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Achim Bühl

Antisemitismus

Geschichte und Strukturen von der Antike bis 1848

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INHALT

EINLEITUNG

1DER ANTISEMITISMUS IN DER ANTIKE

1.1Assyrische Deportation und babylonisches Exil

1.2Das Perserreich und die Juden

1.3Der erste Tatort: Elephantine in Ägypten

1.4Von Alexander d. Gr. zu Antiochos IV.

1.5Der judenfeindliche Diskurs des Hellenismus

1.6Das vorchristliche Rom

1.7Der Pogrom von Alexandria

1.8Der judenfeindliche Diskurs des vorchristl. Roms

1.9Das christliche Rom

1.10Das Neue Testament als Quelle

1.11Das frühe Christentum

1.12Mel Gibson und Die Passion Christi

1.13Das Judas-Klischee als Stereotyp der langen Welle

1.14Zusammenfassung

2DER ANTISEMITISMUS IM MITTELALTER

2.1Die christlich-feudale Ständegesellschaft

2.2Die Kreuzzüge: Taufe oder Tod

2.3Die Substitutionstheologie: Ecclesia und Synagoge

2.4Die Ritualmordlegende

2.5Die Hostienfrevellegende

2.6Die Pest oder der „jüdische Brunnenvergifter“

2.7Der Judenschwur: Institutioneller Rassismus

2.8Judenzeichen als „Schandfleck“

2.9Die „Judensau“: Hetze in plastischer Form

2.10Der Antichrist und die Legende von den „roten Juden“

2.11Unmittelbare Gewalt: Pogrom, Vertreibung, Zwangstaufe

2.12Zusammenfassung

3DER ANTISEMITISMUS IN DER FRÜHEN NEUZEIT BIS ZUR AUFKLÄRUNG

3.1Der jüdische Exodus aus Spanien

3.2Die Juden als Opfer der Inquisition

3.3Vertreibung und neuerliche Niederlassung in Brandenburg

3.4Der Reformator Martin Luther und die Juden

3.5Die „Ghettoisierung“ der Juden

3.6Ahasverus: „Der ewige Jude“

3.7Die Rolle der Hofjuden an den Zentren der Herrschaft

3.8Der Kosakenaufstand in Polen

3.9Shakespeares messerwetzender Shylock

3.10Antijüdische Schriften: Eisenmenger und Co.

3.11Der Reuchlin-Pfefferkorn-Streit um die Bücher der Juden

3.12Die Schattenseite der Aufklärung

3.13Zusammenfassung

4ROMANTIK, NATIONALISMUS UND „JUDENEMANZIPATION

4.1Die Französische Revolution

4.2Emanzipationsdebatte und rechtl. Gleichstellung

4.3Die Deutsche Tischgesellschaft

4.4Der Fall Christian Peter Wilhelm Beuth

4.5Der Fall Wilhelm von Humboldt

4.6Die völkischen Autoren der dt. Romantik

4.7Die romantischen Schriftsteller

4.8Offene Gewalt: Die Hep-Hep-Krawalle

4.9Die Revolution von 1848 und die „Judenfrage“

4.10Richard Wagner: Vom Barrikadenkämpfer zum Terminator

4.11Zusammenfassung

RESÜMEE

LITERATURVERZEICHNIS

EINLEITUNG

In dt. Städten müssen Synagogen durch die Polizei geschützt werden. In Berlin erlebt man, wie ein Fahrgast aus Wut, weil ihm der Bus vor der Nase wegfährt, gegen das Fahrzeug tritt und „Jude“ schreit. In der dt. Hauptstadt gehören Angriffe auf Juden, die als solche erkennbar sind, zum Alltag. Angst geht um unter Juden, sodass die Kippa in der Öffentlichkeit kaum mehr getragen wird. In Frankreich und in den USA führten terroristische Attentate auf Synagogen, bei denen zahlreiche Todesopfer zu beklagen waren, zur tiefen Verunsicherung der jüdischen Gemeinden. In nahezu ganz Europa und in den USA ließen sich unzählige Beispiele dafür anführen, dass antisemitische Denkmuster, antisemitische Sprechakte und gewalttätige Handlungen von erschreckender Aktualität sind.

Die Frage „Was ist Antisemitismus?“ ist gleichwohl nicht leicht zu beantworten, zumal zahlreiche Definitionen existieren und der Terminus als solcher umstritten ist. In einem ersten definitorischen Zugriff ließen sich unter Antisemitismus alle „feindseligen oder gar hasserfüllten Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Juden und Jüdinnen“ fassen. Dieser erste Versuch zeigt bereits die Schwierigkeit einer präzisen Begriffsbestimmung auf, insofern sich nunmehr die Frage stellt: „Wer ist Jude?“ Laut Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, ist Jude, wer von einer jüdischen Mutter abstammt oder zum Judentum konvertiert. Sowohl der Konvertit als auch diejenige Person, welche eine jüdische Mutter hat oder von einer Mutter abstammt, die ihrerseits zum Judentum konvertierte, gelten als gleichberechtigte wie vollwertige Juden. Die Vollwertigkeit der konvertierten Mitglieder einer jüdischen Gemeinde zeigt sich in Berlin am Sachverhalt, dass die Rabbinerin der Synagoge in der Oranienburger Straße ihrerseits eine Konvertitin ist. Der zum Judentum Konvertierte ist ein gleichberechtigter Jude und bleibt nicht etwa ein Konvertit, der diesen Sachverhalt stets zu benennen oder als vermeintlichen Makel offenzulegen hätte. Übernimmt man diese Definition des Judentums bzw. des Jüdischseins, so ergeben sich neuerliche Probleme, insofern es gerade der Antisemit ist, der das Recht der definitorischen Eigenbestimmung missachtet. Für den Antisemiten gilt der Leitsatz: „Wer Jude ist, bestimme ich!“ Der dt. Nationalsozialismus hat bei der Durchführung seines Vernichtungsprogramms nicht das jüdische Religionsgesetz, sondern seine eigenen willkürlichen Kriterien bei der Bestimmung des „Jüdischseins“ zugrunde gelegt. Die Relevanz des Sachverhalts wird daran ersichtlich, dass dieser Tatbestand den jungen Staat Israel vor Probleme stellte. Nach israelischem Gesetz hat jeder Jude das Recht einzuwandern und die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Bei der Staatsgründung im Jahr 1948 stellte sich auch für Israel die Frage: „Wer ist Jude?“ Sollte die Definition der Halacha zugrunde gelegt werden und damit Menschen, die unter dem Nationalsozialismus als Juden verfolgt wurden, die Einwanderung nach Israel versagt werden, da sie laut jüdischem Religionsgesetz keine Juden waren? Israel traf die politische Entscheidung, auch denjenigen Personen, die nur einen einzigen jüdischen Großelternteil besitzen, die Einwanderung zu gestatten. Unsere erste Annäherung an den Terminus „Antisemitismus“ hat somit ergeben, dass der Definitionsversuch „feindselige oder gar hasserfüllte Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Juden“ zwingend um den Passus „oder Menschen, die zu Juden konstruiert werden“ zu erweitern ist.

