Verrat — Betrug — Intrige: Wer den schlimmsten Formen menschlicher Bosheit zum Opfer gefallen ist, dem bleibt als Befreiungsschlag oft nur die Verdammung des Gegners. Die Weltliteratur kennt viele Verdammungen, in der Bibel, auf der Bühne, in Märchen und Legenden. Michael Köhlmeier erzählt ein gutes Dutzend Beispiele, die Konrad Paul Liessmann philosophisch kommentiert: Geschichten wie die von Agamemnon und Achill, Jesus und der Ehebrecherin, Othello und Desdemona. Ein großer Erzähler und ein großer philosophischer Lehrer erkunden die dunkelsten Seiten unserer Existenz — ein brillanter Dialog vor einem weit gespannten Horizont der Ideen.
Michael Köhlmeier
Konrad Paul Liessmann
Der werfe den ersten Stein
Mythologisch-philosophische Verdammungen
Carl Hanser Verlag
Betrug
Lüge
Eifersucht
Unterwerfung
Misstrauen
Kränkung
Intrige
Niedertracht
Teufelspakt
Verrat
Vergewaltigung
Schuld
Es war einmal eine Familie — wer würde nicht gern so beginnen! Es war aber eine Familie, die nicht lange zusammenblieb, denn der Vater musste in die Welt hinaus, weil zu Hause keine Arbeit für ihn war. Er schloss das Gatter und winkte seiner Frau zu und seinem kleinen Sohn, der gerade groß genug war, um allein stehen zu können. Die beiden winkten noch, als der Bus längst hinter den Alleebäumen verschwunden war. Dann ging die Frau mit dem Buben ins Haus und weinte ein wenig. Aber sie weinte weniger, als sie selbst glaubte weinen zu sollen.
Die Schwester kam am Abend zu Besuch. Sie wohnte drei Häuser weiter; auch sie wohnte allein, ihr Mann war schon vor Jahren in die Welt hinausgezogen. Er schrieb Briefe. Alle Monate kam ein Brief, der war gut gelaunt. Sie tröstete ihre Schwester: »Es dauert nur wenige Tage«, sagte sie, »dann hast du dich daran gewöhnt. Du machst deine Sache, er macht seine, und wenn er wieder kommt, legt ihr eure Sachen zusammen, und dann sind es mehr als zwei, und wollen wir hoffen, dass die Männer draußen gut werden.«
»Das sind auswendig gelernte Sätze«, sagte die Weinende. »Ich werde mir einen anderen Mann suchen, einen, der es nicht nötig hat, irgendwo anders zu arbeiten. Einen, der mich nicht schlägt.«
»Genauso habe ich auch gedacht«, sagte die Schwester, »und heute denke ich nicht mehr so.«
Die Schwester hatte recht. Nach ein paar Tagen weinte die Frau nicht mehr, und sie küsste auch nicht mehr die ganze Zeit im Gesicht ihres kleinen Sohnes herum, was der gar nicht mochte; und nach ein paar weiteren Tagen hatte sie sich daran gewöhnt, allein zu sein. Sie staunte selbst darüber. Habe ich meinen Mann denn nicht lieb, fragte sie sich, dass ich ihn schon nach zwei Wochen nicht mehr vermisse?
Sie sprach mit ihrer Schwester darüber. Die sagte: »Doch, du hast ihn lieb. Du vertraust ihm. Darum machst du dir keine Sorgen. Und wenn man sich keine Sorgen macht, dann ist auch der Abschiedsschmerz nur halb so schlimm.«
So war das. Und so blieb es über die nächsten Jahre. Alle Monate bekam sie einen Brief von ihrem Mann, einen gut gelaunten. Sie machte ihre Sache, und sie wusste, er machte seine, und wenn er zurückkommt, dann legen sie beide ihre Sachen zusammen, und es wird mehr sein als doppelt so viel. Und sie hoffte, ihr Mann würde draußen ein guter Mann werden.
