Liebe, Sex, Sehnsucht und ein ganz besonderes Fest der Liebe: nach seinem Bestseller
»Ans Meer« liefert René Freund mit »Swinging Bells« eine brilliante Beziehungskomödie
rund um Weihnachten.
Sandra und Thomas haben es geschafft, den verwandtschaftlichen Pflichten zu entkommen,
und freuen sich auf Weihnachten zu zweit. Unangenehm ist nur, dass ausgerechnet heute
noch die Leute vorbeikommen, die das zum Verkauf angebotene Bett abholen wollen. Als
es an der Tür läutet, hofft Sandra, dass die Sache schnell erledigt sein wird. Doch
die Käufer, die sich als Leo und Elisabeth vorstellen und eine Flasche Prosecco mitgebracht
haben, machen es sich erst einmal im Wohnzimmer gemütlich. Thomas will nicht unhöflich
sein, aber irgendwann beschleicht auch ihn der Verdacht, dass hier irgendetwas schiefläuft.
Eine brillante Komödie, die mit den Themen Liebe, Sex, Sehnsucht, Angst, Wünschen
und Verdrängen spielt.
René Freund
Swinging Bells
Roman
Deuticke
Kommen
»Das werden die schönsten Weihnachten unseres Lebens«, sagte Sandra.
»Ganz sicher«, bekräftigte Thomas und hängte eine goldene Engelsfigur an den Christbaum. Eine Nordmanntanne hatten sie gekauft, eine lebende im Topf, natürlich aus biologischer Züchtung. Was sie nach Weihnachten mit dem Baum anfangen sollten, das hatten sie sich noch nicht überlegt. Notfalls mussten sie ihn einfach aussetzen, irgendwo in der Natur.
»Hast du gewusst, dass Christbaumschmuck eine symbolische Bedeutung hat?«, fragte Sandra.
Thomas hängte einen Apfel aus lackiertem Holz an ein Ästchen und sah Sandra fragend an.
»Der Apfel steht für das Paradies, für Fruchtbarkeit. In seiner perfekten runden Form erinnert er uns an das Göttliche.«
Thomas warf Sandra einen verspielten Blick zu. »Ah, ich verstehe«, sagte er und schloss seine Frau in die Arme. »Perfekt, runde Apfelform, göttlich, da fällt mir einiges ein.«
Sandra küsste ihn und nahm einen silbernen Stern zur Hand. »Sterne versinnbildlichen die Astrologie. Sie lassen uns auf ein gütiges Schicksal hoffen.«
Thomas bückte sich und holte eine goldene Nuss aus einem Karton, auf dem in großen Buchstaben Weihnachten stand. »Und die Nuss?«, fragte er.
»Die Nuss …« Sandra dachte kurz nach. »Nüsse sind schwer zu knacken. Sie stehen für das Geheimnis. Für das Rätselhafte, das Dunkle.«
Toll, dachte Thomas. Sollte bei Sandra so etwas wie Selbsterkenntnis eingesetzt haben? Ausgerechnet am Heiligen Abend? Aber zu diesem Thema würde er heute bestimmt nichts sagen.
»Dann hänge ich eine Glocke daneben«, entgegnete er. »Die Glocke symbolisiert das Helle, das Himmlische. Außerdem erinnert sie in ihrer perfekten runden Form an das Göttliche.«
Sandra lachte. »Du bist blöd«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte er.
Wie anstrengend waren all die vergangenen Weihnachten gewesen! Und wie alt muss man eigentlich werden, um Weihnachten endlich so feiern zu dürfen, wie man will? Vor allem, wenn man keine Kinder hat. Oder noch keine Kinder hat. Irgendwann würde das mit dem Nachwuchs schon gelingen, und dann könnten sie endlich der lästigen, vor allem bei Familienfesten standardmäßig gestellten Frage entgehen, wann es denn endlich so weit sei. Sandra war achtunddreißig Jahre alt, Thomas vierzig, ein wenig Zeit hatten sie wohl noch. Wenn auch nicht sehr viel.