Versteht man unter Antisemitismus als Arbeitsdefinition einen Oberbegriff, der alle Formen gruppenbezogener Feindschaft gegenüber Juden oder zu Juden konstruierter Menschen umfasst, so lässt sich konstatieren, dass die Ursprünge des sozialen Phänomens bereits in der Antike liegen und der Tatbestand als solcher auch heutzutage von hoher Aktualität ist. Diese Aussage ist keineswegs damit identisch, einem „ewigen Antisemitismus“ das Wort zu reden. Weder ist der Antisemitismus „ewig“, da es durchaus Länder gegeben hat mit keinem oder nur äußerst geringem Antisemitismus, es Phasen „relativer Ruhe“ gab, in denen es zu wechselseitigen sozio-kulturellen Verflechtungen und vielfältigen Bereicherungen kam, noch sind die Erscheinungsformen, Varianten, Funktionen wie Träger des Antisemitismus stets die gleichen geblieben. Einem „ewigen Antisemitismus“ das Wort zu reden, liefe unweigerlich darauf hinaus, die Ursache des sozialen Phänomens den Juden selber und nicht dem Antisemiten anzulasten und damit antisemitisches Gedankengut zu reproduzieren sowie resignierend die Unmöglichkeit seiner Bekämpfung oder Abschaffung zu konstatieren.

Da der Antisemitismus als solcher nicht stets der gleiche geblieben ist, stellt sich die Frage nach einer historischen Phaseneinteilung des sozialen Phänomens. Unseres Erachtens lassen sich sechs Phasen unterscheiden, und zwar erstens der überwiegend religiös geprägte Antisemitismus, der sich von der Antike bis zum Mittelalter erstreckte (Kap. 1, Kap. 2), zweitens der frühneuzeitliche Antisemitismus, der in Gestalt der „Statuten von der Reinheit des Blutes“ bereits ein biologisches Differenzkriterium konstruierte sowie zugleich die soziale wie ökonomische Vorherrschaft der Christen postulierte (Kap. 3), drittens der säkularisierte, völkisch-nationalistische Antisemitismus bis zur Mitte des 19. Jh.s, der gleichwohl noch immer stark christlich geprägt war (Kap. 4), viertens der „rassenbiologisch“ argumentierende „moderne Antisemitismus“ seit der Mitte des 19. Jh.s (s. Band 2, Kap. 1 u. 2), fünftens der eliminatorische Antisemitismus des dt. Nationalsozialismus, bei dem der alles beherrschende „Rassegedanke“ zum sechsmillionenfachen Massenmord an den europäischen Juden führte (s. Band 2, Kap. 3), sowie schließlich sechstens der sog. sekundäre Antisemitismus bzw. Post-Holocaust-Antisemitismus nach 1945 (s. Band 2, Kap. 4).

Unsere Einteilung der historischen Phasen verwendet den Terminus „Antisemitismus“ somit als Oberbegriff und lehnt eine dichotome Gegenüberstellung bzw. eine binäre Konstruktion von „Antijudaismus“ versus „Antisemitismus“ ab. Vertreter des dichotomen Konstrukts konstatieren demgegenüber einen religiös begründeten Antijudaismus, der zeitlich bis in die Mitte des 19. Jh.s angesetzt wird, sowie einen „rassenbiologischen“ Antisemitismus ab Mitte des 19. Jh.s und betonen einen grundlegenden Unterschied beider Phänomene. Argumentativ beziehen sich die Befürworter dieser Position auf den Sachverhalt, dass die Begrifflichkeit „Antisemitismus“ durch einen Personenkreis um Wilhelm Marr (1819–1904) im Jahr 1879 geprägt wurde. Die Ursache des Antisemitismus lag für den Journalisten bei den Juden selbst, insofern diese Marr zufolge der »semitischen Rasse« angehörten, die er als minderwertig bezeichnete. Die Antisemiten benutzten den Terminus „Antisemitismus“ in affirmativer Weise als Eigenbezeichnung („Antisemiten-Liga“), agitierten indes nur gegen die Juden und nicht etwa gegen alle zur semitischen Sprachfamilie zählenden Ethnien wie bspw. die Araber. Letzterer Sachverhalt verweist darauf, dass der Terminus „Antisemitismus“ unabhängig davon, ob man diesen phasenübergreifend oder nur für den Zeitabschnitt ab Mitte des 19. Jh.s benutzt, zu problematisieren ist, insofern der Terminus die Existenz „biologischer Rassen“ suggeriert, die indes nichts als die Erfindung des Rassisten sind. Weder gibt es eine „Rasse“ der „Semiten“ noch eine „Rasse“ der „Negriden“ oder der „Mongoliden“; zu konstatieren sind lediglich Sprachverwandtschaften zwischen dem Hebräischen und dem Arabischen („semitische Sprachfamilie“), die für das vermeintliche Rassenkonstrukt („die Semiten“) im 19. Jh. herhalten mussten.

Wir wollen uns im Folgenden der strittigen Frage zuwenden, ob bei der Judenfeindschaft trotz zu konstatierender qualitativer Wandlungsprozesse primär epochenübergreifende Kontinuitätslinien zum Tragen kommen („Antisemitismus“) oder aber die Dominanz eines dualen, antipodischen Bruchs („Antijudaismus“ versus „Antisemitismus“) zu konstatieren ist. In der „Lutherdekade“ sowie im „Lutherjahr“ ist angesichts des Reformationsjubiläums immer und immer wieder betont worden, Luther sei kein Antisemit sondern nur ein Antijudaist gewesen. Der Sprachgebrauch angesichts der Feierlichkeiten verdeutlicht exemplarisch die Problematik einer dualistischen Gegenüberstellung der Termini „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“. Versteht man unter Antisemitismus, wie dies hier der Fall ist, eine gegen Juden und Jüdinnen gerichtete soziale Erscheinung, die Einstellungen, Diskurse, Ressentiments, Diskriminierungen, Vertreibungen bis hin zu Pogromen sowie den Völkermord umfasst, so beinhalten die Schriften und Hasspredigten Martin Luthers eine Vielzahl judenfeindlicher Bemerkungen, die von „den Juden“ als Christusmördern bis hin zu „den Juden“ als einer verschworenen Gemeinschaft reichen, die durch alles erdenklich Böse wie Wucher sowie Giftmischerei den Tod der Christenmenschen wünschten und die Herrschaft in christlichen Ländern an sich reißen wollten. In seinen Schriften propagierte der Reformator einen eschatologisch geprägten Endzeitkampf zwischen „den Juden“ und „den Christen“. Luther malte in seinen Predigten eine alles entscheidende finale Schlacht zwischen den mit dem Antichristen verbündeten Juden und den der Versuchung des Teufels ausgesetzten Christen aus. Angesichts derartiger Hasspredigten, die u. a. Landesfürsten zur Vertreibung der Juden aus ihren Territorien bewegen sollten, sowie programmatischen Aufrufen Luthers, die Synagogen bis auf ihre Grundmauern zu zerstören, die Religionsausübung der Juden zu untersagen, sie zur Arbeitspflicht heranzuziehen sowie jüdische Schriften zu verbrennen, diente der im Lutherjahr betonte Dualismus zwischen „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ als Legitimation, um den Vernichtungswahn des Reformators, der nur noch die reine Körperlichkeit der Juden ausließ, zu verdecken und die Judenfeindschaft Luthers auf diese Weise verharmlosend als eine Art Religionsstreit hinsichtlich der Auslegung der hebräischen Bibel erscheinen zu lassen.

