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© 2019 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.
Lektorat: Beatrix Binder
Grafik und Produktion: Nadine Kaschnig-Löbel
Cover: Tanja Kühnel, Finlandi/shutterstock.com
eISBN 978-3-7025-8066-7
auch als gedrucktes Buch erhältlich:
ISBN 978-3-7025-0950-7
www.pustet.at
Roman
Am Fluss
Der Unfall
Im Labyrinth
Das Begräbnis
Wiedersehen
Der Professor
Schöne Tage
Die Enttäuschung
Die Reise
In der Bar
Tagliamento
Für Marija
Glossar
Ihr Verlangen nach der letzten Wärme trieb sie in den Süden, für ein Wochenende. Irgendwann haben sie mir einmal erzählt, wie lange es damals gedauert hatte, bis sie endlich wieder Zeit finden wollten, nach diesem Wiedersehen, nach so langer Zeit.
Jetzt fahren wir einmal gemeinsam weg.
Gelegentlich hatten sie über diese Landschaft gesprochen, über einen Raum, der sich für sie erst nach und nach mit Leben und Bedeutung gefüllt hatte, den sie zuvor stets nur durchquert hatten, auf der Fahrt zum Meer.
Die beiden waren eng befreundet gewesen, früher. Vorübergehend hatten sie in Wohngemeinschaften gelebt, gemeinsame Freundschaften und Vorlieben gepflegt, ein ähnliches Lebensgefühl geteilt, wie sie sagten. Aber Gefühle sind vergänglich. Wie ein Glas Wasser, das verdunstet. Wie Blumen, die verwelken. Es war ein Lebensgefühl gewesen, das alles zum Blühen gebracht hatte, für eine kurze Zeit, bevor anderes kam. Es war nicht allein die vermeintliche jugendliche Leichtigkeit, die sie zusammengebracht hatte. Nicht nur die Neugier aufeinander. Oder der Zauber eines schönen Sommers. Es war ihr Interesse an vielem, an einer Welt hinter der Welt, die schläfrig vor sich hinzutreiben schien und deren Teil sie schließlich waren.
Wir sollten uns wieder Zeit für gemeinsame Aktivitäten nehmen, hatten sie einander ausgerichtet.
Irgendwann war es gewesen. Irgendwann war ihre Verbindung unerwarteten Veränderungen zum Opfer gefallen. Irgendwann hatten sie sich aus den Augen verloren. Sie wollten nicht mehr. Oder sie konnten nicht mehr.
Nun nahmen sie den Faden wieder auf.
Betäubt von der Landschaft und der Fahrt hatten sie beinahe vergessen, wie der Vorschlag für dieses Wochenende entstanden war. Mehrere Varianten waren im Spiel gewesen, aber diese eine war herausgekommen, irgendwann am Frühabend, im Eckcafe, wo sie sich ein Treffen ausgemacht hatten.
Nach einer mehrstündigen Fahrt hatten sie ihr Ziel erreicht, sich eingemietet in einer Gastwirtschaft am Rand der Berge. Zwischen Hügeln, die in der Ebene vor dem Meer versanken, begleitet von einem Fluss, der sich in einem breiten Bett aus Steinen im Horizont verlor. Wo sie später auf einer Anhöhe jene Linie absuchten, auf der Wolken, Himmel und Meer ineinanderflossen, als lösten sich die Elemente zu einem dunstigen und feuchten Strich auf, den die Abendsonne rötlich einzufärben begann, bevor ihn die Dunkelheit aufnahm, begleitet vom Zirpengebrüll in den Gebüschen hinter den Häusern.
Die Trattoria mit Übernachtungsmöglichkeit, vor der sie geparkt hatten, hatte ihnen auf Anhieb gefallen. Auch der Platz davor, die Fassade und die Bäume, die den halben Platz in ihren Schatten tauchten, an diesem sonnenherbstlichen Nachmittag. Es waren die unverputzten Steinfassaden, die hölzernen Fensterläden, die Töpfe auf den Eisenbalkonen. Sie wussten, warum sie gekommen waren. Aber es war doch später geworden. Auch hier war der Herbst schon zu spüren. Das Licht war deutlich milder, die Schatten gerieten länger. Freilich wärmte noch die Sonne den Ort, an dem sie Quartier gefunden hatten.
