Über das Buch

Eduardo Halfons neuer Roman über ein Familiengeheimnis und die Verlässlichkeit von Erinnerungen. — »Eine Meisterleistung.« New York Review of Books

»Er hieß Salomon. Er starb, als er fünf war, ertrunken im Amatitlán-See. So bekam ich es als Kind in Guatemala erzählt.« Wie passt das zusammen mit dem Foto eines traurigen Jungen im Schnee von New York im Jahr 1940, dessen Kopf aussieht wie der eines Erwachsenen? Um die wahre Geschichte seines Onkel Salomons zu erfahren, fährt der Erzähler zum Haus seiner Großeltern am Amatitlán-See und befragt eine uralte Kräutersammlerin, die von unzähligen ertrunkenen Kindern weiß, doch nichts von Salomon. Was ist mit dem verschwundenen Onkel passiert und warum schweigt die Familie über sein Schicksal? Eduardo Halfons preisgekrönter Roman ist ein atemberaubendes Duell zwischen Erfindung und Wahrheit.

Eduardo Halfon

Duell

Roman

Aus dem Spanischen von Luis Ruby

Carl Hanser Verlag

Für dich, Leo, der du zur Morgenstunde kamst mit einem Kolibri

Einen ewigen Namen will ich ihnen geben.

Jesaja 56,5

Er hieß Salomon. Er starb, als er fünf war, ertrunken im See von Amatitlán. So bekam ich es als Kind in Guatemala erzählt. Der ältere Bruder meines Vaters, der erstgeborene Sohn meiner Großeltern, mein potentieller Onkel Salomon, sei im See von Amatitlán ertrunken, verunglückt, als er so alt war wie ich, und seine Leiche sei nie gefunden worden. Wir verbrachten alle Wochenenden im Landhaus meiner Großeltern in Amatitlán, am Seeufer, und ich konnte den See nicht anschauen, ohne mir vorzustellen, dass auf einmal der leblose Körper des kleinen Salomon auftauchte. Ich stellte ihn mir immer blass und nackt vor, und immer trieb er auf dem Bauch in der Nähe des alten Holzstegs. Mein Bruder und ich hatten uns sogar ein geheimes Gebet ausgedacht, das wir am Steg vor uns hin murmelten — ich kann mich noch daran erinnern —, bevor wir in den See sprangen. Wie eine Art Beschwörung. Wie um das Gespenst des kleinen Salomon zu vertreiben, man konnte ja nie wissen, vielleicht schwamm das Gespenst des kleinen Salomon noch immer dort herum. Näheres über seinen Unfall wusste ich nicht und wagte auch nicht, danach zu fragen. Niemand in der Familie redete von Salomon. Niemand sprach auch nur seinen Namen aus.

*

Ich fand problemlos den Weg zum Landhaus in Amatitlán, das früher meinen Großeltern gehört hatte. Erst fuhr ich an der gewohnten Einfahrt des Thermalbads vorbei, dann an der alten Tankstelle, dann an der unverändert weitläufigen Kaffee- und Kardamomplantage. Ich passierte eine Reihe von Ferienhäusern, die mir überaus vertraut vorkamen, obwohl alle oder fast alle inzwischen verlassen waren. Ich erkannte den Felsen wieder — düster, riesig, tief in die Bergflanke eingelassen —, damals als Kinder sahen wir darin die Form einer fliegenden Untertasse. Für uns war er eine fliegende Untertasse, die vom Berg in Amatitlán aus ins Weltall abhob. Ich blieb noch ein wenig auf der gewundenen, engen Straße, die um den See herumführt. Dann erreichte ich die Kurve, in der mir meinem Vater zufolge immer so schlecht wurde, dass ich mich übergeben musste. In einer zweiten, gefährlicheren, schärferen Kurve drosselte ich das Tempo und wusste sofort wieder, dass es die letzte war. Und bevor ich in Zweifel geraten, bevor ich nervös werden, bevor mich die innere Anspannung dazu bringen konnte, kehrtzumachen und schleunigst in die Stadt zurückzufahren, sah ich sie vor mir: dieselbe Mauer aus Schiefer, dasselbe große schwarze Tor.