Die binäre Logik der Termini „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ verkennt, dass derlei ideologische Muster, wie sie bei Luther und anderen christlichen Theologen zu finden sind, eine tiefe Prägung im westlichen Denken hinterließen, es alles andere als eine zufällige Parallele ist, dass in nationalsozialistischen Broschüren, Reden Hitlers wie Goebbels und Rosenbergs, die den europaweiten Völkermord an den Juden vorbereitend oder begleitend legitimierten, von einem Endkampf zwischen der „semitischen“ und der „arischen Rasse“ die Rede ist, vom verschworenen „Weltjudentum“, das alles nur erdenklich Diabolische aushecke, um die Macht in Deutschland und Europa an sich zu reißen. Der eschatologisch geprägte „Rassenkampf“ des dt. Nationalsozialismus knüpfte an antisemitische Muster des Christentums an, die längst vor Hitler zum Mainstream westlichen Denkens zählten. Der konstruierte Dualismus zwischen „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ übersieht den Sachverhalt, dass ganze Nummern des nationalsozialistischen Hetzblattes Der Stürmer die mittelalterliche Ritualmordlegende wieder aufleben ließen, und diverse Publikationen des Stürmer-Verlags die Schuld der Juden an rituellen Morden akribisch nachzuweisen gedachten. Im Mai 1943 griff Der Stürmer ebenso das bei Luther verbreitete Motiv der Juden als „Christenmörder“ auf. Die Sondernummer trug den Titel Jüdischer Mordplan gegen die nichtjüdische Menschheit aufgedeckt und bezeichnete die Juden als »Mördervolk«.

Der im Folgenden benutzte Antisemitismusbegriff intendiert nicht nur die Dekonstruktion von Legitimationsvarianten wie sie in der Luther-Dekade zutage traten, sondern ebenso eine Sichtbarmachung der im kulturellen Bewusstsein des westlichen Denkens tief verankerten Techniken der Judenfeindschaft als „lange Welle“. Diverse Diskurse wie Narrative entpuppen sich bei näherer Betrachtung als überkommenes historisches Muster, das zwar qualitative Transformationen sowie einen Austausch der Akteure, Motive wie Funktionen erfuhr, jedoch gleichwohl eine additive Wirkung zu entfalten vermochte und ein über Jahrhunderte wirkendes Verstärkungspotential erzeugte, welches in relevantem Maß mit dazu beitrug, dass in Deutschland das Undenkbare geschehen konnte. Den Antisemitismus als lange historische Welle verstehen heißt indes nicht, wie Kritiker unterstellen, der Vorstellung eines teleologischen Geschichtsverständnisses das Wort zu reden, insofern es weder einen geradlinigen noch einen zwangsläufigen Weg von Luthers Hasspredigten zu den Krematorien in Auschwitz gab. Die Betonung einer langen Welle stellt auch noch nicht die Beantwortung der Frage „Warum die Deutschen, warum die Juden?“ dar. Der Wittenberger Reformator trug jedoch zu einem additiven Wirkungspotential bei, welches sich im kollektiven Bewusstsein in einer Weise verankerte, dass dies vom dt. Nationalsozialismus für seine Zwecke reaktiviert und instrumentalisiert werden konnte. Der Nationalsozialismus begriff durchaus die Wirkmächtigkeit des jahrhundertealten antisemitischen Syndroms. Zwar stand im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Ideologie wie Gewaltherrschaft ein rassenbiologisch konstruierter Antisemitismus, der die „jüdische Rasse“ als zersetzendes und als ein das dt. Volk und die dt. Nation in ihrem Überlebenskampf bedrohendes Potential konstruierte, gleichwohl benutzten die Nazis alle nur erdenklichen Quellen, Richtungen wie judenfeindlichen Denker, da sie die Wirkung des additiven Amalgams und dessen Potential erkannten.

Den Vertretern des binären Konzepts („Antijudaismus versus Antisemitismus“) ist vorzuwerfen, dass sie die Existenz dieser langen Welle des Judenhasses sowie seiner kulminierenden Wirkmächtigkeit unterschätzen und epochenübergreifenden Ideologemen wie Narrativen, die sich tief im kollektiven Bewusstsein verankerten, zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Die Befürworter des dualen Konzeptes übersehen darüber hinaus, dass die von ihnen konstruierte Phase des Antijudaismus, die sich ja von der Antike bis zur Mitte des 19. Jh.s erstrecken soll, ihrerseits vielfältigen Wandlungsprozessen unterworfen war. Die jeweiligen Modifikationen gilt es im Sinne der Phaseneinteilung, wie sie von uns vorgenommen wurde, exakter zu erfassen. Auf diese Weise erschließt sich auch der „Fall Beuth“ (vgl. Kap. 4) in seiner ganzen Tragweite, sodass die ideologische wie politische Scharnierfunktion des „Völkischen“ der deutschen Romantik in seiner Relevanz für das Rassenkonstrukt wie den Antisemitismus des Nationalsozialismus erst offenbar wird.

Im Folgenden gilt es, den Antisemitismus sowohl methodisch zu beschreiben, d. h. die Techniken der Fremdheitsproduktion wie der Gewaltförmigkeit präzise zu erfassen, sowie den Antisemitismus zugleich funktional zu analysieren, d. h. nach den Interessen, Ursachen wie Motiven der Täter zu fragen, ohne dabei die Opfer eines mörderischen Systems aus dem Auge zu verlieren oder ihnen gar unsere Empathie zu versagen.