Derweil war der Mann in einem anderen Land und arbeitete. Die Arbeit war ganz anders, als er sich gedacht hatte, und die Menschen waren auch anders. Deshalb war er selber auch bald anders. Die Briefe ließ er sich schreiben. Er konnte lesen und schreiben, natürlich konnte er das, aber er hatte keinen Kopf für einen Brief nach Hause. Nach einem Jahr hatte er überhaupt keinen Kopf mehr für nach Hause. Er erinnerte sich, dass er oft mit dem kleinen Sohn geschimpft hatte. Weil er laut war. Oder weil er etwas umgekippt hatte. Weil er im Weg war. Weil er nicht essen wollte. Er erinnerte sich, dass er den kleinen Buben gehauen hatte, sogar mit dem Handrücken. Er erinnerte sich, dass er mit seiner Frau gestritten hatte deswegen. Sie hatte ihn angeschrien, sie werde weggehen von ihm, wenn er den Buben noch einmal schlägt. Aber er hat es wieder getan. Wenn er daran dachte, war kein schlechtes Gewissen in ihm. Im Gegenteil. Er dachte: Was hat die Familie aus mir gemacht? Und er antwortete sich selbst: Einen Mann, der nicht frei ist; einen Mann, der zornig ist, weil er nicht frei ist. Aber jetzt, jetzt war er frei. Er bezahlte den Schreiber, der sich für ihn die gut gelaunten Briefe ausgedacht hatte.
»Du musst mir von deiner Frau erzählen und von deinem Sohn«, sagte der Scheiber, »damit ich nicht ins Blaue hinein erfinden muss.«
Der Mann erzählte, erzählte aber nicht, dass er hart gewesen war und manchmal grausam; erzählte nicht, dass er sich unfrei gefühlt hatte; erzählte nicht, dass er seinen kleinen Sohn geschlagen hatte, und erzählte nicht, dass er seine Frau geschlagen hatte. Er dachte sich einen guten Vater aus und einen guten Ehemann, und während er erzählte, rollten die Tränen über seine Wangen.
Eines Tages kam der Schreiber und sagte: »So kann es nicht weitergehen. Der Mann, den ich erfinde, der kommt um vor Sehnsucht. Es ist, als ob ein glühender Dolch in sein Herz gestoßen wird! Er will nach Hause. Er schreibt, er stirbt vor Sehnsucht in der Ferne. Nimm Urlaub und besuche deine Familie!«
»Nein, das will ich nicht«, sagte der Mann. »Schreib im nächsten Brief, ich komme nicht, ich komme nie mehr wieder. Schreib: Ich verlasse euch! Und Punkt!«
»Das kann ich nicht«, sagte der Schreiber.
»Dann fahr doch du zu meiner Frau und zu meinem Sohn!«, sagte der Mann. »Du hast diese Briefe geschrieben, nicht ich. Du kennst sie besser als ich. Sag, du bist ich.«
»Aber wie soll das gehen!«, rief der Schreiber und schlug die Hände zusammen. »Sehe ich aus wie du? Ich bin einen halben Kopf kleiner.«
»Dann sag, du hast in der Ferne schwere Sachen tragen müssen, die haben dich zusammengedrückt. Und sag, auch die Sorge und die Sehnsucht haben dich zusammengedrückt. Sie wird dir glauben und dich dafür lieben.«
»Aber ich habe helle Augen und du dunkle«, sagte der Schreiber.
»Dann sag, in der Ferne scheint die Sonne so heiß, dass sie die Augen sogar bleicht.«
»Aber du bist schlank in den Hüften und breit in den Schultern, und ich habe einen dicken Bauch.«
»Dann sag, man isst in der Ferne so gut, und du hast nicht widerstehen können.«
»Aber ich sehe doch ganz anders aus als du!«, rief der Schreiber. Zugleich aber dachte er bei sich: Warum nicht? Habe ich mir nicht immer eine Familie gewünscht? Vielleicht reicht mir das Glück die Hand. Wäre es nicht ein Verbrechen, sie auszuschlagen?
