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Gilbert R. Pawel

Gegen alle Regeln

 

 

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Kapitel 1
 
Gleichgültig

Julian kehrte von einem langen Schultag heim, hungrig und ausgelaugt. Schon im Flur hörte er die Stimmen zweier Frauen und folgte ihnen in die Küche. Seine Mutter schwenkte in der einen Hand ein Weinglas und hielt in der anderen eine glühende Zigarette, ihr gegenüber saß seine ältere Schwester und guckte mit einem kaum wahrnehmbaren Grinsen im Gesicht in die Luft. Julian grüßte die zwei mit einem hoffnungsvollen „Hallo“, doch keine von beiden sah auch nur in seine Richtung.

»Und er hat in deinem Beisein mit ihr geflirtet?« Die Mutter schniefte verächtlich. »Sina Schätzchen, ich sage es dir oft genug, du musst immer auf der Hut sein!«

»Er hat mit ihr geredet, nicht geflirtet«, entgegnete sie genervt. »Glaub mir, ich hatte schon den ein oder anderen Mann, und wenn es jemanden gibt, bei dem ich mir in Sachen Treue wirklich überhaupt keine Sorgen mache, dann ist es Dennis!«

Als er den Namen hörte, fuhr ein Kribbeln durch Julians Körper. Es machte seine Knie weich und zittrig, richtete die Härchen auf seinen Armen auf, flutete seine Brust mit Hitze und formte seine Lippen zu einem Lächeln. Für einen Moment vergaß er seine traurigen Gedanken und wiederholte den Namen innerlich zweimal, bis er sich an seinen Hunger erinnerte und den Kühlschrank öffnete.

»Falls du Essen suchst, es ist nichts mehr da«, sagte seine Mutter. »Du hättest früher kommen müssen.«

»Aber am Donnerstag hab ich auch nachmittags Schule, das weißt du doch.«

»Also ich kann mir nun wirklich nicht alles merken. Hier …« Sie holte einen Geldschein aus ihrer Handtasche und schob ihn über den Tisch. »Wenn du was essen willst, geh in die Stadt und kauf dir was. Ihr Jungs habt Pommes und Döner doch sowieso viel lieber, als das mühevoll zubereitete Essen von Zuhause!«

Julian guckte betrübt. »Okay …«

»Wie sagt man?«, forderte seine Mutter mit dem Finger am Ohr.

»Danke, Margret.«

»Na, geht doch!«

Seufzend steckte er den Schein in die Tasche und goss sich ein Glas Wasser ein.

»Übrigens feiern ich und Dennis heute unser Einjähriges«, fuhr Sina fort. »Er holt mich später ab und wir gehen essen, in dieses neue Restaurant.«

Ihre Mutter setzte eine mitleidige Miene auf. »Ein Jahr bist du schon mit ihm zusammen? Du Ärmste!«

»Ja, Mama, ich kenn deine Meinung dazu, aber Dennis ist nicht so ein Arschloch wie Papa.«

»Schätzchen, die Männer sind alle gleich! Vergnüg dich mit ihnen, zu etwas anderem taugen sie ohnehin nicht. Naja, die meisten taugen nicht einmal dazu … Aber lass nie einen von ihnen in dein Herz!«

»Und was soll ich deiner Meinung jetzt bitte machen? Lesbisch werden?«

Ein lauter Knall unterbrach ihr Gespräch. Der letzte Satz hatte Julian so heftig zucken lassen, dass ihm das Wasserglas aus der Hand gerutscht war. Klopfenden Herzens sah er auf die Scherben, dann hinauf zu den Gesichtern der beiden Frauen, die ihn stirnrunzelnd anstarrten.

»Sag Bescheid, wenn du damit fertig bist, das Geschirr zu zertrümmern!«, brummte seine Mutter.

»Tut mir leid, Margret …«

»Kehr das ordentlich auf, ich will nicht in Scherben treten!«

»Ja, sicher …«

Während er einen Besen holte, wandte seine Mutter sich wieder Sina zu. »Glaub mir, Liebes, mit Frauen wärst du besser dran.«

»Tja, blöd gelaufen, ich wurde nun einmal nicht so geboren!«, grinste sie. »Also gewöhn dich lieber an Dennis, denn wie ich dir schon seit einem Jahr immer wieder sage, ist mir deine Meinung zu ihm egal!«

»Bitte, ganz wie du willst!« Margret drückte ihre Zigarette aus und hob ihr Glas. »Dann lehne ich mich einfach zurück, trinke meinen Wein und warte auf den Moment, in dem ich sagen kann: Ich hab es dir ja gesagt!«

Sina verdrehte die Augen und schmunzelte. »Ich liebe dich auch, Mama!«

Julian hatte inzwischen die Scherben entsorgt und die Pfütze aufgewischt. Er verstaute die Putzsachen und nahm seine Jacke. »Ich fahr dann mal in die Stadt und hol mir was zu Essen.«

»Ja ja …«, antwortete ihm die gleichgültige Stimme seiner Mutter.