Aber selbst, wenn man schon seit acht Jahren verheiratet ist und seit fünfzehn Jahren zusammenlebt — irgendwie scheint es so zu sein, dass man kein Recht hat, selbst über Weihnachten zu bestimmen, solange man keine eigenen Kinder hat. Also hatten Sandra und Thomas den Heiligen Abend abwechselnd bei seinen Eltern oder mit ihrer Großfamilie verbracht. Sie hätten natürlich darauf bestehen können, Weihnachten in trauter Zweisamkeit zu feiern, aber sie waren gar nicht auf die Idee gekommen. Weihnachten ist ja das Fest der Familie, und ist man zu zweit eine Familie? Nicht so wirklich, jedenfalls in den Augen der anderen. Thomas’ Eltern wohnten immerhin auch in Wien, da konnten sie nach dem offiziellen Festakt nachfeiern, nur für sich. Einen kleinen Baum hatten Thomas und Sandra noch jedes Jahr geschmückt, und auch die Krippe aus Wurzeln und Moos mit den handgeschnitzten Figuren durfte nicht fehlen.
Alle Jahre wieder kochte Thomas’ Mutter Fischbeuschelsuppe, die eigentlich niemandem schmeckte, nicht einmal ihr selbst. Aber es war nun mal seit Generationen Tradition, am Heiligen Abend Fischbeuschelsuppe zu essen, diese trübe Brühe mit meist undefinierbaren und dadurch wenig vertrauenerweckenden Karpfen-Innereien. Danach gab es gebackenen Karpfen, den konnte vor allem Sandra nicht leiden. Manchmal kam auch Toms großer Bruder Rainer vorbei, jedes Mal mit einer anderen Freundin. Das stresste Thomas ziemlich, weil er sich an fremde Menschen nicht so leicht gewöhnen konnte. Zudem hatte sein Vater, der erfolgreiche Selfmademan und gestrenge Patriarch, nur noch Augen für Rainer, wenn dieser anwesend war. Schließlich hatte Thomas’ großer Bruder alles richtig gemacht: Wirtschaft studiert, die Consulting-Firma übernommen und ausgebaut, eine Penthouse-Wohnung und einen Mercedes AMG gekauft. Er war auf der ganzen Welt unterwegs, und mit den Frauen, da hatte er es auch richtig gemacht: Nur keine Langeweile aufkommen lassen! Thomas fand Rainer reichlich protzig, und Rainer fand, dass Thomas ziemlich neidisch war. Aber was sollte man machen? Zu Weihnachten heißt es: friedlich sein! Um Gottes willen auf jeden Fall friedlich sein!! Wenn Rainer nicht da war, gelang das bei Toms Eltern ganz gut, so gut sogar, dass man sich vor lauter Frieden schon bald nichts mehr zu sagen hatte und den Fernseher einschaltete. Und obwohl zu Weihnachten meistens rührende und herzenswarme Filme gezeigt wurden, fröstelte Sandra doch, wenn das blaue Licht des riesigen Bildschirms den Salon der Jahrhundertwende-Villa flutete.
Lebhafter ging es bei Sandras Familie zu. Sandra stammte vom Land, Bezirk Scheibbs, gut anderthalb Autostunden von Wien entfernt. Ihre Großeltern mütterlicherseits waren noch richtige Bauern gewesen, mit einem riesigen Vierkanthof. Jetzt hielten sie nur mehr ein paar Hühner und zwei Esel, die Sandras Schwester vor dem Schlachten gerettet hatte. Sandras Eltern hatten die Landwirtschaft aufgegeben und etwas einträglichere Erwerbsquellen gefunden. Ihr Vater leitete eine große Tischlerei, ihre Mutter arbeitete als Lehrerin. Ein anstrengender Beruf, wenn man ihn ernst nimmt. Allerdings hatte sich Sandra von den drei großen Vorteilen überzeugen lassen und selbst Lehramt studiert: Der erste Vorteil bestand darin, dass man nicht gekündigt werden konnte, sofern man nicht eigenhändig ein Kind erwürgte, worauf man zwar gelegentlich Lust hatte, es aber doch unterließ. Die beiden anderen Vorteile hießen Juli und August.