»Also gut«, sagte er, »ich werde es tun.« Und er machte sich auf den Weg.
Er klopfte an die Haustür. Die Frau öffnete und fragte: »Ja?«
»Ich bin es«, sagte er, »dein Mann.«
Sie ließ ihn herein und sagte nichts.
»Wo ist der Bub?«, fragte er.
»Welcher Bub?«, fragte sie zurück.
»Unser Bub.«
»Der ist kein Bub mehr, der ist ein junger Mann. Der kommt am Abend erst. Er arbeitet am Tag.«
»Hat er hier eine Arbeit gefunden?«, fragte der Mann.
Die Frau nickte. Sie drückte Zitronen aus, weil sie dachte, er wird Durst haben. Sie trat mit dem Glas in der Hand nahe an ihn heran. »Warst du nicht größer als ich?«, fragte sie.
»Bestimmt«, sagte er. »Ich habe in der Ferne so schwere Sachen getragen, die haben mich zusammengedrückt, und auch die Sorge und die Sehnsucht haben mich zusammengedrückt, darum bin ich einen halben Kopf kleiner, als ich war.«
»Waren deine Augen nicht dunkel?«, fragte sie. »Weil sie nun hell sind.«
»In der Ferne, sag ich dir«, sagte er, »in der Ferne brennt die Sonne vom Himmel, die bleicht sogar die Augen aus.«
»Und warst du nicht schlank? Jetzt bist du dick.«
»Die guten Speisen in der Ferne, die haben das gemacht«, sagte der Mann.
Die Frau nickte und schaute ihn nicht mehr an.
Einen Tag und noch einen Tag schaute sie den Mann nicht an, dann lief sie zu ihrer Schwester hinüber. »Komm, ich muss dir etwas zeigen«, sagte sie.
Die Schwester sah sich den Mann an und sprach mit ihm. Lange sprach sie mit ihm, allein sprach sie mit ihm.
»Und?«, fragte die Frau hinterher.
»Er hat eine angenehme Stimme«, sagte die Schwester.
»Ist er mein Mann, will ich wissen!«
»Er weiß viel und kann sich sehr gewählt ausdrücken.«
»Ist er es?«
»Er hat Zärtlichkeit im Blick.«
»Ist er es?«
»Ja, er ist dein Mann«, sagte die Schwester. »Er ist draußen ein guter Mann geworden.«
Am Abend kam der Sohn von der Arbeit nach Hause. Seine Mutter sagte zu ihm: »Kannst du dich an deinen Vater erinnern?«
»An seine Briefe kann ich mich erinnern. Sie waren sehr schön«, sagte der Sohn. »Ich habe mir immer gewünscht, diesen Mann kennenzulernen, der so schöne Briefe schreibt.«
»Der ist es«, sagte die Frau und bat den Mann herein, der vor der Tür gewartet hatte.
»Genauso habe ich ihn mir vorgestellt!«, rief der Sohn aus und umarmte den Mann, und der Mann drückte seinen Sohn fest an seine Brust.
»Wie sehr ich euch vermisst habe!«, schluchzte er. »Die Sehnsucht hat mich fast umgebracht. Es war, als ob ein glühender Dolch in mein Herz gestoßen würde!«
Da glaubte nun auch die Frau, dass ihr Mann zurückgekehrt war und dass er draußen ein guter Mann geworden war. Hier wird er nicht so viel schleppen müssen wie in der Ferne, dachte sie, er wird sich wieder strecken und größer werden als ich. Hier scheint die Sonne nicht so heiß, dachte sie, seine Augen werden wieder dunkler werden. Und mit Bedauern dachte sie, leider kann ich nicht so gut kochen, wie man in der Ferne kocht, er wird seinen Bauch verlieren und wieder schlank werden.
