Gervinus.
Groth: „… Als ich fertig war, und das Manuskript meines ersten Bandes ‚Quickborn‘ an Gervinus zur gütigen Beurteilung schickte, da war Kraft und Geld alle …“ Nach 4–9
Gervinus antwortete am 06. Februar 1852:
… Die Gedichte werden sich selbst empfehlen und ich habe das Vorgefühl, dass sie in der Öde Ihrer heimatlichen Zustände wie eine Oase in der Wüste sein werden, wo man sich ausruhend niederlässt … 10, S. 294
„… Es gibt der Beispiele mehr, wo ein einziger Brief eines Meisters dem Jünger den Gesichtskreis und die Laufbahn frei machte, aber trotzdem möchte ich glauben, dass selten ein Brief einen so gewaltigen Eindruck gemacht, einen so bewältigenden Schreck erregt, als jener von Gervinus an mich. Er fiel mir, buchstäblich, aus der Hand, nachdem ich flüchtig einige entscheidenden Zeilen gelesen. Da lag er, vielleicht stundenlang, ich wüsste es nicht bestimmt zu sagen, am Fußboden. Ich hatte kein Bedürfnis, vielleicht keine Kraft, ihn aufzuheben. Die wenigen Zeilen, welche ich gelesen, hatten mich selbst und die Welt umgewandelt. …“ 7, S. 98
Im November 1852 erschien – mit der Jahreszahl 1853 – die erste Auflage des ‚Quickborn‘.
Das 200 Seiten umfassendes Buch mit 39 Gedichten, umfangreichen Versepen und 2 Märchen war sogleich vergriffen.
„… Mein gelehrter Landsmann Professor Müllenhoff (Dr. Karl Viktor Müllenhoff, 1818–1884, Professor der Deutschen Sprache) ward mein treuer Helfer an meinem Werk. …“ 2, S. 44
Das Vorwort für dieses Buch schrieb Claus Harms (1778–1855, evangelischer Pfarrer und Probst in Kiel), ein gebürtiger Dithmarscher, der sich sehr für die plattdeutsche Sprache einsetzte.
Wegen des Drucks hatte sich Groth an den Buchhändler Friedrich Pauly in Heide gewandt. Dieser wollte nur plattdeutsche und hochdeutsche Gedichte zusammen herausbringen. Groth lehnte ab, und mit einem Empfehlungsschreiben von Gervinus konnte er den Verlag Perthes-Besser & Mauke in Hamburg für das Buch gewinnen.
Der ‚Quickborn‘ wurde weit im Land begeistert aufgenommen und bejubelt. Schnell war die Auflage vergriffen, so dass in den ersten Monaten von 1853 eine zweite Auflage herausgebracht wurde.
Min Modersprak
Min Modersprak, wa klingst du schön!
Wa büst du mi vertrut!
Weer ok min Hart as Stahl un Steen,
Du drevst den Stolt herut.
Du bögst min stiwe Nack so licht
As Moder mit e¸rn Arm,
Du fichelst mi umt‘ Angesicht
Un still is alle Larm.
Ik föhl mi as en lüttjet Kind,
De ganze Welt is weg.
Du pust mi as en Vœrjahrswind
De kranke Boss torecht.
Min Obbe folt mi noch de Hann‘
Un seggt to mi: Nu be¸!
Un »Vaderunser« fang ik an,
As ik wul fröher de¸.
Un föhl so deep: dat ward verstan,
So sprickt dat Hart sik ut.
Un Rau vunn Himmel weiht mi an
Un Allns is wedder gut!
Min Modersprak, so slicht un recht,
Du ole frame Re¸d!
Wenn blot en Mund »min Vader« seggt,
So klingt mi‘t as en Be¸d.
So herrli klingt mi keen Musik
Un singt keen Nachtigall;
Mi lopt je glik in Ogenblick
De hellen Thran hendal. 6, S. 15
Am 6. November 1852 nahm Groth Kontakt zu Theodor Storm (1817–1888, Schriftsteller, Lyriker) auf und übersandte ihm ein Exemplar des ‚Quickborn‘.
Daraufhin antwortete Storm am 6. April 1853, dass er eine öffentliche Erwiderung auf die Zusendung des Buches im ‚Eidersteter Boten‘ geschrieben hätte. Storm war beeindruckt von den Gedichten im ‚Quickborn‘. Nachdem Storm aber im September 1854 in einer Rezension die einige Monate zuvor von Groth herausgebrachten ‚Hundert Blätter‘ verriss, brach der Kontakt ab und wurde erst 1862 wieder aufgenommen. Nach 12 – 7, S. 15
Es verfestigte sich dann eine Freundschaft, die bis zum Tode Storms anhalten sollte.
Als Müllenhoff Groth im April 1853 einlud, nach Kiel zu kommen, verließ Groth, immer wieder kränkelnd, Landkirchen. Sein Bruder Johann begleitete ihn. Sie gingen zu Fuß, da das Fahren Groth nervös machte. In Lütjenburg waren Groths Kräfte am Ende, und er blieb dort unter der Pflege Johanns im Hotel vier Monate liegen. Auf dem Krankenlager ‚besorgte‘ er, im Bett liegend, die Korrektur für die zweite Auflage des ‚Quickborn‘.