Ich stellte den saphirblauen Saab vor der Steinmauer am Rand der Straße ab und blieb in dem alten Wagen sitzen, den mir ein Freund geliehen hatte. Es war spätnachmittags. Der Himmel glich einer einzigen dichten, erdbraunen Masse. Ich ließ das Fenster herunter, und sofort schlug mir ein Geruch nach Feuchtigkeit ins Gesicht, nach Schwefel, nach etwas, das tot war oder kurz davor. Mir ging durch den Sinn, dass das, was da tot war oder kurz davor, der See selbst war, so verschmutzt und faulig, so misshandelt über Jahrzehnte, und dann hörte ich lieber auf zu denken und kramte das Päckchen Camel aus dem Handschuhfach. Ich nahm eine Zigarette heraus und steckte sie an, und der süßliche Rauch gab mir allmählich den Glauben zurück, wenigstens ein bisschen, wenigstens bis ich aufsah und feststellte, dass mir gegenüber, fern und reglos auf dem Asphalt der Straße, ein Pferd stand. Ein hagerer Gaul. So dürr wie ein Skelett. Ein Gaul, der da nicht sein sollte, mitten auf der Straße. Ich weiß nicht, ob er schon die ganze Zeit dort gestanden und ich ihn nur nicht gesehen hatte oder ob er gerade erst angekommen war, gerade erst aufgetaucht, wie eine weißliche Erscheinung unter all dem Grün. Er stand ein gutes Stück weit weg, aber nahe genug, dass ich jeden einzelnen Knochen seiner Rippen und Hüften erkennen konnte und auch ein stetes Zucken am Rücken. Um seinen Hals baumelte ein Strick. Sicherlich gehörte das Pferd jemandem, einem Bauern von dieser Seite des Sees, vielleicht war es ausgerissen oder hatte sich verlaufen. Ich öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen, um es mir genauer anzusehen, und das Pferd hob sofort einen der Vorderläufe und fing an, auf den Asphalt zu klopfen. Ich konnte den Huf klappern hören, der nur leicht über den Asphalt schabte. Ich sah, wie das Pferd mühselig den Kopf senkte, möglicherweise um die Straße zu beschnuppern oder abzulecken. Danach sah ich, wie es zwei, drei langsame, schmerzerfüllte Sprünge zum Berg hin tat und vollends im Gestrüpp verschwand. Ich warf meine Zigarette nirgendwohin, ebenso wütend wie gleichgültig, und wandte mich dem schwarzen Eingangstor zu.