Zu Weihnachten stieß auch Sandras Bruder mit seiner Frau und den vier Kindern zur Familienrunde. Thomas hatte in den ersten Jahren Schwierigkeiten, sich all die Namen zu merken. Auch mit dem etwas eigenwilligen Dialekt kam er nicht gut zurecht, zumal er als Germanist aus der Großstadt eigentlich gar nicht anders konnte, als nach der Schrift zu reden, was ihm anfänglich von Sandras Familie als Arroganz angelastet worden war. Außer von der Lippenstift-Oma aus der väterlichen Linie, die auch keinen Dialekt sprach. Aber mit der Zeit hatte sich die beiderseitige Distanziertheit ein wenig gebessert. So richtig wohl fühlte sich Thomas aber in Sandras Großfamilie nicht, und natürlich spürte Sandra das, was ebenfalls nicht zu ihrer Entspanntheit beitrug. Und noch dazu stritten alle. Das taten sie eigentlich immer, aber zu Weihnachten mit ganz besonderer Hingabe. Immerhin, es gab jedes Jahr Schnitzel mit Kartoffelsalat, das schmeckte wenigstens allen.
War man am Heiligen Abend bei Toms Eltern, verbrachte man den Christtag bei jenen von Sandra und umgekehrt. Das war so, seit sie zusammen waren, also seit gut fünfzehn Jahren. Einmal hatten Thomas und Sandra den Heiligen Abend sogar zuerst bei Sandras Familie und dann bei Thomas’ Eltern gefeiert. Es gab also zwischen sechzehn und achtzehn Uhr eine Bescherung am Land, und eine weitere zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr in der Villa im Wiener Nobelbezirk Hietzing. Thomas und Sandra hatten versucht, es allen recht zu machen, was folgerichtig dazu geführt hatte, dass alle beleidigt waren. Der einzige Vorteil dieser Doppelfeier waren die geruhsamen Autofahrten auf leeren Straßen gewesen.
Heuer aber hatten Toms Eltern mit sehr schlechtem Gewissen — »Macht es euch sicher nichts aus, wenn wir nicht da sind?« — eine Kulturreise nach Vietnam gebucht. Und Sandra hatte ihren Eltern einfach nichts davon erzählt. Da würden sie am Christtag hinfahren, das musste reichen. Denn diesmal würden es ganz allein ihre Weihnachten sein! Die schönsten Weihnachten ihres Lebens!
»Hast du den Champagner?«, fragte Elisabeth.
»Es ist Prosecco«, antwortete Leo.
»Ich wusste ja, es war etwas Spanisches«, meinte Elisabeth.
»Italienisch«, gab Leo zurück.
»Aber du hast ihn?«
»Im Kofferraum.«
»Und die Kekse?«, wollte Elisabeth wissen.
»Welche Kekse?«
»Die Weihnachtskekse!«
»Die waren doch von vergangenem Jahr«, sagte Leo.
»Eben«, meinte Elisabeth.
Blöd, dass sie die Kekse vergessen hatten. Die waren zwar steinhart und trocken, allerdings waren sie das vor einem Jahr auch schon gewesen. Backen gehörte nicht zu Elisabeths Stärken.
Die beiden saßen schweigend in Leos Lieferwagen und konnten sich nicht dazu entschließen, auszusteigen. Obwohl es sich beileibe nicht um ihr erstes Treffen mit einem anderen Paar handelte, war Leo nervös. Seit er neunundvierzig war, der Fünfziger also drohend nahte, beobachtete er mit Sorge seine erotische Leistungsfähigkeit, und wenn das andere Paar ihm vom Aussehen oder vom Niveau her nicht zusagte, konnte er schon ziemlich in Stress geraten. Immerhin, auf Elisabeths routinierte Zärtlichkeit konnte er sich verlassen. Auch schon etwas. Elisabeth wiederum wusste natürlich genau, dass Leo nervös war. Deshalb hatte sie Champagner zum Prosecco gesagt. So blöd war sie ja nicht. Ich bin nur blondiert, pflegte sie zu sagen. Aber wenn Leo etwas besser wusste als sie, gab ihm das Sicherheit.