Seufzend stieg er die Treppen zum Erdgeschoss hinunter und schwang sich auf sein Fahrrad. An einer nahegelegenen Imbissbude kaufte er sich einen Burger und schlang ihn während der Weiterfahrt hinunter. Sein Weg führte ihn an den Stadtrand, wo die Wohngebäude in ein kleines Industriegebiet übergingen.

Julian bog auf den Hof einer Autowerkstatt ein und stellte sein Rad an einem Zaun ab. Er grüßte die beiden Arbeiter, die grade an einem Wagen mit eingedellter Fahrertür schraubten, und steuerte das Büro an. An einem Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters, mit halb ergrauten Haaren und ölverschmiertem Overall, der mit nachdenklichem Gesicht Zahlen in einen Taschenrechner eintippte.

»Hey, Papa!«, grüßte Julian freudig.

»Julian?« Überrascht sah er auf. »Was machst du denn hier?«

»Ich wollte dich besuchen.«

»Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«

Julian ließ den Kopf hängen.

Sein Vater las die Antwort aus seinem Schweigen und kam auf ihn zu. »Du weißt doch, dass das so nicht in Ordnung ist!«

»Schickst du mich jetzt weg?«, fragte er ängstlich.

»Natürlich nicht! Aber du musst sie um Erlaubnis fragen, wenn du außer der Reihe zu mir willst! Ich kann sonst Probleme kriegen.«

»Ja, aber …« Er biss sich auf die Lippe. »Margret erlaubt mir das nun mal nicht …«

»Sie zwingt dich immer noch, sie beim Vornamen zu nennen?«

»Sie mag es nicht, wenn ich Mama sage …«

Der Mann sah das Leiden im Gesicht seines Sohnes und fühlte sich schuldig. Er warf einen Blick auf die Uhr, dann seufzte er und wandte sich an seine Mitarbeiter.

»Lasst uns heute mal früher Feierabend machen, Leute!«

»Alles klar, Thorsten!«, antworteten die beiden Männer.

»Warte hinten auf mich, ich komm gleich nach!«, forderte er Julian auf und deutete zu einer Tür.

Sein Sohn setzte sich im Hinterhof auf eine hölzerne Bank. Vor ihm türmten sich alte Autoteile zu einem Schrotthaufen auf, über dem sich grade die Abendsonne senkte. Julian lehnte sich zurück und genoss ihre wärmenden Strahlen, bis sein Vater einige Minuten später mit zwei Flaschen Bier neben ihm Platz nahm und ihm eine davon in die Hand drückte.

»Du gibst mir Alkohol?«, fragte er überrascht.

»Ich darf doch wohl mit meinem Sohn ein Bier trinken.«

»Ich bin 15 …«

»Bald 16«, zwinkerte Thorsten. »Und ich war auch mal in deinem Alter. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du noch nie getrunken hast!?«

Julian dachte an die letzte Klassenfeier und schmunzelte. »Naja …«

»Siehst du!«, lachte sein Vater. »Also: Ein Bier! Man kann Jugendliche sowieso nicht davon abhalten. Mir ist es lieber, du kommst zu mir, wenn du mal betrunken bist, als dass du aus Angst vor Strafe in irgendeinem Straßengraben liegenbleibst.« Ehe sein Sohn den ersten Schluck trinken konnte, hob er mahnend den Zeigefinger. »Übertreib es aber nicht, okay? Und Hände weg von Gras! Das Zeug wird immer verharmlost, aber glaub mir, ich hab schon Leute daran kaputtgehen sehen!«

»Ja, mach ich.«

»Gut so …«

Sein Vater legte einen Arm um seinen Nacken. Seite an Seite saßen sie auf der Bank und tranken, doch die gute Laune war nur von kurzer Dauer. Bald schon schlich sich die Traurigkeit zurück in Julians Gesicht, die Thorsten immer wieder bei seinem Sohn bemerkte. Betrübt seufzte er und versuchte, ihm Mut zu machen.

