Genial, verrückt, groß: Mit seinem monumentalen Roman um die Phatasiemaschine Solenoid
schreibt sich Mircea Cartarescu endgültig in die Reihe der bedeutendsten Schriftsteller
der Gegenwart ein.
Hohn und Spott erntet ein junger Mann in seinem Literaturkreis, als er dort seinen
Text »Der Niedergang« zum Besten gibt. Aus ihm wird nicht wie erhofft ein gefeierter
Schriftsteller, sondern ein Lehrer in der Vorstadt von Bukarest. Als dieser namenlose
Erzähler jedoch ein Haus in Form eines Schiffes kauft, gerät er in den Bannkreis des
Solenoids, einer Art riesiger Magnetspule, die sich unterhalb des Kellers befindet.
Deren Gravitationskraft zieht aber nicht nach unten, sondern hebt konsequent alles
in die Höhe, was in ihr Umfeld gerät — Menschen, Dinge, ja die Wirklichkeit selbst.
Genial, verrückt, groß: Mit seinem monumentalen Roman hat Mircea Cartarescu erneut
Weltliteratur geschaffen.
Mircea Cărtărescu
Solenoid
Roman
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Zsolnay
Ein Mann holt hoch vom Gipfel Schlamm und Dung
Und formt sein großes Wunschbild in den Lüften
Von Träumen, Schatten, unbekannten Düften
Und bringt es uns in unsere Niederung.
Doch ganz vergeblich scheint sein kühnes Wagen,
Wie schön des Buches Klang auch sei und klar.
Geliebtes Buch, so ganz des Nutzens bar,
Du gibst uns Antwort nicht auf unsere Fragen.
(Tudor Arghezi: Ex Libris)
Wieder habe ich mir Läuse eingefangen, es wundert mich nicht einmal, erschreckt mich nicht, ruft keinen Ekel mehr hervor. Es juckt nur noch. Nissen habe ich immerzu, ich schüttele sie stets heraus, wenn ich mich im Bad kämme: winzig kleine, perlmuttfarbene Eier, die auf der Fayence des Waschbeckens dunkel glänzen. Auch zwischen den Zinken des Kamms bleiben noch genug davon hängen, anschließend reinige ich ihn mit einer alten Zahnbürste, jener mit dem angeschimmelten Stiel. Unmöglich, keine Läuse zu bekommen — ich bin Lehrer an einer Schule an der Peripherie. Die Hälfte der Kinder hat Läuse, die werden zu Beginn des Schuljahrs bei der ärztlichen Untersuchung festgestellt, wenn die Arzthelferin ihnen mit der Expertengeste der Schimpansen durch das Haar fährt — man darf sich wundern, dass sie die Chitinpanzer der eingefangenen Insekten nicht mit den Zähnen knackt. Dafür empfiehlt sie den Eltern eine weißliche, nach Chemikalien riechende Lauge, die gleiche, die schließlich auch die Lehrer benutzen. In wenigen Tagen riecht die ganze Schule nach dieser Tinktur gegen Läuse.
Das ist nun trotzdem nicht so schlimm, immerhin haben wir keine Wanzen, die wurden lange schon nicht mehr gesehen. Ich kann mich noch an sie erinnern, ich habe sie, als ich etwa drei Jahre alt war, mit eigenen Augen gesehen, in der kleinen Villa in Floreasca, wo wir so um 59, 60 herum gewohnt haben. Vater zeigte sie mir, wenn er mit einem Ruck die Matratze anhob. Sie sahen wie scharlachrote Körnchen aus, fest und glänzend wie Waldfrüchte oder jene schwarzen Körner im Efeu, von denen ich wusste, dass ich sie nicht in den Mund stecken durfte. Nur dass die Körnchen zwischen Matratze und Bettgestell ganz schnell in die dunkleren Ecken rannten, sie waren dermaßen alarmiert, dass ich stets einen Lachanfall bekam. Ich konnte es kaum erwarten, Vater ein weiteres Mal die schwere Ecke der Matratze anheben zu sehen (wenn die Leintücher gewechselt wurden) und wieder einmal die rundlichen Tierchen zu Gesicht zu bekommen. Dann lachte ich mit solcher Lust, dass Mutter, die mir das Haar hatte wachsen lassen, lang war es und voller Kringel, mich jedes Mal in den Arm nahm und bespuckte, damit mich nicht der böse Blick treffe. Daraufhin brachte Vater die Flit-Pumpe und verpasste den Wanzen, die es sich in den Fugen und Gelenkstellen des Holzes gemütlich gemacht hatten, eine übelriechende Dusche, dass sie nur noch Sterne sahen. Ich mochte den Geruch des Bettgestells, Tannenholz, in dem noch das Harz gärte, ja selbst den Geruch des Insektengifts mochte ich. Dann ließ Vater die Matratze los, und Mutter kam herbei, die Leintücher auf den Armen. Wenn sie eines auf das Bett breitete, entstand eine große Luftblase, in die ich stets mit größtem Vergnügen hineinschlüpfte. Nun wartete ich, dass das Leintuch ganz langsam auf mich herabsank, sich um meinen kleinen Körper legte, aber nicht auf jeden noch so geringen Fleck, sondern auch komplizierte Falten und Fältchen über mir zeichnete. Damals waren die Zimmer groß wie Hallen, und die beiden Menschen bewegten sich immerzu darin herum, schwer zu sagen, warum, sie kümmerten sich um mich: Mutter und Vater.
An die Stiche der Wanzen kann ich mich jedoch nicht erinnern. Mutter sagte, sie seien wie kleine rote Kreise auf der Haut mit einem weißen Punkt in der Mitte. Und sie würden eher brennen als jucken. Keine Ahnung, Tatsache aber ist, ich kriege stets von den Kindern Läuse, wenn ich mich über ihre Hefte beuge. Als wäre es eine Berufskrankheit. Ich trage das Haar lang, noch aus der Zeit, als ich hätte Schriftsteller werden können. Das ist alles, was mir von jener Karriere geblieben ist, die Mähne. Und die Helanca-Rollkragenhemden, wie sie der erste Schriftsteller trug, den ich je gesehen habe, und der sich mir als Bild des berühmten, unnahbaren Autors eingeprägt hat: der aus Frühstück bei Tiffany. Mein Haar berührt immer wieder das Haar der Mädchen, locker gebauscht und voller Schleifchen. Über diese verhornten, halb durchsichtigen Seile klettern die Insekten hoch. Ihre Krallen zeichnen die Krümmung des Haarfadens nach, den sie perfekt zu fassen kriegen. Dann laufen sie über die Kopfhaut, wo sie ihre Exkremente und Eier hinterlassen. Sie stechen in die tadellos weiße, pergamentartige Haut, die noch nie das Sonnenlicht gesehen hat, und das ist ihre Nahrung. Wenn das Jucken schier unerträglich wird, lasse ich heißes Wasser in die Wanne laufen und bereite mich vor, sie zu vernichten.