*

Mein libanesischer Großvater streunte durch den Garten hinter seinem Haus in der Avenida Reforma, um einen Swimmingpool herum, der längst nicht mehr in Gebrauch war, längst schon leer und zerkratzt, und rauchte dabei heimlich eine Zigarette. Er hatte vor kurzem seinen ersten Herzinfarkt erlitten, und die Ärzte sagten, er müsse das Rauchen aufgeben. Wir wussten alle, dass er dort draußen am Swimmingpool heimlich rauchte, aber niemand sagte etwas dazu. Vielleicht traute sich niemand. Ich beobachtete ihn durchs Fenster eines Zimmers, das direkt auf den Swimmingpool hinausging, irgendwann hatte es als Ankleide- und Wohnraum gedient, aber jetzt war es nur noch eine Kammer, in der Kisten und Mäntel aufbewahrt wurden und alte Möbel. Mein Großvater schlenderte in dem kleinen Garten hin und her, eine Hand hinter dem Rücken, darin versteckt die Zigarette. Er trug ein weißes Oberhemd, eine graue Gabardinehose und schwarze Lederpantoffeln, und wie immer stellte ich mir vor, wie er mit diesen schwarzen Lederpantoffeln durch die Lüfte flog. Ich wusste, dass mein Großvater Beirut im Jahr 1919 verlassen hatte, im Alter von sechzehn Jahren, mit seiner Mutter und seinen Geschwistern, und er war geflogen. Ich wusste, dass er zunächst über Korsika geflogen war, wo seine Mutter starb und begraben wurde; über Frankreich, wo sämtliche Geschwister in Le Havre einen Dampfer bestiegen, die SS Espagne, mit Kurs auf Amerika; über New York, wo ein fauler oder vielleicht launischer Einwanderungsbeamter beschloss, die Hälfte unseres Nachnamens abzuschneiden, und wo mein Großvater einige Jahre lang arbeiten sollte, in Brooklyn, in einer Fahrradfabrik; über Haiti, wo ein Cousin von ihm lebte; über Peru, wo ein weiterer Cousin von ihm lebte; und über Mexiko, wo noch ein weiterer Cousin von ihm lebte, der Pancho Villa mit Waffen belieferte. Ich wusste, dass er bei der Ankunft in Guatemala das Portal del Comercio überflogen hatte — als vor dem Portal del Comercio noch eine Straßenbahn vorbeifuhr, gezogen von Pferden oder Maultieren — und dass er dort ein Geschäft für Importtextilien eröffnet hatte, das El Paje hieß. Ich wusste, dass mein Großvater in den sechziger Jahren von Guerillakämpfern entführt worden und nach fünfunddreißig Tagen zurück nach Hause geflogen war. Und ich wusste, dass meinen Großvater eines Abends am Ende der Avenida Petapa ein Zug überrollt hatte, der Zug hatte ihn in die Luft geschleudert oder vielleicht in die Luft geschleudert oder zumindest für mich, für alle Zeit in die Luft.

Mein Bruder und ich lagen in der Kammer auf dem Boden, zwischen Schubladen und Koffern und alten Lampen und staubigen Sofas. Wir redeten im Flüsterton, damit mein Großvater nicht merkte, dass wir uns dort versteckten und in seinen Sachen stöberten. Seit mehreren Tagen wohnten wir nun schon im Haus meiner Großeltern in der Avenida Reforma. Bald würden wir das Land verlassen, in die USA gehen. Meine Eltern hatten uns nach dem Verkauf unseres Hauses bei den Großeltern gelassen und waren in die USA vorausgereist, um ein neues Heim zu suchen, Möbel zu kaufen, uns in der Schule einzuschreiben und alles für den Umzug vorzubereiten. Ein Umzug auf Zeit, wie meine Eltern immer wieder behaupteten, nur bis sich die politische Lage im Land beruhigt hätte. Welche politische Lage im Land? Ich verstand das nicht so ganz, das mit der politischen Lage im Land, obwohl ich mich inzwischen daran gewöhnt hatte, beim Einschlafen die Bombeneinschläge zu hören und die nächtlichen Schusswechsel; und obwohl ich auf dem Grundstück hinter dem Haus meiner Großeltern zusammen mit einem Freund den Schutt gesehen hatte, die Ruine dessen, was einmal die spanische Botschaft gewesen war, wie mein Freund mir erklärte, die hätten nämlich Regierungstruppen mit Weißem Phosphor angezündet und dabei siebenunddreißig Mitarbeiter und Bauern getötet, die sich im Inneren des Gebäudes befanden; und obwohl ein Gefecht zwischen Armeesoldaten und einigen Guerillakämpfern direkt vor meiner Schule stattgefunden hatte, in der Siedlung Vista Hermosa, weshalb sämtliche Schüler einen ganzen Tag lang in der Turnhalle eingeschlossen wurden. Ich verstand auch nicht so ganz, wie es sich um einen Umzug auf Zeit handeln konnte, wo doch meine Eltern unser Haus verkauft und leergeräumt hatten. Es war der Sommer ’81. Ich stand kurz vor meinem zehnten Geburtstag.

