Meine Eltern waren immer schon großartige Eltern und daran hat sich bis heute nichts geändert. Als ich 1986 als das erste von drei Mädels auf die Welt gekommen bin, waren sie noch sehr jung, aber gleichzeitig auch bestrebt, ein Heim für unsere kleine Familie aufzubauen.
Jeden Abend vor dem Schlafengehen wurde gebetet, die Religion war ein Bestandteil unserer Familie und der tiefe Glaube ist mir bis heute erhalten geblieben. Dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar, denn der Glaube gibt mir sowohl im täglichen Leben als auch in den Bergen viel Mut und Halt. Er lässt mich ruhig werden, schenkt mir Vertrauen in mein Können und gibt mir eine gewisse Gelassenheit.
Meine Eltern waren alles andere als wohlhabend; sie mussten sehr bescheiden leben und deshalb war unsere Mutter immer damit beschäftigt, Kleider und Hosen für uns zu nähen und Pullover zu stricken. Sogar unsere Stofftiere fertigte sie selbst an.
Als Kind habe ich meine Mutter wirklich sehr gebraucht. Ich glaube, dass ich damals als kleines Mädchen einfach nur schwach und hilflos war.
Wenn ich mich jetzt so betrachte und meine Lebensanalyse einigermaßen stimmt, dann kann ich wohl sagen, dass das Thema Schwäche eine zentrale Rolle in meinem Leben spielt. Ich glaube, aus diesem Grund die Person geworden zu sein, die ich heute bin.
Ich hatte immer schon Angst vor Männern; nach den Erzählungen meiner Mutter war ein Arzt daran schuld, der mich im Alter von eineinhalb Jahren operierte. Es war ganz egal, ob die Männer zur Familie gehörten, Bekannte oder einfach nur Männer waren, die ich auf der Straße traf. Neue „Männer“ lösten in mir Ängste und Schreie aus. Die Anwesenheit eines Mannes ließ mich panische Angst empfinden und ich glaube, dies war der Auslöser, der mich dazu trieb, eine Frau zu werden, der kein Mann etwas anhaben kann. Eine starke, schnelle und eigenständige Frau.
Wahrscheinlich entwickelte ich auch zu dieser Zeit mein starkes Konkurrenzdenken. Ich war wie besessen auf sportliche Aktivitäten, suchte während meiner Zeit in der Oberschule zweimal pro Woche den Kraftraum auf, um Gewichte zu heben, kletterte in Steilwänden herum, betrieb Leichtathletik und begann mit dem Skitourengehen. So baute ich mir meine eigene kleine Welt auf, in der ich immer stärker wurde.
Es ist für mich heute noch immer eine große Befriedigung, besser sein zu können als ein junger Mann.
Meine Ängste sind inzwischen verschwunden, aber ich brauche das Gefühl in meinen Aktivitäten stark zu sein. Auf den hohen Bergen habe ich eine Art von Selbstverwirklichung gefunden und ich weiß, dass ich dort mit den Männern problemlos mithalten kann.
Als Kinder verbrachten wir ein einfaches, unkompliziertes Dasein und spielten hauptsächlich in der Natur. Egal ob Sommer oder Winter, irgendwie gelang es uns immer, schmutzig zu werden. Wir gingen spazieren, werkelten gemeinsam im Garten herum und vergnügten uns im Planschbecken. Im Winter gingen wir mit den Langlaufskiern auf die verschneite Wiese neben unserem Haus, machten dort auch kurze Abfahrten, denn Geld für Skiausrüstung oder einen Skipass hatten wir nicht. Mama kümmerte sich um uns, Papa ging seiner Arbeit nach und trainierte in seiner Freizeit hart für Profi-Mountainbike-Rennen. Aus diesem Grund sahen wir ihn leider auch sehr selten und oft gab es nur ein kurzes Hallo am Abend vor dem Schlafengehen.
Wenn ich das heute so erzähle, dann möchte man vielleicht Mitleid empfinden. Aber ich bin sehr dankbar, dass wir so aufwachsen durften. Geschenkt wurde uns nichts und wir Mädchen haben immer versucht, unsere Mutter so gut wie möglich im Haushalt zu unterstützen. Dadurch wurden wir auch sehr früh selbstständig.
Andere Kinder haben uns verspottet, weil wir nicht immer nach der neuesten Mode gekleidet waren oder weil wir einfach etwas anders waren als sie. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich nie erwachsen werden wollte. Es kam mir immer so vor, als hätten die Erwachsenen andauernd Probleme und Scherereien mit der Bürokratie. Immer schon war ich ein großer Fan von Heidi. In meinen Augen lebte sie das perfekte Dasein. Sie war ein Kind, das sich ohne Vorurteile und mit ihrer offenen
Art in ihrer Welt bewegte. Ich orientierte mich an diesen Werten und versuche auch heute noch diese wunderbaren Eigenschaften zu bewahren. So gut es eben geht, entziehe ich mich den Geschehnissen dieser Welt, um ein unbekümmertes Leben führen zu können. Von Krieg, Armut und Ungerechtigkeit möchte ich nichts hören oder sehen, denn diese Dinge machen mich traurig und man kann im Grunde genommen so wenig dagegen unternehmen.