Alles bei ihrer Anreise war schön gewesen. Nicht nur die Berghänge, die im Verlauf der Fahrt ihr Kleid und ihr Gesicht gewechselt hatten, bevor alles zusammen nach einer langen Kurve am Ausgang zur Ebene im Rückspiegel ihres Autos Platz fand. Es war vieles. Der Wechsel der Sprache auf Schildern und auf Häusern entlang der Strecke. Die Bar, in der sie den Kaffee stehend einnahmen. Kleine, zum Teil verlassene Dörfer, die sich in den Talböden zwischen den Tunnels duckten. Lifte und Hotels entlang der Straßen. Die roten Dächer der spitzen Kirchtürme. Sogar das Geröll im immer breiter, schroffer und trockener werdenden Flusstal. Mit Blicken in enge Seitentäler und auf Betonrinnen, die den Sturzbächen ihren Weg weisen sollten, vorbei an besiedelten Schuttkegeln des Talgrundes. Das rostfarbene Gemisch der Stelzen und Geländer der Eisenbahntrasse, die ihre Linie unbeeindruckt durch das Tal, durch Berghänge, über Straßen und Dörfer hinweg zog. Vor allem aber war es das Verschwinden des Nadelwaldes und das Auftauchen einer buschigen Vegetation, die das Gesicht der Berge veränderte. Deren zunehmende Nacktheit kündigte den Süden an.
Es war eine Fahrt voller Karten und Bücher gewesen, die im Auto verstreut herumlagen, voller Ideen für Besichtigungen, Wanderungen und Ausflüge. Ein Meer voll stiller Erwartungen, das sie mitgeführt hatten, auf der Suche nach einem Punkt, wo an Vergangenem und Vertrautem wieder angeknüpft werden konnte, verbunden mit der Sehnsucht nach verlorengegangenen Tagen.
Sie bestellten Antipasti und Wein, sogen die Herbstluft ein, die sich gemeinsam mit dem ersten Glas in ihren Köpfen auszubreiten begann, auf einer Terrasse, die sie als ihre Insel auserwählt hatten. Die junge Wirtin servierte ihnen erste Anregungen für einen langen Abend.
Was wir nicht alles machen werden, lachten sie. Mit Fahrrädern die Weinberge, Dörfer und Kleinstädte der Gegend erkunden. Unterstützt von Empfehlungen ihrer Freunde für besondere Gaststätten, kaum auffindbare Geheimtipps, für Spezialitäten, die beinahe noch niemand kannte und die sich in ihren Kreisen als Besonderheiten herumgesprochen hatten; Empfehlungen, auf einem zusammengefalteten Zettel im Handschuhfach deponiert. Die Freiheit einer mehrtägigen Tour in den herbstlichen Süden hatte sie schon während der Fahrt wie aufgedrehte, übermütige Kinder reden lassen, wenn sie während der Fahrt die Beschreibungen von Besichtigungszielen, kulinarischen Höhepunkten, Weingütern und Kirchen studierten.
Und dann diese Trattoria, die sie entdeckt hatten, unweit der Brücke, auf der sie den Fluss überquert hatten, kurz bevor dieser endgültig den Hängen der ausufernden Berge in die Ebene entkam.
Als die Dunkelheit hereinbrach, waren die beiden Frauen nicht nur von der abendlichen Atmosphäre und vom Himmel über der Ebene benebelt, sondern auch vom Wein. Die junge Wirtin brachte ihnen die Rechnung.
Sind Sie das erste Mal hier?
Die Wirtin sprach sie auf Deutsch an.
Ja, es ist wunderschön hier.
Die Wirtin sah sie an.
Haben Sie einen Augenblick Zeit?
Die beiden blickten der Wirtin überrascht nach, die eilig in der Küche verschwand. Mit einer abgenutzten Ledertasche unter dem Arm kehrte sie zurück.
Ich möchte Ihnen etwas zeigen!