1DER ANTISEMITISMUS IN DER ANTIKE

Die antike Judenfeindschaft umfasst den Zeitraum seit Beginn der Geschichte Israels etwa 1300 v. Chr. bis ca. Ende des 5. Jh.s n. Chr. Herausragende Ereignisse stellen der Aufstand in Elephantine im Jahr 411 v. Chr., die Verfolgungen unter Antiochos IV. um 170 v. Chr., der Pogrom von Alexandrien im Jahr 38 n. Chr., die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die römische Besatzungsmacht im Jahr 70 n. Chr. sowie die endgültige Niederschlagung des Simon-Bar-Kochba Aufstands und die damit einhergehende Vertreibung der Juden aus Jerusalem im Jahr 135 n. Chr. dar. Für die Genese und Entwicklung des Antisemitismus spielt die christliche Judenfeindschaft, die sich bereits in neutestamentarischen Schriften, bei Paulus von Tarsus sowie vor allem bei den frühchristlichen Kirchenvätern im 4. Jh. n. Chr. nachweisen lässt, eine fundamentale Rolle. Frühchristliche Dogmen haben nicht nur in entscheidendem Maß den mittelalterlichen Antisemitismus, sondern auch dessen moderne Variante geprägt. Eine Beschäftigung mit dem antiken Antisemitismus lässt die Wurzeln des sozialen Phänomens erkennen.

1.1Assyrische Deportation und babylonisches Exil

Im 9. Jh. v. Chr. gelang es dem Volk der Assyrer, welches im mittleren und nördlichen Mesopotamien lebte, ein Großreich zu etablieren, dessen Zentren die Städte Aššur, Nimrud und Ninive bildeten und welches zeitweise auch Babylon und Ägypten beherrschte. Im Jahr 733 v. Chr. deportierte das Assyrische Reich Tausende Einwohner aus dem Nordreich Israel, im Jahr 722 v. Chr. ebenso aus dem durch die innerjüdische Spaltung hervorgegangenen Staat Samaria. Im Jahr 614 v. Chr. eroberten die Vasallenstaaten Babylon und Medien die assyrische Hochburg Nimrud, im Jahr 612 v. Chr. nach dreimonatiger Belagerung Ninive und drei Jahre später die westlich gelegene Stadt Harran. Mit der Thronübernahme Nebukadnezars II. (640 v. Chr.–562 v. Chr.) im Jahr 605 war die Unterwerfung der einstigen Großmacht besiegelt. Das neubabylonische Reich schickte sich sogleich an, Syrien und die Levante tributpflichtig zu machen. Aufstände in denjenigen Staaten, die sich gegen ihre Unterwerfung zur Wehr setzten, wurden mit Gewalt niedergeschlagen. Im Jahr 597 v. Chr. eroberte Nebukadnezar II. Jerusalem und verbannte den König Jojachin (616 v. Chr.–560 v. Chr.) sowie Tausende Juden ins ferne Babylon. Einen Aufstand des nachfolgenden Königs Zedekia (618 v. Chr.–586 v. Chr.) ließ der babylonische Herrscher ebenso niederschlagen und im Jahr 586 v. Chr. den Ersten Tempel in Jerusalem zerstören. Zedekia sowie das ihn umgebende Establishment wurde gleichfalls nach Babylon deportiert.

Sowohl die assyrische als auch die babylonische Politik gegenüber den Juden ist insofern nicht als antisemitisch zu werten, als es sich bei den Deportationen nicht um gewaltförmige Praxen auf rassistischer Grundlage handelte. Die Exilierung der Führungseliten wurde auch bei anderen Völkern praktiziert, die sich tributpflichtigen Unterwerfungen widersetzten, um die verbliebene Bevölkerung gefügig zu machen. Rassifizierende Diskurse, welche die Juden in kollektivierender wie antagonisierender Weise mittels eines oder mehrerer Differenzkriterien zur Fremdgruppe konstruierten bzw. die rassistisches Wissen zwecks Legitimierung etwa der Tempelzerstörung produzierten, sind nicht auszumachen, gleichwohl bedacht werden muss, dass die Quellenlage weniger fundiert ist als zu späteren Zeiten. Obgleich Antisemitismus keinesfalls auf Einstellungen oder auf Ideologeme verkürzt werden darf, stellt die antisemitische Ideologie einen notwenigen Bestandteil des sozialen Sachverhalts dar; dieser ist in der assyrischen wie babylonischen Zeit noch nicht auszumachen.

Einwenden ließe sich, dass im Buch Daniel der hebräischen Bibel von Antisemitismus unter Nebukadnezar berichtet wird. Es heißt hier:

»König Nebukadnezar ließ ein goldenes Standbild anfertigen, dreißig Meter hoch und drei Meter breit, und ließ es in der Ebene Dura in der Provinz Babylon aufstellen. Dann berief er sämtliche hohen Beamten seines Reiches zu einer Versammlung ein, die Provinzstatthalter, Militärbefehlshaber und Unterstatthalter, die Ratgeber, Schatzmeister, Richter, Polizeigewaltigen und alle hohen Beamten der Provinzen. Sie sollten an der Einweihung des Standbildes teilnehmen, das er errichtet hatte. Sie alle kamen zu der Einweihung und stellten sich vor dem Standbild auf. […] Einige Babylonier aber ergriffen die Gelegenheit, die Juden anzuzeigen. […] Da sind aber einige Juden, denen du die Verwaltung der Provinz Babylon anvertraut hast. Diese Männer haben deinen Befehl missachtet. Sie erweisen deinem Gott keine Ehre und beten das goldene Standbild, das du errichten ließest, nicht an.« (Daniel 3:1)

Der Nebukadnezar der Sage aus dem Buch Daniel gerät daraufhin außer sich und lässt die beschuldigten Juden in einen siebenmal so stark wie sonst geheizten Ofen werfen. Doch es ist eine Sage, welche die Rückprojektion eines aktuellen Konflikts in die assyrische Zeit darstellt. Das Buch Daniel entstand zwischen 167–164 v. Chr., als das Judentum schwersten Repressalien unter dem seleukidischen Herrscher Antiochos IV. Epiphanes (215–164 v. Chr.) ausgesetzt war, der einen Vernichtungskampf gegen ihren Kultus führte und im Jahr 169 v. Chr. den Jerusalemer Tempel entweihte. In dieser Auseinandersetzung soll das Buch Daniel den Juden durch eine Legende aus vergangener Zeit Mut machen, insofern die Juden aus dem glühenden Ofen unbeschadet herauskommen.

