»Why did nobody notice it?« Nicht nur Queen Elizabeth fragte sich 2008, warum die Finanzkrise auch Ökonom*innen überraschte. An den Wirtschaftsfakultäten brodelt es: Weltweit setzen sich Studierende für eine plurale Wirtschaftswissenschaft ein. Sie wollen implizite Annahmen, versteckte Werturteile und blinde Flecken offenlegen und die Ökonomie wieder in breitere Kontexte einbetten.
Nach einem Überblick über die Bandbreite der Kritik stellt Felber Grundsatzfragen nach den Wurzeln der Disziplin und den Gründen der fundamentalen Verirrungen. Und er macht einen konkreten und konsistenten Vorschlag für eine ganzheitliche Wirtschaftswissenschaft.
Christian Felber
THIS IS NOT ECONOMY
Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft
Deuticke
Inhalt
Einleitung
Teil I – Panoptikum der Kritik
1. Geschichts- und Kontextlosigkeit
2. Mathematisierung
3. Physikneid – die eingebildete Naturwissenschaft
4. Fetisch Modell
5. Gleichgewichtsmärchen
6. Positivismus
7. Wertfreiheit versus Normativität
8. Theoretischer Monismus
9. Interdisziplinaritätsresistenz
10. Lehrbücher oder Parteiprogramme?
11. Bildung von Egoisten
12. Hierarchisierung-Machtbildung
13. Königsdisziplin
Teil II – Radikale Amnesie
Vergessen und verdrängt I – die Herkunft
Vergessen und verdrängt II – der Name
Vergessen und verdrängt III – das Ziel
Teil III – Politische Ökonomie
1. Wirtschaftsnobelpreis?
2. Econocracy – die Herrschaft der Ökonomen
3. Lehrbuchposse
4. Ideologisches Glaubenssystem
Teil IV – Zentrale Glaubensinhalte
1. Wachstum
2. Menschenbild
3. Wettbewerb statt Kooperation – der zentrale Theorie- und Empirie-Fehler
4. Staat & Markt: das beste Ehepaar der Welt
5. Eigentum
Teil V – Alternativen
1. »Plural«: die Ökumene der Ökonomik
2. Heilige Wirtschaftswissenschaft
Dank
Anmerkungen
Literatur
Interviews
Einleitung
Moderne Makroökonomie ist bestenfalls spektakulär nutzlos und schlimmstenfalls klar schädlich.
PAUL KRUGMAN (2009)1
Als ich die Gemeinwohl-Ökonomie, angespornt von einer Gruppe Unternehmer*innen und in Zusammenarbeit mit ihnen, entwickelte, wollte ich nicht primär eine wissenschaftliche Theorie vorlegen, sondern eine konkrete Alternative, die Menschen ohne abgeschlossenes Studium verstehen und Unternehmer*innen, Bürgermeister*innen und Schulen praktisch anwenden und weiterentwickeln können. Wir hatten selbstverständlich nicht nur mit Zustimmung gerechnet. Jede gesellschaftliche Veränderung löst Kritik, Befürchtungen und Widerstand aus. Nicht alle Menschen sind gleich offen für Innovation und Weiterentwicklung. Vor allem war uns klar, dass einige der Eckpunkte wie die Infragestellung grenzenloser Ungleichheit bei einem Teil der Besitzenden Abwehrreflexe hervorrufen würden – einschließlich eher unbeholfener Versuche, die GWÖ in verschiedene Ecken zu stellen: Sozialismus, Kommunismus, Nationalsozialismus, Populismus, Greenwashing, Esoterik … Fast alles war dabei. Einen konstruktiven Diskurs kann das verzögern, aber nicht verhindern. Umso erstaunter waren wir, dass ein vergleichsweise schroffer Gegenwind aus akademischen Kreisen pfiff. Mainstream-Ökonomen fühlten sich offenbar in ihrer Domäne gestört und in ihrer Deutungshoheit infrage gestellt, was Wirtschaft ist oder wie sie anders verstanden, praktiziert und politisch gestaltet werden könnte.
Stutzig wurde ich durch die Argumente: Ich hätte »grundlegende Prinzipien der VWL« und »die Märkte nicht verstanden«, die GWÖ sei »keine Theorie«, »nicht wissenschaftlich«, ich sei ein »politischer Aktivist«, und schließlich, der Hauptvorwurf, dass die GWÖ ein »normativer« Ansatz sei – ja was denn sonst? Die GWÖ sagt ja prominent und transparent von sich, dass sie auf Beziehungs- und Verfassungswerten aufbaut, dass sie primär ein Wertesystem ist. Das gilt aber für jede Theorie über die Wirtschaft, egal ob Kapitalismus, Kommunismus, soziale Marktwirtschaft, Postwachstums- oder Care-Ökonomie. Und hier tat sich der Kernwiderspruch auf: Der Mainstream der Wissenschaft glaubt tatsächlich, dass die neoklassische Ökonomik eine wertfreie Wissenschaft sei. Das ist nicht nur eine mächtige Selbst- und Publikumstäuschung; wenn das eigene Wertesystem nicht transparent gemacht wird, handelt es sich um Ideologie. Umso mehr, wenn damit die bestehende Ordnung legitimiert wird, anstatt dringend benötigte Alternativen zu entwickeln.