Die zwei Frauen waren überrascht, aber auch neugierig geworden. Schon hatten sie sich zum Verlassen der Terrasse vorbereitet, wollten in Ruhe ihre Dinge zurechtmachen, in die Nacht hineindämmern. Aber sie konnten sich der überraschenden Bitte der Wirtin nicht entziehen. Sie erfuhren, dass die Tasche einem Mann gehörte, der offensichtlich aus derselben Stadt kam wie sie, was die Vermutung der Wirtin war.
Ich möchte Sie natürlich nicht belästigen, aber wenn Sie ein wenig Zeit haben, möchte ich Ihnen etwas darüber erzählen. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Möchten Sie einen Grappa?
Marija lachte kurz auf, blickte zu Hilde, nickte zustimmend und bedankte sich für den Grappa, einen würdigen Abschluss des Abends auf der Terrasse.
Die Wirtin legte die Ledertasche auf den Tisch und fing an zu erzählen.
„Der Mann, dem diese Tasche gehört, hat vor ungefähr 15 Jahren für ein paar Tage in unserer Herberge gewohnt. Er unternahm Ausflüge oder saß auf der Terrasse, las und schrieb. Irgendwann ließ er offensichtlich die Tasche liegen, unten am Fluss. Wir wissen nicht, warum. Jemand hat sie gefunden und sie meinem Vater gebracht. Er erkannte die Tasche des Gastes wieder, denn der Mann hatte sie immer mit sich getragen, beim Frühstücken und beim Abendessen.
Eine auffällige Tasche, wie Sie sehen!
Auf einem Stuhl neben seinem Tisch war sie immer gelegen. Daran kann sogar ich mich erinnern. Damals habe ich meinem Vater in der Trattoria geholfen, während des Sommers. Mein Vater hat damals gemeint, der Mann habe die Tasche verloren und werde sich vielleicht wieder melden. Vielleicht war etwas passiert, vielleicht ein Unfall. Aber der Mann, dem sie gehörte, kehrte nicht mehr zurück. Niemand holte die Tasche ab. Mein Vater hat sich mit einem Polizisten darüber unterhalten, der ebenfalls nicht wusste, was er tun konnte. Allerdings stellte die Polizei anschließend Erkundigungen an, aber ohne Ergebnisse.
Schließlich hat mein Vater die Tasche weggeräumt, sie auf den Dachboden gebracht und die Sache vergessen.
Vor zwei Jahren ist mein Vater gestorben.
Vor ein paar Wochen, beim Aufräumen des Dachbodens, bin ich selbst wieder auf diese Tasche gestoßen. Ich war neugierig und habe den Inhalt durchgeblättert. Als ich Sie heute miteinander sprechen hörte und Ihr Autokennzeichen gesehen habe, habe ich mir gedacht: Vielleicht kennen Sie zufällig diesen Mann, dem die Tasche gehört? Er muss aus Ihrer Stadt kommen und ungefähr in Ihrem Alter sein. Es ist möglicherweise ein absurder Gedanke von mir, aber vielleicht können Sie mit den Unterlagen etwas anfangen. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen?“
Die Tasche lag auf dem Tisch vor Hilde und Marija.
Dürfen wir die Unterlagen sehen?
Die Wirtin nickte. Hilde öffnete die Tasche. Sie enthielt Aufzeichnungen, Notizen, Zeitungsartikel, Kopien. Sie blätterte darin. Dann hielt sie irritiert inne. Hilde gab Marija zusammengefaltete Blätter, die in einem Briefkuvert steckten.
Was ist das? Da steht „Für Marija“ auf dem Umschlag.
Welche Marija?
Für dich?
Sie lachte.
Für mich? Wieso für mich?
Hilde blickte zu ihr, als sie den Namen des Absenders auf dem Kuvert las. Sie kannte doch diesen Namen? Nur ein Bild von diesem Mann hatte sie nicht.
War das für sie, ausgerechnet für sie? In einer Tasche, die viele Jahre auf einem Dachboden herumgelegen war?
Hilde erinnerte sich plötzlich an jemanden, der damals mehrere Male in der Wohngemeinschaft aufgetaucht war.
Doch! Du kennst ihn doch! Du hast ihn doch näher gekannt?