»Deine Mutter liebt dich!«

Julian schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das tut sie nicht!«

»Doch, da bin ich mir sicher.«

»Du bist nicht dabei, wenn sie mit mir redet.«

»Julian, du …«

»Warum kann ich nicht bei dir wohnen?«, würgte er ihn hoffnungsvoll ab.

»Du weißt, warum das nicht geht …«, hauchte Thorsten. Er sah, wie sein Sohn den Blick von ihm abwandte, und spürte tiefe Schuld in sich. »Julian, ich würde dich sofort zu mir holen, das weißt du! Aber ich darf das nicht! Die Scheidung von deiner Mutter war damals sehr schmutzig. Es war keine gute Zeit für mich. Unsere Ehe war nie wirklich schön, aber zum Ende hin hat es mich nur noch fertiggemacht. Sina war erst 9, aber deine Mutter hatte es schon geschafft, sie gegen mich aufzubringen. Du warst grade geboren und ich wollte für dich da sein, aber …«

Thorsten erinnerte sich zurück und schüttelte den Kopf. »Dann noch die Wirtschaftskrise. Ich hätte fast die Werkstatt verloren, musste aber Unterhalt zahlen. Eine Wohnung konnte ich mir nicht leisten, ich hab hier im Büro geschlafen. Dann der ganze Stress und der Frust, ich … ich hatte ein paar unschöne Ausrutscher mit dem Alkohol. Es wurde alles wieder besser, aber …« Er wischte sich über das Gesicht. »Deine Mutter hat das benutzt, um sich das alleinige Sorgerecht für dich zu sichern.«

»Ja, ich weiß …«, murmelte Julian enttäuscht.

»Ich würde mir gerne einen Anwalt nehmen und versuchen, irgendetwas daran zu ändern, aber ich kann mir das nicht leisten!«

»Ja, ich weiß«, wiederholte er leise und nippte an seinem Bier. »Ist schon gut. Vergiss, dass ich gefragt hab …«

Julian zog sich in sich zurück. Thorsten rutschte auf der Bank hin und her und verfluchte sich für seine Unfähigkeit. Ratlos leerte er sein Bier, dann suchte er nach glücklicheren Gedanken und stieß seinen Sohn aufmunternd in die Seite.

»So. Dann erzähl doch mal.«

»Was denn?«, fragte Julian überrascht.

»Na, was in deinem Leben so passiert. Ich seh dich ja nur jedes zweite Wochenende.«

»Das letzte ist aber doch erst ein paar Tage her.«

»Du bist aber ein junger Mann!«, entgegnete sein Vater überschwänglich. »Das ist eine aufregende Zeit, in ein paar Tagen kann viel passieren! Hast du vielleicht eine Freundin?«

Julians Herz begann zu rasen. »Nein, hab ich nicht …«

»Gibt es denn ein Mädchen, das dir gefällt?«

»Nein, gibt es nicht …«

»Wirklich nicht?« Thorsten guckte verwundert geradeaus. »Als ich in deinem Alter war, bin ich den Mädchen ständig hinterhergelaufen, wie ein kleiner Hund. Ich hab immer um ihre Aufmerksamkeit gekämpft, aber sie haben mich nie wahrgenommen. Das kam erst später, als ich meine Ausbildung …«

»Papa, ich bin schwul!«, platzte es aus seinem Mund.

Julian schloss die Augen und hielt den Atem an. Wo sein Herz grade noch gerast war, schien es nun stehengeblieben zu sein. Endlos zogen die Sekunden an ihm vorbei, bis sich die beruhigende Hand seines Vaters auf seinen Rücken legte.

»Weißt du, mein Sohn …« Thorsten zuckte gleichgültig. »Mädchen oder Junge, das ist eigentlich vollkommen egal. Hauptsache, du findest jemanden, der dich glücklich macht.«

Er spürte, wie der Körper seines Sohnes bebte, und bewegte seine Hand langsam auf und ab. Julian atmete wieder. Die Luft füllte seine Lungen und für einen Moment fühlte er sich so leicht, dass er glaubte, davonschweben zu können. Er spülte den Kloß in seinem Hals mit dem letzten Schluck Bier hinunter und sah zu seinem Vater auf, der neugierig nachhakte.