Bei der neugierigen Nachschau, was sich unter der Oberfläche der merkwürdigen Abwehr von Alternativen verbirgt, stieß ich auf ein unübersehbares Ausmaß an vernichtender Kritik an der Mainstream-Ökonomik – von Ökonom*innen selbst! Die Kritik betrifft alle Ebenen der Wirtschaftswissenschaft – ihr wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis, ihre Geschichtsvergessenheit und Undefiniertheit, die Theorie- und Methoden-Einfalt, die haarsträubenden Annahmen und die Realitätsferne, die Mathematisierung und Modellversponnenheit, die Resistenz gegen Kritik und Interdisziplinarität, die Arroganz und die Machthierarchien, die Dominanz der Männer. Die Breitband-Kritik existiert seit vielen Jahren und in vielen Punkten sogar seit Jahrzehnten – doch sie prallt am orthodoxen Theoriegebäude und am Wissenschaftsbetrieb wie an der Chinesischen Mauer ab. »Neoklassische Ökonomen bewältigen Kritik, indem sie sie ignorieren«, schreibt der Renegat-Ökonom Steve Keen.2 Eine weitere Schwierigkeit: Durch das Undefiniertlassen mancher Kernkonzepte – allen voran des »freien Marktes« – entwindet sie sich der Möglichkeit einer konkreten Dekonstruktion.3 Kritikresistenz und -immunisierung sind weitere Erkennungsmerkmale von Ideologien.
Kritikoffenheit, Selbstreflexion und Demut stünden der Wirtschaftswissenschaft jetzt gut zu Gesicht. Der neoklassische Mainstream war nicht nur unfähig, die Finanzkrise vorherzusehen, er hat sich grundlegend verrannt: Der Fokus auf Finanzkennzahlen, der Wachstumsfetischismus, die Mathematisierung und das absurde Menschenbild tragen zum sinkenden Ansehen der Zunft in der Bevölkerung bei. Eine FORSA-Umfrage in Deutschland ergab 2015, dass Wirtschaftsexperten nur bei einem Viertel der unter 34-Jährigen »alles in allem einen vertrauenswürdigen Eindruck machen«.4 Eine YouGov-Umfrage 2017 unter zweitausend Brit*innen ergab, dass die Menschen den Wissenschaftler*innen im Schnitt zu sechzig Prozent vertrauen, hingegen liegt der Wert für Ökonom*innen bei minus zwanzig Prozent!5 Ein Schelm, wer darin eine Mitursache für den Brexit sieht. Die Bevölkerung erwartet von den Wissenschaftler*innen Antworten auf die brennenden Probleme der Gegenwart: Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Machtkonzentration, Klimawandel, Artensterben, Demokratieerosion, Sinnverlust … Ich zähle die neoklassische Mainstream-Wirtschaftswissenschaft nicht nur zu ihren Hauptverursachern, ich gehe mit Steve Keen konform, dass die »neoklassische Wirtschaftswissenschaft (…) gegenwärtig das größte Hindernis beim Verständnis dafür ist, wie die Wirtschaft tatsächlich funktioniert«.6
Von daher prognostiziere ich, dass die Mainstream-Ökonomie genauso wenig, wie sie in der Lage war, die Finanzkrise – auf ihrem Kerngebiet – vorherzusagen, in der Lage sein wird, kommende Krisen – Klima, Verteilung, Konzernmacht, Demokratie – vorherzusehen. Inklusive soziale Unruhen und Verteilungskrisen. Sie sah auch weder Pegida noch Trump, noch die Gelbwesten kommen. Und auch nicht den Terror. Dieser ist ja die radikalste Kontraindikation zur Erzählung mancher Ökonomen, dass der Gesamtzustand der Welt so gut wie nie zuvor sei, weil Kapitalismus und Freihandel weltweit Wohlstand schafften. Wie ist es zu erklären, dass der Terror ausgerechnet dann beginnt, wenn die Armutszahlen rückläufig und Demokratien weltweit auf dem Vormarsch sind?
Ein zweiter Verstörungsmoment war, dass ich bei Vorträgen allerorts tief frustrierte und existenziell verstörte Studierende antraf, weil sie mit ihren brennenden Fragen zum Zustand der Welt kein Gehör und sich stattdessen in einem sterilen Modell-Labor ohne Realitätsbezug wiederfanden. Ihre Fragen werden nicht nur gar nicht behandelt, sie werden häufig auf andere Studien verwiesen – Ökologie, Philosophie – oder sogar persönlich brüskiert, dass sie mit solchen »Gutmenschen«-Fragen daherkämen. Ständig werde ich und wird die Gemeinwohl-Ökonomie nach alternativen Wirtschaftsstudien gefragt.