Unsere Eltern verfügten nicht über das notwendige Geld, um uns weiß Gott was zu bieten, doch hatten wir alles Notwendige, um ein gutes Dasein zu führen. Unsere Mitschüler verstanden nicht, dass wir jeden Tag viele der wertvollsten Dinge dieser Erde mit auf den Weg bekamen: Geborgenheit, Liebe, Wertschätzung, Verständnis und Unterstützung. Der Zusammenhalt in unserer Familie war ungemein stark und so würde ich ihn mir auch für meine eigene Familie wünschen. Unsere Eltern waren immer für uns da, egal was gerade geschah.
Wir Mädchen genossen die aktionsgeladenen Wochenenden, die Reisen in unserem VW-Bus zu den Rennen unseres Vaters, den wir aktiv unterstützten. Ich bin mir sicher, dass ich bei diesen Wettkämpfen meine Liebe zum Sport entdeckt habe.
Als ich zehn Jahre alt war, fuhr ich mit dem Rad eine sechs Kilometer lange Runde von Zuhause aus, wobei ich in einer Art Trainingsplan das Datum sowie die gefahrene Zeit eintrug. Das machte die Sache für mich spannend und ich war immer bemüht, mich zeitlich zu verbessern.
In der Mittelschule verlagerte sich mein Fokus aufs Laufen, aber schon mit 13 Jahren hatte ich eine schwerwiegende Knieverletzung, die mir täglich große Schmerzen bereitete.
Ich war ein junges, hochmotiviertes Mädchen, das die sportliche Betätigung über alles liebte, doch das Knieproblem war immer präsent. Kein Arzt, keine Therapie und auch nicht die rigide Einhaltung von Übungen schafften Abhilfe.
Schon damals konnte ich mich mit dem körperlichen Leiden gut auseinandersetzen und war bei den Leichtathletik-Staatsmeisterschaften im 1000-Meter-Lauf mit dabei, wobei ich sogar ein annehmbares Resultat mit nach Hause brachte. Ich hatte die Gabe, den Schmerz während der essenziellen Momente einfach ausblenden zu können.
Mein Vater meinte damals, ich solle doch das Skifahren lernen. Aber ich hatte überhaupt kein Interesse daran, obwohl es in unmittelbarer Nähe unseres Heimatortes ein wunderschönes Skigebiet gab. Meine Schwester Magdalena und ich lernten dann das Snowboardfahren, aber schon drei Jahre später hängte ich diese Disziplin wieder an den Nagel. Mein Kniespezialist hatte mir sowohl vom Snowboarden als auch vom Laufen abgeraten. Gerade in den Sommermonaten war das Laufen für mich zu einem wichtigen Sport geworden, wobei ich regelmäßig an Bahnrennen teilnahm. Durch das Laufverbot wurde mir ein äußerst wichtiger Teil meines Lebens entzogen und ich konnte mit dieser Tatsache äußerst schlecht umgehen. Wochenlang flossen Tränen, doch dann kamen die rettenden Worte meiner Mutter: „Tamara, du wirst sicherlich eine andere Sportart finden, die dir ebenso gut gefällt!“
Meine Mutter ist wie ein Fels in der Brandung und ich halte immer sehr viel von dem, was sie mir rät. Deshalb kontaktiere ich sie auch regelmäßig während meiner Expeditionen, um ihren Rat einzuholen.
Sie sieht in mir immer noch das Kind, das von klein auf den schwierigsten und für sie oft unlogischsten Weg gewählt hat.
Als ich das Realgymnasium in Sterzing besuchte, machte ich noch eine kurze Zeit mit dem Laufen weiter und verlagerte mich dann auf das Diskuswerfen. Doch diese Disziplin befriedigte mich überhaupt nicht; ich wollte am Abend müde ins Bett fallen und das war beim Diskuswerfen einfach nicht der Fall. So entschloss ich mich schlussendlich, doch noch das Skifahren zu lernen. Ich bat meinen Vater, mich auf eine Skitour mitzunehmen. Er stimmte mir gleich zu und wir fuhren eigens nach Innsbruck, um Tourenschuhe zu kaufen. Ich benutzte die alten Tourenskier meines Vaters und seine alte Skibekleidung musste ebenfalls herhalten. Den relativ kurzen Aufstieg auf das Schwarzhorn unterhalb der Latemargruppe meisterte ich problemlos, doch die Abfahrt war so anstrengend und herausfordernd, dass ich mich sofort in diese für mich komplett neue Sportart verliebte!
Schon bald nach meiner ersten Skitour fuhren wir zu den Leichtathletik-Italienmeisterschaften nach Desenzano am Gardasee. Ich war fünfzehn Jahre alt und hatte mich ein letztes Mal für den 1000-Meter-Lauf qualifiziert. Während der Fahrt warf ich einen Blick in eine italienische Zeitung, in der eine Bergsteigerin auf einem hohen Berg abgebildet war. „Manuela di Centa erreicht als erste Italienerin ohne Sauerstoff den Everest“, hieß die Schlagzeile. Ich begann den Artikel durchzulesen. „Das will ich auch einmal machen“, sagte ich mir, obwohl ich schon auf der Fahrt nach Desenzano Heimweh hatte; was sollte ich dann in Nepal oder Pakistan?