Gern höre ich dem Wasser zu, wenn es in die Wanne einläuft, jenem stürzenden Rauschen, dem turbinenhaft reißenden Strom der Milliarden Tropfen und zu Spiralen verdrehten Rinnsale, dem Dröhnen des Strahls, der senkrecht in die grünliche Gelatine des Wassers stößt, es steigt unmerklich an, nimmt, gestaut vor Hindernissen und in plötzlichen Invasionen, die Wände der Wanne ein, als bestünde es aus unzähligen durchsichtigen Ameisen, die im amazonischen Dschungel herumwuseln. Ich drehe den Wasserhahn zu, und es wird still, die Ameisen lösen sich ineinander auf, und der geleeweiche Saphir liegt reglos vor mir, er schaut mich wie ein helles Auge an und erwartet mich. Nackt steige ich ins Wasser, genüsslich. Ich versenke auch gleich den Kopf im Wasser, spüre, wie die Wasserwände mir symmetrisch über Wangen und Stirn steigen. Das Wasser setzt mir zu, schwer umfängt es mich, lässt mich in seiner Mitte levitieren. Ich bin der Kern einer Frucht mit grünblauem Fruchtfleisch. Meine Haare fächern sich auf und reichen bis zu den Wannenrändern, als hätte ein schwarzer Vogel seine Flügel ausgebreitet. Die Fäden stoßen sich gegenseitig ab, jedes Haar ist selbständig, jedes schwebt, nunmehr aufgeweicht, unter den anderen, ohne sie zu berühren, wie die Tentakel der Seelilien. Ruckartig bewege ich meinen Kopf hin und her, damit ich spüre, wie die Haarfäden unter Spannung geraten, im dichten Wasser gestreckt und schwer werden, eine unerwartete Last zu spüren bekommen. Es fällt schwer, sie ihren Wasseralveolen zu entreißen. Die Läuse halten sich an den dicken Stämmen fest, verschmelzen mit ihnen. Ihre unmenschlichen Gesichter zeigen eine Art Verwunderung. Ihre äußere Hülle besteht aus der gleichen Substanz wie die Haarfäden. Auch sie werden weich im heißen Wasser, aber sie lösen sich nicht auf. Die Atemröhrchen, symmetrisch am Rande der gaufrierten Bäuche angeordnet, sind bestens verschlossen, wie die verklebten Nüstern der Seehunde. Passiv und entspannt wie ein anatomisches Präparat schwebe ich in der Wanne, die Haut an meinen Fingern quillt auf und wird runzlig. Auch ich bin weich, als wäre ich von durchscheinendem Chitin überzogen. Die Hände, sich selbst überlassen, schwimmen obenauf. Auch der Pimmel strebt an die Oberfläche, wie ein Flaschenkorken. Es ist überaus seltsam, einen Körper zu haben, sich in einem Körper zu befinden.
Ich setze mich aufrecht und beginne, mir die Haare und den Körper einzuseifen. Während ich mich mit den Ohren unter der Wasseroberfläche befand, konnte ich die Gespräche und das Gepolter in den Nachbarapartments deutlich, aber wie im Traum, hören. Nun habe ich Gelatine-Pfropfen in den Ohren. Ich lasse die seifigen Hände über meinen Körper wandern. Für mich ist mein Körper nicht erotisch. Als strichen meine Finger nicht über meinen Körper, sondern über meinen Verstand. Mein in Fleisch verpackter Verstand, mein in den Kosmos verpacktes Fleisch.
Wie auch im Falle der Wanzen überrascht es mich nicht allzu sehr, als meine seifigen Finger an den Nabel gelangen. So geht es mir schon seit etlichen Jahren. Anfangs erschrak ich, selbstverständlich, denn ich hatte gehört, der Bauchnabel könne einem aufplatzen. Aber ich hatte mir über meinen keine Gedanken gemacht, da mein Nabel lediglich eine kleine Ausbuchtung in meinem »an der Wirbelsäule klebenden« Bauch war, wie Mutter sagte. Auf dem Grund dieser Vertiefung gab es etwas, das sich bei Berührung unangenehm anfühlte, mich aber niemals beschäftigt hatte. Der Nabel war nichts anderes als die ausgehöhlte Stelle am Apfel, woraus der Stiel ragte. Auch wir sind wie die Früchte an einem von Venen und Arterien durchzogenen Stiel gewachsen. Aber vor ein paar Monaten, als ich mit den Händen schnell mal über jenen Unfallort auf meinem Körper fuhr, nur damit er nicht ungewaschen bliebe, spürte ich etwas Ungewöhnliches, etwas, das es dort nicht hätte geben sollen: eine Art Knopf oder Nippel, den die Fingerkuppe als kratzend empfand, etwas Anorganisches, das nicht zu meinem Körper gehörte. Es steckte verkrustet in dem Knoten fahlen Fleisches, der sich dort wie ein Auge zwischen zwei Lidern auftat. Zum ersten Mal schaute ich aufmerksamer unter die Wasseroberfläche und schob die Ränder der Spalte etwas auseinander. Weil ich nicht gut sehen konnte, erhob ich mich aus der Wanne, und die Wasserlinse aus dem Nabel floss langsam ab. Herrgott, sagte ich lächelnd, jetzt ist es schon so weit, dass ich meinen eigenen Bauchnabel betrachte … Ja, es war ein blasser Knoten, der in letzter Zeit stärker hervortrat als gewöhnlich, weil meine Bauchmuskeln nach nunmehr fast schon dreißig Jahren etwas erschlafft waren. Eine Verkrustung von der Größe eines Kinderfingernagels in einer der Schlaufen dieses Knotens erwies sich schlicht als Schmutz. Aber auf der anderen Seite erhob sich fest und schmerzhaft der kleine, schwarz-grünliche Stumpf, den ich mit der Fingerspitze ertastet hatte. Ich konnte nicht erkennen, was das sein mochte. Ich versuchte, ihn mit den Fingernägeln zu packen, aber wenn ich daran zog, spürte ich einen leichten Schmerz, der mich erschreckte: Es konnte eine Art Warze sein, an die man besser nicht rührte. Ich bemühte mich, das Ding zu vergessen und dort zu belassen, wo es nun mal gewachsen war. Im Laufe unseres Lebens wachsen uns genügend Warzen und Muttermale, tote Knochen und anderes Zeugs, das wir geduldig mit uns herumschleppen, nicht zu reden von den Fingernägeln und dem Haar, den Zähnen, die uns ausfallen: Stücke von uns, die nicht mehr zu uns gehören und ein eigenes, ihr eigenes Leben erhalten. Ich besitze auch heute noch, aufgrund von Mutters Fürsorge, in einer Tic-Tac-Schachtel alle meine Milchzähne, und der gleichen Fürsorge verdanke ich den Besitz der geflochtenen Zöpfe des Dreijährigen. Unsere Fotos mit dem verblichenen Glanz und dem briefmarkengleich gezackten Rand sind ebenfalls solche Zeugnisse: Unser Körper hat sich irgendwann tatsächlich zwischen die Sonne und die Linse des Fotoapparats geschoben und seinen Schatten auf dem Filmstreifen hinterlassen, nicht anders als der Mond bei einer Finsternis seinen Schatten über die Sonnenscheibe wirft.