Aktuell studieren Millionen junger Menschen an Tausenden von Business Schools und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten Ökonomik oder haben einführende Vorlesungen in ihren Curricula. Dabei werden sie nicht umfassend, universell, plural und selbstreflexiv geschult, sondern monistisch, mathematisch, unkritisch, unpolitisch und verdeckt ideologisch. Die führenden Lehrbücher – Samuelson, Mankiw, Varian, Blanchard, Pindyck/Rubinfeld … – haben eine anti-aufklärerische Wirkung, sie richten laufend weiteren und großen Schaden an.
Der Protest entzündete sich deshalb auch innerhalb der Disziplin. In Frankreich gründete sich 2000 ein Netzwerk für »postautistische Ökonomik«, in Großbritannien ging »Rethinking Economics« an den Start, in Deutschland und Österreich entstanden die Netzwerke für Plurale Ökonomik, die sich 2014 international mit anderen Initiativen zur International Student Initiative for Plural Economics (ISIPE) zusammenschlossen. In einem öffentlichen Brief schreiben die Nachwuchs-Ökonom*innen: »Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Krise. In der Krise steckt aber auch die Art, wie Ökonomie an den Hochschulen gelehrt wird (…) Wir beobachten eine besorgniserregende Einseitigkeit der Lehre, die sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschärft hat.« Das Netzwerk fordert, »die Ökonomie wieder in den Dienst der Gesellschaft zu stellen«.7
Diesem Ziel ist auch das vorliegende Buch gewidmet. Zunächst geht es darum, die Kritik am neoklassischen Mainstream, dem Unterricht und den Lehrbüchern, die auch zu den studentischen Protesten und Alternativbewegungen geführt hat, in eine verständliche Übersicht zu bringen – für alle Interessierten, nicht nur für Ökonom*innen. Ich verstehe mich bei dieser Übung als Wissenschaftsjournalist. Die panoptische Zusammenschau der Kritik ermöglicht ein Gesamtbild, das wiederum der Ausgangspunkt für einen Neuanfang sein kann, für eine ganzheitliche Ökonomik.
Insbesondere richtet sich das Buch an Studierende der Wirtschaftswissenschaft sowie Studierende der Politologie, Soziologie oder Jus, die durch einführende Lehrveranstaltungen in Mikro-/Makroökonomie durchmüssen und dabei den schlechtesten Teil des Lehrangebots abbekommen. Es möchte ihnen alternative Vorstellungen von Wirtschaft und Wissenschaft anbieten und Werkzeuge in die Hand geben, das, was sie im Studium kennengelernt haben, zu hinterfragen, zu reflektieren und zu dekonstruieren. Es gibt nicht eine ökonomische »Denkweise« (Mankiw), es gibt viele. Es gibt eine Pluralität von Theorien, Methoden und Erkenntnisweisen und Wirtschaftspraktiken. Der Markt ist nur eine davon, und er muss sich genauso den demokratischen Spielregeln unterordnen wie alle anderen. Wir brauchen weder eine »marktkonforme Demokratie« (Angela Merkel) noch eine systemkonforme Wissenschaft.
Wichtig sind mir zwei Differenzierungen. Der nachfolgende Text kritisiert den Mainstream der Wirtschaftswissenschaft, der sich zum Großteil, wenn nicht zur Gänze, mit der Neoklassik deckt. Zum Glück gibt es eine reichhaltige Pluralität heterodoxer und anderer alternativer Ansätze – ihnen ist dieses Buch mit gewidmet. Der »Mainstream« zeigt sich nirgendwo deutlicher als in der Lehre und den Massen-Lehrbüchern. Diese sind die Achillesferse der Disziplin. In der Forschung ist das Feld viel heterogener, und viele Forscher*innen haben Kritikpunkte ernst genommen und selbst zu ihrer Schärfung beigetragen. Diesem Umstand trage ich Rechnung, indem ich eine große Anzahl etablierter Ökonom*innen zu Wort kommen lasse.
Mein persönlicher Beitrag – auch als Linguist – ist die Wiederaneignung des entführten Begriffs »Ökonomie«. An dessen ursprüngliche Bedeutung möchte ich erinnern, und auf Basis einer sauberen Definition eine echte »Ökonomik« neu begründen, die diesen Namen verdient. Eine integrale Wirtschaftswissenschaft, die auf einer reflektierten wissenschaftstheoretischen Grundlage arbeitet, ihre Annahmen und Werte offenlegt, die dem Leben und dem Gemeinwohl dient. Jede Vorstellung und Wissenschaft von Wirtschaft ist gleichzeitig ein Wertesystem. Wenn diese Werte transparent gemacht werden, dann haben Ideologien keine Chance, und Lehrbücher verkommen nicht zu Gebetsbüchern oder Parteiprogrammen.