So lebten sie viele Jahre zusammen und liebten sich. Die Frau dachte, er ist in der Ferne sanft geworden, er schlägt mich nicht mehr, und bald dachte sie das nicht mehr, bald konnte sie sich nicht mehr vorstellen, wie es ist, mit einem Mann zusammenzuleben, der sie schlägt.
Dann waren viele Jahre vergangen. Der Sohn hatte längst geheiratet und auch Kinder bekommen, zwei Buben, zwei Mädchen. Mann und Frau aber waren glücklich, und es verging kein Tag, an dem sie sich nicht umarmt und geküsst hätten.
Eines Tages klopfte es an die Tür, da stand ein Mann, der war schlank und groß und hatte dunkle Augen, und der sagte zu der Frau: »Kennst du mich nicht?«
»Sollte ich dich kennen?«, fragte die Frau.
»Ich bin dein Mann«, sagte er. »Ich bin gekommen, weil ich Sehnsucht hatte in der Ferne.«
»Und wie war die Sehnsucht?«, fragte die Frau.
»Sehnsucht eben«, sagte er. »Eben Sehnsucht.«
»Hätte dich die Sehnsucht fast umgebracht?«
»Das nicht gerade«, sagte der Mann. »Dann wäre ich entweder schon früher gekommen, oder ich wäre tatsächlich daran gestorben.«
»War die Sehnsucht wie ein glühender Dolch in deinem Herzen?«
»Was soll das sein?«, lachte der Mann und knuffte sie. »Wer hat dir so einen Unsinn beigebracht! Sehnsucht ist Sehnsucht, und ein glühender Dolch ist ein glühender Dolch. Das eine ist das eine, und das andere ist das andere. Und Betrug ist Betrug.«
Da ging die Frau zu dem Mann, den sie so viele Jahre ihren Mann genannt hatte und mit dem sie so glücklich gewesen war, und sagte zu ihm: »Betrug ist Betrug. Du musst gehen.«
Und der Mann packte seine Sachen.
Und die Frau ging zu ihrem Sohn und sagte: »Betrug ist Betrug. Der Mann, der dich geschlagen hat, als du ein Kind warst, ist zurückgekommen. Umarme ihn, er ist dein Vater.«
Da umarmte der Sohn seinen Vater.
*
Jemanden betrügen. Sich selbst betrügen. Jemanden mit einem anderen betrügen. Sich selbst mit einem anderen betrügen. Und bei alldem doch glücklich sein. Ist ein Leben ohne Betrug, ohne Täuschung und Selbsttäuschung, ohne gelebte Fiktionen überhaupt denkbar? Und was bedeutet es, wenn diese großen und kleinen Betrügereien, diese großen und kleinen Täuschungen auffliegen, enttarnt werden, der Wirklichkeit nicht standhalten? Muss dann alles zusammenbrechen, oder kann man zur Tagesordnung übergehen und so tun, als wäre nichts gewesen? Wie verdammenswert ist der Betrug eigentlich?
Die Geschichte einer Familie, die auf den ersten Blick nahezu harmlos erscheinen mag, enthält, blickt und hört man genauer hin, nahezu alle Facetten des Betrugs. Es beginnt mit einem einfachen Selbstbetrug: Die Frau weint dem Mann, der in die Ferne zieht, um Arbeit zu finden, weniger Tränen nach, als sie selbst geglaubt hatte. Das Verschwinden — noch nicht der Verlust — eines Menschen, den man vielleicht für unersetzbar hielt, ist weit weniger dramatisch, als es die Konvention und die eigene Vorstellung verlangt hätten. Beginnt aller Betrug nicht mit den wechselseitigen Versicherungen in Partnerschaften, dass der andere der Einzige, der Unersetzliche, der Einmalige sei? Die Lücken, die Menschen hinterlassen, werden mitunter schneller gefüllt, als es sich die romantische Konzeption unverbrüchlicher Verbundenheit vorstellen mag. Die Versicherung, dass die kurze Trauer über die Absenz des Geliebten in einem Vertrauen gründet, das die Entfernungen und Zeiten zu überbrücken vermag, ist selbst trügerisch. Distanz schafft Differenz auch dann, wenn entfernt voneinander lebende Paare dies oft und lange nicht wahrhaben wollen.