Marija blickte in eine Landschaft, die in der Dämmerung begann, ihre Farbe zu verlieren und in der Dunkelheit zu verschwinden. Grillen zirpten auf den umliegenden Hügeln.
Mit diesem Mann, den sie in der Stadt kennengelernt hatte, war sie auf der Durchreise gewesen, auch in dieser Gegend, vor vielen Jahren. Sie betrachtete die Tasche, und ein schmerzliches Gefühl stieg in ihr hoch. Es war in jenem Sommer gewesen, in dem sie einander kennengelernt hatten. Danach hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Er hatte sie enttäuscht, sie hatte nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Auch er nahm später keinen Kontakt mehr zu ihr auf. Marija sah mit starren Augen in die Ferne und erinnerte sich, wie er mit ihr durch die Stadt gegangen war, damals.
Hilde blickte sie erstaunt an. Sie nahm zunächst einen Schluck Grappa und holte tief Luft. Sie war hellwach geworden und bat die Wirtin um einen Espresso.
„Na, das ist ja was! Sie kennen wirklich diesen Mann, dem die Tasche gehört?“
Hilde nickte und sah die sprachlose Marija an.
Beide blätterten die Papiere in der Tasche durch. Die Luft begann abzukühlen. Hilde holte Jacken aus dem Zimmer. Dann rief sie nach der noch immer leicht fassungslosen Wirtin. Sie bat sie, die Unterlagen ausleihen zu dürfen. Sie könnten sich darum bemühen, diesen Mann wiederzufinden, um ihm die Tasche zurückzugeben, falls dies möglich, falls dies überhaupt wichtig wäre.
Der Wind frischte auf, die Nacht war erhellt von den Lichtern der Ortschaften auf den Hügeln und in der Ebene. Eine kurze Reise war es, die sie sich vorgenommen hatten, begleitet von Wünschen und Überraschungen.
Und von einer langen Nacht ohne Schlaf.
Marija begann zu erzählen.
Als er mit seinem Fahrrad zu schnell in eine Kurve des Radweges einbog, dort, an einer unübersichtlichen Stelle, begrenzt von Steinsockeln und Bäumen zur linken und zur rechten Hand, war es zu spät. Es war eine Kurve, die für ihn und das entgegenkommende Fahrrad, das er übersehen hatte, zu eng geriet. Zu eng, um sein Gefährt noch auf seiner Spur halten zu können. Er schaffte es, noch abzuspringen. Aber sein Rad rutschte schräg in das entgegenkommende hinein. Er landete im Blumenbeet und touchierte mit seinen Beinen die Kante einer Steinmauer.
Als er wieder auf den Füßen stand, sah er sie. Sie blutete am Knie, stand im Blumenbeet zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Weges und sammelte ihre Sonnenbrille und den Inhalt ihrer Tasche ein, der verstreut herumlag.
Sie blickte auf und schrie ihn an, ob er verrückt sei.
Was sonst sei er denn gewesen, dachte er sprachlos in der warmen Frühlingsluft, die Situation eher absurd als beunruhigend empfindend. Er bemühte sich, nicht zu lachen, sondern ein schlechtes Gewissen zu demonstrieren und Buße zu tun. Er beruhigte sie und schob ihre Fahrräder zu einer nahen Apotheke. Dort besorgte er ein Pflaster für ihr Knie. Und es fiel ihm nichts Besseres ein, als sie einfach ins nächste Café einzuladen. Zu seiner Überraschung ging sie auf seinen Vorschlag ein.
Ich bin in Ihrer Schuld, darf ich mich vorstellen?
Die Sonne verschwand hinter der Kulisse aus Stadt, Fluss und Bergen. Die Luft begann abzukühlen.
Maria heißen Sie? Darf ich „du“ sagen?
Nein! Marija!