Elisabeth hatte die Haare schon lange blondiert, woran die Geschichte mit Isabella schuld war. Isabella war ihre echt blonde Schulfreundin gewesen, von allen bewundert und beneidet, während Elisabeth sich mit ihrem mittelbraunen Lockenkopf sehr durchschnittlich gefunden hatte. Die beiden hatten auf dem Weg in die Sommerferien jeweils einen schweren Koffer über den Bahnsteig geschleppt. Elisabeth hob das sperrige Ding über die schmale Treppe in den Zug, schob es den Korridor entlang, wuchtete es auf die Gepäckablage, drehte sich erschöpft um — und was sah sie, als sie aus dem Fenster auf den Bahnsteig schaute? Die blonde Isabella klimperte mit den Wimpern, und aus allen Ecken sprangen hilfsbereite Kerle herbei und stritten sich förmlich darum, ihr den Koffer bis in die Gepäckablage des Abteils transportieren zu dürfen. In dem Augenblick hatte Elisabeth beschlossen, sich als etwas naive Blonde durchs Leben zu schlagen, und das war ihr dann ziemlich gut gelungen. Mittlerweile war das Blondieren ohnehin eine Notwendigkeit geworden, weil die grauen und weißen Haare überhandgenommen hatten, was ja mit zweiundfünfzig Jahren wenig verwunderlich ist. Aber wie eine alte Frau aussehen — das wollte Elisabeth nicht. Schon gar nicht, seit sie mit dem jüngeren Mann zusammen war. Leo, ihr Lottogewinn. Geschieden, Tochter aus dem Haus, gutsituiert. Niveauvoll, gutaussehend, einfühlsam, zärtlich, ein wunderbarer Küsser, ein großartiger Koch, Lottogewinn eben. Nur momentan wirkte er ein bisschen nervös.
Das lag vielleicht auch daran, dass sie gerade bei seiner Mutter Weihnachten gefeiert hatten. Elisabeth wusste nicht, was Leo nervöser machte, seine Mutter — oder wieder von seiner Mutter wegzufahren. Als Einzelkind war er zeitlebens der Mamasohn geblieben. Die Fürsorglichkeit, die Sorgen und Ängste seiner Mutter brachten ihn schnell auf die Palme. Andererseits liebte er sie abgöttisch. Immer, wenn sie von ihr wegfuhren, jammerte er, sie vielleicht zum letzten Mal gesehen zu haben. Wenn Elisabeth anmerkte, dass sie das jetzt schon seit drei Jahren hörte, reagierte er beleidigt.
»Na, wollen wir dann, mein Schatz?«, fragte Elisabeth.
»Von Wollen kann keine Rede sein«, antwortete Leo.
»Ach komm, es wird sicher nett. Niveauvolles junges Paar, komm schon. Partnertausch bei Sympathie möglich. Aber wir sind ja zu nichts verpflichtet. Wenn sie uns nicht gefallen, trinken wir ein Glas Wein und gehen einfach wieder.«
Leo seufzte und öffnete die Autotür.
»Und das Spiel«, sagte Elisabeth, »das Spiel nehmen wir auch mit.«
»Natürlich«, brummte Leo, »den Sprudel und das Spiel.«
»Verdammt!«, rief Sandra plötzlich aus der Küche.
»Was ist das für ein Wort am Heiligen Abend?«, fragte Thomas.
»Ich wollte doch als Nachspeise eine Zabaglione machen«, sagte sie. »Und jetzt sehe ich, wir haben kein Ei mehr. Kein einziges!«
»Entspann dich, Sandra. Zabaglione ist doch ohnehin ziemlich retro, findest du nicht?«
»Ebendeshalb wollte ich ja eine machen.«
»Und wir haben gesagt, keine Völlerei zu Weihnachten.«
»Stimmt, wir wollen heuer ein runterreduziertes Weihnachten«, sagte Sandra.
»Es heißt reduziert«, antwortete Thomas. »Re- heißt schon runter. Runterreduziert ist ein Pleonasmus.«
»Nur weil du Germanist bist, lass ich mir von dir nicht alles aufoktroyieren«, antwortete Sandra.
»Es heißt oktroyieren, weil …« Thomas führte den Satz nicht zu Ende, weil er das breite Grinsen in Sandras Gesicht sah. Erwischt.
»Ich will aber Zabaglione machen. Du hast doch auch deinen asiatisch interpretierten Wintersalat vorbereitet.«
»Leider mit dem falschen Salat«, brummte Thomas.
»Ich weiß, ich habe keinen Bio-Salat bekommen«, antwortete Sandra.
»Du hast konventionellen Salat gekauft«, seufzte Thomas.
»Konventionellen, ja. Es tut mir leid. Deine Pastetchen und Blätterteigtaschen sind auch konventionell.«
»Aber mit Bio-Eiern gemacht«, sagte Thomas.
»Deshalb haben wir auch keine mehr«, knurrte Sandra.