Die Frau bleibt jedoch im Gewohnten, für den Mann wird alles anders. Und hier beginnt die eigentliche Logik des Betrugs. Durch seine Briefe, die er schreiben lässt, täuscht er seiner Frau vor, jemand zu sein, der er nicht mehr ist. Allmählich tritt der Briefschreiber an seine Stelle. Die Geschichte variiert also ein altes Motiv, das in Edmond Rostands Cyrano de Bergerac seine klassische Gestalt gefunden hat: Der Stellvertreter tritt tatsächlich an die Stelle des Auftraggebers, der Postillon d’Amour wird selbst zum Liebenden, der Knecht simuliert nicht nur seinen Herrn, sondern erfüllt dessen Stelle und Funktion in einer Weise, die diesem selbst nicht mehr möglich gewesen wäre.
Betrug ist so immer eine Variante der Täuschung. Nichts ist, wie es scheint. Der vermeintliche Autor der Briefe ist nicht die Person, die die Empfängerin für den Autor halten muss — oder halten will. An diesem Punkt könnte man den Betrug noch als harmlos abtun, ihn vielleicht sogar akzeptabel finden. Es könnte ja sein, dass der Mann all das, was der Schreiber für ihn zu Papier brachte, wirklich dachte und empfand, nur fehlte ihm die Zeit, die Lust und die Fähigkeit, dies in anschauliche und ergreifende Worte zu fassen. Noch ist der Schreiber nichts weiter als ein Ghostwriter.
Ghostwriter: Jemand verfasst einen Text für eine andere Person, die diesen dann unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht oder zumindest weitergibt. Liegt in dieser alltäglichen Konstellation, die man in der Politik ebenso findet wie in der Wirtschaft oder der Wissenschaft, ein Betrug vor? Wir sind imstande, hier sehr feine Differenzen zu erkennen und unterschiedliche Kontexte verschieden zu bewerten. Die Rede, die ein Politiker hält, um Wählerstimmen zu gewinnen, und von der wir wissen, dass ein anderer sie geschrieben hat, rechnen wir trotzdem dem Politiker zu, ohne ihn des Betrugs zu zeihen. Die Bachelorarbeit, die ein bequemer oder unfähiger Student gegen Entgelt von einem anderen schreiben lässt und unter seinem Namen einreicht, um den begehrten akademischen Titel zu erlangen, verstößt gegen die gute wissenschaftliche Praxis und wird als Betrug gewertet. Fliegt dieser Betrug auf, wird der Titel wieder aberkannt; keinem Politiker wird auch nur eine Wählerstimme genommen, wenn der Name seines Redenschreibers bekannt wird.
Ob ein Betrug vorliegt, bemisst sich am Erwartungshorizont der Betrogenen. Willigen diese in eine Täuschung ein, finden wir das nicht weiter schlimm. Betrügen kann man nur Menschen, die nicht betrogen werden wollen. Bei allen anderen gilt das augenzwinkernde Einverständnis. In unserem Fall allerdings kommt dieses nicht in Frage. Der Mann lässt dem Schreiber im Wortsinn freie Hand, seine Frau und sein Kind interessieren ihn längst nicht mehr. Der Schreiber imaginiert nun jene Berichte und Gefühle, die ein redlicher Mann vielleicht gehabt hätte, unser zweifelhafter Ehemann aber eben nicht. Der Schreiber fungiert nicht länger als Stellvertreter, er tritt in Wesen und Erscheinung an die Stelle des Mannes. Er soll, damit der Mann seine Familie endlich vergessen kann, seine Identität annehmen. Die Frau soll sich nicht über einen einfühlsamen Fremden freuen, in den sie sich vielleicht sogar auch verlieben könnte, sondern soll glauben, der geläuterte Ehemann kehrt heim und zu ihr zurück. Und sie glaubt es!