Welcher Zufall, diese Begegnung, dachte er, als er mit ihr über Fahrradwege sprach, über Gefahren des Verkehrs, über das Wetter, über vorbeiflanierende Menschen, die sie beobachteten. Sie gefiel ihm, und er redete drauflos, um mit ihr im Gespräch zu bleiben. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht doch für einen Idioten hielt. Wahrscheinlich war es auch so. Aber er konnte nicht anders. So verbrachte er eine halbe Stunde mit einer Frau, die er aufgrund eines Unfalls kennengelernt hatte. Sie saßen da und redeten. Unabhängig voneinander und nebeneinander schienen sie den ersten warmen Tag zu genießen. Er bemerkte, wie er beim Versuch, sie zu beeindrucken, seiner Stimme einen sonoren Unterton gab. Während er darüber grübelte, wo er sich das nur angewöhnt haben könnte, setzte sie sich in seinem Kopf fest an jenem Nachmittag. Verstohlen beobachtete er sie aus den Augenwinkeln und versuchte, beeindruckende Dinge zu sagen. Er sprach langsam und bedächtig, die Wörter schienen ihm auf der Zunge zu zergehen. Sie hörte belustigt zu. Grauhaarige Kellner vor rotbraunen Tapeten, das Geblättere von Tageszeitungen und Magazinen, das Dröhnen der Kaffeemaschine und das Rauschen des frühabendlichen Verkehrs auf der gegenüberliegenden Flussseite begleiteten ihre Begegnung. Auch Hubschrauber, die vom nahen Krankenhaus über ihre Köpfe hinweg flogen.
Dann musste sie gehen.
Ob er sie wiedersehen könne, fragte er noch, und wann das möglich sei.
Wozu?
Sie stieg auf das wieder zurechtgebogene Rad und verschwand im Getümmel am Fluss.
Er blieb sitzen, blickte in die Gegend und bestellte nach einer Weile einen Campari Soda. Im Wolkenspiel des späten Nachmittages schien sich eine unruhige Langeweile widerzuspiegeln, die ihn schon einige Zeit durch die Stadt trieb, wie der Wind ein ausgetrocknetes Blatt. Der rote Saft aus dem Glas verteilte sich bittersüß auf seinem Gaumen wie auf den Trümmern seiner letzten Monate und das Verschwinden der Sonne hinter den Hügeln läutete den Abend ein.
In den vergangenen Monaten war ihm viel Gewohntes ungewohnt geworden. Was ihm früher gefallen hatte, gefiel ihm nicht mehr. Irgendetwas war passiert, ging zu Ende, aber er wusste nicht, was es war. In den Wolken widerspiegelten sich die Farben des Frühsommers. Irgendwie schienen sie mit seinem derzeitigen Zustand zu verschmelzen, dem er einem Universum aus wechselnden Wohngemeinschaften, anstrengenden Buchlektüren, Kaffeehausbesuchen, Gesprächen der Nacht und einer lustlosen Arbeit zu verdanken hatte. Und einem Studium, das begonnen hatte, sich in die Länge zu ziehen. Verwirrt und orientierungslos saß er da, noch einer Beziehung zu einer Frau nachhängend, die wegen einer beunruhigenden Ereignislosigkeit im Sand verlaufen war. Er wollte und er sollte und so weiter, sagte er zu sich im Stillen. Er empfand Unruhe, wie er sich gegenüber seinen Freunden bei diversen Treffen auszudrücken pflegte, in letzter Zeit.
Ein Semester neigte sich wieder seinem Ende zu, und er wollte zu einem Abschluss finden. Sein Studium dauerte schon zu lange. Hatte er einen Zeitpunkt übersehen, einen entscheidenden Moment nicht erwischt, war ihm etwas abhandengekommen?
Das dachte er, wenn er dachte und in den Fluss vor der Terrasse starrte. Er wunderte sich, mit welcher Begeisterung er damals dieses Studium begonnen hatte, wie er stundenlang mit Freunden diskutieren hatte können, früher. Aber irgendwann war ihm der erste Schwung verloren gegangen, den er jetzt für seine Abschlussarbeit gebraucht hätte. Jahrelang hatte er sich in dieser Szene bewegt. Irgendwann hatte er eine Arbeit begonnen, die Empfehlung einer Bekannten angenommen, um Geld zum Leben zu verdienen, zum Überleben. Und irgendwann hatte ihn dieses Gefühl beschlichen, dass die ihm liebgewonnene, dahinfließende Lebensweise nicht auf Dauer angelegt war. Irgendetwas war vor wenigen Wochen beschleunigt eingetreten, auch nachdem ihm eine Frau mitgeteilt hatte, sie halte ihn nicht mehr aus. So einen, der sich auf nichts, schon gar nicht auf sie, wirklich und ernsthaft einlasse.