Aber nach einer Woche, wiederum in der Wanne, spürte ich neuerlich den ungewohnten irritierten Bauchnabel: Das nicht identifizierte Stückchen Etwas war länger geworden und fühlte sich nun anders an, eher beunruhigend denn schmerzhaft. Wenn uns ein Zahn wehtut, tasten wir immerzu mit der Zunge daran herum, gehen sogar das Risiko ein, schließlich auf einen lebendigen Schmerz zu stoßen. Alles, was auf der empfindlichen Karte unseres Körpers den Bereich des Gewöhnlichen verlässt, bringt uns auf und treibt uns um: Wir müssen um jeden Preis das Gefühl der Verlegenheit loswerden, das uns keine Ruhe lässt. Manchmal, wenn ich abends schlafen gehe, ziehe ich die Socken aus und spüre, dass die gelbe durchscheinende Haut an der Seite des großen Zehs übermäßig dick geworden ist. Ich packe diese feste Verdickung mit den Fingern und zerre mitunter eine halbe Stunde lang daran herum, bis es mir gelingt, einen Rand wegzureißen, an dem ich dann weiter und immer irritierter und unruhiger herumzerre, schon schmerzen meine Fingergelenke, als ich es schaffe, eine dicke, wie gläserne Rinde mit an zarte Fingerspitzen erinnernder Riffelung aufzureißen, einen ganzen Zentimeter toter Haut, die nun nicht eben vorteilhaft aussehend am Zeh hängt. Ich kann nicht länger daran herumzerren, denn schon bin ich bei der nervösen Haut darunter angelangt, bei mir selbst, der den Schmerz spürt, und doch muss ich dieses Jucken und diese Unruhe loswerden. Ich greife zur Schere und schneide sie ab, dann betrachte ich sie lange: eine weiße Rinde, die ich, ohne zu wissen, wie, produziert habe, ebenso wie ich mich nicht mehr daran erinnere, wie ich meine Knochen produziert habe. Ich knete sie zwischen den Fingern, rieche daran, sie riecht entfernt nach Ammoniak: Dieses organische, aber tote Stückchen, schon tot, als es noch Teil meiner selbst und mit einigen Gramm an meinem Gewicht beteiligt war, erzürnt mich immer noch. Mir ist nicht danach, es wegzuwerfen, ich lösche das Licht und lege mich hin, halte es immer noch zwischen den Fingern, um es am nächsten Tag vollends vergessen zu haben. Und doch humpele ich eine Weile: Die Stelle, von der es weggerissen wurde, schmerzt.
Also habe ich vorsichtig an dem festen Krümel zu ziehen begonnen, der aus meinem Bauchnabel hervorlugte, bis ich unerwarteter Weise das Ding in der Hand hielt. Es war ein kleiner Zylinder von einem halben Zentimeter Länge und etwa der Stärke eines Streichholzes. Er schien schon lange schwarz, verfault, dreckverklebt und im Laufe der Zeit schließlich zu Pechruß geworden zu sein. Es war etwas Uraltes, mumifiziert, verseift, weiß der Henker. Ich hielt es unter den Wasserstrahl des Waschbeckens, und der Dreckschorf löste sich und ließ erkennen, dass dieses kleine Ding vor langer Zeit vielleicht mal gelblich-grün gewesen sein mochte. Ich legte es auf den Boden einer leeren Streichholzschachtel. Es sah aus wie der abgebrannte Kopf eines Streichholzes.
Ein paar Wochen später zog ich ein weiteres Fragment aus meinem im heißen Wasser aufgeweichten Bauchnabel hervor, diesmal jedoch war es doppelt so lang, aber von gleicher Substanz, fest und lang. Nun merkte ich, dass es sich um ein bewegliches Schnurende handelte, ich konnte sogar die Menge der ineinander gedrehten Fäden erkennen, aus denen es bestand. Es war eine Schnur, eine ganz gewöhnliche Schnur, die man zum Verpacken benutzte. Die Schnur, mit der man mir vor siebenundzwanzig Jahren in der miserablen proletarischen Entbindungsstation, in der ich geboren wurde, den Nabel abgebunden hatte. Nun trieb mein Nabel sie ab, gemächlich, alle zwei Wochen ein Stückchen, pro Monat ein Stückchen und dann ein weiteres nach drei Monaten. Das heute ist das fünfte, ich hole es behutsam und genüsslich hervor. Ich biege es gerade, reinige es mit dem Fingernagel, wasche es im Wasser der Badewanne. Es ist das bislang längste Stück und, hoffentlich, das letzte. Ich lege es zu den anderen in die Streichholzschachtel. Brav liegen sie da, gelb-grünlich-schwarz, krumm, die Enden leicht aufgelöst. Hanfschnur, die gleiche, aus der auch die Einkaufsnetze der Hausfrauen gemacht werden, die ihnen in die Hände schneiden, wenn sie angefüllt sind mit Kartoffeln; die gleiche, mit der man Pakete verschnürt. Zu Mariä Himmelfahrt bekamen wir jeweils ein Paket von Vaters Verwandten im Banat: Kuchen mit Mohn und Honig. Der aufgeknotete Bindfaden, grünlich-kaffeebraun, bereitete mir Freude: Ich schlang sie um die Türklinken, damit Mutter nicht noch ein Kind bekäme. An jeder Klinke machte ich dutzende, hunderte Knoten.