Teil I – Panoptikum der Kritik
Der Meister-Ökonom muss eine seltene Kombination von Talenten vereinen (…) Er muss Mathematiker, Historiker, Staatsmann, Philosoph sein (…) Er muss Symbole verstehen und in Worten sprechen (…) Kein Teil der Menschennatur oder seiner Intuitionen darf vollständig außerhalb seiner Berücksichtigung liegen.
JOHN MAYNARD KEYNES (1924)1
Für Studenten, die sich damit beschäftigten, wie die Welt funktioniert, stellt die Mikroökonomie wahrscheinlich das relevanteste, interessanteste und wichtigste Fach dar, das sie studieren können (wobei die Makroökonomie das zweitwichtigste Fach ist).
ROBERT PINDYCK, DANIEL RUBINFELD (2015)2
Wenn Studierende mit dem Gegenstand des Studiums bekannt gemacht werden, ist eine transparente Definition des Gegenstands, die Zielsetzung der Disziplin, ihre bisherige Geschichte, ihr Wissenschaftsverständnis sowie ihre Einbettung in gesellschaftliche Kontexte erwartbar: Was bedeutet »Wirtschaft« eigentlich, welche Definitionen liegen vor? Worin ist sie eingebettet, und in welcher – hierarchischen, systemischen oder anderen – Beziehung steht sie zu ihren (weiteren) Kontexten? Um am Ende daraus abzuleiten: Was ist das übergeordnete Ziel, der Sinn und Zweck von Wirtschaft? Hat sich die Sichtweise darüber im Lauf der Geschichte geändert? Welche theoretischen Schulen gibt es, und woraus ist die Wirtschaftswissenschaft hervorgegangen? Wenn schon Lehrbücher im Schnitt achthundert bis tausend Seiten zu »verteilen« haben, müssten doch die wesentlichen Dinge auf diesem Raum Platz finden – zumal Ökonom*innen sich als Expert*innen im Management knapper Ressourcen verstehen.
Doch dem ist leider nicht so. Eine Studie der Universität Kassel zur Situation in Deutschland kommt zum Schluss: »Lehrveranstaltungen mit erweiternder Perspektive, etwa die Geschichte des ökonomischen Denkens, Wirtschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und Ethik, sind nicht genuin Teil der Lehre, sondern werden – wenn überhaupt – nur an einzelnen Universitäten angeboten.«3 Eine Untersuchung des Netzwerks Plurale Ökonomik an 57 deutschen VWL-Bachelor-Studiengängen ergab, dass reflexive Fächer wie Geschichte des ökonomischen Denkens und Wirtschaftsethik nur 1,3 Prozent der Curricula an deutschen Universitäten ausmachen.4 Die Untersuchung von 174 Ökonomik-Modulen an britischen Universitäten hat ergeben: »Kritisches und unabhängiges Denken wird in den Ökonomik-Kursen nicht gefördert, und Geschichte, Ethik oder Politik kommen kaum oder gar nicht vor.«5 Walter Ötsch schreibt: »Traditionelle Ökonomen wissen wenig über Geschichte, sei es die Geschichte ihres Faches (z. B. über die Entstehung ihres Welt-Bildes) oder der Wirtschaft selbst (…) Sie sind nicht trainiert, über die methodischen Grundlagen zu reflektieren oder über die gesellschaftlichen Wirkungen ihrer Theorien nachzudenken.«6
Das 882 Seiten starke führende Lehrbuch des Google-Chefökonomen Hal Varian Grundzüge der Mikroökonomik beginnt auf Seite eins mit »Der Markt«.7 Paul Samuelson beginnt das erfolgreichste Lehrbuch aller Zeiten Volkswirtschaftslehre mit dem Flussdiagramm zwischen Haushalten und Unternehmen. Die Wirtschaftswissenschaft emergiert aus dem Nichts: »scientia ex nihilo«.
Die wesentlichen Umfelder und Grundlagen des Wirtschaftens – Ökologie, Ethik, Demokratie- und Gender-Theorien … – sind bestenfalls Marginalia, sie kommen weder in der Mainstream-Lehre noch in den Standardmodellen vor. Viele Studierende beklagen, dass sie im Studium überhaupt nicht auf die verantwortungsvolle Rolle vorbereitet würden, wirtschaftspolitische Empfehlungen abzugeben, die massive Konsequenzen für Millionen von Menschen hätten. »Als Studierende der Wirtschaftswissenschaft sind wir irgendwie zur Ehre einer merkwürdigen Autorität gelangt, die Qualität politischer Argumente zu beurteilen«, schreiben die »Cambridge-Rebellen« Joe Earle, Cahal Moran und Zach Ward-Perkins.8
Welche wären die Mindeststandards an Begriffsklärung, Zieldefinition, Kontextualisierung, Realitätsbezug und epistemischer Selbstreflexion? Hier ein Versuch für Curricula und Lehrbücher.