Das, was er einmal geliebt hatte, wonach er sich in jüngeren Jahren gesehnt hatte, nämlich eine neue Welt, war für ihn keine neue, vor allem keine besondere Welt mehr. Die Worte und Sätze, mit denen man in seinen Kreisen alles zu Tode erklärte, die Leute dazu, die das taten und auch daran glaubten, mit blinder Überzeugung, mit Überheblichkeit, mindestens über jeden Zweifel erhaben, waren ihm zunehmend auf die Nerven gegangen. Er begann sich zurückzuziehen aus dem, was er einmal gemocht hatte. Wenn er in letzter Zeit so dastand oder saß, im Café, im Abendlokal, bei Freunden, bei einem Konzert oder im Kino, in seiner Wohnung, in der Bibliothek, in den Hörsälen oder im Büro, waren die ersten Zweifel geboren: Du machst was anderes, du musst dich entscheiden!
Aber wofür?
Er merkte kleine Veränderungen. Er bemerkte, wie ihm seine Leidenschaft für vieles abhanden kam. Er konnte seine Freunde – oder wie immer er die Leute nannte, die er kannte, die ihm im Lauf einer Woche an gewohnten Orten unterzukommen pflegten, mit denen er trank und redete – nicht mehr sehen. Er konnte sich selber nicht mehr zuhören, diesem selbstgerechten, pathetischen, abstrakten, rechthaberischen Gerede. Eine ständige Wiederholung, eine ständige Bestätigung des Immergleichen. Dieses Hineinfallen und Sich-treiben-Lassen vom Rhythmus des Wochenendes, die langen Abende und Nächte mit viel Alkohol und endlosen Diskussionen. Wieder einmal war es soweit, dass er sich vornahm, Vorsätze zu fassen. Wie immer, in regelmäßigen Abständen. Wieder einmal, nicht das erste Mal. Aber die Abstände verringerten sich, zumindest empfand er es so.
Die verrinnende Zeit belästigte ihn damit, ein Thema für eine Abschlussarbeit zu finden und diese auch zu Ende zu bringen. Plötzlich nahm er wahr, dass Zeit vergehen kann. Der Chef des Zeitschriftenverlages, in dem er nun schon seit mehreren Jahren in Teilzeit arbeitete, hatte von möglichen Einsparungen gesprochen, die auch seinen Bereich betreffen würden. Nicht nur vermutlich, sondern sehr wahrscheinlich. Offensichtlich sollte er sich entscheiden. Für dieses oder für jenes, vielleicht für eine andere Aufgabe. Der Chef wollte ihn in der Firma behalten, er schätzte ihn, er wünschte, dass er bleibe. Aber er selbst wusste nicht, ob er das wollte. Zunehmend hatte er das Gefühl, dass er sich schon zu lange in dieser Welt aufhielt. Er hatte begonnen, sie zu verachten.
Zahlen, rief er zu einem der herumstehenden Kellner, der ihm gerade den Rücken zukehren wollte.
Ein unruhiger Sommer wird das, befürchtete er, als er das Glas in der Abendsonne drehte, mit Resten des Camparis an den Rändern und auf dem Boden des Glases, wo sich das Schmelzwasser des Eiswürfels zu einer orangefarbenen Suppe gesammelt hatte.
Etwas ändert sich. Ich muss auf mich achtgeben, dachte er, als er den letzten Tropfen ausschlürfte.
Ob ich sie wiedersehe, überlegte er, als er an die Frau dachte, die er gerade flüchtig kennengelernt hatte.
Ob ich hier auf sie warten soll?