Ich entledige mich der Sorge um die Nabelschnur und steige, das Wasser an mir ablaufen lassend, aus der Wanne. Ich hole die Flasche mit der Anti-Läuse-Substanz hinter der Kloschüssel hervor und gieße mir von deren muffelndem Inhalt einen Fingerbreit auf den Kopf. Dabei frage ich mich, von welcher Klasse ich sie diesmal wohl habe, als hätte das irgendeine Bedeutung. Wer weiß, vielleicht hat es sogar eine. Vielleicht sind die Läuse in den unterschiedlichen Straßen des Viertels und in verschiedenen Schulklassen von jeweils anderer Art, anderer Größe.
Ich spüle die eklige Flüssigkeit aus und kämme mich über dem sauber glänzenden Porzellan des Waschbeckens. Und plötzlich beginnen die Parasiten herabzufallen, zwei, fünf, acht, fünfzehn … Sie sind extrem klein, jeder eingekapselt in seinen je eigenen Wassertropfen. Schwerlich nur kann ich ihre Körper mit dem aufgedunsenen Bauch und je drei sich noch bewegenden Beinchen an jeder Seite sehen. Ihre Körper und mein Körper, der ich nackt und nass über das Waschbecken gebeugt dastehe, bestehen aus den gleichen organischen Geweben. Sie haben analoge Organe und Funktionen. Sie haben Augen, die die gleiche Realität sehen, haben Beine, die sie durch die gleiche unendliche und unverständliche Welt tragen. Sie wollen leben, ebenso wie ich es will. Ich beseitige sie mit einem Wasserstrahl vom Boden des Waschbeckens. Sie fahren hinab in die Siphons darunter, gelangen in die Kanalisation.
Ich lege mich mit nassen Haaren neben meinen Schätzen schlafen: der Tic-Tac-Schachtel mit den Kinderzähnchen, meinen Fotos, als ich ein Kleinkind war und meine Eltern in der Blüte ihrer Jahre standen, der Streichholzschachtel mit der aus meinem Bauchnabel herausgelösten Schnur, dem Tagebuch. Ich kippe mir, wie ich dies so oft abends tue, die Zähnchen in die Handfläche, glatte Steinchen, noch sehr weiß, die einstmals in meinem Mund waren, mit denen ich mal gegessen habe, ich habe Wörter ausgesprochen und zugebissen wie ein Hündchen. So oft schon habe ich mich gefragt, wie es denn wäre, irgendwo auch eine Papiertüte zu besitzen mit meinen Rückenwirbeln im Alter von zwei Jahren oder den Fingerknöcheln mit sieben …
Ich lege die Zähne zurück an ihren Platz. Gerne würde ich mir noch ein paar Bilder anschauen, aber ich halte nicht länger durch. Ich ziehe die Schublade am Nachtkästchen auf und stecke alles in die Schachtel aus vergilbtem »Schlangenleder«, die einstmals einen Rasierapparat beherbergt hat, einen Pinsel und ein Schächtelchen mit Astor-Klingen. Nun verwahre ich hier meine erbärmlichen Schätze. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und bemühe mich, möglichst schnell einzuschlafen, vielleicht sogar für immer. Die Kopfhaut juckt nicht mehr. Und weil es erst kürzlich geschah, hoffe ich, es geschieht nicht auch diese Nacht.
Ich dachte an Träume, an Besucher, an diesen ganzen Wahnsinn, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Vorerst muss ich zurückkehren zur Schule, in der ich, sieh an, schon seit mehr als drei Jahren arbeite. »Ich werde nicht mein ganzes Leben Lehrer sein«, sagte ich mir, daran erinnere ich mich, als wäre es eben gestern gewesen, als ich spät an einem Sommerabend, rosa Wolken standen am Himmel, mit der Straßenbahn von dort, dem hintersten Colentina, wo ich hingefahren war, mir zum ersten Mal meine Schule anzuschauen, nach Hause fuhr. Aber sieh, es ist kein Wunder geschehen, und alles deutet darauf hin, dass es genau so weitergeht. Schließlich war es bis jetzt gar nicht so schlimm. An dem Nachmittag, als ich, unmittelbar nach der regierungsamtlichen Zuteilung, dort hinfuhr, um meine Schule zu sehen, war ich vierundzwanzig Jahre alt und wog etwa das Doppelte dieser Zahl an Kilos. Ich war unglaublich, unfassbar ausgehungert. Der Schnurrbart und die langen Haare, zu jener Zeit noch mit einem rötlichen Schimmer, vermochten es lediglich, meine Gestalt noch stärker zu infantilisieren, so dass ich, wenn ich mich unverhofft in einer Schaufensterscheibe oder in den Straßenbahnfenstern erblickte, einen Gymnasiasten zu sehen meinte.