Natürlich ließen sich mit Wirtschaftsgeschichte endlos Seiten füllen, die Frage ist: Was sollte keinesfalls fehlen? Ein Mindeststandard wäre eine Übersicht, welche Typen von Wirtschaft es schon gab oder noch gibt. Märkte sind aktuell eine Form, gibt es andere Formen? Selbstversorgung, Geschenkkultur, Gemeingüter, öffentliche Dienstleistungen, Planwirtschaft? Müsste nicht am Beginn eine dem aktuellen Stand des Wissens entsprechende Übersicht erfolgen, welche Arten des Wirtschaftens es schon gab oder noch gibt – um den Horizont am Beginn möglichst weit aufzuspannen? Bevor die einzelnen Formen en détail abgehandelt werden oder auf eine einzige Form – Märkte – fokussiert wird? Wie seriös wäre ein Lehrbuch über Mobilität, das ausschließlich von Autos mit Benzinmotoren handelt? Oder ein Lehrbuch über Ernährung, das allein über die Zubereitung von Fleischmahlzeiten instruiert?
Ein zweiter Grundbaustein wären die wichtigsten Entwicklungsstationen von Handel, Geld, Steuern, Eigentum, Unternehmensrechtsformen sowie diverser Institutionen, die Märkte nicht nur steuern, sondern wesentlich mitkonstituieren. Das sind nicht nur Behörden wie die Zentralbank, das Finanzamt oder das Arbeitsinspektorat, sondern auch rechtliche Institutionen wie Geld, Privateigentum oder juristische Personen – ohne sie würde eine komplexe Marktwirtschaft nicht funktionieren. Wirtschaftsstudierende könnten erfahren, dass nicht erst Geld entstand und Schulden nachfolgten, sondern dass es umgekehrt war.9 Oder dass in der Geschichte der heutigen Industrieländer »Freihandel die Ausnahme und Protektionismus die Regel« war.10 In den Lehrbüchern kommen so gut wie ausschließlich Argumente für Freihandel vor, weder historische Fakten noch Kritik an der Freihandelstheorie.
Interessant zu erfahren wäre auch – einfach nur zum Vergleich –, dass der Spitzensteuersatz der Erbschaftssteuer in Großbritannien bei achtzig Prozent lag, nachdem zuvor Winston Churchill vor der Entstehung einer »Klasse fauler Reicher« gewarnt hatte.11 Auch die bayerische Verfassung könnte exemplarisch angeführt werden: »Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen weniger zu verhindern.« (Art. 157) Eine Diskussion, wo so eine Grenze angesetzt werden könnte, würde das eigenständige Denken anregen. Brandaktuell wäre die Nachzeichnung der schrittweisen Ermächtigung juristischer Personen seit dem 19. Jahrhundert und ihre dadurch heute möglich gewordene Machtfülle. Schließlich wäre noch Bestandteil einer Mindestallgemeinbildung der Zusammenhang zwischen dem Verbrauch fossiler Ressourcen und dem BIP-Wachstum.
Vielleicht reichen zwanzig bis dreißig Seiten Wirtschaftsgeschichte in den Lehrbüchern (zwei bis drei Prozent), aber ganz ohne sollte es nicht abgehen. An den deutschen Universitäten kamen 2016 gerade einmal 0,5 Prozent Wirtschaftsgeschichte in den Curricula vor.12
Gerade für eine Einführung in eine Wissenschaft ist es passend, einen kurzen Gang durch die Theoriegeschichte vorzunehmen, um das Fundament kennenzulernen, auf dem die aktuellen Ideen aufbauen: die Riesen, auf deren Schultern das heutige Weltverständnis steht. Thomas Dürmeier schreibt, dass es heute allgemein üblich ist, Ökonomin zu werden, ohne ein einziges Mal Smith, Marx, Keynes oder Hayek gelesen zu haben.13 Interessant zu erfahren wäre auch, wann die Disziplin der Wirtschaftswissenschaft entstand und wo der erste Lehrstuhl eingerichtet wurde. Und natürlich, woher der Begriff kommt und was er ursprünglich bedeutete. Beginnen könnte ein solcher historischer Rundgang mit der Entstehung des Begriffes »Ökonomie« bei den alten Griechen. Apropos: Was passierte eigentlich zwischen Aristoteles und Adam Smith, wer beschäftigte sich mit Ökonomie, wenn es bis ins 20. Jahrhundert weder an der Universität Cambridge in Großbritannien noch an der University of California ein Studium der Ökonomik gab – und auch kein Department of Economics?14 Wer dachte über die Wirtschaft nach, wenn es keine Wirtschaftswissenschaftler*innen gab? Zwei Diagramme wären vor jedem Blick auf Märkte oder das Flussdiagramm von Interesse: 1. die Entwicklung der Disziplin Ökonomik im Konzert der Wissenschaften und 2. eine Übersicht über die wichtigsten ökonomischen Theorieschulen: von der Neoklassik bis zum Postkeynesianismus, von der Institutionenökonomik bis zur Ökologischen Ökonomik, von der Care-Ökonomie bis zur Commons-Theorie. Das hätte zwangsläufig zur Folge, dass nicht nur »Märkte« betrachtet, analysiert und verstanden werden, sondern auch andere Formen des Wirtschaftens. Und die Studierenden würden (sich) zu fragen beginnen, welche Positionen die einzelnen Schulen zu ökonomischen Kernthemen wie Eigentum, Markt, Macht, Care-Arbeit, Ökologie, externe Effekte, öffentliche Güter, Gemeingüter, Verteilung, Ungleichheit oder Arbeit entwickelt haben – das wäre hochinteressant und aufschlussreicher als nur eine einzige Perspektive!