Mein Leben ging nach der Lektüre des Berichtes seinen gewohnten Gang weiter, aber ich wusste, dass sich irgendwann und zur richtigen Zeit eine Gelegenheit bieten würde. Ich erinnerte mich auch an den einschneidenden Satz meiner Mutter: „Du weißt nie, für was etwas gut ist.“ Diese Aussage gab mir immer wieder genug Gelassenheit, um warten zu können, und dazu eine gewisse Akzeptanz. Ich liebe meine positive Einstellung, meine Lockerheit, meine Offenheit, meinen Glauben, meine Sichtweisen und mein Gemüt. All diese Dinge sind über so viele Jahre zu einem persönlichen Schatz herangereift. Die Einsamkeit der Berge hat mich geformt; ich fühle mich ganz anders als noch vor fünf Jahren und ich habe den Eindruck, dort angekommen zu sein, wo ich immer schon hinwollte. Mit meinem Körper, meinem Geist und meiner Seele. Schön, wenn man das von sich sagen kann. 2002 nahm ich an meinem ersten Skitourenrennen in Reinswald im Sarntal teil. In Südtirol wurden damals solche Rennen entlang von Skipisten ausgetragen. Ich war sechzehn Jahre alt und ging mit der Startnummer 21 ins Rennen. Soweit ich mich erinnern kann, waren fünf Frauen mit dabei. Auch männliche Athleten gab es zur damaligen Zeit noch wenige und einer davon war mein Vater, mein großes Vorbild! Mein Vater ist zweiundzwanzig Jahre älter als ich und er ist, ganz einfach gesagt, ein „wilder Hund“. Es hat ihn nie interessiert, was andere machen, er ist immer seinen ganz persönlichen Weg gegangen. Er hat hart für seine Erfolge gearbeitet, hat sich aber nie in etwas verbissen. Auch das Älterwerden war für ihn nie ein Problem; mit einem Lächeln meinte er: „Den jungen Burschen werde ich es schon zeigen!“ Ich habe dieses Rennen damals in einer Zeit von 1:07:00 gewonnen. Im Vergleich dazu bin ich fast zehn Jahre später mit der Zeit von 00:53 nur mehr Zweite geworden. Das Niveau in dieser Disziplin hat sich Jahr für Jahr, sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen, extrem erhöht und diese Entwicklung war auch einer der Gründe, wieso ich mich später von dieser Sportart zurückgezogen habe.
Im Jahre 2003 wurde dann der „Eider Cup“ in Südtirol mit insgesamt fünf verschiedenen Rennen ausgetragen. Dort belegte ich in meiner Kategorie am Ende des Winters den zweiten Platz. Es war für mich ein wichtiges Lehrjahr; ich habe nicht nur besser Ski fahren gelernt, ich habe auch meinen persönlichen Einsatz und mein technisches Können enorm steigern können. Es verging einige Zeit, bis ich mich an die alpinen Rennen heranwagte, wo ich vor allem Schwierigkeiten mit der Abfahrt hatte, während ich im Aufstieg problemlos mithalten konnte.
2007 wurde ich in die italienische Nationalmannschaft aufgenommen. Jedes Wochenende nahm ich an Rennen teil und lebte meinen Traum. Ich war sehr erfolgreich, wurde beim Skifahren immer besser, oder konnte mich einfach mit weniger Angst die Hänge hinunterstürzen. Obwohl ich oft stürzte, verletzte ich mich nie ernsthaft.
Die Europameisterschaften standen an und da ich mit niemandem so gut auskam wie mit Annemarie Gross hieß das Team natürlich wieder Gross/ Lunger. Das Wetter war sehr schlecht und am Tag des Rennens war es richtig nebelig.
Am Start gab es noch keinen Schnee und so mussten wir die ersten Höhenmeter laufend zurücklegen. Schnelle Starts in dieser Steilheit raubten meinen Armen immer gleich alle Kraft und meine Muskeln übersäuerten schnell. Der Startschuss fiel und ich wusste nicht einmal, warum, aber mir war gleich schon zum Lachen zumute. Es war einfach immer lustig mit Annemarie und wir hatten uns auch keine besondere Platzierung vorgenommen, sondern wollten einfach nur unser Bestes geben. Die ganze Zeit über lagen wir auf der vierten, fünften Position. Die Aufstiege und Abfahrten absolvierten wir so ziemlich gleichmäßig bis hin zur letzten Abfahrt. Da gab es eine große Senke, die ich noch problemlos passierte, doch ich hörte, dass Annemarie hinter mir Schwierigkeiten hatte. Sie war genau in der Senke gestürzt und hatte große Mühe, sich aus der Mulde zu schieben. Währenddessen fuhr ein anderes Frauenteam an uns vorbei und ich kann mich noch daran erinnern, dass ich geschrien habe: „Annemarie beeil dich, die dürfen wir nicht vorbeilassen!“ Doch auch der Rest der Abfahrt war technisch sehr anspruchsvoll und wir konnten nicht mehr aufholen. Dann kamen wir wieder an den Wiesenrand, wo wenig Schnee lag und wir die Skier auf den Rucksack schnallen mussten. Wir halfen uns gegenseitig, denn wir wollten so viel Zeit wie möglich wettmachen. Alles ging ganz schnell und mir kam es gerade so vor, als würde ich um mein Überleben laufen. Unter mir im Nebel sah ich noch zwei Teilnehmerinnen, die mich etwas später überrascht anschauten, als ich an ihnen vorbeizischte. Der rote Teppich kündigte das Ziel an und ich spornte meine Partnerin an: „Annemarie, gib Gas!“ Sie gab alles, überholte die beiden, aber genau auf dem roten Teppich kam sie ins Rutschen und stürzte. Die zwei Athletinnen überholten uns wieder und wir belegten somit den vierten Platz. Es war ärgerlich, richtig ärgerlich, aber gleichzeitig konnten wir uns das Lachen nicht verkneifen. Es ist auch heute noch eines der Rennen, an das ich mich immer wieder gerne zurückerinnere.