Sie musste sich bemühen, jetzt nicht sarkastisch zu werden. Es war Weihnachten. Sie musste friedlich bleiben. Aber eigentlich hasste sie Weihnachten. Sie fühlte sich nicht gut. Obwohl sie normalerweise kein Problem damit hatte, eine ganze Tafel Schokolade zu vertilgen, litt sie bereits seit Mitte Dezember an Völlegefühl und Sodbrennen, nur aus Angst vor der Weihnachtsvöllerei. Und ihr Herz, das beobachtete sie misstrauisch. Es schlug so … leicht daneben? Mal ein paar Takte viel zu schnell und dann gar nicht … Manchmal hatte sie den Eindruck, dass es minutenlang überhaupt nicht schlug. Mit einer zwanghaften Regelmäßigkeit horchte sie in sich hinein, was es natürlich nicht besser machte. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie wusste, wie ihre Skepsis gegen Weihnachten entstanden war, nämlich durch die kindliche Angst vor dem Weihnachtsstreit. Traditonell war an diesem Abend alles herausgekommen, was das ganze Jahr über in der Luft gelegen hatte. In Sandras Kindheit waren auch noch ihre Tanten und die Schwieger-Großeltern mit allen Cousins und Cousinen gekommen. Gefreut hatte sie sich nur darüber, die Mutter ihres Vaters zu sehen, die Lippenstift-Oma. So hatte eine von Sandras Freundinnen sie einst getauft, denn Lippenstift sah man in Scheibbs-Umgebung selten. Die Lippenstift-Oma sprach Hochdeutsch, strahlte eine gewisse Erhabenheit aus, und wenn sie im Laufe eines Gesprächs oder einer Diskussion »Na gut« sagte, dann wussten alle, dass das Thema nun erledigt war. Jedenfalls für sie.
Doch die originelle, geradezu exotische Lippenstift-Oma blieb der einzige Lichtblick in Sandras Weihnachtswelt. Ihr Vater war gereizt und brüllte seine Schwestern an; die Großeltern sprachen kein Wort miteinander; die Cousins aßen schon am Nachmittag den Christbaum leer; die Mutter-Oma nörgelte, weil die Mutter den Kartoffelsalat falsch gemacht und den Tisch nicht schön gedeckt hatte; der Vater erklärte, er werde nächstes Jahr dem anderen Opa ganz sicher das Geld zurückzahlen, und danach brüllte er wieder seine Schwestern an; weil Mama in der Küche schluchzte, sagte Oma, es wäre nicht so schlimm, wenn die Panier vom Fleisch falle; man könne Fleisch und Panier ja auch getrennt essen; dem Bruder hingegen fiel der ganze Kartoffelsalat hinunter; der Hund fraß ihn in weniger als einer Minute auf und kotzte dann gemeinsam mit den Cousins unter den Christbaum.
Deshalb, genau deshalb fühlte Sandra sich am 24. Dezember nicht wohl. Und genau deshalb war sie gerade ein bisschen allergisch darauf, in welcher Art und Weise Thomas dieses »Du hast konventionellen Salat gekauft« gesagt hatte. Mit spitzem Mund und gespielter Gelassenheit, die bei Sandra aber als Verachtung ankam. Als Ablehnung. Nicht nur des tödlich giftigen konventionellen Pestizidsalats, sondern ihrer Person. Aber vielleicht empfand sie das auch nur so, weil Weihnachten war. Sie musste jetzt einlenken. Und sich um die Eier kümmern.
»Ich fahr schnell los und kauf welche«, sagte Sandra.
»Wo willst du am Heiligen Abend Eier kaufen?«, fragte Thomas.
»Bei der Tankstelle mit dem Shop.«
»Die hat heute offen?«
»Die hat immer offen.«
»Okay«, sagte Thomas. »Dann fahre ich schnell los.«
»Warum du?«, fragte Sandra.
»Erstens, weil ich ein Mann bin.«
»Hui«, sagte Sandra.