Sie kommt ohnehin wieder vorbei, oder? So es seine Arbeit und sein Studium zulassen sollten, und sie ließen es zu, angesichts seiner noch vorhandenen Souveränität über seine Zeit. Er könnte gelegentlich hier warten, um dieselbe Tageszeit, hier auf der Terrasse. In der Vermutung, sein Unfallopfer würde sich bequemen, die Strecke abermals mit dem Fahrrad zu passieren und vor seiner Hartnäckigkeit zu kapitulieren.
Aber was sollte das für ein Schwachsinn sein?
An jenem lauen Frühsommerabend schob sich eine wehmütige Sehnsucht wie eine Sonnenbrille zwischen seine Augen und den Rest der Stadt. Er fühlte sich plötzlich ein wenig existenzialistisch. Vielleicht wie Der Fremde von Camus, vielleicht wie ein Tramper on the Road.
In der Regel eilte sie durch diese Gegend, ohne von ihr bewusst Notiz zu nehmen, vor allem nicht von der schmuddeligen Passage, die der Wind regelmäßig durchlüftete, um Uringerüche aus dunklen Ecken zu vertreiben. An diesen Teil der Stadt war sie nicht gewöhnt, wollte sie sich nicht gewöhnen. Sie nutzte den Durchgang als Abkürzung. Hier gab es nichts für sie, nichts mehr, was sie festhielt. Wie automatisch und beinahe betäubt legte sie die Strecke zurück, als ob nichts um sie herum wäre. Schmutzige Fassaden erinnerten sie stets an etwas, mit dem sie nichts zu tun haben wollte.
Sie hatte es geschafft, einen Platz zu finden ohne unterzugehen, ohne sich unterzuordnen, wem auch immer, verheerenden Traditionen oder Gewohnheiten oder irgendwelchen Verrückten, die überall lauerten.
Nach und nach hatte sie sich ihre eigene Heimat erkämpft und erwirtschaftet, über die sie nun verfügte, in der sie Verbündete hatte. Einen Raum, der ihr erlaubte, den alten Ballast und alle früheren Abhängigkeiten zu ignorieren. Sie konnte einfach die Stadt durchqueren, diese Räume der Erinnerung, ohne dass diese ihr etwas anhaben konnten.
Durch eine Glasscheibe fing sie einen Blick ein, der sie innehalten ließ.
Sie kannte das Gesicht des Mannes, der zu ihr aufgesehen hatte, zunächst nur kurz, zufällig, dann noch einmal, irritiert und neugierig. Er winkte ihr. Sie betrat den Raum.
Dann stand sie vor ihm, nachdem sie das schmierige Café betreten und er sie angesprochen hatte. Ja, ich habe H. gekannt, antwortete sie auf seine Frage, die er beiläufig gestellt hatte, nachdem er meinte, er kenne sie von früher.
Sie erinnerte sich an sein Gesicht. Es war deutlich älter geworden, ein wenig gezeichnet von Alkohol und Einsamkeit. Sein Blick schien ein wenig verloren, gleichzeitig blickte er sie aus scharfen Augen an.
Er war mit H. in Kontakt gewesen, damals. Sie hatten gelegentlich zusammengesessen. Jetzt konnte sie sein Gesicht wieder klar zuordnen. Ein Treffen fiel ihr wieder ein, beiläufig hatte sie das miterlebt, einmal, als sie H. abgeholt hatte. Ja, gelegentlich war sie dazu gestoßen, als die beiden zusammensaßen, aber sie hatte mit ihm und den anderen sonst nichts zu tun gehabt.
Wieso fragen Sie mich nach ihm? Sind Sie deshalb hereingekommen?
Ich weiß nicht, vielleicht? Ich erinnere mich an Sie. Gleichzeitig erinnern Sie mich an H.
Er blickte sie zögernd an und lächelte.
Das ist lange her, sehr lange.