Es war ein Sommernachmittag, die Stadt war bis oben hin angefüllt mit Licht, wie ein Glas, in dem sich das Wasser bogenförmig über den Rand wölbt. Ich hatte in Tunari vor der Generaldirektion der Miliz die Straßenbahn genommen, bin am Wohnblock meiner Eltern in der Ştefan cel Mare vorbeigefahren, wo auch ich gewohnt hatte, schaute wie üblich auf die unendliche Fassade, um das Fenster meines Zimmers zu sehen, das zum Schutz vor der Sonne von innen mit blauem Papier verklebt war, und fuhr danach am Maschendrahtzaun des Colentina-Spitals entlang. Die Pavillons der Patienten standen in dem großen Innenhof aufgereiht wie Schlachtschiffe aus Mauerwerk. Jeder hatte eine andere Form, als hätten die unterschiedlichen Krankheiten ihrer Bewohner die bizarre Architektur dieser Bauten bestimmt. Oder aber der Architekt jedes einzelnen dieser Pavillons war unter den Menschen, die an einer bestimmten Krankheit litten, ausgesucht worden und hatte das Gebäude so konzipiert, dass es dieses Leiden symbolisch repräsentierte. Ich kannte sie alle, mindestens zwei davon hatten auch mich schon beherbergt. Übrigens erkannte ich eben schaudernd in der rechten hinteren Ecke des Innenhofs das rosa Gebäude mit den papierdünnen Wänden, den Pavillon der Neurologie-Patienten. Hier hatte ich vor acht Jahren wegen einer partiellen Gesichtslähmung, die mir auch heute hin und wieder noch zu schaffen macht, einen ganzen Monat verbracht. Oftmals irre ich nächtens im Traum zwischen den Pavillons des Colentina-Spitals umher und betrete unbekannte, feindlich wirkende Gebäude, deren Wände bedeckt sind von anatomischen Schautafeln …
Dann fuhr die Straßenbahn an den ehemaligen ITB-Werkstätten vorbei, wo auch Vater einige Zeit als Schmied gearbeitet hatte. Davor hatte man jedoch Wohnblocks gebaut, so dass man sie von der Chaussee aus kaum mehr sehen konnte. Im Erdgeschoss eines Blocks befand sich direkt an der Doktor-Grozovici-Haltestelle eine Quartiersklinik. Dort war ich eine Zeit lang hingegangen, mir die Vitamin-B1- und -B6-Impfungen verabreichen zu lassen, ebenfalls infolge der Gesichtslähmung im Alter von sechzehn Jahren. Die Meinen drückten mir die Phiolen in die Hand und sagten mir, ich möge nicht ungeimpft zurückkehren. Die wussten schon Bescheid. Anfangs warf ich sie in den Fahrstuhlschacht und sagte ihnen, ich habe sie mir geben lassen, doch kam ich damit nicht lange durch. Bis zum Schluss musste ich sie mir tatsächlich verabreichen lassen. Ich brach abends im Dunkeln auf zur Klinik, beinahe tot vor Angst. Ich ging zu Fuß, so langsam es irgend möglich war, zwei Haltestellen weit. Wie an den Tagen, an denen ich zum Zahnarzt gehen musste, hoffte ich, es würde ein Wunder geschehen, und ich fände die Praxis geschlossen vor, das Gebäude abgerissen, den Arzt gestorben, oder es gebe zumindest eine Stromunterbrechung, so dass die Turbine und die Lichter über dem Zahnarztstuhl nicht funktionierten. Aber niemals geschah ein Wunder. Der Schmerz erwartete mich dort in seiner ganzen Größe, mit seiner blutigen Aura. Die erste Schwester an der Grozovici, die mich spätnachts geimpft hatte, war schön, blond und sehr gepflegt, aber schon bald graute mir vor ihr. Sie war eine von denen, die sich deinen nackten Hintern total verächtlich anschauten. Nicht der Gedanke an den nun folgenden Schmerz, sondern der Überdruss jener Frau angesichts des Hinterns, mit dem sie nun eine intime Beziehung eingehen würde (und sei es nur das Einführen der Nadel in die Pobacke), erledigte umstandslos die leichte Erregung, und mein Geschlecht verzichtete auf die Anstrengung, den Kopf ein klein bisschen zu erheben, um besser sehen zu können. Dann wartete ich auf die unvermeidliche Befeuchtung der Hautpartie, die gemartert werden sollte, auf die drei, vier kurzen Schläge mit dem Handrücken, sodann auf den Schock der ins Fleisch gestochenen Nadel, stets mit der Sorge, dass sie keinen Nerv berühren möge, keine Vene, dass mir nichts Übles geschehe, nichts Dauerhaftes, das man im Gedächtnis behält, dann auch noch verschlimmert durch das Gift, das durch den Nadelkanal hinabfloss, um sich, Schwefelsäure, in der ganzen Pobacke auszubreiten. Es war grauenhaft. Nach den Impfungen durch die blonde Schwester hinkte ich noch eine ganze Woche.
Zum Glück wechselte sich diese im Bett mit ihren Liebhabern wahrscheinlich sadomasochistische Schwester in der Klinik mit einer anderen ab, die man, wiewohl aus anderen Gründen, ebenso schwer sollte vergessen können. Es war eine Frau, die einen beim ersten Anblick schon tödlich erschreckte, denn sie hatte keine Nase. Aber sie trug auch keinerlei Verband oder etwa eine falsche Nase, sie trug schlicht und einfach mitten im Gesicht ein großes rundes Loch, das vage in zwei Hälften unterteilt war. Sie war klein wie ein Küken, brünett, und hatte Augen, die vielleicht aufgrund ihrer Sanftmut deine Aufmerksamkeit erregt hätten, wenn ihr totenschädelartiges Gesicht dich nicht vollends aus der Fassung gebracht hätte. Wenn ich auf die Blonde traf, nahm diese mich sogleich ran. Durch den Warteraum fegte der Wind. Wohingegen die Zwergin ohne Nase ungewöhnlich erfolgreich zu sein schien: Bei ihr war das Wartezimmer immerzu gefüllt, voll wie die Kirche in der Auferstehungsnacht. Ich kehrte so gegen zwei Uhr nachts von der Klinik nach Hause zurück. Viele der Patienten, die darauf warteten, einzutreten, brachten ihr Blumen mit. Wenn diese Schwester in der Tür erschien, lächelten die Leute glücklich. Versteht sich von selbst: Wahrscheinlich hatte niemand je eine so leichte Hand. Wenn ich an der Reihe war, und sie mich mit heruntergelassener Hose auf das Wachstuch der Behandlungsliege setzte, betörte mich das Parfüm der Blumen, die, noch in Zellophan eingehüllt, sieben, acht an der Wand aufgereiht stehende Vasen füllten. Die auffallend brünette Frau sprach ruhig und gleichmütig auf mich ein, dann berührte sie einen Augenblick meinen Po mit der Hand, und … das war alles. Ich spürte die Nadel nicht, und das Einsickern des Serums in den Muskel erfuhr ich lediglich als leichte Erwärmung. In ein paar Minuten war alles vorbei, so dass ich fröhlich und glücklich heimkehrte. Die Eltern schauten mich argwöhnisch an: Hatte ich etwa wieder die Phiole weggeworfen, wohin auch immer?
Nun folgte das Melodia-Kino, sogar noch vor dem Lizeanu, und dann stieg ich an der nächsten Haltestelle, am Obor, um in eine Straßenbahn, die im rechten Winkel zur Ştefan cel Mare verkehrte, sie kam von der Moşilor und verlor sich tief im hintersten Colentina.