1.2Das Perserreich und die Juden

Im Jahr 539 v. Chr. eroberte der Perserkönig Kyros II., der Persien fast dreißig Jahre lang regierte, Babylon. Kyros II. gelang es in seiner Amtszeit, das persische Einflussgebiet deutlich zu erweitern. Im Jahr 538 v. Chr. gestattete ein Edikt des Herrschers den Juden ihre Rückkehr nach Palästina. Ein relevanter Teil der Juden nahm das Angebot an und begann mit dem Bau eines Zweiten Tempels, den der persische König gestattete und finanzierte. Unter persischer Oberherrschaft war es den Juden erlaubt, ihren Kult in Palästina zu praktizieren sowie nach ihren religiösen Gesetzen autonom zu leben. Die Juden erhielten den vom babylonischen Reich geraubten Tempelschatz zurück. Für die Juden Palästinas begann eine vergleichsweise friedliche Zeit. Die unter der Perserherrschaft in Ägypten erfolgte Zerstörung des Tempels von Elephantine bildete eine Ausnahme, wenngleich die Täter von der lokalen persischen Administration unterstützt wurden, die für ihr opportunistisches Agieren indes streng bestraft wurde.

Das historisch gesehen positive Verhältnis des Perserreichs zu den Juden ist negativ verzerrt wie überlagert durch das Buch Esther der hebräischen Bibel, welches beim jüdischen Purimfest gelesen wird und an die vermeintliche Rettung der Juden im persischen Großreich erinnern soll. Das Buch Esther schildert den Versuch des persischen Regierungsbeamten Haman, die Juden kollektiv zu vernichten. An den Perserkönig Ahasveros wendet sich Haman mit den Worten:

»Es gibt ein Volk, zerstreut und abgesondert unter allen Völkern in allen Ländern deines Königreichs, und ihr Gesetz ist anders als das aller Völker, und sie handeln nicht nach des Königs Gesetzen. Es ziemt dem König nicht, sie gewähren zu lassen. Gefällt es ihm, so lasse er verfügen, dass man sie umbringe. Dann werde ich 10.000 Zentner Silber abwiegen […] und in die Schatzkammer des Königs bringen lassen.« (Esther 3:8)

Ahasveros stellt die Transliteration des persischen Wortes Xerxes dar, sodass der eliminatorische Komplott gegen die Juden in die Amtszeit des persischen Großkönigs Xerxes I. (519–465 v. Chr.) fallen würde, der Persien von 486 v. Chr. bis zu seinem Tode regierte. Die heutige Forschung geht indes davon aus, dass auch diese biblische Legende die antisemitischen Übergriffe des Seleukidenherrschers Antiochos IV. Epiphanes in die Perserzeit zurückprojizierte. Der Zweck der Legende, die von der wundersamen Errettung der Juden durch die Adoptivtochter Esther des als Torhüter des königlichen Palastes dienenden Juden Mordechai berichtet, bestand darin, den Juden mit der Geschichte eines für sie glücklich verlaufenden existentiellen Konflikts zum Zeitpunkt des Makkabäer-Aufstands (167–141 v. Chr.) Mut zu machen. Sowohl das Buch Daniel wie das Buch Esther sind nicht als Geschichtswerke zu interpretieren, sondern müssen als biblische Erzählungen verstanden werden, die zeitgenössische Auseinandersetzungen legendenhaft verarbeiten.

1.3Der erste Tatort: Elephantine in Ägypten

Fährt man als Tourist mit einem Nildampfer, um die klassischen Ziele wie Luxor zu besichtigen, so kommt man vorbei an der Insel Jeb, die wegen ihrer Gestalt auch Elephantine genannt wird und sich in der Nähe von Syene befindet, dem heutigen Assuan, das sich am gegenüberliegenden Ostufer des Nils befindet. In Elephantine existierte in der Antike eine jüdische Militärkolonie, deren Größe auf ca. 1.500 Mann geschätzt wird. Aufgrund umfangreicher Papyrus-Funde in aramäischer Sprache ist das jüdische Leben in Elephantine recht gut dokumentiert. Jüdisches Söldnerwesen existierte wohl schon im 7. Jh. v. Chr., als die ägyptischen Könige Soldaten anwarben, um die Südgrenze Ägyptens gegen das Reich der Nubier zu schützen. Die Entstehungszeit der Militärkolonie von Elephantine lässt sich nur schätzen, sie wurde vermutlich bereits im 6. Jh. v. Chr. gegründet. Nachdem sich Ägypten von der assyrischen Herrschaft befreit hatte und seinerseits Palästina kontrollierte, verstärkten sich die Anwerbungen jüdischer Söldner für die ägyptische Armee. Besonders nach Zerstörung des Ersten Tempels im Jahr 586 v. Chr. handelte es sich um eine größere Anzahl Juden, die den Siedlungsangeboten der ägyptischen Herrscher folgten. Das Privileg zum Bau eines Tempels hatte die jüdische Kolonie von Elephantine bereits nach ihrer Ankunft von den ägyptischen Herrschern erhalten, sodass dieser bereits kurz nach Etablierung der Ansiedlung errichtet wurde. Der Tempel stand im Mittelpunkt des jüdischen Lebens und war dem „Gott Israels“ geweiht. Die Juden der Militärkolonie fühlten sich zugleich eng mit dem Jerusalemer Tempel verbunden und baten bspw. in Briefen um Unterstützung beim Pessachfest. Bedingt durch die umfangreichen Papyrusfunde des Althistorikers und Ägyptologen Eduard Meyer (1855–1930) Anfang des 20. Jh.s lässt sich der Ablauf der Zerstörung des Tempels von Elephantine im Jahr 411 v. Chr. aufschlussreich rekonstruieren.

Zu den Konstellationen, die zum Aufstand von Elephantine führten, gehört der historische Sachverhalt, dass die Selbstständigkeit Ägyptens mit der Eroberung des Landes durch den persischen Herrscher Kambyses endete, der seinerseits durchaus Interesse an den jüdischen Söldnern zeigte, um mit ihrer Hilfe die Ordnung in Oberägypten aufrechtzuerhalten. Bei den Akteuren des antijüdischen Aufstands handelte es sich um ägyptische Priester des benachbarten Tempels des Widdergottes Chnum, deren Motive aus einer religiösen Konkurrenzsituation heraus resultierten sowie aus dem an die elephantinischen Juden gerichteten Vorwurf, diese paktierten als Söldner mit den persischen Herrschern über Ägypten. Das Schüren des Judenhasses stützte sich so auf die klassische Konstellation der Diaspora-Situation, welche durch die militärische Funktionstätigkeit der Juden verstärkt wurde. Während sich die Protagonisten des Konflikts zu „genuinen Einheimischen“ konstruierten, warfen sie den „jüdischen Fremdlingen“ mangelnde Solidarität bzw. fehlende „Vaterlandstreue“ vor. Die Konstruktion der Juden als Fremdlinge erfolgte, obwohl diese seit mehreren Jahrhunderten im Land waren, öffentliche Ämter bekleideten, in vielfältige Weise in das soziale wie wirtschaftliche Leben eingebunden waren und es nicht selten zu „gemischt-ethnischen Ehen“ kam. Die elephantinischen Juden befanden sich so in einer politischen Konstellation aus der sie nur als Verlierer hervorgehen konnten. Mangelnde Treue zu den persischen Oberherren hätte unweigerlich diese auf den Plan gebracht, während umgekehrt ägyptische Priester vor Ort gegen sie patriotisch hetzten. Der Konflikt eskalierte zur offenen Gewalt, als es den ägyptischen Priestern gelang, den persischen Gouverneur zu ihren Gunsten in die Auseinandersetzung einzubinden. Der aufgebrachte Pöbel zerstörte den über 300 Jahre alten Tempel von Grund auf.