Ich beschloss mit Annemarie Gross und Maddalena Wegher, an der Patrouille des Glacier von Zermatt nach Verbier teilzunehmen. Wir waren alle drei ziemlich gut drauf und freuten uns richtig auf den Wettkampf. Zermatt–Verbier ist ein echter Klassiker und streckenmäßig ein sehr langes Rennen, gerade so wie wir es uns wünschten. Zusammen mit zwei anderen Teams, die sich aus Männern zusammensetzten, fuhren wir nach Zermatt. Es war eine lange Reise und ein paar kleinere Probleme auf der Straße verzögerten unsere Ankunft. Ich hatte zudem Bauchschmerzen und Maddalena fühlte sich körperlich ebenfalls nicht besonders fit. Wir kamen verspätet in Zermatt an; zum Glück hatten wir den Veranstalter darüber informiert, ansonsten hätte man uns von der Startliste gestrichen. Wir mussten schnell noch zur Lagebesprechung und danach ging es zum Materialcheck, der von Soldaten der Schweizer Armee durchgeführt wurde.
Es war wirklich wie im Film. Wir mussten uns anstellen, während uns die für das Rennen vorgeschriebene Ausrüstung übergeben und registriert wurde: eine Metallschaufel mit Holzstiel, ein Funkgerät, die Streckenkarte, ein Mobiltelefon, eine Sonde, ein Verschüttetensuchgerät, dann noch ein Erste-Hilfe-Set, Seil und Pickel.
Während der Endkontrolle verliebte ich mich fast noch in den wunderschönen Mann, der diese durchführte! Doch es gab absolut keine Zeit für ein kleines Intermezzo, denn wir gehörten zu den Teilnehmern, die um 23 Uhr starten würden und aus diesem Grund in der Peripherie von Zermatt untergebracht waren. Leider hatten wir das vorher nicht gewusst und als wir endlich im Hotel ankamen, blieb gerade noch Zeit für eine warme Suppe. Danach mussten wir gleich unsere Rucksäcke packen und den nächsten Zug zurück nach Zermatt nehmen. Maddalena war sehr aufgeregt und ganz nervös, ihr ging es immer noch nicht besonders gut, während sich mein Zustand merklich verbessert hatte. Während der Fahrt riss auch noch der Wassersack von Maddalenas Trinksystem und der Inhalt ergoss sich über ihren Rücken. So war die Zugfahrt alles andere als entspannend und ich bemerkte, wie ihre Stimmung immer schlechter wurde. Es war kurz vor 23 Uhr, als wir im Startbereich ankamen. Der Startschuss war noch nicht gefallen, da schrie Maddalena ganz verzweifelt, dass sie unbedingt eine Toilette bräuchte. Doch es gab keine und so musste sie warten, bis wir endlich loslaufen konnten. Wir ließen das Dorf hinter uns und fanden dann einen Müllcontainer, hinter dem Maddalena ihr Geschäft erledigen konnte. Die ersten 500 Höhenmeter mussten wir zu Fuß zurücklegen und ich fühlte mit Genugtuung, wie stark meine Beine waren. Nach zehn Minuten musste Maddalena wieder auf die Toilette; zum Glück trug sie einen zweiteiligen Rennanzug, der die Sache etwas erleichterte. Trotzdem konnte es so nicht weitergehen, denn sie begann jetzt schon den andauernden Flüssigkeitsverlust zu spüren. So konnten wir keine Gletscherüberquerung riskieren und wir entschieden, Maddalena zurückzuschicken. Annemarie und ich gingen noch ein Stück zu zweit weiter, aber dann schickte man uns zurück, weil wir zu zweit nicht die Kontrollstelle passieren durften und so endeten wir wieder im Dorf, in dem ich beim Materialcheck den feschen Burschen gesehen hatte. Da wir das geliehene Material retournieren mussten, hoffte ich insgeheim auf ein Treffen … Ein weiterer Traum, der keine greifbaren Formen annahm, und so setzten wir uns in den Zug, um nach Verbier zu fahren, denn wir wollten wenigstens im Zielraum sein, wenn die anderen Teilnehmer eintreffen würden.
Somit bleibt dieses Rennen weiterhin einer der wenigen Klassiker, die ich noch abzuhaken hätte.
Ein weiteres Rennen, an das ich mich gerne erinnere, waren die Weltmeisterschaften in Morzine/Avoriaz in der französischen Schweiz im Jahre 2008. Ich war damals wirklich in Topform und ich wollte um jeden Preis eine Medaille. Es galt verschiedene Wettkämpfe zu bestreiten. Der erste Wettkampf war das Teamrennen, das ich zusammen mit Silvia Cuminetti aus Bergamo lief. Leider belegten wir nur den neunten Platz. Ich versuchte das Ergebnis einfach auszublenden, um mich auf die weiteren Rennen konzentrieren zu können.