Ich kannte die Örtlichkeiten gut, in gewisser Weise war das meine Gegend. An der Piaţa Obor machte Mutter ihre Besorgungen. Als ich klein war, hatte sie mich mitgenommen in das Menschenmeer des alten Marktes. Die Fischhalle, die stank, dass man es nicht darin aushielt, dann die große Halle mit den unverständliche Szenen darstellenden Flachreliefs und Mosaiken, schließlich die Eisfabrik, vor der die Arbeiter stets mit in der Mitte weißen und an den Enden rätselhaft durchsichtigen Eisblöcken hantierten (als hätten diese sich in der sie umgebenden Luft fortwährend aufgelöst), waren für meine Kinderaugen phantastische Zitadellen aus einer anderen Welt. Dort, an der Hand der Mutter durch die Montagvormittagsödnis des Obor-Marktes gehend, sah ich das Plakat, das mich dann so lange verfolgen sollte, an einem Pfosten kleben: Aus einer fliegenden Untertasse kam ein riesiger Krake hervor und streckte seine Fangarme nach einem Astronauten aus, der über einen roten, mit Steinen übersäten Boden ging. Darüber stand Planet der Stürme. »Es ist ein Film«, sagte Mutter. »Warten wir, bis er näher bei uns gezeigt wird, im Volga oder im Floreasca.« Mutter fürchtete sich vor dem Stadtzentrum, sie verließ ihr Viertel nur, wenn sie nicht mehr anders konnte, wenn sie mir beispielsweise auf der Lipscani die Schuluniform mit dem Pepitahemd und den Hosen kaufte, deren Knie schon ausgebeult waren, als hätte sie bereits in der Fabrik jemand getragen.
Auch das Colentina-Viertel war mir vertraut, die zerfallenden Häuser auf der linken und die Stela-Seifenfabrik auf der rechten Straßenseite, wo die Wäscheseifen der Marken Schlüssel und Kamel hergestellt wurden. Der Gestank nach ranzigem Fett breitete sich von hier über das ganze Viertel aus. Es folgten das Gebäude der Weberei »Donca Simo«, wo Mutter einstmals an den Webstühlen gearbeitet hat, und danach ein paar Lagerschuppen mit Bauholz. Die elende und zutiefst deprimierende Straße strebte in der Sommerhitze unter den gewaltigen weißlichen Himmeln, die man nur über Bukarest zu sehen bekommt, weiter auf den Horizont zu. Eigentlich war ich dort geboren worden, im Colentina-Viertel, in der Vorstadt, in einer baufälligen Entbindungsstation, die man in einem alten Gebäude, das vor 1944 halb Spielhölle und halb Bordell gewesen sein mochte, eingerichtet hatte, und meine ersten Jahre lebte ich irgendwo auf der Doamna Ghica, in einem Straßengewirr, das eines jüdischen Ghettos würdig gewesen wäre. Viel später bin ich mit einem Fotoapparat dorthin zurückgekehrt, in die Silistra, und habe ein paar Fotos vom Haus meiner Kindheit gemacht, die nichts wurden. Diese Zone gibt es nicht mehr, sie ist vom Erdboden wegrasiert worden, mit meinem Haus und allem, was es dort sonst noch gab. Was steht jetzt an seiner Stelle? Selbstverständlich Wohnblocks, wie überall.
Als ich mit der Straßenbahn Nr. 21 jenseits der Doamna Ghica angelangte, geriet ich in ein fremdes Land. Die Häuser am Straßenrand wurden spärlicher, schmutzige Seen waren zu sehen, an denen Frauen mit gerafften Röcken Teppiche wuschen. Sodawasserläden und Brotzentren, Wein- und Fischläden. Eine leere, trostlose, unendliche Straße, siebzehn Straßenbahnhaltestellen, die meisten ohne ein Schutzdach und ohne Sinn, wie die Bahnstationen auf offenem Feld. Mütter in bedruckten Kleidern, je ein Mädchen an der Hand, die ins Nirgendwo gingen. Hin und wieder ein Pferdewagen, vollbeladen mit leeren Flaschen. Zentren für Gasflaschen, wo man abends schon für den nächsten Tag in der Schlange stand. Rechtwinklig abgehende Straßen, staubig wie auf dem Land, mit Maulbeerbäumen an den Rändern. Drachen, die sich in den elektrischen Stromkabeln zwischen den mit Teer bestrichenen Holzmasten verfangen hatten.
Nach eineinhalb Stunden des Schaukelns mit der Straßenbahn war ich an der Endstation. Ich glaube, ich war an den drei, vier letzten Haltestellen im Waggon allein geblieben. Ich stieg an einem großen Rondell aus, wo die Straßenbahnen wendeten, um neuerlich, sisyphosartig, über die Colentina davonzufahren. Der Tag neigte sich dem Abend zu, blieb aber bernsteinfarben und spektral, vor allem aufgrund der Stille. Hier, an der Endhaltestelle der Straßenbahn Nr. 21, war kein Mensch. Industriehallen mit schmalen Fenstern zogen sich lang und grau dahin, irgendwo, in einiger Ferne, ein Wasserschloss, und im Inneren des weiten Kreises, den die Straßenbahnschienen beschrieben, eine Obstwiese mit buchstäblich ruß- und abgasschwarzen Bäumen. Zwei leere Straßenbahnen ohne Schaffner, nebeneinander erstarrt. Ein geschlossener Fahrscheinkiosk. Starke Kontraste zwischen rosenfarbenem Licht und Schatten. Was suchte ich dort? Wie sollte ich an einem derart fernen Ort leben? Ich brach zu Fuß auf zum Wasserschloss, gelangte an seine Grundmauer, in der es eine Tür mit einem Vorhängeschloss gab, und schaute, den Kopf in den Nacken geworfen, hoch zu der Kugel, die am Ende des geweißelten Zylinders im Himmel glitzerte. Ich zog weiter nach … nirgendwo, in die Ödnis … Dort endete, wie mir schien, nicht die Stadt, sondern die Wirklichkeit. Eine Straße, die nach links abging, trug auf einem Täfelchen den Namen, den ich suchte: Dimitrie Herescu. Irgendwo in dieser Straße musste die Schule, musste meine Schule sein, mein erster Arbeitsplatz, an dem ich mich am 1. September einzufinden hatte, in mehr als zwei Monaten. Das grün und rosa gestrichene Gebäude einer Automechanik-Werkstatt konnte die dörfliche Atmosphäre des Ortes nicht zerstören: Häuser mit Wasserrinnen aus Hohlziegeln, Höfe mit vermoderten Zäunen, angekettete Hunde, Vorstadtblumen. Die Schule befand sich rechter Hand ein paar Häuser hinter der Automecanica und war selbstverständlich auch völlig verlassen.