Es fällt weiters auf, dass es keine klare und einheitliche Definition der Wirtschaftswissenschaft gibt. Das ist ein massives Problem, denn ohne diese Klärung ergibt eine Wissenschaft keinen Sinn. Dann forschen die einen in eine (z. B. effizienter Einsatz finanzieller Ressourcen) und die anderen in eine andere Richtung (z. B. das gute Leben für alle oder das Gemeinwohl). Durch die unklare Definition bleibt offen: Ist nun Effizienz wichtiger als das Gemeinwohl oder umgekehrt? Falls es primär um Effizienz des Mitteleinsatzes geht, welche Mittel sind gemeint? Die Wirtschaftswissenschaft ist nicht hinreichend definiert, damit entbehrt sie eigentlich einer wissenschaftlichen Grundlage.
Angenommen, es ginge in der Wirtschaft(swissenschaft) um die Befriedigung menschlicher (Grund-)Bedürfnisse, dann müsste der Mutterliebe und der Muttermilch, den Freundschaften, Beziehungen, Partnerschaften und dem sozialen Zusammenhalt von der Nachbarschaft bis zur Demokratie (die allesamt weder materiell sind noch einen Marktpreis haben) zumindest gleich viel Aufmerksamkeit geschenkt werden wie marktförmigen Gütern und Dienstleistungen (die einen Preis haben). Sonst ist das Bild von Beginn an radikal unvollständig. Wer möchte in einer Welt leben, in der es zwar alle Güter gibt, in der mensch vielleicht drei Fernseher und vier Autos haben kann, aber es gibt keine Freundschaften, kein Vertrauen, keine Zärtlichkeit, keine Mütter und keine Demokratie?
Warum aber fokussiert dann die Wirtschaftswissenschaft ausschließlich auf Angebot und Nachfrage von Gütern, die einen Preis haben? Wie lautet die Definition für so eine Wissenschaft, und wodurch ist sie legitimiert?
Sinn ergeben würde eine ganzheitliche Betrachtung menschlicher Grundbedürfnisse, deren vollständige (und nicht teilweise) Befriedigung verantwortlich ist für das Gedeihen und Glück von menschlichen Individuen und Gemeinschaften – unabhängig davon, ob ihre Befriedigung über Haushalte, solidarische Netzwerke, Gemeingüter, Märkte oder Planung erfolgt. Erst vor dem vollständigen Spektrum der Möglichkeiten können die jeweils effektivsten Wege zur Erreichung des Ziels ermittelt werden. Ein solch pluraler Ansatz passt besser zu einer Wissenschaft als eine Uniform.
Damit die Studierenden die »Denkweise« einer Disziplin bewusst verstehen und kritisch hinterfragen können, muss diese etwas ausführlicher offengelegt werden: Welchem Wissenschafts- und welchem Theorieverständnis folgt die Ökonomik? Wie lautet ihr Erkenntnisideal? Tendiert sie zu Positivismus, Rationalismus, Konstruktivismus, Realismus oder Pragmatismus? Wofür hat sich die Ökonomik entschieden und warum? Zwar liefern die Lehrbücher einige »Sprengsel« wie Aussagen, dass sie nach Objektivität streben, sich als wertfrei erachten und positive von normativen Aussagen unterscheiden. Doch findet man üblicherweise wenig oder gar keine Erklärung und Begründung dieser Präferenzen, geschweige denn eine Bezugnahme auf den aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskurs. Zumindest einige Zeilen sollten darüber verloren werden, ob die Ökonomik eine Natur- oder eine Sozialwissenschaft ist und was die beiden voneinander unterscheidet. Wer eine wissenschaftliche Disziplin studiert, sollte auch eine – verdaubare – Mindestdosis an Wissenschaftstheorie genießen.
Die heute vorherrschende neoklassische Wirtschaftswissenschaft hat seit ihrer Entstehung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wesentlichen Umfelder – Politik, Ethik, Ökologie, Gender- und Machtthemen – ebenso konsequent ausgeblendet wie Erkenntnisse zu ihren Kernthemen aus anderen Disziplinen. Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft ergeben aber nur in einer systemischen und interrelationalen Gesamtbetrachtung Sinn, sonst wären sie ein geschlossenes System, das außer einer reinen Gedankenspielerei keinen wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Wert erbrächte. Welche sind die wichtigsten Kontexte wirtschaftlicher Vorgänge?