Diese plötzliche Erinnerung an H. riss ihn aus seinem dumpfen Rhythmus, der ihn über die Jahre erfasst hatte, wie ihm schien. Aus einen Alltag, den er regelmäßig hier verbrachte, an Nachmittagen, wenn ihm die Wohnung zu eng zu werden, ihn das Gewohnte seiner vier Wände voller Bücher zu erdrücken schien und er nicht länger eintauchen wollte in sein Himmelreich voller Geschichten, die in unendlichen Folgen in der Bibliothekswand steckten, die die halbe Wohnung einnahm. Dann verlagerte er regelmäßig seinen Wohnsitz in dieses heruntergekommene Kaffeehaus, wo er beim vertrauten Rotwein vor sich hinbrüten konnte. Über viele Jahre, in denen er hier die inzwischen nicht mehr nur sprichwörtlich alten Bekannten traf. Sie wussten, wo er zu finden war: Er, der Gewohnheiten hasste, sie immer für das Übel jeden Lebens gehalten hatte, war nun ein solches Gewohnheitstier geworden, wie es ihm immer verhasst war. Es ging vielen Menschen so.
Als er die Frau am Fenster gesehen hatte, hatte er fast reflexartig die Hand gehoben, da er sich daran erinnerte, sie einmal gekannt zu haben. Er war plötzlich neugierig, obwohl ihm in diesem Moment nicht klar war, was er da wohl wollte, als er sie hereinwinkte. Fast war es ihm peinlich, fast war er erschrocken, was er sich da anzutun schien und vielleicht auch dieser Frau.
Ja, meinte er, er erinnere sich an diese Jahre, als sie H. kennengelernt hatte und die anderen – zumindest für kurze Zeit, bevor anderes kam.
Wissen Sie etwas von ihm?
Warum fragen Sie mich? Ich dachte, Sie seien zusammen, damals habe ich das so wahrgenommen.
Nein, das sind wir nicht, darum frage ich Sie ja!
Ich weiß nur, dass er in einer anderen Stadt lebt. Seit damals habe ich ihn aber nicht mehr gesehen. Aber jetzt, wo ich Sie sehe, nach all den Jahren, so unverhofft, gehen mir Gedanken durch den Kopf, über damals.
Was meinen Sie damit? Wie war das damals?
Ich kannte H., weil er dieser Gruppe um den Professor angehörte und sehr engagiert war. Ich kannte ihn von der Arbeit an seinem Thema. Es waren Themen, die uns alle beschäftigt haben, wir haben uns darüber ausgetaucht. Ich war damals Assistent des Professors und mit der Betreuung der Veranstaltungen und auch der Arbeiten der Studierenden betraut.
Sie stand vor ihm und überlegte, ob sie gleich wieder gehen oder bleiben sollte.
Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen? Haben Sie ein wenig Zeit?
Warum eigentlich nicht, dachte sie und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber.
Ja, gerne. Ein bisschen habe ich Zeit.
Es war dunkel, gelbes Licht füllte den vergilbten Raum aus, der von überwiegend schweigenden Menschen besetzt war, die vor sich hin lasen und rauchten, nur manche waren in Gespräche vertieft.
Also, was meinen Sie? Wie war das damals? Möchten Sie mir davon erzählen? Jetzt im Nachhinein merke ich, dass ich vieles von ihm nicht wusste.
Tatsächlich?
Er nahm die Milch und goss sie in den Kaffee.
Also gut.
Er lachte kurz auf und begann zu erzählen.
Ich versuche Ihnen ein Bild zu geben, wie es sich für mich, im Nachhinein, darstellt.
Also H. und seine Freunde waren Leute, die wie er vom Land kamen.
Wie meinen Sie das, dass sie vom Land kamen? Spielt das eine Rolle?
Ja, ich meine doch, sie waren einander ähnlich in ihrer Sicht auf die Welt. Ich glaube, irgendwann ist ihm selbst aufgefallen, dass er gar niemanden aus der Stadt näher kannte. Er hatte sich aber nie darum gekümmert. Irgendwann im Laufe seines Studiums schien es ihm klar geworden zu sein, dass er mit vielen seiner Freunde das Verlangen gemeinsam hatte, sich aus den Fesseln der eigenen Herkunft zu befreien, so nannte er es mir gegenüber. Klingt pathetisch, oder?
Oh, ich hatte einen harten Tag. Ich bin eigentlich ein wenig zu müde dafür und Sie reden so daher. Was sagten Sie? Fesseln ihrer Herkunft? Ich weiß nicht, ob ich dafür heute noch die Nerven habe.