Der Pogrom von Elephantine ist ein Beispiel dafür, dass ein relevanter Sachverhalt bezüglich des Antisemitismus bereits seit der Antike in der Diasporasituation der Juden zu finden ist. Dies darf jedoch nicht als kausaler Automatismus verstanden werden, insofern es stets soziale Kräfte und benennbare Personen waren, die Menschen wie die elephantiner Juden, die sich bereits seit Jahrhunderten im Land befanden, zu hasswürdigen Fremden konstruierten. In politischen wie sozioökonomischen Krisenepochen ließ sich der Sachverhalt der Diaspora für die wahren kausalen Motive wie Interessenlagen judenfeindlicher Akteure indes erfolgreich instrumentalisieren. Die Diasporasituation des Judentums stellte in der Antike wie in den nachfolgenden Zeiten einen nutzbringenden Vorwand und nicht den Grund antisemitischer Ressentiments dar. Insbesondere bei politischen Konflikten wurden die Juden wie in Elephantine vor die Wahl gestellt, ihre Option zugunsten der einen oder der anderen Kraft zu treffen. Entschieden sie sich für eine der beiden Seiten, so war ihnen der Hass der jeweils anderen gewiss, deren Angehörige nunmehr gestützt auf ihre „vaterlandsverräterische Wahl“ bereits schwelende sozioökonomische wie religiös-motivierte Konflikte zwecks eigener Vorteilsaneignung entfachten.

Bezüglich des religiösen Konflikts in Elephantine geht der Altertumswissenschaftler Zvi Yavetz davon aus, dass die Juden spätestens nach Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem im Jahr 586 v. Chr. im elephantinischen Tempel einen Widder opferten, vermutlich sogar bereits seit Errichtung des Tempels. Der Pogrom im Jahr 411 v. Chr. lässt sich folglich nicht monokausal mit der rituellen Schlachtung des Tieres begründen, insofern es in der langen Phase dieser Praxis zuvor nicht zu tätlichen Auseinandersetzungen kam. Zwar hielten die ägyptischen Priester des benachbarten Chnum-Tempels die Schlachtung des Tieres bereits seit Längerem für einen Frevel, bezüglich der religiösen Faktoren darf jedoch nicht übersehen werden, dass in der Antike das Judentum eine erfolgreich missionierende Religion darstellte, sodass verschiedene Faktoren zu einer an Schärfe gewinnenden Konkurrenzsituation beitrugen, in der ein Teil der Priesterschaft des unmittelbar benachbarten Kultes den Pöbel gegen die Juden hetzte. Die Situation der elephantiner Juden verschlechterte sich indes erst, als Ägypten seit dem Jahr 525 v. Chr. zum Perserreich gehörte, sodass die Juden zwangsläufig in die Auseinandersetzung Ägyptens mit den persischen Eroberern gerieten. Die Juden wurden nunmehr als Günstlinge sowie Verbündete der Perser betrachtet, zumal sie diesen die Treue hielten, als es zu zahlreichen Aufständen in Ägypten gegen die persische Herrschaft kam. Religiöse Motive, politische Motive sowie die unmittelbare Konkurrenzsituation zweier benachbarter Kulte mischten sich in Verbindung mit der Diasporasituation zu einem gefährlichen Gemisch, welches Priester des Chnum-Tempels im Kontext der antipersischen Stimmungslage nutzten, um den Pöbel zur Zerstörung des jüdischen Tempels aufzuhetzen. Möglich wurde dies jedoch, so Yavetz, nur durch die korrupten persischen Behörden vor Ort, die den Tempel der Juden als „Blitzableiter“ opferten, um die eigentlich gegen sie gerichtete Situation zu „befrieden“. Im Jahr 411 v. Chr. schrieben die Täter Geschichte, insofern mit der Zerstörung des Tempels in Elephantine der Antisemitismus seinen Anfang nahm.

1.4Von Alexander d. Gr. zu Antiochos IV.

Die Perserzeit wurde durch die militärischen Erfolge Alexanders d. Gr. (356–323 v. Chr.) vom Zeitalter des Hellenismus abgelöst, in dem sich der Machteinfluss des makedonischen Herrschers sowie der Kultureinfluss des Griechentums über den gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus erstreckten. Nach der Schlacht bei Issos (333 v. Chr.), der Belagerung und Eroberung von Tyros (332 v. Chr.) sowie der Eroberung von Gaza im selben Jahr wandte sich Alexander d. Gr. im Rahmen seines Feldzugs Ägypten zu, das sich unter persischer Herrschaft befand. Im Jahr 331 v. Chr. gründete der Makedonier an der Mittelmeerküste Alexandria, die heutzutage zweitgrößte Stadt Ägyptens nach Kairo. Im Jahr 331 v. Chr. wurde die persische Armee in der Schlacht von Gaugamela im nördlichen Irak vernichtend geschlagen. Noch im selben Jahr wurde Babylon übergeben; ein Jahr darauf eroberten die makedonischen Truppen die persische Hauptstadt Persepolis. Das auf diese Weise entstehende Großreich Makedonien förderte die Ansiedelung von Juden in den Mittelmeerstädten, die sowohl über Religions- wie Handelsprivilegien verfügten. Die Juden durften ihren religiösen Kult pflegen, die Sabbatruhe einhalten und wurden nicht zu Praxen gezwungen, die mit ihrer Religion inkompatibel waren. Insofern die neuen Herrscher die Juden zur Ansiedelung aufforderten, um dadurch Handel und Wirtschaft zu beleben, wurden sie von der „autochthonen Bevölkerung“ zumeist als Günstlinge der fremden Herrscher betrachtet, wobei vor allem ihre Handelsprivilegien für sozialen Neid wie Konfliktstoff sorgten. Mit der Eroberung Palästinas im Jahr 332 v. Chr. gelangten auch die palästinensischen Juden in den unmittelbaren Einflussbereich des makedonischen Herrschers. Das Interesse am Judentum, über das zuvor wenig fundierte Kenntnisse vorhanden waren, stieg nicht zuletzt aus Herrschaftsbelangen an; ebenso gewann der Hellenismus als geistige Strömung Einfluss auf das Judentum.