Es war eine kleine Schule, ein Hybrid in Form eines L, mit einem alten Baukörper, dessen Wände rissig und dessen Fensterscheiben eingeschlagen waren, sowie im hinteren Teil des kleinen Hofes einem neuen Baukörper, der noch deprimierender aussah. Im Hof eine schiefe Tafel mit einem Basketballkorb ohne Netz am Ring. Ich öffnete das Tor und trat ein. Ich ging ein paar Schritte über den Asphalt des Hofes. Die Sonne hatte eben zu sinken begonnen, so dass eine Aureole von Sonnenstrahlen auf dem Dach des alten Gebäudes lag. Sie schossen von dort hervor, traurig, gewissermaßen schwarz, denn sie beleuchteten nichts, sondern mehrten nur noch die unmenschliche Einsamkeit des Ortes. Das Herz krampfte sich mir zusammen: Ich würde in diese wie ein Leichenschauhaus erstarrte Schule eintreten, den Klassenkatalog unter dem Arm, werde ich über die dunkelgrün gestrichenen Flure schreiten, werde hochgehen zum ersten Stock und in eine mir unbekannte Klasse treten, wo dreißig fremde Kinder, mir fremder, als wenn sie von einer anderen Spezies abstammten, auf mich warten. Vielleicht erwarteten sie mich eben nun, still in ihren Bänken sitzend, mit ihren hölzernen Federschachteln und den in blaues Papier eingeschlagenen Heften. Bei diesem Gedanken stellten sich mir die Haare an den Armen auf, und ich eilte fast schon im Laufschritt auf die Straße. »Ich werde ohnehin nicht mein ganzes Leben Lehrer bleiben«, sagte ich mir, während die Straßenbahn mich zurück in die weiße Welt fuhr, die Haltestellen zurückblieben, die Häuser dichter zusammenrückten, und wieder Menschen die Erde bevölkerten. »Nur längstens ein Jahr, bis man mich in eine Redaktion aufnimmt, bei einer Literaturzeitschrift.« Und die ersten drei Jahre Unterricht an der Schule Nr. 86 habe ich tatsächlich damit zugebracht, diese Illusion in mir zu nähren, so wie manch eine Mutter ihre Kinder lange über den Zeitpunkt hinaus stillt, an dem sie sie hätte abstillen müssen. Meine Illusion war so groß geworden wie ich selbst, und ich erbarmte mich immer noch nicht — und in gewisser Weise habe ich auch heute noch kein Erbarmen —, mir nicht wenigstens hin und wieder mal die Brust zu entblößen und ihr zu erlauben, mich genüsslich wie ein Kannibale zu zerfleischen. Die Jahre des Referendariats vergingen. Es werden etwa noch weitere vierzig Jahre vergehen, und ich werde von hier aus die Rente antreten. Schließlich war es bis jetzt nicht ganz so schlimm. Es gab lange Zeitspannen ohne Läuse. Nein, wenn ich es mir so recht überlege, es war nicht alles schlecht an dieser Schule, und was nicht so ganz richtig war, ist letztlich vielleicht auch zum Guten ausgeschlagen.
Mitunter verliere ich die Kontrolle über meine Unterarme und Hände. Ich habe deswegen keine Angst, manchmal könnte ich sogar sagen, es gefällt mir. Es geschieht unerwartet, glücklicherweise aber nur, wenn ich allein bin. Ich schreibe etwas, korrigiere Klassenarbeiten, trinke meinen Kaffee oder schneide mir die Nägel mit der kleinen chinesischen Nagelzange, und plötzlich spüre ich meine Hände ganz leicht werden, als wären sie angefüllt mit einem flüchtigen Gas. Sie erheben sich von alleine, ziehen mir die Arme aus den Schultergelenken in die Höhe und levitieren fröhlich in der dunkel glänzenden dichten Luft meines Zimmers. Dann werde auch ich fröhlich, ich schaue sie mir an, als sähe ich sie zum ersten Mal: lang und schmal, mit dünnen Knochen und wenigen schwarzen Härchen auf den Fingerrücken. Unter meinen verzückten Augen beginnen sie selbständig zu gestikulieren, elegant und bizarr, sie erzählen Geschichten, die Gehörlose vielleicht verstehen könnten. Dann bewegen sich auch meine Finger präzise, ja geradezu unfehlbar in Folgen unverständlicher Zeichen, die Finger der rechten Hand fragen, die der Linken antworten, der Ringfinger und der Daumen schließen sich zum Kreis, die kleinen Finger blättern etwas durch, die Gelenke schwingen mit dem grazilen Schwung eines Dirigenten um die eigene Achse. Ich müsste verrückt werden vor Angst, denn in meinem eigenen Kopf verdammt jemand diese so augenfällig qualifizierten Bewegungen, die sich verzweifelt nach Entschlüsselung sehnen, und doch empfinde ich nur selten ein solches Glücksgefühl. Ich betrachte meine Hände wie ein Kind, das man ins Puppentheater ausgeführt hat, und das nicht begreift, was auf der winzig kleinen Bühne passiert, das aber fasziniert ist von der Aufgeregtheit der Holzgestalten mit den Haaren aus Zwirnsfäden und Kleidern aus Krepp-Papier. Die selbsttätige Beseelung meiner Hände (Gott sei Dank passiert es nicht auch, wenn ich unterrichte oder mich auf der Straße befinde) legt sich nach ein paar Minuten wieder, die Gesten verlangsamen, beginnen den Fingerstellungen der indischen Tänzerinnen zu ähneln und hören dann ganz auf, aber ich kann mich noch zwei, drei Minuten lang des bezaubernden Eindrucks erfreuen, meine Hände seien leichter als die Luft, als hätte Vater statt der Luftballons am Gasrohr des Herds zwei Gummihandschuhe aufgeblasen, die mir nun die Hände vertreten. Und wie sollte ich es denn nicht bedauern, wenn meine echten Hände, brutal, schwer, organisch, schier enthäutet, mit den Muskelsträngen, den milchig weißen Sehnen und den Venen, in denen das Blut schäumte, wieder zurück in die Handschuhe aus Haut mit den Fingernägeln an den Enden schlüpften, und ich plötzlich zu meiner Verwunderung die Hände dazu bringen kann, sich so zu bewegen, wie ich es möchte, als könnte ich, allein indem ich mich konzentrierte, einen Zweig von dem Ficus auf der Schwelle abbrechen oder ohne jede Berührung die Kaffeekanne zu mir herüberziehen.