Der nächste Wettkampf war dann das Vertikal-Rennen, wo ich unbedingt eine Medaille gewinnen wollte. Ich war sehr nervös, schon Stunden vor dem Start hatte ich nichts anderes als die Medaille im Kopf. Auf meinen MP3-Player legte ich mir motivierende Musik für das Rennen zurecht. Es galt ungefähr 1000 Höhenmeter entlang einer Piste zu bewältigen, aber die anfängliche Steilheit lag mir überhaupt nicht. Vor den steilen Starts hatte ich immer schon Respekt, ich konnte mich da nie so gut aufwärmen und alle anderen waren immer schneller. Trotzdem versuchte ich meinen Rhythmus zu halten, obwohl ich mich weitab von den Medaillenrängen aufhielt.
Die ersten 600–700 Höhenmeter kämpfte ich mich einfach durch. Dann sah ich, dass ein Flachstück folgen würde.
Ich sagte mir: „Wenn du jetzt nicht angreifst, dann kannst du deinen Traum vergessen!“
Innerlich war ich so motiviert und fokussiert, dass ich gleich einen Gang zuschaltete und mich um eine Position nach vorne arbeitete. Im Ziel angekommen war es der dritte Platz. Das war mir total egal, Hauptsache eine Medaille! Immerhin fehlte ja noch der Wettkampf am Tag darauf, der mir sowieso am besten lag.
Die Organisatoren hatten nämlich zum ersten Mal eine „long distance“ in den Wettkampf integriert. Für meine Altersgruppe waren 2500 Höhenmeter angesagt. Bei diesem Rennen der langen Distanz traten lediglich drei Frauen an, Silvia Cuminetti und ich aus Italien sowie eine weitere Teilnehmerin aus der Schweiz. Schon gleich nach dem Start konnte ich mich an die Spitze setzen; hinter mir folgte alsbald die Schweizerin. Silvia gab nach kurzer Zeit auf.
Es galt eine Vielzahl an Aufstiegen und Abfahrten zu bewältigen und bis zum Schluss reichte es für eine Goldmedaille, was alle meine Erwartungen übertraf.
Das darauffolgende Jahr war dafür umso härter. Ich hatte nun ein gewisses Niveau erreicht und stand regelmäßig auf dem Podium. Inzwischen wurde dies als selbstverständlich angesehen und diese Tatsache sollte mich 2009 auf eine der härtesten Proben meines bisherigen Lebens stellen. Durch den ungeheuren Druck, den ich mir selbst machte, steigerten sich meine körperlichen Beschwerden und ich schaffte es nicht mehr aufs Podium. Und dann kam da dieser junge Skitourenrennläufer, der zu mir sagte: „Tamara, gehst du neuerdings nur mehr spazieren, weil du es nicht mehr in die vorderen Ränge schaffst?“
Dieser Satz hat mein Leben verändert. Ich kann mich noch an die Zeit nach diesem Satz erinnern, es gab wiederum viele Tränen und viele schwarze Tage in meinem Leben. Irgendwie wollte ich meine große Leidenschaft nicht aufgeben, auf der anderen Seite war ich mit meinen Leistungen so unglücklich, dass ich am liebsten alles hingeschmissen hätte.
Doch ich musste verstehen lernen, dass ich diese Rennen einzig und alleine für mich lief und niemandem etwas beweisen musste. Ich wollte für mich persönlich wachsen, meine Grenzen und Limits nach oben verschieben, neue Erfahrungen machen, mich neu kennenlernen und entdecken. Das waren meine großen Ziele.
Nach einiger Zeit hatte ich das dann auch geschafft und ich kann mich noch genau an ein Rennen erinnern, an dem ich zusammen mit Annemarie Gross im Jahr darauf teilnahm. Es war das Pitturina-Rennen und wir sind fast als letztes Team ins Ziel gekommen. Keiner machte eine blöde Bemerkung, niemand fragte, was denn los wäre. Ich habe gestrahlt und es war für mich wie ein Sieg, denn ich wollte mit diesem Rennen und dieser Platzierung allen zeigen, dass ich die Wettkämpfe nur mehr für mich machte. Wenn ich langsam gehen will, dann gehe ich eben langsam. Es war einer meiner erfolgreichsten Renntage, diesmal nicht auf dem Papier, aber umso mehr in meinem Herzen und meinem Kopf.
Ich hängte dann die Skitourenrennen als Leistungssport an den Nagel, nahm aber immer wieder einmal zum Vergnügen an einem Rennen teil. Es gab kein Zaubermittel gegen meine Knieschmerzen und nach langen Zeiten des Leidens kam dann der Tag, an dem ich mir sagte: „Tamara, ab morgen lassen wir das mit dem Sport bleiben!“ Für mich war der Sport seit vielen Jahren mein Leben, im Sport fühlte ich mich stark, es war mein Traum, ich verbrachte meine gesamte Freizeit mit sportlichen Aktivitäten. Jeder sah meine Erfolge, meine Siege, meine Medaillen, aber niemand sah mich mit meinen Schmerzen, meinen Stimmungsschwankungen, meinen Tränen und mit meiner Verzweiflung. Ich zweifelte oft am Sinn meiner Leidenschaft. Von gutem Training kann wohl kaum die Rede sein, wenn man immer nur die Zähne zusammenbeißen muss. Ich lag zu Hause auf dem Sofa, nervte meine Familie mit meiner ständig schlechten Laune, bis dann meine Mutter zu mir sagte: „Tamara, du musst raus. Du kannst so mit deinem Leben nicht weiter machen!“ Aber auch dieser Ratschlag war unnütz und so beschloss ich mit dem Sport abzuschließen.