»Gibt es denn so jemanden?«

Ohne nachzudenken antwortete er. »Da ist dieser Junge …«

»Also ja!«

»Nein, nein da … da ist nichts …«, korrigierte er hastig. »Ich meine, er … er weiß, dass ich da bin … Er redet auch mal mit mir, aber sonst bin ich ihm … gleichgültig. Außerdem ist er nicht … naja …«

»Nicht schwul?«

Julian presste die Lippen zusammen. »Tut mir leid, ich … Es ist komisch, mit dir über so was zu reden …«

»Und ich dachte immer, ich wär der, dem du alles sagen könntest.«

»Ich weiß, nur …« Er setzte die leere Flasche an seinen Mund und murmelte in ihren Hals. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das so locker nimmst …«

Thorsten hob die Schultern. »Mein Sohn ist schwul – na und? In manchen Ländern sterben täglich tausende von Kindern.« Er zwinkerte. »Ich schwör dir, sobald ich den Hunger in Afrika beendet hab, treib ich dir die Homosexualität aus!«

Julian prustete. Er begann leise zu lachen, dann wurde er lauter und lauter, völlig unkontrollierbar. All die Sorgen, die er sich über diesen Moment immer gemacht hatte, zogen an ihm vorbei. Und als ihm bewusst wurde, mit welcher Herzlichkeit er angenommen worden war, wurde sein Lachen zu einem befreiten Weinen.

»Ach, komm schon!« Thorsten drückte seinen Sohn fest an sich und streichelte ihn. »Ist doch alles gut!«

Julian wischte sich die Tränen von den Wangen und schluchzte. »Ich hab dich lieb, Papa!«

»Ich hab dich auch lieb …«, entgegnete sein Vater und küsste seine Schläfe.

Kapitel 2
 
Das Einjährige

Es war schon dunkel, als Julian von seinem Vater zurückkehrte. Er grüßte seine Mutter, die mit Wein und Zigarette in der Küche saß und dem Geschehen auf dem Bildschirm eines kleinen Fernsehers folgte, aber sie antwortete nur mit einer müden Geste. Doch dieses Mal deprimierte es Julian nicht. Die Leichtigkeit schwang noch in ihm nach und Vorfreude verdrängte seine Negativität.

Ungeduldig schlich er sich in das lichtlose Wohnzimmer, hockte sich in die hinterste Ecke eines Sofas und wartete. Er hielt sein Smartphone in der Hand und beobachtete die Uhr, die Sekunde um Sekunde die verstrichene Zeit anzeigte. Fast zwei Stunden verbrachte er auf diese Weise, doch nicht für einen Moment überkam ihn Langeweile. Und als endlich die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und die Schrittgeräusche seiner Schwester und ihres Freundes sich in die Küche bewegten, horchte er aufgeregt auf.

»Ich bin wieder da, Mama!« Sina gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Toller Abend! Das Essen war fantastisch, da sollten wir beide demnächst auch mal hingehen!«

Ihre Mutter erwiderte die Begrüßung, ehe ihr mürrischer Blick zu dem Mann schwenkte, der hinter Sina stand. Er war in den späten Zwanzigern und trug einen teuren Anzug, der nicht so recht zum Rest seiner Erscheinung passen wollte. Sein Haar war lieblos nach hinten gekämmt, ein Dreitagebart bedeckte seine Wangen und seine Haut wirkte rau, wie die eines einfachen Mannes, der keinen Wert auf ausgiebige Pflege legt.

»Hallo, Margret!«, nickte er ihr zu.

»Ach, Dennis!« Sie spielte die Überraschte. »Ich hatte dich gar nicht erkannt! Heute so fein rausgeputzt, ich seh dich sonst immer nur im Blaumann!« Sie schmunzelte abfällig. »Oder in Unterwäsche!«

»Es war ja auch ein besonderer Anlass.«

Sina deutete auf ihre Ohrringe. »Hier, die hat er mir zum Einjährigen geschenkt.«

»Oh, der Herr war ja richtig spendabel.« Sie drehte die Anhänger und musterte sie skeptisch. »Ist das echtes Gold oder liegt das nur am Licht?«

»Es ist ein schönes Geschenk, Mama.«

Margrets schielte zu Dennis. »Für das sicherlich heute Nacht noch eine Gegenleistung erwartet wird, nicht?«

»Dafür muss er mir nichts schenken!« Sina grinste und gab ihrem Freund einen langen Kuss. »Na los, machen wir es uns mal im Wohnzimmer bequem.«

Sie nahm Dennis bei der Hand und führte ihn in den angrenzenden Raum. Als sie das Licht einschaltete und ihren kleinen Bruder auf dem Sofa sitzen sah, erschrak sie und stöhnte genervt.