Während mein Bruder mit dem Verschluss eines riesigen, harten Lederkastens kämpfte, maß ich auf der Digitaluhr, die mir mein Großvater vor einigen Monaten geschenkt hatte, die Zeit. Es war meine erste Uhr: eine klobige Casio mit großem Display und einem schwarzen Gummiarmband, das lose um mein linkes Handgelenk schlackerte (ich hatte schon immer zu schmale Handgelenke). Und seit mir mein Großvater die Uhr geschenkt hatte, konnte ich nicht aufhören, alles mitzustoppen, von allem die Zeit zu messen, die Resultate schrieb ich in einen kleinen Spiralblock und verglich sie miteinander. Zum Beispiel: wie viele Minuten der Mittagsschlaf meines Vaters dauerte. Zum Beispiel: wie lange mein Bruder morgens zum Zähneputzen brauchte und wie lange vor dem Insbettgehen. Zum Beispiel: wie lange meine Mutter an einer Zigarette rauchte, während sie im Wohnzimmer telefonierte, und wie lange, wenn sie in der kleinen Küche einen Kaffee trank. Zum Beispiel: wie viele Sekunden zwischen den Blitzen eines näher kommenden Sturms lagen. Zum Beispiel: wie viele Sekunden lang ich unter Wasser die Luft anhalten konnte, wenn ich in der Badewanne lag. Zum Beispiel: wie viele Sekunden lang einer von meinen Goldfischen außerhalb des Aquariums überleben konnte. Zum Beispiel: was die schnellste Methode war, mich morgens anzuziehen, bevor ich in die Schule ging (erst die Unterhose, dann die Socken, dann das Hemd, dann die Hose und dann die Schuhe oder erst die Socken, dann die Unterhose, dann die Hose, dann die Schuhe und dann das Hemd), wenn ich das nämlich herausfand, wenn ich die optimale Methode entdeckte, mich morgens anzuziehen, würde ich ein paar Minuten länger schlafen können. Die Uhr mit dem schwarzen Gummiarmband hatte meine Welt von Grund auf verändert. Ich konnte jetzt einfach alles messen, konnte mir die Zeit vorstellen, sie fassen, sie sogar bildhaft sehen auf dem digitalen Display. Die Zeit, begann ich zu glauben, war etwas Wirkliches und Unzerstörbares. Alles vollzog sich in der Zeit wie eine gerade Linie, mit einem Anfangs- und einem Endpunkt, und ich konnte diese beiden Punkte jetzt festmachen und die Linie abmessen, die sie voneinander trennte, und das Resultat in mein kleines Spiralheft eintragen.

Mein Bruder mühte sich weiter mit dem Verschluss des Lederkastens ab, während ich die Zeit stoppte, in der Hand ein Schwarzweißbild von einem Jungen im Schnee. Ich hatte es in einer Schachtel voller Fotos gefunden, die einen klein, die anderen größer, alle alt und schlecht erhalten. Ich zeigte sie meinem Bruder, der weiter gegen das Schloss des Kastens trat, und er fragte, wer das Kind auf dem Foto denn sei. Keine Ahnung, sagte ich und warf einen näheren Blick auf das Bild. Der Junge sah zu klein aus. Er wirkte nicht glücklich im Schnee. Mein Bruder sagte, da steht ja was auf der Rückseite, und trat ein letztes Mal gegen den Kasten, der sofort aufsprang. Darin befand sich ein riesiges Akkordeon, strahlend rot und weiß und schwarz (so strahlend, dass ich sogar vergaß, die Stoppuhr anzuhalten). Mein Bruder drückte in die Tasten, und das Akkordeon heulte in genau dem Augenblick auf, in dem ich las, was auf der Rückseite des Fotos stand: Salomon, New York, 1940.

Vom Swimmingpool aus schrie mein Großvater etwas auf Arabisch oder vielleicht auf Hebräisch, und ich ließ das Foto auf den Boden fallen und rannte aus dem Zimmer, wischte mir die Hand am Hemd ab und machte einen Bogen um meinen Großvater, der in dem Garten weiterrauchte, und gleichzeitig fragte ich mich, ob wohl der kleine Salomon, der im See ertrunken war, derselbe kleine Salomon im Schnee sein konnte, in New York, 1940.

*

Es gab keine Klingel oder Glocke