Aber dann meldete sich Marisa Clara bei mir, eine nette, sympathische junge Frau aus dem Gadertal. Sie war Schmerztherapeutin und empfahl mir ihre Therapie auszuprobieren. Da ich nichts zu verlieren hatte, stimmte ich zu. Die Therapie selber war sehr schmerzhaft, denn wie so oft in meinem Leben ging ich auch mit den Übungen an meine Grenzen. Marisa verbot mir jeglichen Sport neben der Behandlung, denn sie wollte einen Gesamteindruck von meinem Muskeltonus erhalten. Es verstrichen vier Monate ohne Sport und die Schmerzen wurden von Mal zu Mal erträglicher. Bald darauf holte ich mit dem Einverständnis von Marisa die Tourenskier aus dem Keller. Mit meiner Freundin Martina Oberhollenzer aus Ahornach ging ich von Luttach durch den Wald auf den Speikboden. Es fühlte sich einfach saugut an, wieder auf den Brettern zu stehen! Wir legten gerade einmal 1000 Höhenmeter zurück, aber für mich war es ein großes Geschenk, endlich wieder Sport ohne Schmerzen machen zu können!
Ich habe mir viele Gedanken über meinen beruflichen Werdegang gemacht, doch am Ende entschied ich mich doch für den Sport. Die Sportschule in Sterzing war damals ganz neu; der einzige Haken daran war, dass ich im Schülerheim leben musste. Ich litt stark unter Heimweh und besonders im ersten Jahr war ich meistens schon am Freitag zu Hause, weil ich den Samstag in der Schule einfach nicht so wichtig nahm. Lieber ging ich auf Skitour oder machte bei einem Skitourenrennen mit. Ich war im Heim der Tertiarschwestern untergebracht. Es gab strenge Regeln im Haus, aber ich glaube, diese Regeln haben schlussendlich genauso zu meiner Entwicklung beigetragen wie das Training mit unserer Leichtathletiktrainerin Inge Ploner. Inge war für mich damals wie eine Mutter und bei ihr und ihrem Mann, der mein Turnlehrer war, fühlte ich mich wie zu Hause. Die beiden gaben mir die Ruhe, die ich nie hatte, bremsten mich ein, wenn ich es wieder einmal übertrieb, gaben mir Ratschläge und waren immer für mich da. Trotzdem fühlte ich mich sehr oft wie eine Außenseiterin und vertiefte mich immer mehr ins Training, um dort Schutz zu finden. Zweimal pro Woche besuchte ich neben den regulären Trainingseinheiten den Kraftraum. Ich war immer glücklich, wenn ich am Abend so richtig kaputt war, und rutschte dabei immer mehr in eine Art Sportsucht hinein. Täglich nahm ich mir allerhand Übungen und Trainings vor, die ich oft nicht an einem Tag erledigen konnte. Dann weckte mich nachts mein schlechtes Gewissen. Meinem Körper verlangte ich so viel ab, dass ich zunehmend mit dem Kreislauf Probleme bekam und manchmal auch zusammenbrach. Was ich tat, war nicht mehr normal und erst ein Gespräch mit meinem Turnlehrer Werner Holzer hat mich aus der Misere geholt. „Tamara, so kann das mit dir nicht weitergehen, du musst deinem Körper genügend Regenerationszeit zugestehen. Du kennst die Theorie, versuch sie in die Praxis umzusetzen!“
Ich bemühte mich, die Empfehlungen auch anzunehmen, die ich schon alle aus unserem Unterricht in der Sportschule kannte, aber mein Körper war Sklave meines Kopfes. Doch schlussendlich hatte ich mich bis zum Abschluss der Oberschule ganz gut im Griff, wobei mir auch unsere gute Trainingsgemeinschaft half. Ich begann mit dem Diskuswerfen. Es war spannend, die Technik zu lernen, aber irgendwie war mein Körper nicht richtig gefordert. Trotzdem machte ich bis zur Matura weiter, auch weil ich das Training liebte und wir eine tolle Gruppe waren. Ich konnte sogar zwei Vize-Italienmeistertitel holen und hatte Gelegenheit, mit der italienischen Nationalmannschaft nach Marseille zu fahren. Dort interessierten mich allerdings mehr die Felsen und die Boulderwand. Irgendwie spürte ich, dass es etwas Geeigneteres für mich gab als das Diskuswerfen.
Auf dem Maturaball lernte ich Simone Moro kennen, den Mann der Turnlehrerin, die mich in der Mittelschule unterrichtet hatte. Ich verstand mich mit ihr immer schon sehr gut, sie nahm mich mit zum Klettern und sie unterstützte mich beim Lauftraining. Darum lud ich sie auch zum Maturaball der Oberschule Sterzing ein. Zufällig war genau an jenem Abend auch ihr Mann, der sonst so vielbeschäftigt war, im Lande und begleitete sie zu meinem Ball. Simone versprach mir an diesem Abend, mich irgendwann einmal nach Nepal mitzunehmen. Der Abend ging vorbei und ich hatte leider nur sehr wenig Zeit, mich mit den beiden zu unterhalten. Vier Jahre später stolperte ich dann auf Facebook über Simone und schrieb ihm die folgende Nachricht: „Hallo Simone, wie geht es dir? Ich bin Tamara Lunger, die Schülerin von Barbara. Wann nimmst du mich denn mit nach Nepal?“ Er antwortete mir tatsächlich und meinte, dass vielleicht schon dieses Jahr eine Reise zustande kommen könnte. Niemand kann sich vorstellen, was in dem Moment in mir vorgegangen ist! Es verstrichen ein paar Wochen, dann erreichte mich am 1. April eine Nachricht von Simone: „Hallo Tamara, du kannst diesen September an unserer Cho-Oyu-Expedition teilnehmen.“ Das war für mich der totale Wahnsinn!