»Was will der denn hier?«, flüsterte sie so laut, dass Julian es grade noch hören konnte. Dann seufzte sie. »Ich mach uns beiden erst mal ein paar Drinks …«

Während sie zurück in die Küche ging, ließ Dennis sich auf den Platz gegenüber von Julian fallen und hob die Hand. »Hi!«

»Hi …«, entgegnete Julian mit leuchtenden Augen.

»Na, wie läuft es bei dir?«

»Oh, echt gut! Alles bestens! Und bei dir so?«

»Ach, zu viel Arbeit. Stromleitungen in einem riesigen Neubau verlegen, jede Menge Stress …«

Erschöpft legte Dennis die Arme in den Nacken, als der Ruf seiner Freundin aus der Küche an seine Ohren drang. »Willst du deinen Gimlet mit Gin, Wodka oder weißen Rum?«

»Und es wird anscheinend nicht besser …« Lachend lehnte er sich in Richtung Tür. »Das gleiche wie du, Schatz!« Scherzend wandte er sich an Julian. »Als ob ich wüsste, was ein Gimlet ist …«

Julian lachte. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er diesen Satz so witzig fand. Sein Gesicht strahlte einfach und seine Blicke wanderten über die Eigenheiten von Dennis' Körper, von der dunklen Schattierung seiner Augenbrauen bis zu den Falten an seinen Fingerknöcheln.

Kurz darauf kehrte Sina zurück und drückte ihrem Freund eine Cocktailschale mit einer goldenen Flüssigkeit in die Hand. »Er ist mit Gin.«

»Hauptsache endlich Alkohol …«, stöhnte Dennis und griff gierig danach.

»Du musstest mich ja nach Hause fahren. Auf unser Einjähriges!«

Sie stießen an und tranken. Dennis legte einen Arm um seine Freundin und zog ihren Kopf an seine Brust. Verfolgt von Julians traurigen Augen streichelte er durch ihr Haar und ließ die Zeit ihrer Beziehung noch einmal an sich vorüberziehen.

»Ein Jahr … Eigentlich der perfekte Zeitpunkt, um mal über die Zukunft zu reden.«

»Wieso ziehst du nicht hier ein?«, fragte Sina auffordernd. »Du bist sowieso jede Nacht hier.«

»Was denn, zu deiner Mutter?«

»Was hast du gegen meine Mutter?«

Dennis verdrehte die Augen und zischte. »Och nichts, sie ist … Großartig!«

Er tat so, als würde er in einer Hand ein Weinglas und in der anderen eine Zigarette halten, und führte beides abwechselnd zum Mund. Seine Gesten brachten Julian zum Kichern und Dennis zwinkerte ihm zu, doch Sina gab ihrem Freund einen wütenden Klaps auf den Oberschenkel.

»Was soll das denn heißen?«

»Nichts!«, wehrte er eilig ab. »Ich dachte nur, wenn wir schon zusammenziehen, suchen wir uns etwas Privateres.«

»Weg von meiner Mutter?« Unsicher guckte sie zur Decke. »Also ich weiß nicht, darüber muss ich erst nachdenken.«

»Dann tu das mal. Wir sind immerhin schon seit einem Jahr zusammen. Mensch, ein Jahr …« Kopfschüttelnd leerte er sein Glas. »Ich kann mich noch gut an den Abend erinnern, an dem wir uns kennengelernt haben.«

»Obwohl du so betrunken warst? Schwer vorstellbar!«

»So betrunken war ich nicht.«

»Doch, warst du!«

»Du hast mich ja auch abgefüllt!«

Sina zuckte. »Ich hab dich im Club gesehen, du hast mir gefallen und ich wollte dich mitnehmen.«

»Sonst füllt der Mann die Frau ab, um sie ins Bett zu kriegen.«

»An dem Abend warst du kein Mann, du warst ein schüchternes kleines Männlein! Keine Ahnung, wie viel Bier ich dir ausgeben musste, bevor du dich getraut hast, mich zu küssen. Als wir endlich hier angekommen sind, warst du jedenfalls ziemlich besoffen.«