»Ja, du lachst, aber ich finde, ich komme mit der Doppelbelastung ganz gut zurecht.«
»Mit welcher Doppelbelastung?«
»Einem Leben als Mann und Mensch.«
»Ach so.«
»Zweitens, weil ich es war, der die Eier aufgebraucht hat. Und drittens, weil du inzwischen endlich die Ingwer-Kokos-Kürbissuppe fertig machen könntest.«
»Triftige Gründe«, meinte Sandra. »Übrigens kommen ja auch noch die Leute von Werwillwas wegen dem Bett.«
»Wegen des Betts. Die hatte ich ganz vergessen.«
Dabei hatte sich Thomas ziemlich aufgeregt, dass Leute ausgerechnet am Heiligen Abend das Doppelbett abholen wollten, noch dazu »gegen 19.00 Uhr«. Andererseits war das Bett jetzt schon so lange inseriert, und es stand in Thomas’ Schlafzimmer im Weg, seit Thomas und Sandra sich je ein Bio-Vollholzbett gekauft hatten. Einzel. Die Käufer wohnten ein paar Häuser weiter in derselben Anlage, und Elisabeth hatte beim Hin- und Hermailen mit ihnen erfahren, dass sie Weihnachten zuerst woanders feierten, danach erst würden sie das Doppelbett holen können, das sozusagen ihr gemeinschaftliches Weihnachtsgeschenk an sie selbst war … Thomas hatte letztendlich zugestimmt. Hauptsache, das Ding war endlich aus dem Weg. Sein Bruder hätte das Bett zwar einfach weggeworfen beziehungsweise wegwerfen lassen, aber zweihundert Euro warf man nicht weg, auch, wenn es einfacher gewesen wäre. Und angenehmer. Und cooler. Aber genug jetzt. Heute: Fröhliche Weihnachtsstimmung!
Auf dem Weg zur Tür drehte Thomas noch einmal um. Dramatisch umarmte er seine Frau. »Schaffst du das ohne mich?«
»Ich weiß noch nicht«, gab Sandra mit piepsender Stimme zurück. »Wie lange bist du denn weg?«
»Fünfzehn«, sagte Thomas.
»Oh nein!«, stöhnte Sandra.
»Oh doch! Fünfzehn ganze Minuten!«
»Dann küss mich noch einmal zum Abschied!«
Das tat Thomas, bevor er sich auf den Weg machte.
Elisabeth hängte sich bei Leo ein, als sie über den schmalen Weg gingen. Insgesamt acht Wohnhäuser befanden sich in der parkähnlichen Anlage. Eines sah aus wie das andere: vier Stockwerke, Terrassen mit Holzverkleidung, viel Glas und Beton. »Individuelle Wohnträume«, so heißt es meistens, wenn alles gleich aussieht.
»Hier muss es sein«, sagte Leo.
»Schick«, antwortete Elisabeth.
»Das müssen bessere Leute sein«, meinte Leo.
»Wie deine Mutter sagen würde«, fügte Elisabeth hinzu. »Wir müssen hier nach links. Haus 8, Top 2.«
»War es nicht Haus 2, Top 8?«, fragte Leo.
»Nein, sicher 8/2.«
»Haben sie keine Namen gesagt?«
»Jedenfalls nicht ihre echten. Ich nehme an, dass sie nicht Mumu07 und MisterXX an die Türglocke geschrieben haben.«
Elisabeth, die sich dieser Dinge gerne annahm, hatte die beiden auf einer Internetplattform für Swinger und aufgeschlossene Paare kennengelernt. Das heißt, kennengelernt hatte sie sie nicht, weil Mumu07 und MisterXX weder ihre Namen noch Fotos ihrer Gesichter preisgeben wollten. Das sprach dafür, dass sie sich in der Szene auskannten. Sie behaupteten zwar von sich, Anfänger zu sein, aber das taten viele, das sah dann irgendwie unschuldig aus. Immerhin, was Elisabeth sonst an Fotos zu sehen bekommen hatte, schien ihr durchaus ansprechend. Auch das Hin- und Herschreiben im Chat mit MisterXX war richtig lustig gewesen. Vor allem hatte er weder Grammatik- noch Rechtschreibfehler gemacht. Das fand Elisabeth wahnsinnig wichtig. Wenn ihr einer schrieb, »ich habe Lust an deine Nippel zum saugen bis du zum Ohrgasmus komst«, dann verging ihr jegliche Lust sofort.
Als sie sich nun dem Haus näherten, verspürte Elisabeth wie immer vor diesen Treffen ein nervöses Kribbeln im ganzen Körper.
»Ich weiß nicht«, sagte Leo. »Es freut mich heute nicht wirklich. Oder wirklich nicht.«
»Wir waren gerade drei Stunden bei deiner Mutter. Danach bist du immer ein bisschen angespannt.«
»Wer weiß, ob ich sie noch einmal sehe …«
Elisabeth seufzte. Als sie vor dem Haus angekommen waren, zündete sie sich eine Zigarette an.