Wie kann man nur so leichtgläubig sein? Und doch demonstriert diese Leichtgläubigkeit die Logik des Betrugs, gehört sie doch zu seinen Voraussetzungen. Das Verdammenswerte am Betrug resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass er nur dort wirklich gelingen kann, wo er auf ein fundamentales menschliches Vermögen bauen kann, ohne das es keine Intimität und keine soziale Beziehung gäbe: Blindes Vertrauen. In einer Kultur des Misstrauens haben es Betrüger schwer. Aber eine Kultur des Misstrauens ist nicht so leicht zu etablieren. Denn Menschen wollen vertrauen, sie wollen nicht davon ausgehen, jederzeit getäuscht werden zu können. René Descartes’ diabolischer Genius malignus, der den Menschen alles, was sie sehen, wahrnehmen, fühlen, empfinden und denken, vortäuscht, sie also über ihr Dasein betrügt, hätte auch im Fall seiner Entlarvung wenig zu befürchten: Lieber lassen wir uns täuschen als enttäuschen.
Die Frau in unserer Geschichte akzeptiert den Fremden als ihren Mann, erste Zweifel lässt sie sich schnell ausreden. Warum sollte sie das auch nicht tun? Alles scheint sich ja zum Besseren zu wenden, der Mann entspricht nun endlich ihren Vorstellungen, dem familiären Glück steht nichts im Wege. An dieser Stelle demonstriert die Erzählung auch, warum Vertrauen so rasch die Gestalt der Leichtgläubigkeit annehmen kann: weil die Sehnsucht nach einem angebotenen und versprochenen Glück mitunter alle Bedenken in den Wind schlagen und auch alle Fakten ignorieren kann. Anders wären die unzähligen erfolgreichen Betrügereien alter Heiratsschwindler und ihrer modernen Pendants im Internet nicht denkbar. Wie groß muss die Sehnsucht der Menschen nach Vertrauen, Glück und Intimität sein, dass sie noch die unglaublichsten Geschichten gegen alle Vernunft und gegen alle Warnungen der Umwelt glauben und ihr Vermögen und ihre Seele aufs Spiel setzen, nur um einen Zipfel des Glücks zu erhaschen? Der Zynismus der Betrüger besteht darin, dass sie um diese unbändigen Sehnsüchte wissen und sie skrupellos ausnützen. Das ist dann auch das Fatale am Betrüger: Er muss, will er Erfolg haben, ein ausgezeichneter Psychologe und Menschenkenner sein. Über unser Innerstes lernen wir am meisten, wenn uns dieses zum Opfer eines Betrugs werden ließ.
Verglichen mit den gutgläubigen und vertrauensseligen Menschen, die in den sozialen Netzwerken den Machenschaften virtueller Herzensbrecher zum Opfer fallen, war die Frau unserer Erzählung mit einer geradezu pragmatischen Einstellung zum Leben ausgestattet, die auch eine andere Deutung dieses Betrugsmanövers erlaubt. Was, wenn die Frau das Spiel ihres Mannes durchschaut? Und aus einem einfachen Grund mitspielt: weil sie rasch erkennt, dass sie bei diesem Spiel nur gewinnen kann. Also tut sie so, als würde sie im Schreiber ihren Mann erkennen. Nun wird dieses Täuschungsmanöver zur Voraussetzung des familiären Glücks. Und der Schreiber denkt auch nicht daran, dieses durch Misstrauen oder Zweifel in Frage zu stellen und darüber zu räsonieren, ob die Frau ihm den Ehemann tatsächlich abnimmt. Jeder weiß, dass der andere nur so tut, als ob, aber diese wechselseitige Illusionierung ist der Garant des Glücks. Ja, man könnte auch in diesem Fall von jenen Lebenslügen sprechen, die einer Beziehung oder Gemeinschaft Stabilität verleihen und deren Aufdeckung in der Regel zu Katastrophen führt.