Schmunzelnd nickte er. »Ich bin im Flur gestolpert und hab eine Lampe umgeworfen. Deine Mutter kam aus ihrem Schlafzimmer gestürmt und hat irgendeine Schimpftirade über Männer losgelassen, ich weiß nicht mehr viel.«

»Ihre üblichen Kommentare, einfach ignorieren!«

»Als wär mir das noch nicht peinlich genug, stand plötzlich auch noch dein kleiner Bruder im Flur.« Sein Finger deutete auf Julian. »Du hattest so einen bescheuerten bunten Kinderschlafanzug an und hast mich angestarrt, als wäre ich irgendein Weltwunder. Hatte deine Schwester vorher etwa noch nie einen Mann mit nach Hause gebracht?«

Ehe Julian etwas sagen konnte, fauchte Sina ihn an. »Wenn du antwortest, verprügel ich dich!«

»Ist schon gut«, lachte Dennis und fuhr über ihre Wange. »Es war eine schöne Nacht.«

»Ja …« Erwartungsvoll spitzte sie die Lippen. »Wer hätte sich in dieser Nacht nicht in dich verlieben müssen …«

Sie küssten sich lang und innig. Julian beobachtete jede ihrer Bewegungen und spürte, wie sich Trübsal in ihm ausbreitete. Er schaltete sein Smartphone ein und aktivierte unbemerkt den Fotomodus. Als Dennis und Sina für einen Moment die Lippen voneinander ließen, drückte er auf den Auslöser und versteckte das Gerät eilig in seiner Hosentasche. Eine Weile blieb er noch, bis seine Seele den Anblick nicht länger ertragen konnte.

»Ich geh ins Bett.«

»Schlaf gut!«, wünschte Dennis.

»Wen interessiert das?«, murmelte Sina.

Julian verschwand voller Sehnsucht. Dennis wartete, bis seine Schritte auf dem Flur nicht mehr zu hören waren, und stupste seine Freundin in die Seite.

»Sei doch nicht immer so fies zu ihm!«, forderte er.

»Er nervt!«, entgegnete sie. »Er ist der Inbegriff eines nervigen kleinen Bruders. So wie jetzt, was wollte er hier im Wohnzimmer? Der Fernseher war aus, sogar das Licht war aus.«

»Er hat was an seinem Handy gemacht.«

»Und wieso nicht in seinem Zimmer? Ständig schleicht der um mich rum. Ich dreh mich um und wer steht da? Julian!« Sie schnaubte. »Weißt du noch, wie der mal ins Schlafzimmer kam, als wir beide es grade getan haben?«

»Also erstens waren wir da unter der Decke und zweitens ist er dein Bruder. Er wird sich schon nicht … auf dich einen runterholen oder so was.«

»Na, wer weiß!«, zischte Sina und schmiegte sich an seine Brust. »Dem kleinen Freak trau ich alles zu!«

 

Während die beiden weiter ihren Jahrestag feierten, machte Julian sich bettfertig. Als ihm das farbige Muster auf seinem Schlafanzug ins Auge fiel, stockte er. Er sah sich in seinem Zimmer um und registrierte um sich herum bunte Poster und die letzten Spielzeuge aus seiner Kindheit.

Von plötzlicher Wut ergriffen, knallte er den Schlafanzug in die Ecke, stieg mit Shirt und Shorts ins Bett und schaltete die Lampe auf seinem Nachttisch aus. Sekunden später erhellte das Display seines Smartphones sein Gesicht. Julian wechselte zur Bildergalerie und tippte auf seine letzte Aufnahme. Er vergrößerte das Foto, bis nur noch Dennis' Gesicht zu sehen war, und kuschelte sich in sein Kissen.

In seiner Fantasie sah er sich an Stelle seiner Schwester auf dem Sofa sitzen. Er stellte sich den Halt kräftiger Arme und das Kratzen von Bartstoppeln auf seinen Wangen vor, während seine freie Hand langsam in seine Shorts wanderte. Seine Gedanken verwandelten die Berührungen in die von Dennis und er erreichte seinen Höhepunkt, ehe er in seiner Vorstellung richtig beginnen konnte.

Einen Moment lang blieb Julian reglos liegen und genoss das Gefühl. Er holte ein paar bereit gelegte Taschentücher aus seinem Nachtschrank, wischte sich ab und warf sie aus dem Liegen gekonnt in einen Mülleimer.

»Schlaf du auch gut …«, hauchte er dem Foto zu.

Dann küsste er das Display und schloss die Augen.