In den nächsten Monaten war ich nur darauf bedacht, mich gut vorzubereiten. Ich durfte sogar mit Simone zur Firma The North Face fahren, wo ich mit dem notwendigen Material ausgestattet wurde. Und dann war es soweit, wir starteten vom Flughafen in Mailand. Unser Team bestand aus Simone Moro, Hervé Barmasse, dem gutaussehenden Alpinisten aus dem Aostatal, Lizzy Hawker, einer Ultraläuferin, Emilio Previtali, einem Allrounder, dem Fotografen Damiano Levati und dem damaligen Athleten-Manager Matteo Vettorel.
Von Kathmandu ging es mit einem kleinen Flugzeug nach Lukla. Anschließend begannen wir mit dem Aufstieg Richtung Chukhung, das auf 4730 Meter lag, und gingen von dort weiter nach Dingboche. Neben dem Weg lag ein riesiger Steinblock, auf den ich mich setzte. Dort durchlebte ich einen Moment, wie ich ihn schon so oft in meinen Träumen und Gedanken erlebt hatte. Es wehte ein leichter Wind, der die Grashalme und meine Haare tanzen ließ. Er erfüllte mich mit Energie, Wachheit, Frische und Spiritualität. Alleine meine unzähligen Gedanken und Wünsche, irgendwann einmal so eine Situation erleben zu können, hatten mich hierhergebracht. Nie hatte ich daran gezweifelt. Durch meinen Glauben und meine positiven Gefühle hatte sich mein Wunsch erfüllt. Es war nicht nur Glück, denn gerade durch meine tiefe Überzeugung trug ich viel dazu bei. Oft genügt es, positiv zu denken, überzeugt und gläubig seinem Ziel entgegenzugehen. Als ich mich auf diesem Stein in meinem Traum wiedergefunden hatte, wusste ich genau, dass Gott immer bei mir sein wird.
Während eines „Rasttages“ bestiegen wir den Chukhung Peak (5555 m), der mein bislang höchster Berg war. Auf dem Gipfel angekommen, war ich das glücklichste Wesen auf Erden und sagte mir: „Jeder Moment ohne Berge ist verlorene Zeit!“
Später änderte ich ein wenig meine Einstellung und ich achtete darauf, nicht zu verbissen in die Berge zu gehen. Wenn nur mehr die gemeisterten Routen, die Höhenmeter, Schwierigkeitsgrade und die Anzahl der Skitouren zählen, dann kann dies auch ein Zeichen von Schwäche sein. Ich versuchte, auch immer mehr die Natur wahrzunehmen und dabei haben mir wiederum meine Schmerzen geholfen, die mich gezwungen haben, die Dinge anders zu sehen. So hat sich das Bergsteigen für mich von einer Leidenschaft, die Leiden schafft, in eine unbeschreibliche Passion verwandelt, die mich mit einem energetischen Mantel umhüllt, mir Wohlbefinden schenkt und mich innerlich aufblühen lässt.
Die darauffolgende Besteigung des knapp 6200 Meter hohen Island Peak war dann meine erste wirkliche kleine Expedition mit Basislager. Ich habe dort alles Notwendige für die Besteigung der hohen Berge gelernt. Wir schlugen unsere Zelte knapp unterhalb des Gipfels auf, um uns für den Cho Oyu zu akklimatisieren. Aber zurück vom Berg erhielten wir die Nachricht, dass die Chinesen alle Grenzübergänge nach Tibet gesperrt hatten. Wir mussten, ohne auch nur in die Nähe des Cho Oyu gekommen zu sein, wieder nach Hause reisen. Ich musste mich alleine draußen in der Natur so richtig ausheulen, um diese Tatsache akzeptieren zu können.
Mit dem Scheitern meiner ersten Expedition glaubte ich, der Traum, mit 23 Jahren auf einem 8000er zu stehen, sei schon ausgeträumt. Doch dann sagte mir Simone, dass ich mich einer Expedition von dreizehn Russen anschließen könnte. Ziel war es, den 8516 Meter hohen Lhotse zu besteigen. Auch Simone hielt sich im Everest Base Camp auf, das gleichzeitig als Basislager für den Aufstieg zum Lhotse genutzt wurde. Zusammen mit ihm und seinem Kunden, den er auf den Everest führen sollte, war ich in Richtung Basislager gewandert, wo ich mich der russischen Gruppe um Alexey Bolotov anschließen wollte.
Am 28. März 2010 schrieb ich in mein Expeditionstagebuch: „Machermo (4450 m) – Liebe Welt, ich umarme dich. Das, was ich heute wieder sehen durfte, war gewaltig schön. Und wenn man das alles zu schätzen weiß, dann braucht man im Leben nicht viel, um glücklich zu sein!“ Zwei Tage später bestiegen wir den Gokyo Ri (5350 m).