Lebenslügen halten selten ein Leben lang. Viele Jahre vergehen, dann kehrt der Mann doch zurück, getrieben von einer undefinierbaren, wenig leidenschaftlichen Sehnsucht. Und er fordert seine Stelle als Vater und Ehemann zurück, jene Stelle, die er selbst seinem Schreiber angetragen hatte. Seine Rechtfertigung dafür klingt wie ein moralisches Prinzip, das keinen Widerspruch und keine Ausnahmen zulässt: Betrug ist Betrug. Dass er selbst seinen Schreiber in ein Netzwerk der Täuschungen trieb, zählt dabei wenig. Es zählt nur eines: Seine Frau hat mit einem anderen verkehrt, ein halbes Leben lang. Und dass sie das im Glauben tat, ohnehin ihrem rechtmäßigen Mann anzugehören, rechtfertigt gar nichts: Betrug bleibt Betrug. Weder die Frau noch der Sohn oder der Schreiber verweist darauf, dass der Mann durch sein Verhalten längst jeden Anspruch auf Frau und Kind verwirkt hat. Es gilt nur dieses eherne moralische Prinzip, das keine Rücksichten auf besondere Situationen und keine Ausnahmen kennt. Alle akzeptieren dieses Prinzip, und der Sohn umarmt den ungeliebten, nun zurückgekehrten Vater, der Schreiber verlässt das Haus. Die Welt ist wieder in Ordnung.
Ist die Welt jemals in Ordnung? Diese Geschichte endet doch mit einer Provokation: Betrug ist Betrug. Das mag schon sein. Aber wer, wenn überhaupt, war in dieser Geschichte der Betrüger? Hätte man nicht mit demselben Satz dem Mann die Heimkehr in den Schoß der Familie verwehren können? Hat er nicht vom ersten fingierten Brief an getäuscht und betrogen? Wiegt der Betrug der Betrogenen wirklich schwerer als der Betrug des Betrügers? Und vor allem: Hat nicht das Leben das größere Recht gegenüber vermeintlichen Prinzipien? Wäre es nicht angemessener gewesen zu akzeptieren, dass die Lebenslügen, die den Schreiber und die Frau zusammengeführt hatten, ein besseres, erfüllteres Leben erlaubten als die Rechtmäßigkeit einer Ehe, die nur noch auf dem Papier bestand und die einzufordern nach all den Jahren eher einer Unverschämtheit gleichkommt?
Diese Geschichte stellt uns auf die Probe. Sie zwingt uns, ein moralisches Prinzip gegen eine Lebenswirklichkeit abzuwägen, die den Betrug zu ihren Bedingungen zählen kann. Ob die Rückkehr des Mannes Resultat einer Läuterung war, kann bezweifelt werden. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihm die Tür zu weisen. Es stimmt schon: Einer der beiden Männer war der falsche Mann gewesen. Aber welcher?
Es waren einmal Zwillinge, der eine aber wurde der Ältere genannt, obwohl er als Zweiter aus dem Mutterleib gekrochen war, man meinte, er sei der Vernünftige. Als sie Kinder waren, stritten sie sich manchmal, als Erwachsene nie. Wenn sie sich stritten, sagte die Mutter zum Jüngeren: »Du bist der Ältere, gib nach.« Das erste und zweite und dritte Mal wehrte er sich und sagte: »Ich bin nicht der Ältere, das ist doch gelogen, er ist der Ältere, ich bin nur der Vernünftigere!« Mit der Zeit aber gab er nach, und irgendwann glaubte auch er selbst, er sei nicht nur vernünftiger, sondern auch älter als sein Bruder.