Abbildung 1: Einbettung der Wirtschaft in ihre Kontexte
Nicht ein »Kontext«, sondern vielmehr der Kern der oikonomia, die ja vom oikos, dem Haushalt, abstammt, ist die Produktion von Leben in diesen Haushalten.15 Das machen vor allem die Mütter, sie sind die genuinen Ökonominnen. Das Austragen, Gebären, Stillen und Großziehen von neuen Menschen ist die Grundfunktion menschlicher Haushalte und das Fundament aller Wirtschaftsformen. Werden diese Leistungen jedoch nicht kommerzialisiert und bezahlt, werden sie von der Neoklassik nicht wahrgenommen. Diese Ausblendung ist eine gewaltförmige Spaltung der Gesellschaft in wertvolle Erwerbs- und wertlose Haus- und Care-Arbeit. Eine Umfrage unter 150 000 Müttern in den USA hat errechnet, dass, wenn Frauen für jede ihrer Rollen den üblichen Stundenlohn erhielten – Haushälterin, Tagesbetreuerin, Taxifahrerin, Wäschereinigung –, zu Hause arbeitende Mütter jährlich rund 120 000 US-Dollar verdienen würden.16 Es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Basisökonomie aus der Wissenschaft auszuklammern. Neben der Fürsorge-Arbeit für Kinder, Ehemänner, Kranke, Alte und Sterbende werden auch andere für das Funktionieren und den Zusammenhalt menschlicher Gesellschaften essenzielle Leistungen von der Standard-Ökonomik ignoriert: Wer hilft Spitzenverdienern, wenn sie einen Unfall erleiden? Wer spendet ihnen Blut? Wer löscht ihr Haus, wenn es brennt? Alles, wofür kein Preis bezahlt wird, existiert in der Standard-Wirtschaftswissenschaft nicht, egal, wie wertvoll es ist.
Der wichtigste und essenzielle Kontext allen menschlichen Wirtschaftens sind der Planet Erde und seine Ökosysteme. Die Trennung von Ökonomie und Ökologie ist einer der gröbsten Sündenfälle der Wirtschaftswissenschaft. Denn alle in Geld messbaren »ökonomischen« Werte stammen letztlich aus der Natur. Wird dies übersehen oder negiert, kann es passieren, dass die unvollständig verstandene »Wirtschaft«, die eigentlich – ganzheitliche – Werte schaffen sollte, die ökologischen Lebensgrundlagen zerstört. Hazel Hendersen formulierte es bereits 1978 prägnant: »Sie erzählen uns von blitzsauberem Geschirr und Tischtüchern, vergessen jedoch den Verlust der blitzsauberen Flüsse und Seen zu erwähnen.«17 Das größte globale Umweltproblem der Gegenwart ist, noch vor dem Klimawandel, der Verlust von Artenvielfalt.18 Ich spazierte vor kurzem in Costa Rica mit dem Rektor der Universität für Internationale Zusammenarbeit durch den Regenwald. Er berichtete von einem Besuch am selben Ort mit seinem Sohn, dem er mitteilen musste, dass die Artenvielfalt doppelt so groß war, als er in seinem Alter war: ein Verlust von fünfzig Prozent in einer Generation! Während die Ökonomen mit ihren Standardmodellen uns vorrechnen, dass wir reicher werden, verarmen wir in den wesentlichsten aller Aspekte von Reichtum: in der biologischen und genetischen Vielfalt. Bei der ersten Postgrowth Conference im EU-Parlament im September 2018 stellte der Ökonom Björn Döhring die Standardmodelle der EU-Kommission, sogenannte Dynamik Stochastic General Equilibrium Models (DSGE Models), vor. Mit ihrer Hilfe analysiert die Kommission die Wirtschaft und spricht Empfehlungen für die Politik aus. Ich fragte ihn, welche Rolle die Artenvielfalt in diesen Modellen spiele. Seine Antwort: »Ob es sinnvoll wäre, die Artenvielfalt in DSGE-Modelle zu integrieren? Das würde ich sehr bezweifeln. Der Punkt ist, dass es kein Modell gibt, das man für alles verwenden kann.«19
Auch kein Kontext, sondern ein weiteres Fundament des Wirtschaftens, sind die Grundwerte jeder Gesellschaft und Kultur. Wirtschaften basiert immer und überall auf Werten, der Versuch, die Zahlen von den Werten zu trennen, führt zur totalitären Herrschaft der Zahlen. Die behauptete Wertfreiheit ist eine grundlegende Illusion. Alles Denken, Schreiben, Rechnen und Handeln beruht auf Wertentscheidungen, von daher ist der Versuch, Wirtschaft und Ethik zu trennen, vielleicht das Absurdeste, was je in der Wissenschaftsgeschichte unternommen wurde. Das neoklassische Standardmodell strotzt vor Werten: Effizienz, Wachstum, Wettbewerb, Nutzenmaximierung, Rationalität: alles Werte! Gipfel der Wertunfreiheit der neoklassischen Ökonomik ist der Homo oeconomicus – ein mechanischer, gefühlloser, gieriger Psychopath. Da es keine wertfreie Theorie gibt, baut eine weise Wirtschaftswissenschaft ihre Ideen und Modelle auf den breit geteilten Beziehungs- und Verfassungswerten auf. Viele Ökonomik-Kurse verweisen jedoch bei ethischen Fragestellungen auf das Philosophie-Studium!