Zwischenzeitlich wurde Johann zu Hause sehnlichst erwartet, da er bei der Arbeit fehlte. Der Vater musste von morgens vier Uhr bis abends neun Uhr in der Mühle arbeiten. Sein Sohn Heinrich hatte einen erkrankten Arm, sein Sohn Hartwig hatte nach Rüßdorf (am Rande von Heide gelegenes eigenständisches Dorf, das 1924 in die Stadt Heide eingemeindet wurde) geheiratet, und Arbeiter waren nicht aufzutreiben. Nach 5 – 2
Müllenhoff und Professor Franz Hermann Hegewisch (1783–1865, Professor für Medizin, Etatsrat, Förderer der Kultur und Helfer bei politischen Aktivitäten in Kiel), seine Ehefrau Caroline, von Groth ‚Mama Hegewisch‘ genannt (geb. von Linstow, 1786–1856), und die Tochter Lotte Hegewisch (Charlotte Friederike Dorothea, 1822–1903, Stifterin der Kunsthalle in Kiel) besorgten Groth eine Wohnung in Kiel. Hier konnte er sich unter der sorgsamen Pflege und im wohltuenden Umgang mit seinen neuen Freunden langsam erholen.
„… Kiel, an der schönen Kieler Förde, war eine Kleinstadt von kaum 15.000 Einwohnern, mit einem eher bescheidenem Handelslaufkommen. Die Altstadt mit ihren verwitterten Giebelhäusern, den krummen Straßen, den gemütlichen Ecken und Winkeln, atmete noch ganz den etwas nüchternen und schwerfälligen, aber treuen und zuverlässigen Geist, der die Behandlung der schleswig-holsteinischen Frage so bedeutsam aus dem elenden Gezänk des Bundestages und der heillosen Kleinstaaterei herausgehoben und die kleine Stadt und Universität selbst unter Führung der geistreichen Professoren so groß gemacht hatte.
… Im Süden der Stadt lag der Bahnhof, nach Norden zu kam vom dänischen Tor ausgehend die neue dänische Straße, die das Schloß und den schönen Schloßgarten zur rechten liegen läßt. Durch die Ulmenallee ging es hinaus nach dem Düsternbrooker Forst. … Rechts von der Straße breiteten sich in dem steil zum Hafen abfallenden Gelände einige parkumgebene Adelssitze, dann kam die breit und behaglich am Ufer gelegene alte Badeanstalt. Sie gehörte dem Physikus Dr. Valentiner. Hier hatten die vorsorglichen Kieler Freunde, nachdem eine Menge Pläne ein richtiges Quartier zu schaffen verworfen waren, für Groth eine ruhige Stätte bereitet. …“ 8, S. 143
„… Als ich im Sommer 1853 mit meinem lieben Bruder Johann nach Kiel kam, hatten meine Freunde, Müllenhoff wie immer an der Spitze, uns ein paar Stübchen auf der Seebadeanstalt verschafft, die etwas abseits vom Hauptgebäude in einem Schuppen eingerichtet waren. Dort zogen wir ein. Eine Holztreppe führte, fast unmittelbar vom Rasen aus, hinauf.
… Aus meinem Fenster sah man an den Kieler Hafen hinaus, links den Düsternbrook (Wald) ganz nahe, wie eine grüne Wölbung ansteigend, rechts Ellerbek, das Fischerdorf und die Mündung der Swentine, zu Füßen ein großes Oval grünen Rasens, rundum den wohlgepflegten Fußsteig, Gruppen von Gebüsch, Bänke darunter, wandelnde und sitzende Gäste, Badekarren und Stege, alles so lautlos, dass man die plätschernden Wellen Tag und Nacht vernehmen konnte.
Ich fand eine vollständige Einrichtung für ein behagliches Junggesellenheim vor. So gut dies gemeint, so gut es eingerichtet war, will ich nicht leugnen, dass meine Empfindungen beim Anblick von so viel Geschenken etwas gemischt waren; ich fühlte mich einigermaßen gedrückt und gedemütigt dabei. Ich hatte bisher niemand etwas zu danken als dem gütigen Gott und meinem Vater; das andere hatte ich alles selbst erobert und gewonnen.