Der plötzliche Tod Alexanders d. Gr. im Jahr 323 v. Chr. führte im Kontext der Diadochenkriege zum Zerfall des einstmals so mächtigen Imperiums. Ab dem Jahr 272 v. Chr. konkurrierten drei Nachfolgereiche miteinander, und zwar das Reich der Ptolemäer, die Ägypten beherrschten, das Reich der Seleukiden, zu dem Babylonien, Syrien und Kleinasien gehörten, sowie das Reich der Antigoniden, die Makedonien sowie relevante Teile Griechenlands unter ihrer Gewalt hatten. Palästina unterstand in den Jahren von 301 bis 198 v. Chr. den Ptolemäern, welche die Toleranzpolitik Alexanders d. Gr. fortsetzten. Zwar garantierten die Ptolemäer die volle Religionsfreiheit, doch die hohe Steuerlast führte vor allem bei den sozial schwächer gestellten Schichten zu wachsender Unzufriedenheit. Teile der Bevölkerung versprachen sich von einer Übernahme der Herrschaft durch die Seleukiden eine Verbesserung ihrer sozialen Lage, sodass Palästina zunehmend zum Zankapfel zwischen den Ptolemäern und den Seleukiden wurde. Während Teile der Oberschicht hellenisierten und einer Assimilation durchaus nicht abgeneigt waren, wuchs der Widerstand traditioneller Kräfte, welche die Fremdherrschaft des Landes generell ablehnten. Im Jahr 198 v. Chr. wurde der Machtkampf zwischen den Ptolemäern und Seleukiden um Palästina entschieden als Juda und Jerusalem an den Seleukidenherrscher Antiochos III. (242–187 v. Chr.) fielen, der als Anerkennung für die ihm gewährte Unterstützung seitens der Bevölkerung finanzielle Mittel für den Kultus bewilligte, den Ausbau des Tempelbezirks gestattete sowie Steuererleichterungen gewährte. Gleichwohl wuchsen im Laufe der Zeit vor allem die innerjüdischen Spannungen, die zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation führten, als sich die hellenisierenden Kräfte beim König mit einer Umbenennung von Jerusalem in Antiochia durchsetzten. Den entscheidenden Einschnitt im jüdisch-griechischen Verhältnis der damaligen Zeit markierte der Tod des Herrschers Seleukos IV., dem sein Bruder Antiochos IV. Epiphanes (215–164 v. Chr.) folgte, der sich im Jahr 169 und 168 v. Chr. auf einen Feldzug nach Ägypten begab, was Rom auf den Plan rief. Im seleukidisch-römischen Konflikt gab Antiochos IV. schließlich nach und zog sich aus Ägypten zurück.

Der seit Langem schwelende Konflikt zwischen hellenisierenden und traditionellen jüdischen Kräften eskalierte, als der seleukidische Herrscher auf dem Rückweg von Ägypten aufgekommenen Unruhen in Jerusalem Herr zu werden versuchte und bei dieser Gelegenheit in den Tempel einbrach, um sich des Tempelschatzes zwecks Auffüllung leerer Kriegskassen zu bemächtigen. Die dergestalt von ihm provozierte Rebellion unterdrückte Antiochos IV. mit äußerster Gewalt und nahm Rache, indem er den Jerusalemer Tempel in eine Kultstätte des semitischen Gottes Baalshamin verwandelte. Per Dekret verfügte er ein Verbot der Brand- sowie der Speiseopfer im Tempel. Die Beschneidung, die Einhaltung des Sabbats, das Feiern jüdischer Feste sowie der Besitz der Tora wurden bei Todesstrafe verboten. Das Religionsgesetz des Antiochos IV. lief auf den Versuch einer Vernichtung der jüdischen Religion hinaus, auf eine Zwangshellenisierung. Praktizierende Juden sahen sich unter seiner Herrschaft schweren Verfolgungen ausgesetzt. Während unter Alexander d. Gr. Toleranz gegenüber der jüdischen Religion waltete und die Judenfeinde weitgehend defensiv verharrten, ihren Groll indes bereits in literarischen Schriften artikulierten, gewannen sie mit den Maßnahmen des Seleukidenherrschers die Oberhand. Die religiösen Bestimmungen, welche die offene Abkehr vom Judentum erzwingen wollten, führten zum bewaffneten Widerstand, dem Makkabäer-Aufstand. Die Anführer des Aufstands, die den ägyptischen Rückzug registriert hatten, waren sich der Tatsache durchaus bewusst, dass sie gegen das Seleukidenreich langfristig chancenlos waren. Der naheliegende Gedanke war ein Bündnis mit Rom, das im Jahr 161 v. Chr. zwischen Rom und Judäa formell geschlossen wurde. Der politische Abfall Judäas führte bei der hellenistischen Oberschicht zu einem ausgeprägten Antisemitismus, der sich hinsichtlich seiner ideologischen Muster der Narrative bediente, die in Ägypten bereits seit Längerem zirkulierten. Die Funktion der griechischen Propaganda bestand laut Yavetz darin, Zwietracht zwischen Juden und Römern zu stiften, es sollte ein Keil zwischen die beiden Partner getrieben werden, indem man mit allen nur erdenklichen Narrativen den Juden einen schlechten Leumund bescheinigte. Die Römer sollten ihren neuen Verbündeten misstrauisch beäugen, durch das Säen von Zwietracht sollte ihr politisches Bündnis untergraben werden. Die Juden dienten zugleich als Sündenbock für die Verarbeitung der Schmach des missglückten Ägypten-Feldzugs des Seleukiden-Herrschers. Bei der hellenistischen Kampagne handelte es sich gewissermaßen um eine antike Variante der „Dolchstoß-Legende“. Die militärische Niederlage war zustande gekommen, so der Tenor, weil die Juden den Seleukiden in den Rücken gefallen seien und sich insgeheim mit den Römern verbündet hätten. Psychologisch erfüllten die antijüdischen Diffamierungen die Funktion, Wut abzureagieren, ein Ablassventil zu finden für die bittere Erkenntnis des seleukidischen Establishments, dass der Stern ihrer Großmacht am Sinken war und die Zeit Roms anbrach. Den Makkabäern gelang es, mit ihren militärischen Aktivitäten die religiöse Unabhängigkeit wiederherzustellen, sodass im Jahr 164 v. Chr. der Jerusalemer Tempel erneut dem jüdischen Kultus diente. Das „Religionsedikt“ des Seleukidenherrschers, welches einen existentiellen Angriff auf das Judentum darstellte und in der Antike ein einmaliger Vorgang blieb, war damit gescheitert. Im Jahr 140 v. Chr. erreichten die Makkabäer nach der religiösen schließlich auch die politische Unabhängigkeit des Landes.