Später erst kommt die Angst. Erst nachdem diese Feerie (sie mag sich so etwa alle zwei bis drei Monate ereignen) zu einer Art Erinnerung geworden ist, beginne ich mich zu fragen, ob ich nicht unter so vielen anderen Anomalien meines Lebens — denn davon spreche ich — in der Selbsttätigkeit meiner Hände einen weiteren Beweis dafür besitze, dass sich alles im Traum abspielt … dass mein ganzes Leben traumlogisch abläuft oder etwas trauriger, schwerfälliger, verrückter, jedoch wahrer als jedwede Geschichte, die man sich irgendwann einmal ausdenken könnte. Das erheiternd-erschreckende Ballett meiner Hände, das stets hier in meinem Haus in Schiffsform auf der Maica Domnului stattfindet, ist der kleinste, der geringfügigste (weil letztlich auch harmloseste) Grund dafür, diese Seiten niederzuschreiben, ganz allein für mich, in der unglaublichen Einsamkeit meines Lebens. Hätte ich Literatur schreiben wollen, so hätte ich es vor zehn Jahren getan. Ich meine, wenn ich es wirklich gewollt hätte, ohne ein Bewusstsein von der damit verbundenen Anstrengung, etwa so wie man sich wünscht, einen Schritt zu tun, und dein Bein tut ihn. Du musst nicht sagen: »Ich befehle dir, den Schritt zu tun«, auch musst du nicht daran denken, welch komplizierte Prozesse dein Wunsch zu durchlaufen hat, bis er Tatsache wird. Du musst nur daran glauben und ein senfkorngroßes Zutrauen darein haben. Wenn du Schriftsteller bist, schreibst du. Die Bücher kommen, ohne dein Wissen davon, was du dafür zu tun hast, wie deine Gabe funktioniert, genauso, wie die Mutter für die Geburt gemacht ist und tatsächlich das Kind gebiert, das in ihrer Gebärmutter herangewachsen ist, ohne dass ihr Verstand an dem komplizierten Origami ihres Fleisches beteiligt gewesen wäre. Wenn ich Schriftsteller gewesen wäre, hätte ich Fiction geschrieben, bis heute hätte ich zehn, fünfzehn Romane verfasst, die mir nicht mehr abverlangt hätten als die Sekretion von Insulin oder der tägliche Nahrungsverkehr durch die beiden Öffnungen meines Verdauungsapparates. Ich aber habe damals, es ist lange her, als mein Leben noch unter unbestimmt vielen Orientierungen seine Wahl hätte treffen können, meinem Verstand geboten, Fiktionen zu schaffen, und es ist nichts geschehen, genauso, wie ich meinen Finger betrachten und ihm zurufen kann: »Beweg dich!«
Als Heranwachsender wollte ich Literatur schreiben. Ich weiß bis heute nicht, ob ich diesen Weg verfehlt habe, weil ich nicht wirklich ein Schriftsteller war oder aus schlichtem Unglück. Im Gymnasium hatte ich Gedichte geschrieben, ich habe immer noch irgendwo ein paar Hefte herumliegen, und von bestimmten Träumen her weiß ich, dass ich auch Prosa geschrieben hatte, ein großes Quartheft mit festen Deckeln voller Geschichten. Jetzt ist nicht der Moment, darüber zu schreiben. Dann ging ich zu den Rumänisch-Olympiaden, die an verregneten Sonntagen in unbekannten Gymnasien stattfanden. Damals war ich ein verstörter, beinahe schizophrener Knabe, der in den Pausen in den Schulhof ging, sich auf den Rand der Weitsprunggrube setzte und aus zerfledderten Büchlein laut Gedichte las. Wenn ich sprach, schauten die Leute durch mich hindurch, sie hörten mir nicht zu, ich war ein Dekorationsstück — und kein gelungenes — in einer riesigen, chaotischen Welt. Weil ich Schriftsteller werden wollte, entschied ich mich für die Aufnahmeprüfung in Philologie. Ich bestand problemlos im Sommer 1975. Zu jener Zeit war meine Einsamkeit total. Ich wohnte mit meinen Eltern in der Ştefan cel Mare. Ich las acht Stunden pro Tag und wälzte mich unter dem schweißnassen Leintuch im Bett von der einen auf die andere Seite. Die Buchseiten nahmen die immerzu sich verändernde Färbung der weiten Bukarester Himmel an, vom Goldschimmer der Sommermittage bis zum bedrückenden Dunkelrosa der Schneeabende im tiefsten Winter. Ich merkte nicht, wann es völlig finster wurde. Mutter fand mich im finsteren Zimmer, wenn die aufgeschlagenen Seiten mit den Buchstaben darauf praktisch einfarbig waren, und ich nicht mehr las, sondern davon träumte, dass ich in der Geschichte voranschritt und sie dabei den Gesetzen des Traums gemäß abwandelte. Dann kam ich zu mir, streckte mich, erhob mich aus dem Bett — tagsüber hatte ich es nur getan, um zum Klo zu gehen — und trat stets wieder ans große Fenster meines Zimmers, von dem aus man, hingestreckt unter phantastischen Wolken, ganz Bukarest sehen konnte. Tausende Lichter waren in all den weithin verstreuten Häusern eingeschaltet, in den benachbarten Villen konnte ich Leute sehen, die sich wie träge Fische im Aquarium bewegten, und viel weiter weg gingen bunte Neonreklamen an und aus. Was mich jedoch faszinierte, war der gewaltige Himmel über uns, eine höhere Kuppel, überwältigender als jedwede Kathedrale. Auch die Wolken vermochten es nicht, bis in ihre Spitze hochzusteigen. Ich legte die Stirn an die kalte elastische Fensterscheibe und verharrte so, ein Heranwachsender in einem in den Achselhöhlen zerrissenen Schlafanzug, bis Mutter mich zu Tisch rief. Dann kehrte ich zurück in die Höhle meiner Einsamkeit, tief unter die Erde, um bei eingeschaltetem Licht und in einem anderen, identischen Zimmer, das sich im Fensterspiegel weitete, zu lesen, bis mich die Müdigkeit überwältigte.