»Also ich habe nur eine Sorge«, sagte sie. »Nämlich, dass ich dort nicht rauchen darf.«
»Dann wirst du eben auf dem Balkon rauchen.«
»Dann werden sie glauben, ich bin eine Süchtige.«
»Du bist eine Süchtige.«
»Sie sehen gut aus«, sagte Elisabeth. »Jedenfalls ihre Körper. Und sie haben Niveau.«
»Sicher, in der Gegend«, sagte Leo. »Aber … Ich weiß nicht … Es ist Weihnachten!«
»Eben, Leo. Und wir wollten zu Weihnachten mal etwas anderes machen. Hmh, du hast es doch auch lustig gefunden. Happy XXmas …«
Ein junger Mann öffnete die Haustür und trat ins Freie.
»Frohe Weihnachten«, sagte Elisabeth.
»Eier«, murmelte der Mann. »Eier!«
Leo kicherte. Als Elisabeth ihre Zigarette zu Ende geraucht hatte, drückte sie kurz entschlossen den Klingelknopf von Top 2.
Als die Glocke läutete, dachte Sandra, dass Thomas wohl seinen Schlüssel vergessen hatte. Sie ging zur Tür, drückte den Knopf, um den Hauseingang zu öffnen, und machte die Wohnungstür auf. Sie eilte in die Küche zurück zu ihrer Ingwer-Kokos-Kürbissuppe. Wenig später wunderte sie sich, als es zaghaft an der halb geöffneten Küchentür klopfte. Sie drehte sich um und erschrak zu Tode. Da standen zwei wildfremde Menschen. Sie stieß unwillkürlich einen Schrei aus.
»Entschuldige bitte«, sagte Elisabeth, »aber es war offen, und wir dachten …«
»Entschuldigung, dass ich so erschrocken bin«, sagte Sandra. »Sie kommen wegen des Doppelbetts, nicht wahr?«
»Sozusagen«, sagte Leo, griff in die Einkaufstasche und überreichte Sandra die Flasche Prosecco, »aber wir wollen nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.« Sandra nahm die Flasche und ging ins Wohnzimmer, um nachzusehen, ob Thomas zurückgekommen war. Nichts. Die Eingangstür war geschlossen.
»Sie sieht wirklich nicht schlecht aus«, flüsterte Leo Elisabeth zu. »Ein bisschen nervös zwar, aber sie wird schon auftauen.« Sie folgten ihrer Gastgeberin ins Wohnzimmer.
»Hallo, ich bin Leo«, sagte Leo und schüttelte Sandra die Hand.
»Und ich bin Elisabeth«, fügte Elisabeth hinzu.
»Sandra«, sagte Sandra geistesabwesend.
»Entschuldigung, können wir …«, murmelte Leo, als er den Garderobenhaken sah. Er half Elisabeth aus dem Mantel, zog seine Jacke aus, hängte beides auf und rieb sich die Hände.
»Gemütlich hier. Und ein wunderschöner Christbaum!«
»Sollen wir die Schuhe ausziehen?«, fragte Elisabeth.
»Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird, denn Sie werden nicht lange bleiben, nehme ich an … Es ist schließlich Weihnachten und …«
»Ach, wir werden schon sehen«, sagte Leo. »Ich muss sagen, du siehst wirklich ganz bezaubernd aus.«
»Danke«, sagte Sandra. Ihr fiel absolut nicht ein, was sie sonst hätte sagen können.
»Und so jung«, fügte Leo hinzu. »Viele schummeln ja bei ihrem Alter.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Sandra.
»Ich finde, wir sollten uns du sagen«, sagte Elisabeth. »Haben wir beim Chatten ja auch gemacht.«
»Beim Chatten?«, fragte Sandra verwirrt. »Ach so, wie wir uns geschrieben haben …« Eigentlich hatte sie keine Erinnerung daran, mit den Bettkäufern per du gewesen zu sein. Aber egal.
»Ach, ich dachte, da warst du auch dabei. Dann hat das wohl nur dein Mann gemacht.«
»Mein Mann hat was?«, fragte Sandra.