Der Jüngere — der, der so genannt wurde —, der hatte ein weiches Herz, dem rannen die Tränen über die Wangen, wenn er sah, wie ein Fuhrmann sein Pferd schlug. Da wäre er am liebsten hingelaufen und hätte das Tier umarmt und es um Verzeihung gebeten für die ganze Menschheit. Dann hielt ihn sein Bruder fest und sagte: »Es ist nicht richtig, was der Fuhrmann tut, und es ist nicht gut, was er tut, aber es ist sein Recht. Das Pferd gehört ihm, und ein Pferd, das einem gehört, darf man schlagen, damit es seinen Dienst tut. Das ist nicht gut, aber es ist rechtens und vernünftig. Denn wäre es nicht rechtens, wäre es nicht vernünftig, und wäre es nicht vernünftig, dann wäre es nicht rechtens.«
Als sie größer geworden waren und schließlich erwachsen, trennten sie sich. Das heißt, der Jüngere zog in die Stadt, der Ältere blieb auf dem Land. Der Ältere fragte seinen Bruder: »Was willst du in der Stadt? Wir kennen niemanden in der Stadt. Du bist schon zu weichselig für das Land, was wird dir erst in der Stadt blühen!«
Der Jüngere antwortete: »Deshalb ziehe ich ja dorthin. Damit ich härter in der Brust werde. Hier wirst du immer auf mich achtgeben, und ich werde keine Veranlassung sehen, Härte und Gewalt auszubilden gegenüber den Menschen und den Tieren.«
»Du sprichst schon wie einer aus der Stadt«, sagte der Ältere. »Du verwendest Wörter, die wir nie sagen würden, hier am Land.«
»Mit den Wörtern fängt es an«, sagte der Jüngere. »Die Wörter, die ich immer gebraucht habe, sind wie meine Freunde. Die neuen Wörter gehen mich nichts an, ich muss nicht auf sie achtgeben, es sind nicht die meinen. Wenn sie Mode sind, nehme ich sie, wenn sie aus der Mode kommen, lasse ich sie.«
Als sein Bruder ausgezogen war, suchte sich der Ältere einen Freund. Er wollte nicht allein sein. Erst als der Jüngere aus dem Haus war, spürte er, wie sehr er ihn geliebt hatte. Nun versuchte er einen anderen zu lieben. Aber der Freund erwies sich als ein Betrüger und ein Dieb. Er stahl dem Älteren alles Geld und machte sich davon.
Der Jüngere, als er allein in der Stadt war, suchte auch einen Freund, denn auch er fühlte erst jetzt, wie sehr er seinen Bruder geliebt hatte, und versuchte nun, einen anderen zu lieben. Aber der Freund des Jüngeren war genauso ein Schuft, sogar noch ein größerer, er brachte seinen Bruder mit, und sie raubten ihn aus und schlugen ihn obendrein nieder und ließen ihn liegen, und nicht viel hätte gefehlt, und der Jüngere wäre in der fernen Stadt elend verblutet. Aber als er wieder gesund war, war aus ihm ein harter Mann geworden. Die Krankheit und die Kränkung hatten es gemacht. Er sah, wie ein Mann seinen Hund mit Füßen trat und nicht von ihm abließ, er hörte das Tier jaulen und jammern, aber er hatte kein Mitleid. Jeder soll sich um sich selber kümmern, sagte er sich, ob Mensch, ob Hund. Hat der Hund nicht Zähne und Klauen? Warum benutzt er sie nicht? Der Himmel kümmert sich auch nur um sich selbst, er fragt nicht, ob Regen gebraucht wird oder nicht, und wenn die Sonne brennt, dann brennt sie dort, wo es am meisten wehtut.
Beim Älteren war es ganz anders. Er hatte alles verloren, seinen Bruder, sein Hab und Gut und seinen neuen Freund. Da weinte er zum ersten Mal in seinem Leben. Er saß auf der Schwelle seines Hauses und weinte. »Ach, wäre doch nur mein Bruder bei mir!«, klagte er.