Es schneite stark und unsere Träger hatten alle Mühe mit ihren Plastiksandalen und schlechten Schuhen, das Tagesziel zu erreichen. Am nächsten Tag überschritten wir den 5300 Meter hohen Cho-La-Pass und ich hatte mit Kopfschmerzen zu kämpfen, obwohl ich mich redlich bemühte, langsam zu gehen. Weiter ging es nach Dzonghla, über Thokla bis nach Dingboche in die Lodge Peak 38. Ich war echt froh, dass wir nicht in einem der beiden Dörfer übernachteten, denn sie waren unaufgeräumt und schmutzig. Auch dieses Mal bestiegen wir wieder den Chukhung Peak und hielten uns danach längere Zeit in der Ortschaft Chukhung auf, denn wir wollten nochmals auf den Island Peak, den wir dann bei wunderschönem Wetter meisterten. Zurück in Dingboche quartierten wir uns in der Arizona-Lodge bei Lodge-Besitzer Lopsang ein, die ich schon vom Vorjahr kannte. Die Menschen hier sind anders als bei uns zu Hause. Sie erinnern sich an ihre Gäste, weil sich ihre Welt etwas langsamer dreht. Es gibt neben dem Tourismus noch genügend freie Zeit und das ist etwas Wunderschönes.
Nun fehlten nur mehr zwei Tage bis zum Basislager. Als mein Blick das erste Mal auf den Khumbu-Eisfall und den Mount Everest fiel, machte sich in mir ein dunkles, negatives und melancholisches Gefühl breit, das mich sehr traurig stimmte. Auch das Basislager hatte ich mir total anders vorgestellt.
Ich war froh mit Aldo und Simone im Camp zu sein, denn die Russen waren alles Männer über 40 Jahre und keiner sprach wirklich gut Englisch. Mein Zelt richtete ich mir richtig angenehm ein, denn es sollte ein Ort des Wohlbefindens werden. Was mich völlig erstaunte, war der Luxus, der im Basislager herrschte.
Die darauffolgenden Tage mussten wir das Camp in Ordnung bringen. Auf den Berg durften wir ohnehin erst nach der Puja, einer wichtigen, religiösen Feier. Dazu mussten wir zuerst einen „Tschorten“, eine Art Altar, errichten. Endlich war es soweit und alles war so, wie unser Sherpa Tenzing es sich vorgestellt hatte. Nun musste nur noch der Lama kommen. Die Feier ähnelte ein wenig einem Kirchtag bei uns zu Hause, wo die Bäuerinnen Krapfen und andere Leckereien backen. Die Puja ist ein Fest der Verehrung, so wurde es mir erklärt und all die guten Sachen sind Gaben für die Götter.
Elf Tage verbrachten wir im Basislager mit diversen Akklimatisierungsausflügen, bis es endlich in den Khumbu-Eisfall ging. Unser Plan war es, direkt bis ins Lager 2 zu gehen, aber schon nach einer Stunde fühlte ich mich komplett erschöpft und Simone riet mir, abzusteigen, um nicht den Fortgang der Expedition zu gefährden. Es fiel mir schwer, abzusteigen und ich hatte Tränen in den Augen, weil ich glaubte, ich sei zu schwach. Einige Tage später stieg ich alleine für zwei Tage zum Lager 2 auf. Es war sehr angenehm. Wenn ich mit jemandem sprechen wollte, suchte ich mir irgendwelche Bergsteiger im Lager. Die restliche Zeit verbrachte ich in meinem Zelt, holte Eis, um es zu schmelzen, kochte Püree mit Thunfisch, hörte Musik und war dankbar für diese Tage, in denen ich mich immer wohler fühlte.
Bei unserer nächsten gemeinsamen Akklimatisierungsrunde, die für mich bereits die dritte war, gingen wir wieder direkt ins Lager 2. Dort verbrachten wir die Nacht und wollten dann nur für ein paar Stunden hinauf aufs Lager 3, um dann wieder ins Basislager abzusteigen. Nach der Nacht in Lager 2 ging es mir schon wieder nicht gut, meine Beine waren sehr müde und Simone riet mir neuerlich zum Abstieg. Traurig verabschiedete ich mich und ging zurück ins Lager 2, wo ich mich noch ein wenig aufhielt. Plötzlich tauchte Simone auf. Er hatte anscheinend Fieber und hatte sich entschlossen, mit mir abzusteigen. Dieses Mal war wahrscheinlich meine Periode an den schweren Beinen schuld. Gerade als Frau hat man es auf großer Höhe nicht immer leicht und zudem ist das gesamte Umfeld nicht besonders hygienisch.
Im Basislager luden uns die Benegas Brothers ein, die ebenfalls im The North Face-Team waren. Sie hatten eine Gruppe Südamerikaner mit dabei. Dieser Mannschaft schloss ich mich an, um nochmals ins Lager 2 aufzusteigen und somit die fehlende Akklimatisierung wettzumachen. Simone, Denis und Aldo flogen in der Zwischenzeit nach Kathmandu, um sich dort für den Gipfelaufstieg auszuruhen. Ich freute mich, dass ich mit meinen neu gewonnenen Freunden aufsteigen konnte. Ihre Agentur hatte für sie auf 6400 Meter ein großes Zelt aufgestellt, wo wir uns alle gemeinsam aufhalten konnten. Zudem verfügten sie da oben sogar über ein Küchenzelt: purer Luxus! Auch eine Frau war mit dabei, was für mich eine willkommene Abwechslung bedeutete.