Elisabeth und Leo warfen einander einen Blick zu. Entweder hatte ihr Mann das alles hinter Sandras Rücken organisiert, oder sie spielte hier aus irgendeinem Grund die Naive. Oder es gab den Mann gar nicht. Das schien aber nicht sehr wahrscheinlich, denn Single-Frauen deklarieren sich meistens als solche.
»Wo ist er denn eigentlich, dein Mann?«, fragte Elisabeth.
»Er wird jeden Augenblick hier sein«, antwortete Sandra.
Leo nahm Sandra die Flasche Prosecco aus der Hand. Sie ließ es geschehen.
»Ich möchte nicht unverschämt sein«, sagte Leo, während er die Flasche öffnete, »aber wir könnten ja inzwischen einen Schluck trinken.«
Also gut, dann würde man eben noch einen Schluck trinken, dachte Sandra, Thomas würde ohnehin gleich zurückkommen, dann könnte man anstoßen, das Bett hinuntertragen und Weihnachten feiern. Zu zweit.
»Ein Schlückchen ist oft mal ganz gut für die Lockerheit«, meinte Elisabeth.
»Freilich«, sagte Sandra. Freilich war ein Wort aus ihrer Heimat. In der Stadt sagten die Menschen natürlich. Bei ihr am Land sagten sie freilich. Genau genommen: Freili. Natürlich kam ihr die ganze Situation hier nicht vor, aber freilich, sie würde sich jetzt keine Blöße geben, und dieser Leo war zwar ein bisschen direkt, aber recht charmant. Sie nahm vier Sektgläser aus dem Wohnzimmerschrank.
»Bitte, nehmt doch Platz«, sagte sie und zeigte auf das Sofa. Wenn schon, denn schon. Sie stellte die Gläser auf den Sofatisch, der ihr ganzer Stolz war, stammte er doch von einem wahnsinnig teuren Naturmöbelhaus, ein schlichter Traum aus Holz und Glas. »Schenken Sie schon mal ein. Ich bin gleich wieder da. Ich hole uns nur ein paar Knabbereien.«
Leo schenkte ein. »Ein raffiniertes Luder«, flüsterte er Elisabeth zu.
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie zurück, »also entweder, sie spielt sehr gut, oder sie weiß wirklich nichts.«
»Wir werden es herausfinden«, meinte Leo. »Ich hab jetzt Spaß an der Sache gefunden.«
»Ah, sie gefällt dir?«, fragte Elisabeth zufrieden. Leo nickte.
In der Küche griff Sandra zu ihrem Telefon und rief Thomas an. Sie hörte sein Handy im Wohnzimmer läuten. Okay … dann eben Knabbereien. Sie schüttete Pistazien in eine Schale, Wasabi-Nüsse in eine andere und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sie setzte sich den beiden Fremden gegenüber auf das Sofa und hob ihr Glas. »Also dann: Prost!«
Elisabeth und Leo hoben ebenfalls ihre Gläser und stießen mit Sandra an.
»Prost«, sagte Leo.
»Frohe Weihnachten«, sagte Elisabeth.
Um keine Stille aufkommen zu lassen, lobte Elisabeth noch einmal die gediegene Einrichtung der Wohnung, die schönen, dezenten Farben des Teppichs, die mit jenen der Vorhänge harmonierten, die große Bücherwand, die Gemütlichkeit ausstrahlte, und vor allem den wunderschönen Sofatisch. Das gefiel Sandra. Diese Elisabeth war eine Frau mit dem Blick für das Wesentliche.
»Die Wohnung ist eher klein«, sagte Sandra. »Es gibt dieses Wohnzimmer und nebenan eine Küche mit kleinem Essplatz. Eigentlich essen wir immer in der Küche, weil es am praktischsten und am angenehmsten ist.«
»Wir auch«, erzählte Elisabeth. »Ach, es geht doch nichts über ein Glas Wein und ein Stück Käse mit ein paar Oliven, am Küchentisch verzehrt.«
»Bad und WC sind rechts vom Eingang. Das Bad ist wirklich schön, man kann in der Wanne liegen und ins Grüne schauen. Und von dort geht es dann auch zu den Schlafzimmern.«
Wieder wechselten Leo und Elisabeth einen vielsagenden Blick. Dass Sandra jetzt schon von Schlafzimmern redete: Das war immerhin ein gutes Zeichen. Nein, so schnell würden sie die Sache hier nicht aufgeben!
»Ihr habt zwei Schlafzimmer?«, fragte Leo.