1.5Der judenfeindliche Diskurs des Hellenismus

In hellenistischer Zeit nahmen die antijüdischen Stimmungen ihren Ausgang erneut in Ägypten. Im Kontext der Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische („Septuaginta“) tauchten seit dem 3. Jh. in Ägypten erstmals Versionen auf, welche die Anwesenheit der Hebräer sowie den in der Bibel geschilderten Auszug der Juden aus Ägypten antisemitisch interpretierten, sich hierfür der Methode der Pathologisierung bedienten und den zum „Fremden“ Konstruierten mit ansteckenden Krankheiten in Verbindung brachten. Die Juden erschienen in diesen antisemitischen Exodus-Deutungen als „Unreine“, denen man sich habe entledigen müssen, da sie die „eigene Bevölkerung“ mit einer Krankheit infiziert hätten. Diverse Narrative, die mit der Behauptung aufwarteten, die Juden seien aus Ägypten vertrieben worden, weil sie eine gefährliche Seuche verbreitet hätten, wurden in hellenistischer Zeit populär. Die Legende findet sich bei Hekataios von Abdera, der um 300 v. Chr. wirkte, in Gestalt der Behauptung, die Juden seien als Lepröse aus Ägypten verjagt worden, um die Bevölkerung vor ihrer Unreinheit zu schützen. In den Schriften des Josephus, der die Darstellung des hellenistischen Geschichtsschreibers Lysimachos referiert, heißt es:

»[Lysimachos sagt], unter dem aegyptischen König Bokchoris [gemeint ist Bakenrenef, dessen Regierungszeit auf ca. 720 bis 716 v. Chr. datiert wird, d. Verf.] sei das mit Aussatz, Krätze und anderen Krankheiten behaftete Volk der Juden in die Tempel geflohen und habe hier um Speise gebettelt. Immer weiter habe die Krankheit sich ausgebreitet, und dazu sei auch noch das Land unfruchtbar geworden. Der König Bokchoris habe nun zu Ammon [gemeint ist das Orakel von Siwa, eine antike Orakelstädte in der westlichsten Oasengruppe Ägyptens, d. Verf.] geschickt, um einen Orakelspruch inbetreff der Unfruchtbarkeit zu erhalten, und es sei ihm von dem Gotte der Bescheid erteilt worden, er solle die Heiligtümer von den unreinen und gottlosen Menschen säubern, diese aus den Tempeln in die Wüste jagen, die Krätzigen und Aussätzigen aber, über deren Dasein die Sonne zürne, ertränken und die Tempel durch Sühneopfer heiligen; dann werde die Fruchtbarkeit des Landes sich wieder einstellen.« (Josephus 1993: 140/141)

Die rassifizierende Pathologisierung existierte folglich bereits in der Antike und stellte ein ideologisches Muster dar, das auch der dt. Nationalsozialismus als Legitimation für die Separierung der Juden in Ghettos als Vorstufe ihrer Ermordung benutzte.

Die antisemitische Grundhaltung war besonders stark ausgeprägt beim hellenistischen Historiographen Manetho, der seine Werke vermutlich in der Regierungszeit von Ptolemaios II. (285–246 v. Chr.) verfasste und laut Josephus die Blasphemisierung benutzte, die den zum Fremden Konstruierten als Gotteslästerer erscheinen lässt. Manetho ließ in seiner Darstellung die Juden nicht nach Ägypten einwandern, sondern vielmehr »zu Zehntausenden in Ägypten einfallen«. Die Juden hätten die Herrschaft über die Einheimischen erlangt und ihre Göttertempel dem Erdboden gleichgemacht. Die Juden konstruierte Manetho als eine Personengruppe, die fremde Religionen missachtet und fremden Göttern Schmach antut. Die Juden stellten für Manetho „Feinde der Götter“ dar, er bezeichnete sie gar als Gottlose („Atheoi“). Mose habe den Juden einen Eid abgenommen, der diese dazu verpflichtet habe, die Gottheiten der Ägypter abzulehnen und heilige Tiere als Opfer zu schlachten. Zwecks Diffamierung der Juden griff Manetho auf diese Weise den schon vom „Tatort Elephantine“ her bekannten Konfliktstoff auf. Das Narrativ der Blasphemisierung benutzten ebenso etliche weitere hellenistische Geschichtsschreiber. Lysimachos behauptete, den Juden sei es auferlegt worden, fremde Tempel und Altäre zu zerstören, auch er bezeichnete die Juden als „Atheoi“. Die Funktion des Narrativs der Blasphemisierung verdeutlicht Apion, der Verfasser einer mehrbändigen Geschichte Ägyptens, insofern er den Erhalt voller Bürgerrechte für die alexandrinischen Juden mit der Begründung negierte, diese lehnten die ägyptischen Gottheiten ab. Auch bei Plinius dem Jüngeren zeichnen sich die Juden durch ihre Götterverachtung aus. Um den Kult der Juden zu verhöhnen, stellten diverse hellenistische Schriftsteller die Behauptung auf, diese beteten einen Esel bzw. einen goldenen Eselskopf an. Während es sich bei den früheren Varianten der Erzählung vermutlich um ein interkulturelles Missverständnis handelte, diente die Unterstellung seitens der seleukidischen Elite der Diffamierung der Juden.

Als dritte Rassifizierungstechnik war in hellenistischer Zeit die Misoxenisierung bzw. die Misanthropisierung weit verbreitet, die den Juden unterstellte, diese hassten ihre Mitmenschen, würden sich von ihnen absondern und seien gegenüber allen Fremden feindlich eingestellt. Diese Absonderung sei ihnen, so diverse Autoren, von Moses auferlegt worden. Hekataios begründete den vermeintlichen Menschenhass mit der Austreibung aus Ägypten, welche die Juden tief verbittert und zu Menschenfeinden gemacht habe. Immer wieder wurden die Juden ebenso für die Einhaltung der Sabbatruhe verunglimpft. Der Sabbat sei eingeführt worden, so hieß es, da die Juden während ihrer Wanderung in der Wüste unter Leistengeschwüren gelitten und sich so eine Ruhepause verordnet hätten. In anderen Versionen wurde der Sabbat auf die vermeintliche Faulheit der Juden zurückgeführt, die keinerlei Interesse an körperlicher Arbeit zeigten. Das Stereotyp vom körperlich ungeeigneten wie an Arbeit desinteressierten Juden kursierte von da an in vielfältigen Varianten durch die Jahrhunderte. Neben der Sabbatruhe war vor allem die Zirkumzision Gegenstand vielfältiger Angriffe sowie das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch.

Gegen Apion