… Doch es war nichts dagegen zu tun, es war gut gemeint und ich sagte ohne Widerstreben meinen Dank.“ 11, S. 124
„… Während dieses Kieler Aufenthaltes trat eines Morgens im Garten plötzlich das Bild von ‚Matten Has‘ vor meinen Geist. Ich nahm mein Notizbuch, um das Gedicht niederzuschreiben, als ich plötzlich mitten in der Arbeit die Haustür höre. Herr Gott, wer kommt da? der macht das ganze Gedicht zuschanden, das auf jeden Fall jetzt gut geworden wäre! In meiner Angst hocke ich mich am äußersten Ende des Gartens nieder, dichte und schreibe, als ob es das Leben gelte, sehe die Gartentür sich öffnen, meinen langen mageren Freund Rehbenitz (Theodor, 1791–1861, Maler) mit dem sonderbaren Malerhut erscheinen, die Treppe herabsteigen, die Gartenwege langsam absuchen und, als er endlich vor mir stand, steckte ich, von Angst befreit, das Notizbuch ein, mit der Überzeugung, etwas gemacht zu haben, das nicht vergehen soll, so lange die Sprache lebt, in der es geschrieben ist …“ 7, S. 141
Matten Has’
Lütt Matten de Has‘ | Keem Reinke de Voss |
De mak sik en Spaß, | Un dach: das en Kost |
He weer bi‘t Studeern | Un seggt: Lüttje Matten, |
Dat Danzen to lehrn, | So flink oppe Padden? |
Un danz ganz alleen | Un danzst hier alleen |
Op de achtersten Been. | Oppe achtersten Been? |
Kumm, lat uns tosam! | Lütt Matten gev Pot. |
Ik kann as de Dam! | De Voss beet em dot |
De Krei de spe¸lt Fitel, | Un sett sik in Schatten, |
Denn geit dat canditel, | Verspis‘ de lütt Matten: |
Denn geit dat mal schön | De Krei de kreeg een |
Op de achtersten Been! | Vun de achtersten Been. 6, S.88 |
Professor Müllenhoff setzte sich in den darauffolgenden Jahren in überströmender und hartnäckiger Weise für Groth und den ‚Quickborn‘ ein. Im Winter 1853/54 zeigte sich das in seinen Besuchen Tag für Tag in der Faulstraße, wo er von fünf bis acht Uhr nachmittags mit dem Dichter vor allem an der Orthographie des Plattdeutschen und dem Glossar zum Quickborn arbeitete, an dessen Einleitung er vielfach zu Hause noch weiter tätig war. Groth nannte diese Einleitung: ‚Ein Meisterwerk, das in den wenigen Druckseiten nur dem Kenner zeigt, welche lange Arbeit zweier hingebender Männer darin steckt‘. Nach 7, S. 140
Auf Grund seiner angeschlagenen Natur rieten die Ärzte Groth, zu verreisen. Die dänische Regierung gewährte ihm eine Unterstützung, und auf Rat von Müllenhoff nahm er die Offerte für ein Reise-Stipendium an. Er war nicht der erste deutsche Dichter, den die dänische oder viel mehr die schleswig-holsteinische Regierung in Kopenhagen freigiebig unterstützte. Die Reise wurde erst im Sommer 1855 angetreten.
Groth schrieb an Theodor Petersen, der sein Begleiter sein sollte:
… Kiel, 25. Nov. (18)53
Ich selbst bin so mutlos, daß ich nur ans Sterben denke Tag und Nacht, wenn ich auch vorläufig durchkomme. Eigentlich habe ich ja das Höchste erreicht, was mir zu Gebote stand, ja was überall wohl die Erde gewährt, nun geht’s bergab. Ich möchte am liebsten zu Haus, wenn’s sonst auszuhalten wär’. Ich kann nicht ordentlich schreiben. –.
Wir gehen nach Pisa, über Aachen, Brüssel, Paris, Lyon, vielleicht nach Marseille(?) – so denk ich, je eher, je lieber, wenigstens sobald du kannst. Die Ärzte drängen mich, an Geld wird’s nicht fehlen. Ich sehe am liebsten, wenn Du ein Vierteljahr dransetzen kannst … 4 – 5
1854 erschien: ‚Hundert Blätter – Paralipomena zum Quickborn – von Klaus Groth – Hamburg – Perthes-Verlag & Mauke – 1854. Dieses Buch fand keinen großen Anklang. Es erhielt schlechte Kritiken.
Die Seebadeanstalt Düsternbrook war im Sommer ein Ort gesellschaftlicher und kultureller Begegnungen. Es wurden gemeinsam ernste Bücher gelesen, abends sah man in dem Ballsaal die Offiziere der dort liegenden französischen Flotte tanzen. Man hörte klassische Musik, Professoren wie Müllenhoff, Forchhammer und andere gingen ein und aus.
Hier lernte Groth den Hamburger Weinhändler Louis Koester (1800–1880, Kaufmann und Weinhändler), von Groth ‚Ohm Koester‘ genannt und dessen Frau Marie (Auguste Frederike, geb. von Reinhold, 1810–1873) kennen, mit denen er eine innige Freundschaft einging. Louis Koester hatte mit einem Weingeschäft in Bordeaux ein bedeutendes Vermögen gewonnen. Das kinderlose Ehepaar lebte mit einer Nichte in Hamburg. Koester war nicht immer bequem im Umgang, er neigte dazu, sich für schwer krank zu halten und mit anderen Marotten seine Umgebung einigermaßen zu quälen.