Das juristische »Skelett« von Märkten sind Institutionen. Als zentrale Gestaltungs- und Steuerungselemente sind sie für die sozialen, kulturellen und ökologischen Wirkungen von Märkten verantwortlich. Dabei geht es um so unterschiedliche Einrichtungen wie Handelsregister, Grundbuch, Finanzamt, Umweltbehörden, Emissionszertifikate-Ausgabestelle, Arbeitsinspektorat, Finanzaufsicht, Zentralbank, Staatsanwaltschaften oder Gerichtshöfe (eines Tages für die Menschenrechte). Von diesen Institutionen hängt ab, wer wie wo wirtschaften darf, wie weitreichend oder eingeschränkt die Wirtschaftsfreiheiten sind, ob z. B. Umweltschäden externalisiert werden können, ob der Zugriff auf Kinderarbeit geahndet wird, ob Unternehmen unendlich groß und mächtig werden dürfen, ob sie nur eine Finanz- oder auch eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen müssen, wie frei sie handeln dürfen. All diese Aspekte der Marktwirtschaft werden über demokratische Institutionen reguliert und gesteuert. In den ökonomischen Standardmodellen kommen sie jedoch nicht vor.
So unglaublich es klingen mag, auch Geld und das Finanzsystem kamen die längste Zeit in den ökonomischen Standardmodellen nicht vor. »Wir haben sehr ausdifferenzierte makroökonomische Modelle«, meint das damalige Mitglied des Sachverständigenrates Peter Bofinger, »sie haben nur einen Nachteil: Es gibt keinen Finanzsektor. Das finde ich bemerkenswert, insbesondere in der Europäischen Zentralbank: Auch deren sehr kompliziertes Modell kennt keinen Finanzsektor. Man nimmt an: Jeder Mensch hat alle Informationen, die er braucht, es gibt keine Unsicherheit. Dann ist Geld irrelevant, und den Finanzsektor kann man wegignorieren, weil er perfekt rational arbeitet.«20 Selbst Geld spielte in den ökonomischen Modellen keine Rolle. »Es scheint, Geld ist für Ökonomen ungefähr so, wie das Wasser für Fische – es ist einfach da.«21 In den meisten klassischen Lehrbüchern wird bis heute zudem der Vorgang der Geldschöpfung nicht richtig erklärt.
Dazu passend blendet die Neoklassik die Machtverhältnisse und -gefälle aus. In den Standardmodellen wird nicht zwischen der Alleinerzieherin und BlackRock unterschieden, nicht zwischen Bayer und Biobauer. Alle natürlichen (Menschen) und juristischen Personen (Unternehmen) sind gleich mächtig und gehen sämtliche Transaktionen vollkommen freiwillig ein. Weder gibt es unterschiedliche Grade von Freiwilligkeit noch Abhängigkeiten, die zu Positionen der Stärke und Schwäche und deren Ausnutzung führen. In der realen Marktwirtschaft sind jedoch Machtgefälle in Kredit-, Kauf-, Miet-, Zuliefer- oder Arbeitsverträgen die Regel. Und hier bräuchte es einerseits eine andere Ethik als die der Nutzenmaximierung und andererseits andere Regeln und Institutionen, die das skrupellose Zuschlagen des Homo oeconomicus raptus verhindern. Da die Standard-Wirtschaftswissenschaft glaubt, dass auf den Märkten alles mit freien Dingen zugehe, kommt es in der Realität zu exzessiver Reichtums- und Machtkonzentration. Doch wenn acht Menschen heute so viel besitzen wie die halbe Menschheit, liegt das nicht daran, dass sie gleich viel leisten wie vier Milliarden andere, sondern, dass sie von einer langen Kette an Machtgefällen profitieren, die sie unverdient in diese Position gebracht haben. Ökonomische Standard-Lehrbücher präsentieren Märkte dessen ungeachtet »in Bezug auf die Verteilung neutral«.22
Wirtschaftswissenschaft ohne die Kernthemen Natur, Werte, Macht, Gender oder demokratische Institutionen – ergibt schlicht keinen Sinn, ist sinnlos! Die Wirtschaftswissenschaft muss sich öffnen und rückbetten in größere Zusammenhänge. Sonst verkommt sie zu einer abgehobenen Gedankenspielerei mit fatalen Rückwirkungen auf die vergessene Realität.